Expressionistischer Film Hintergründe, Entwicklung und Wirkung oder: Von Caligari zu Lynch Sören Ihnenfeld MM|VR – Design Professor für Ästhetik: Prof. Dr. Dieter Knoell EINLEITUNG – Was ist eigentlich Expressionistisch? Zu Beginn meiner Recherche ging ich davon aus, Expressionismus sei, wie etwa historische Kunstepochen, ein zeitlich klar eingegrenzter Abschnitt, in dem ganz bestimmte Stilmittel innerhalb der verschiedenen Kunstgattungen vorherrschten. So könne eine Zuordnung bestimmter Werke in die Kategorie des Expressionismus stattfinden. Dies mag für die Bildenden Künste durchaus zutreffend sein, lässt sich aber nicht unbedingt auf den Film übertragen. Ganz so leicht, so sollte sich herausstellen, ist es nämlich nicht, was insbesondere an einer immernoch sehr undurchsichtigen Zusammenfassung ästhetischer Stiltendenzen liegt. Der letzte multinationale Epochenstil ist laut dem Kunsthistoriker Martin Wackernagel das Rokkoko, welcher 1730 - 1750 vorherrschte. In der Kunst der Moderne treten dagegen sehr viele verschiedene Stilrichtungen parallel auf. Diese sind meist zeitlich und räumlich stark begrenzt. Mitunter vermischen sich einzelne Stilelemente untereinander, was eine Zuordnung individueller Stile im 20. Jh. zunehmend erschwert. Diese Problematik trifft auch auf die Stiltendenzen des Films zu. Bevor ich dazu komme, möchte ich jedoch mit der, zwar obligatorischen, aber dennoch sinnvollen, Definition des Begriffs Expressionismus in der Bildenden Kunst beginnen: Das Wort stammt vom lateinischen expressio ab und bedeutet «Ausdruck». Im selbstverständnis der Künstler war es in erster Linie eine Gegenbewegung zu den bestehenden Konventionen und Tendenzen des Impressionismus und Naturalismus. Was eine genaue Datierung anbelangt, sind sich viele Quellen nicht ganz einig, auf die moderne Kunst in Deutschland beschränkt, ist der Zeitraum von 1910 bis 1922 wohl einigermaßen genau. Frühe Vorläufer des Expressionismus traten jedoch bereits zum Ende des 19. Jh. auf und vermischten sich mit Elementen des Sym- bolismus und Jugendstils. Sie sind als erste Gegenreaktionen auf den «Objektiven Ordnungswillen» des Imressionismus zu verstehen. Künstler aus dieser Zeit, die sich expressionistischen Stilelemeten widmeten waren Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Georges Rouaults, Pablo Picasso, Henri de Toulouse-Lautrec, James Ensor, Ferdinand Hodler und Edward Munch. In Frankreich wird diese Strömung der Kunst als Fauvismus bezeichnet. Die Zeit des Expressionismus ist geprägt von tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der Gesellschaft – Einher mit der Industriellen Revolution, geht auch die Revolution gegen das wilhelminische Patriarchat. Der rapide technologische Fortschritt sorgt für wirtschaftlichen Aufschwung, die Bedeutung von ökonomischer Funktionalität und Effizienz wächst an und das Individuum wird in den Hintergrund gedrängt. Diese neuen Lebensbedingungen standen in Kontrast zu alten Werten des Bürgertums, was bald zu großen Spannungen und Unsicherheit führte. Auch der Erste Weltkrieg hatte erheblichen Einfluss auf die Generation junger Expressionisten. Sowohl der Krieg als auch die bald darauf entstehende Weimarer Republik vermochten es jedoch nicht, die Gesellschaft im Sinne des Expressionismus zu verändern. Charakteristisch für die Malerei dieser Zeit sind der freie Umgang mit Form und Farben, die häufig ungemischt verwendet werden. Die traditionelle Perspektive wird aufgehoben, Formelemente und Motive werden reduziert. Den Künstlern des Expressionismus ging es in erster Linie darum, kein Motiv abzubilden, sondern die Emotionen, die das Motiv beim Künstler hervorruft. Also seine ganz subjektive Wahrnehmung zum Ausdruck zu bringen. Zusammenfassend lässt sich behaupten, der Expressionismus ist nicht