Vorbemerkung
Mit der Herausstellung eines „kulturellen Konstrukts“1 von Kindheit und
Jugend zur Beschreibung einer bestimmten Lebensphase, die sich im Speziellen zum Ende des 19. Jahrhunderts herauskristallisiert hat, ergibt sich für
die Gesellschaft ein breites Spektrum an Definitionsversuchen, welches sich
u.a. in fachwissenschaftlichen Diskursen niederschlägt. Beschränkt sich die
Auseinandersetzung mit der Phase der Jugend vorerst auf die damals herrschenden fachwissenschaftlichen Diskurse in den Disziplinen Psychologie,
Medizin und Strafrecht, verlagert sich mit dem erweiterten Kulturbegriff
um 1900, nicht zuletzt bedingt durch die Jugendbewegung, die Auseinandersetzung mit der Phase und dem Begriff der Jugend wie wir ihn heute verwenden, auch in andere Fachdisziplinen und Begriffe wie Kindheit, Jugend,
Adoleszenz und Teenage2 bilden sich heraus.
So stellt sich in der Literaturwissenschaft unter anderem die Frage, wie
diese Lebensphasen in literarischen Texten aufgegriffen und konstruiert
werden, aber auch wie, im Umkehrschluss, literarische Texte für diese Phase
des Lebens konzipiert werden.
Der Verantwortlichkeit eines besonderen Schutzes der Lebensphasen
Kindheit und Jugend kristallisiert sich insbesondere dort heraus, wo es um
Medieneinsatz und Mediennutzungsgewohnheiten geht. Im Kontext von
Mediennutzung zur Unterhaltung von Kindern und Jugendlichen schlägt
sich dies u.a. in Form von gesellschaftlich geforderten gesetzlichen Regularien nieder.3 In diesem Kontext wird in der Literatur die Annahme eines
„Gefährdungspotenzials“ durch die Literatur und die Neuen Medien häufig
thematisiert. Der damit eng verbundene Versuch der Gefahrenabwehr, durch
1 Cf. Martin, Ariane: „Die modernen Leiden der Knabenseelen. Schule und Schüler
in der Literatur um 1900.“ In: Der Deutschunterricht, Heft 52 (2), 2000, S. 27–36.
2 Cf. Savage, John:Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875–1945). Frankfurt
a. M., New York 2008.
3 Gemeint sind hier die Gesetze und institutionelle Kontrollorgane wie: Freiwillige
Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK 1949), Gesetz zum Schutz der Jugend in
der Öffentlichkeit (Jsch-GÖ 1951), Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (GjS 1953), Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften
(BpjS 1954)
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Vorbemerkung
das, aus dem Weimarer „Schund- und Schmutzgesetz“ (1926) entstandene heutige Jugendmedienschutzgesetz, findet im Kontext von Persönlichkeitsbildungsprozessen Erwähnung. In diesem Zusammenhang wird oft ein
passives Rezipientenverständnis angenommen, welchem eine monokausale
Wirkungsannahme der Medien4 nach B.F. Skinner zugrunde liegt. Der gesellschaftliche Diskurs um eine Gefährdung durch Medien wird bereits im
18. Jahrhundert in Bezug auf die sogenannten „Lesesucht und Lesewut
Debatte“ und der daraus resultierenden Forderung nach einer gesetzlichen
Regelung zum Schutze der Frauen, Kinder und Jugend deutlich. Diese gesellschaftliche Deutungspraktik basiert häufig auf der Annahme einer fehlenden
Realfiktionsunterscheidungs-Kompetenz von Kindern und Jugendlichen.
Im Rahmen des vorliegenden Sammelbandes wird der „komplexe Zusammenhang zwischen Bewahrpädagogik, Wirkungsannahmen und rechtlichem Medienschutz“5 aufgezeigt. Wie Kinder dazu angehalten werden
können für sie geeignete, für ihre Zielgruppe produzierte Medienangebote
zu nutzen und welchen Stellenwert die an der Sozialisation beteiligten Instanzen dabei einnehmen wird thematisiert. Darüber hinaus wird erwogen
welchen Beitrag die Didaktik zu der Entwicklung eines adäquaten medialen
Handels beitragen kann.