als bloßer Stil zu betrachten, sondern als Weltanschauung. Viele der Künstler schlossen sich in diversen Vereinigungen zusammen. So zum Beispiel: Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Otto Mueller und Max Pechstein. Sie bildeten die Dresdner Brücke (1905 – 1913) und waren auch Mitglieder der Neuen Secession (1910/1911) in Berlin. Eine andere Gruppe bildeten unter anderen Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky, Franz Marc, Gabriele Münter und Marianne von Werefkin mit der Neuen Künstlervereinigung München (1909). Mitglieder dieser Vereinigung, insbesondere Kandinsky und Marc bildeten außerdem von 1911 bis 1914 die Redaktion für Den Blauen Reiter. Sie organisierten Ausstellungen in München und publizierten einen Almanach. Es folgt eine Reihe von exemplarischen Werken des Expressionismus: 01: 02: 03: 04: Die großen blauen Pferde, Marc, 1911 Rote Stadt, von Werefkin, 1909 Zwei Mädchen im Grünen, Müller, 1925 Russisches Ballet, Macke, 1912 01 02 03 04 DIE ENTSTEHUNG DES EXPRESSIONISTISCHEN FILMS Bevor man innerhalb der Kinematographie bestimmte Stile definieren kann, musste der Film ersteinmal als Kunstform anerkannt werden. Diesen Meilenstein der Filmrezeption setzten Der Andere von Max Mack und Der Student von Prag von Hanns Heinz Ewers /Stellan Rye. Beide Filme hatten ihre Uraufführung 1913. In Frankreich bewarb der Pathé–Konzern seine Produktionen als künstlerische Filme und drehte erfolgreiche Theaterstücke mit namhaften Darstellern nach, um den Filmmarkt anzukurbeln. Auch in Deutschland wurden wenige Jahre später die Filme der führenden Produktionsgesellschaften, als künstlerisch ambitioniert, den kulturinteressierten Kinogängern schmackhaft gemacht. Diese Entwicklung des Kunstfilms wird schon früh durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges zum Erliegen gebracht und größtenteils mit Unterhaltungsfilmen ersetzt. Zu den beliebtesten Genres zu dieser Zeit (1915 – 1918) gehören Komödien und Detektivfilme. Diese Filmproduktionen ließen wenig Spielraum für Experimente. Um den Film als Medium für Propaganda besser nutzen zu können wurde eine Vereinigung der Filmfirmen durch das Reich angestrebt. Unter der Leitung von Alfred Hugenberg, Generaldirektor bei Krupp, wurde die Deutsche Lichtbild–Gesellschaft gegründet. Ausländische Firmeninhaber wurden enteignet und Produktionsgesellschaften zusammengeführt. So wurde, durch den Chef des Generalstabs des Feldheeres, General Ludendorff vorangetrieben, im Dezember 1917 schließlich die Universum–Film AG gegründet. Finanziert über Treuhänder wie der Bosch AG, Lloyd und der AEG, wurde die Ufa zur größten Filmgesellschaft Europas. Nach der Niederlage des Kaiserreichs blieben diese Firmenstrukuren erhalten. Konzerne wie die Deutsche Lichtbild–Gesellschaft und die Decla–Filmgesellschaft wuchsen sogar schneller denn je. Die anfangs meist mittelständischen Betriebe der Filmindustrie sind innerhalb weniger Jahre zu kapitalistischen Großkonzernen geworden. Die neu entstandene Infrastruktur der Filmindustrie bot vielversprechende Möglichkeiten für die Filmproduktion. Ebenfalls neue Möglichkeiten ergaben sich aus der Aufhebung der Zensur im November 1918. Innovationen im Bereich der Ästhetik blieben jedoch aus – stattdessen wurde eine Vielzahl von, als Aufklärungsfilme getarnten, erotischen Unterhaltungsfilmen produziert, in denen auch seinerzeit berühmte Darsteller zu sehen waren, die bei den Konzernen meist längerfristig unter Vertrag standen. Dennoch wurde die Emanzipierung des deutschen Films als Kunstform wieder vorangetrieben. Die Augen der Mumie Ma (1918), Carmen (1918), Madame Dubarry (1919), Anna Boleyn (1920), Sumurun (1920) und Das Weib des Pharaos (1922) versucht Lubitsch dem Film den Anspruch auf künstlerisce Gestaltung und Ästhetik wiederzugeben. Diese, vom italienischen Monumentalfilm beeinflussten, sowie seine Komödien Die Puppe (1919) und Die Bergkatze (1921) enthalten teilweise malerische Dekors und muten möglicherweise expressionistisch an, sind jedoch gesamtästhetisch und inhaltlich weit vom expressionistischen Film entfernt. Lang bedient sich in Filmen wie dem Zweiteiler Dr. Mabuse, Der Spieler (1922) und Inferno – Ein Spiel von Menschen unserer Zeit oder Metropolis (1925/26) meist realitätsnaher, dabei streng geometrischer Ornamente und Dekors. In Inferno finden sich jedoch expressionistische Dekors und Gemälde. Wie Langs Werke, so enthalten auch viele andere Filme der 20er Jahre expressionistische Elemente aber die ästhetische Grundhaltung weist dabei gleichzeitig neoromantische, impressionistische, realistische und naturalistische Stilelemente auf. Dies ist ebenfalls in Filmen wie Der Gang in die Nacht (1920), Der Brennende Acker (1921) und Der Gang in die Nacht (1921/22) von Murnau zu beobachten. Seine bekannteste Inszenierung, Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1921/22), wird auf Grund der alptraumhaften Stimmung und des, heutzutage leicht albern wirkenden, Spiels von Max Schreck als Graf Dracula, oft als expressionistisch bezeichnet. Aber auch hier sind die Aufnahmen naturbelassen, Dekors und Motive realistisch. Eine Verfremdung findet ausschließlich in der Nachbearbeitung und Montage statt. Die prägendsten Filmschaffenden dieser Zeit waren Ernst Lubitsch, Fritz Lang und Friedrich Murnau. In seinen Monumentalfilmen 05 Die Bezeichnung «expressionistisch» wurde zwischen 1916 und 1919 im Rahmen der Filmtheorie erstmals verwendet und geprägt. Für die Vermarktung von Das Cabinet des Dr. Caligari gebrauchte die Produktionsgesellschaft die Bezeichnung, was bald zu seiner Verbreitung und Anwendung auf ähnliche Insenierungen führen sollte, ohne dabei eine genauere Abgrenzung des Stils vorzunehmen. Was ist denn nun also als expressionistischer Film zu bezeichnen und welche Film bedienen sich lediglich einzelner Stilelemente und Versatzstücke des Expressionismus? Um der Antwort auf diese Frage näher zu kommen, werde ich mir einige, als expressionistisch geltende, Filme ansehen und analysieren. in seiner Geburtsstadt Holstenwall. Es beginnt mit der Ankündigung eines Jahrmarkts. Francis und sein Freund Alan beschließen, dort hinzugehen. In einer Parallelmontage sehen wir einen älteren Mann, Dr. Caligari, wie er durch die Straßen der Stadt geht. In einem Verwaltungsgebäude spricht er mit einem schlecht gelaunten Beamten, dem Stadtsekretär, um die Erlaubnis für seine Vorführung auf dem Jahrmarkt zu erhalten. Der Sekretär lässt Caligari lange warten, um ihn schließlich zu einem anderen Beamten weiterzuschicken. Dieser erlaubt Caligari die Vorführung. 2. Akt – Am nächsten Tag wird der Sekretär tot in seinem Bett aufgefunden. Er wurde von einem Unbekannten Täter mit einem Messer erstochen und die Polizei sucht nun nach Hinweisen. Francis und Alan schlendern über den Jahrmarkt und treffen auf den mysteriösen Caligari, der vor seiner Bude mit folgenden Worten um Aufmerksamkeit wirbt: «Step rrrrright in! Presenting here for the first time Cesare the Somnambulist. The miraculous Cesare – twenty-three years old, he has slept for twenty-three years – Continuously – Day and Night! Right before your eyes Cesare will awaken from his death-like trance. Step right in!» Francis und Alan betreten das Cabinet und sehen zu, wie der Somnambule aus seinem Schlaf erwacht. Caligari behauptet, er könne die erwachte Gestalt, die in einer aufgestellten Holzkiste liegt, befehligen. Außerdem sei der Somnambule allwissend und könne die Zukunft vorhersagen. Das Publikum soll nun Fragen stellen um sich selbst davon überzeugen zu können. Alan tritt nach vorne und fragt: «How