Der Band setzt sich aus Beiträgen mit erziehungswissenschaftlicher,
juristischer, literaturwissenschaftlicher und literaturdidaktischer, medienwissenschaftlicher und mediendidaktischer sowie kultureller Fragenstellungen zusammen, wobei ein weiter Medienbegriff nach Faulstich6
zugrunde gelegt wird und technisch- apparative, inhaltliche und funktio­
nale Aspekte mit einbezogen werden. Ein interdisziplinärerer Zugang
ist insofern gerechtfertigt, als dass einerseits die Handlungsräume der
einzelnen Disziplinen ineinander greifen und andererseits den gleichen
Gegenstandsbereich fokussieren.
4 Zugrunde liegt hier das der Behavistischen Tradition nach B. F. Skinner entworfene Stimulus-Response-Modell, welches zur Erklärung von Medienwirkungen
herangezogen wird und einem medienzentrierten Kausalitätsansatz folgt u.a. mit
den Kennzeichen nach: Jäckel, Michael: Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur
Einführung. 3., überarb. und erweit. Auflage, VS-Verlag: Wiesbaden 2005, S. 61.
5 Barsch, Achim: „Schutz der Jugend vor Gefährdung durch Medien?!“ In: Der
Deutschunterricht. Heft 6, 2008, S. 76.
6 Faulstich, Werner: Medienwissenschaft. Fink: München 2004.
Vorbemerkung
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Hans Merkens skizziert in seinem Beitrag die Entwicklungsgeschichte des
Jugendbegriffs, zeigt theoretische Zugänge der Sozialwissenschaften auf
und fokussiert dabei den Prozess der Entdifferenzierung von Kindheit und
Jugend.
Einen didaktischen Zugang gewährt Norbert Groeben in seinem Beitrag,
indem er das erzählende Sachbuch als ein Unterrichtsmedium anbietet, mit
welchem alle Lehrziele des Literaturunterrichts erreicht werden können.
Dabei benennt er die Schreibkompetenz, die Ausbildung eines ästhetischen
Sprachgefühls, die schülerseitige Reflexions- und Argumentationsfähigkeit,
das Fiktionsbewusstsein, die ästhetische Genuss- und Gestaltungsfähigkeit
sowie eine übergeordnete Medien- und Lesekompetenz und führt entsprechende Beispiele an.
Ein historisches Beispiel früherer Medienkultur des 18. Jahrhunderts
zeigt Endre Hárs, er beleuchtet dabei die Produzenten als auch Rezipientenseite und umreißt gleichzeitig den sich daraus entwickelnden gesellschaftlichen Diskurs. Er geht den medialen Bedingungen und Spezifika der
Naturgeschichten um 1800 nach, indem er argumentative, text- und bildgestalterische Strategien darlegt.
Géza Horváth widmet sich in seinen Ausführungen dem populären
ungarischen Roman Sterne von Eger von Géza Gárdonyi. Er führt verschiedenartige mediale Adaptionen ein und thematisiert die kanonische
Kategorisierung des Romans. Er zeigt die literaturwissenschaftliche Debatte
auf und beleuchtet die Rezensionsgeschichte des Textes.
Einen literaturwissenschaftlichen Zugang zur Adoleszenzthematik bietet
Andreas Wicke in seinen Beitrag. Er zeigt an Arthur Schnitzlers Dramenzyklus Anatol den neuen Typus der Jugend um 1900 und führt die epochale
Krisensymptomatik am literarischen Beispiel aus. Dabei finden die Typologie der Charaktere, die Handlung, die Sprache sowie das dramatheoretische
Gesamtkonzept Berücksichtigung.
Gudrun Marci-Boehnke untersucht in Ihren Ausführungen die konvergente Vermarktungsstrategie von interkultureller Jugendliteratur am Beispiel
von Nicolai Lilins Sibirische Erziehung. Sie thematisiert die Inszenierung
des Marktes, legt dabei einen besonderen Fokus auf die Inszenierung einer
Authentitätsfiktion und problematisiert die möglichen rezeptionsspezifischen Irritationen adoleszenter Leser.