long will I Live?», worauf der Somnambule, zu Alans Entsetzen antwortet: «Till the break of dawn» DAS CABINET DES DR. CALIGARI Robert Wiene, 1920 (restauriert; engl. Texte) Inhaltlich wirkt dieser Film schnell verwirrend, da er in eine Kern– und eine Rahmenhandlung gegliedert ist, deren Übergänge nicht immer ganz deutlich erscheinen, schaut man nicht genau hin. Die Handlung als Ganzes wird in sechs Akte unterteilt: 1. Akt – In einem Park unterhalten sich zwei Männer auf einer Bank. Der eine berichtet von Geistern, die ihn aus seinem eigenen Haus vertrieben hatten. Daraufhin tritt eine Frau, Jane, ins Bild und nähert sich den beiden. Sie ist die Verlobte des anderen Mannes auf der Bank, Francis. Dieser antwortet, er habe mit Jane zusammen etwas viel seltsameres erlebt als die Geistererscheinungen seines Gegenübers. Mit einer Rückblende zu dieser seltsamen Geschichte endet hier die Rahmenhandlung. Ab jetzt erzählt Francis von seinen Erlebnissen 06 07 Bestürzt eilen die beiden Freunde aus dem Zelt und verlassen den Jahrmarkt. Auf ihrem Weg nach Hause treffen sie Jane, mit der sie sich kurz unterhalten. Kurz darauf gestehen sich beide, in die Frau verliebt zu sein. Sie entschließen sich, ihre Freundschaft nicht daran zerbrechen zu lassen und wollen Jane entscheiden lassen, wen der beiden sie wählen wird. In der Nacht schleicht sich eine dunkle Gestalt an das Bett des schlafenden Alan und greift ihn an. Alan wehrt sich, kämpft um sein Leben, unterliegt jedoch und wird getötet. 3. Akt – Als Francis am nächsten Tag vom Tod seines Freundes erfährt, muss er sofort an die unheilvolle Prophezeiung des Cesare denken und veständigt die Polizei. Außerdem berichtet er Jane und ihrem Vater, Dr. Olsen. Dieser nutzt seinen Einfluss, um eine Untersuchung des Somnambulen zu erwirken. Zusammen mit dem Doktor geht Francis zum Wohnwagen Caligaris, der die beiden freundlich begrüßt und sie Cesare untersuchen lässt. Zur gleichen Zeit schleicht ein Mann verdächtig durch die Straßen und versucht in eines der Häuser einzubrechen. Der, mit einem Dolch bewaffnete, Mann wird jedoch bemerkt und von einigen Passanten aufgehalten. Sie bringen ihn zur Polizei, in der Annahme, den gesuchten Mörder in flagrantie erwischt zu haben. Noch im Wohnwagen Caligaris erfahren Francis und Dr. Olsen von der Festnahme und brechen ihre Untersuchung ab und machen sich auf den Weg zur Polizei. Caligari scheint sichtbar erleichtert, als die beiden gehen. 4. Akt – Der Gefasste wird verhört und gesteht, dass er eine Frau ermorden wollte und dabei so wie der gesuchte Täter vorgehen wollte, um den Verdacht auf ihn zu lenken. Mit einem Stich in die Seite und einem ähnlichen Dolch. In der Zwischenzeit wird Jane unruhig und geht los, um nach ihrem Vater bei Caligari zu suchen. Sie wird eingeladen, Cesare zu besichtigen, flieht aber entsetzt, als dieser die Augen öffnet und sie ansieht. Francis ist nochimmer sehr misstrauisch und kehrt in der Dunkelheit zu Caligaris Wohnwagen zurück, wo er durch das Fenster späht und Caligari, sowie Cesare schlafend vorfindet. In der Stadt aber schleicht eben dieser durch die Straßen, in das Haus von Jane. Mit der Absicht sie zu erstechen, nähert er sich ihrem Bett, hält jedoch inne und lässt schließlich den Dolch sinken. Von der Schönheit der Frau bezaubert, entführt er sie aus ihrem Schlafzimmer und trägt sie fort. Ihre Schreie wecken die Mitbewohner, die Cesare hinterhereilen. Nach einer kurzen Strecke finden sie Jane auf dem Boden liegend, ohne den Entführer zu Gesicht zu bekommen. Jane beteuert, von Cesare angegriffen worden zu sein, aber Francis, der zurückgekehrt ist, habe den schlafenden Somnambulen die ganze Nacht über beobachtet. 5. Akt – Wieder im Polizeigebäude vergewissert sich Francis, dass der dort Inhaftierte Verbrecher immernoch in seiner Zelle sitzt. Dann geht er, gemeinsam mit der Polizei, zu Caligari und dringt in dessen Wohnwagen ein. Es stellt sich heraus, dass in der Holzkiste nur eine Puppe liegt, die wie Cesare aussieht. Der wütende Caligari flieht. Francis verfolgt ihn bis auf den Hof einer Irrenanstalt, wo er die Pfleger nach einem Patienten namens Caligari fragt. Die können ihm allerdings nicht weiterhelfen und verweisen ihn an den Direktor der Anstallt. Im Büro angekommen, stellt Francis mit Entsetzen fest, dass der Direktor selbst Caligari ist. Er rennt auf den Hof um dem Personal davon zu erzählen. Sie warten bis der Direktor nach Hause gegangen ist und durchsuchen dann gemeinsam das Büro. Hier finden sie ein altes Buch über Somnambulismus und erfahren in einem Aufsatz, mit dem Namen «Das Cabinet des Dr. Caligari», von einem Mystiker, der in Italien, im Jahre 1703 ein Dorf terrorisiert 08 haben soll, indem er einem Somnambulen dazu befahl, mehrere Menschen zu ermorden. Außerdem finden Francis und die anderen ein Tagebuch, in dem der Direktor voller Freude von der Einlieferung eines Somnambulen berichtet. Es folgt eine Rückblende die zeigt, dass der Direktor schon lange auf eine Möglichkeit gewartet hat, dem Geheimnis dieses Mystikers auf die Spur zu kommen und zu lernen, den Somnambulen zu befehligen. Er scheint geradezu besessen davon zu sein. 6. Akt – Der Direktor ist in sein Büro zurückgekehrt. Cesare wird gefunden und in das Zimmer gebracht – er ist tot. Als der Direktor ihn sieht, erleidet er einen Zusammenbruch, rastet scheinbar aus. Die anwesenden Ärzte überwätigen ihn und sperren ihn, in eine Zwangsjacke gefesselt, weg. Nun wechselt der Film wieder zur Rahmenhandlung des ersten Akts, wo Francis mit dem älteren Mann auf der Bank sitzt. Er beendet seine Erzählung mit: «... and from that day on, the madman never again left his cell» Anschließend stehen die beiden auf und gehen gemeinsam. Plötzlich befinden sie sich auf dem Hof der Irrenanstalt, der von diversen Geisteskranken bevölkert ist. Unter ihnen ist auch Cesare, der eine Blume in Händen hält. Francis erkennt Jane, die auf einem Thron sitzt, und macht ihr einen Antrag. Sie lehnt ab mit den Worten: «We queens are not free to answer the call of our hearts» Francis taumelt zurück und wir sehen den Direktor den Hof betreten. Es ist der selbe wie in der Erzählung. Daraufhin stürzt sich Francis auf ihn und ruft: «He is Caligari Caligari Caligari!», wird aber von Pflegern festgehalten und eingesperrt. Der Film endet mit den Worten des Direktors: «At last I understand his delusion. He thinks I am that mystic –CALIGARI–! Now I know exactly how to Cure him...» Nachdem nun die Inhaltliche Ebene ausgebreitet ist, kann ich weiter auf den Filmstil, Stimmung und mögliche Deutungen eingehen. Über die Frage nach der Verantwortlichkeit für den Stil des Films, insbesondere des Dekors, stritten sich die Beteiligten Personen – besonders seit der, dem Film früh zugemessenen großen Bedeutung für das Image des deutschen Kinos. Entscheidend war sicher der Einfluss der Austatter, wie des Architekten der Decla, Hermann Warm. Die Verantwortlichen und die zeitgenössischen Rezepienten waren sich einig, dass das Motiv der Irrenanstalt sehr gut zu dem ausgefallenen, expressionistischen Stil passten. Robert Wiene erkannte von Anfang an die Möglichkeiten, die Realitätsfernen Formelemente des Expressionismus zu seinem Vorteil zu nutzen, Zumal das Budget für die Produktion nicht besonders hoch war. Tatsächlich unterstützen die verzerrten, spitzen Formen des Dekors die insgesamt düstere, beklemmende Stimmung des Werks. Auch die Drehbuchautoren Carl Mayer und Hans Janowitz hatten wohl großen Einfluss auf den Stil. 09 Die zackigen, teilweise nach vorn gewölbten Flächen sind in mehreren Ebenen aufgestellt und geben