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Vorbemerkung
Einen pragmalinguistischen Zugang mit einer didaktischen Perspektive bietet Christoph Müller dadurch, dass er das Handlungsmuster der Adressierung
untersucht. Auf der Basis eines weiten Literaturbegriffs wird das theoretische
Konstrukt auf jugendliterarische Texte angewandt um zu zeigen, dass es sich
bei dem Motiv der Adressierung um ein jugendspezifisches Thema handelt,
welches Anlass für mediale Inszenierungen bietet.
Aus der wissenschaftstheoretischen Sicht eines Juristen stellt Wolfgang
Thaenert den komplexen Zusammenhang von Jugendmedienschutzmaßnahmen dar. Er beleuchtet dabei medienspezifische Schutzmaßnahmen,
indem er Möglichkeiten und Grenzen einiger Zugangsrestriktionen aufzeigt. Medienkompetenzvermittlung führt er als einen stetig zunehmenden
Bestandteil von erfolgreichem Jugendschutz an und zeigt diesbezüglich Perspektiven für das Netzwerk von Schul-, Kinder- sowie sonstiger Bildungsund Freizeiteinrichtungen auf.
Achim Barsch skizziert den sozialen Konflikt von Jugendmedienschutz
und Literatur aus systemtheoretischer Sicht unter der Prämisse, dass diese
Instanzen unterschiedlichen sozialen Systemen angehören. Er zeigt beispielhaft Konfliktpotenzial und Schnittmengen beider Systeme auf.
An eine gesellschaftliche Debatte um die Wirkungsweise Neuer Medien
knüpft Helmut Schanze in seinen Ausführungen an. Er räumt den interaktiven, produktiven Nutzungsformen der Neuen Medien eine elementare
Bedeutung in Bezug auf die Entfaltung individueller Bildungsgeschichten
Heranwachsender ein. Gleichzeitig beleuchtet er die Folgen einer schriftfernen Degradierung der Medien zu reinen konsumierbaren AV Medien.
Judit Szabó bietet einen medienspezifischen Zugang indem sie die gesellschaftliche Debatte über soziale, kognitive und moralische Beeinträchtigung durch gewalthaltige Videospiele beschreibt. Sie argumentiert in Ihrem
Beitrag auf emotionspsychologischer Basis gegen ideologische Vorwürfe
mit Zuhilfenahme psychologischer Tests zu kognitiven Implikatoren und
bezieht ferner kognitions- bzw. evolutionspsychologische Überlegungen ein.
Der Sammelband schließt mit einem Projektbericht zur Untersuchung
spezifischer medialer Handlungsebenen von Schüler_innen der Sekundarstufe 1, indem spezielle Kompetenzmodelle zugrunde gelegt werden. Exemplarisch werden Mediennutzungsgewohnheiten abgebildet, Ansätze und
Perspektiven für die an dem medialen Sozialisationsprozess Heranwachsender beteiligten Instanzen aufgezeigt.
Vorbemerkung
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Die Beiträge des Bandes gehen hauptsächlich auf die entsprechenden
Vorträge zurück, welche im Rahmen einer internationalen Arbeitstagung
zum Thema Kinder und Jugendliche in Literatur, Medien und Unterricht
gehalten wurden. Diese Tagung fand anlässlich des 60. Geburtstages von
Achim Barsch statt, welchem dieser Band gewidmet ist. Unter der Thematik
des vorliegenden Bandes subsumieren sich die facettenreichen Forschungsinteressen und Arbeitsschwerpunkte des Jubilars.
Mein Dank gilt insbesondere allen Beiträgern des Bandes für ihre fundamentalen, gewinnbringenden und umfangreichen Beiträge, die diesen
interdisziplinären Zugang und die Entstehung des Bandes überhaupt erst
ermöglicht haben. Darüber hinaus gilt mein Dank den Reihenherausgebern
für die Aufnahme des Sammelbandes in die Reihe. Für die Zuwendungen
zur Umsetzung sei allen Förderern gedankt, Murat Sezi und Franz Mutschler für die Unterstützung bei den Übersetzungsarbeiten.
Meinen persönlichen Dank spreche ich meiner Familie und insbesondere
meinen Kindern für ihre Geduld und Inspiration aus.
Kassel, im September 2015
Christine Ansari