der Szene eine starke räumliche Wirkung. Bemerkenswert sind die Kontrastreichen Lichter und Schatten, die nicht etwa durch Kunstlicht der Studioausstattung entstanden, sondern direkt aufgemalt wurden. Dieses Vorgehen war in erster Linie eine Maßnahme, um Strom zu sparen, da die Versorgung in Berlin um 1919 sehr schlecht war und dem Produktionsteam nur ein begrenztes Kontingent an Strom zur Verfügung stand. Die harten Kontraste des bemalten Dekors lassen die Szenen unwirklich erscheinen. Dabei ist zu bedenken, dass es sich um einen Schwarzweiß–Film handelt, wodurch die Helldunkel–Kontraste wesentlich hervorgehoben werden. Vorgeführt wurden die Filme zu jener Zeit aber meist mit Farbtönung oder Colorierung. Die Typischen Farbtöne sind dabei bläulich–gelb am Tag, grün-blau in der Nacht. In Das Cabinet des Dr. Caligari kommen außerdem Grüntöne für die Rahmenhandlung und bräunliche Rosatöne für die Szenen in Janes Zimmer zum Einsatz. Letztere unterstreicht natürlich die Weiblichkeit... Ein weiterer, wichtiger Faktor, neben den Dekors, ist sicherlich die Spielweise der Hauptdarsteller, insbesondere die des Werner Krauß als Dr. Caligari und Conrad Veidt als Cesare. Die merkwürdig artifizell wirkenden Gesten und Bewegungen Caligaris verstärken seine andersartigkeit und unterstützen seine Rolle als Antagonisten. Sein Gang ist leicht gebückt, mechanisch und abgehackt. Sein hoher Hut lässt ihn dabei nicht klein wirken. Er tendiert dazu, Bewegungsabläufe künstlich zu strecken oder abrupt abzubrechen, um in unnatürlicher Haltung zu erstarren. Im Kontrast dazu, sowie zum expressionistischen Dekor, stehen die Darstellungsweisen der übrigen Darsteller des Ensembles. Friedrich Feher als Francis und Hans–Heinz von Twardowski als Alan halten sich überwiegend an bewährte Darstellungsmuster, ohne sich der Stilisierung des Films anzupassen. Sie bewegen sich 10 realistisch, ihre Gesten sind theatralisch und klischeehaft. Besonders die Schauspielerische Leistung der Lil Dagover als Jane wird schon in zeitgenössischen Kritiken negativ bewertet. So schreibt beispielsweise Herbert Jhering im Berliner Börsen–Courier vom 29.02.1920: «Lil Dagover ist die süße Talentlosigkeit, die mit ihrer ausdruckslosen Glätte überall, aber hier erst recht, unmöglich ist. Der Expressio11 nismus entlarvt, er verlangt eine unnachgiebige Auswahl der Schauspieler.» Der Vorteil dieser Naturalistischen Spielweise ist ein leichterer Zugang – Die Zuschauer können sich mit den Protagonisten identifizieren und Empathie mit ihnen empfinden. Sieht man sich das überwiegend naturalistisch spielende Ensemble, und die übrigen Inszenierungen Wienes an, lässt sich behaupten, dass er eigentlich kein 12 expressionistischer Regisseur gewesen ist. Die Kameraeinstellungen, überwiegend halbBei der Farbgebung hat man sich also noch auf nah und halbtotal in Frontalsicht, ergeben sich geltende Konventionen beschränkt. Durch aus den vorgefertigten Bühnenbildern. Großden Vorgang der Viragierung werden die Kanaufnahmen sind hingegen eher selten, werden ten geringfügig unscharf, Kontraste werden dadurch aber um so bedeutsamer für die leicht abgeschwächt. Dramaturgie und Handlung. Durch die passive Kamera kommen die kontrastreichen Licht–, Schattenkompositionen stärker zur Geltung. Bis auf wenige Ausnahmen bleibt die Kamera fix. Dies ist mitunter den Drehbedingungen im Atelier geschuldet, wo die Dekorationen schon einen Großteil der Räumlichkeiten einnahmen und wenig Platz für Kamerabewegungen ließen. Bemerkenswert ist der Gebrauch von Irisblenden, der in zahlreichen Szenen eine räumlichkeit schafft, beziehungsweise die schon vorhandene Tiefenwirkung der Bildkomposition verstärkt. KRACAUERS INTERPRETATION In seinem 1947 veröffentlichten Buch Von Caligari zu Hitler bemerkt der Filmtheoretiker und Soziologe Siegfried Kracauer einen sozialpsychologischen Zusammenhang von Plot, insbesondere der Figur des Dr. Caligari, und der Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland. Er sieht Caligari als machtbesessenen Psychopathen, als Tyrann, der den, das Volk repräsentierenden, Durchschnittsmenschen kontrolliert und zum Töten abkommandiert, wie es der militaristische Staat tut. Der «kleine Mann», verkörpert durch den schlafwandelnden Cesare, ist seinem Meister willenlos ausgeliefert. Besonders interessant wird in diesem Zusammenhang der Verlauf der Rahmenhandlung: Francis stellt sich hier als Wahnsinnig heraus und der Direktor/Caligari wird in seiner 13 Machtposition als Wohlwollende Autorität dargestellt. Der erste Drehbuchentwurf sah Außerdem wird durch Masken die Aufmerksamin der Schlussszene Francis und Jane vor, wie keit immer wieder auf bestimmte Punkte oder sie einer Abendgesellschaft gemeinsam die Personen fokussiert. Auch als Montagemittel Schauergeschichte erzählen. Stattdessen wird zur Überblendung zwischen Sequenzen wird ein überraschender Perspektivwechsel vordie Irisblende häufig eingesetzt. Filmhistorisch genommen und nicht Caligari, sondern der wird Das Cabinet des Dr. Caligari als «BefreiErzähler als Verrückt entlarvt. ung vom Kitsch» und Festigung des Films als Kracauers Ausführungen stützen sich auf die Künstlerisches Medium bezeichnet. Dennoch im Exil verfassten Aufzeichnungen von Hans fanden sich selbstverständlich auch Kritiker der Janowitz, in denen die Behauptung aufgestellt antinaturalistischen Bildgestaltung, darunter wird, Caligari sei als Symbol für die Obrigder französische Regisseur Jean Epstein oder keit des Kaiserreichs entworfen und Cesare der russische Regisseur Sergej Eisenstein. stelle die zum Wehrdienst verpflichteten UnLetzterer kommentierte Wienes Film im Jahre tertanen dar. Dies gilt jedoch als nachträglich 1941 als «barbarische Orgie der Selbstvernichdurch Janowitz hinzugedeutet, wie auch antung gesunden Menschentums in der Kunst, gebliche expressionistische Stiltendenzen im dieses Massengrab aller gesunden Prinzipien des Originaldrehbuch, das durchweg konventioFilms, dieses Schlachtfeld stummer Hysterie, nell erscheint. Ebenfalls nicht nachgewiesen, dieser Tummelplatz bemalter Leinwand, stümist die Behauptung Fritz Langs, er selbst sei für perhaft gezeichneter Kulissen, angepinselter die Rahmenhandlung, oder zumindest für die Gesichter, unnatürlicher Verzerrungen und Anfangsszene verantwortlich. Insgesamt ist abenteuerlicher Hirngespinste». Trotzdem die Entstehungsgeschichte damals wie heute war er am expressionistischen Film interessiert sehr undurchsichtig und kaum vorbehaltlos und nahm seine Stilmittel positiv auf. nachzuvollziehen. EXPRESSIONISTISCHE STUMMFILME NACH CALIGARI Nachdem Das Cabinet des Dr. Caligari in weiten Kreisen erfolgreich in den Lichtspielhäusern lief, begann die Produktion weiterer expressionistischer Inszenierungen. Nur Zehn Wochen nach der Premiere von Caligari Begannen die Dreharbeiten zu VON MORGENS BIS MITTERNACHTS. Die verantwortlichen Produzenten waren Herbert Juttke und Georg Isenthal. Juttke schrieb zusammen mit Karl Heinz Martin das Drehbuch. Martin fungierte außerdem als Regisseur. Das Interesse der Verleiher blieb jedoch gering, sodass es zunächst zu keiner öffentlichen Vorführung kam. Erst 1963 wurde eine Kopie des Films vom Staatlichen Filmarchiv der DDR gekauft und aufgeführt. Das Drehbuch basiert auf der erfolgreichen literarischen Vorlage des gleichnamigen expressionistischen Dramas von Georg Kaiser. Es geht um einen Kassierer, alias Ernst Deutsch, der der Versuchung nachgibt und eine größere Menge Geld stiehlt, um seinem kleinbürgerlichen Alltag zu entkommen. Die Motivation für diese Tat geht von einer schönen Dame, gespielt von Erna Morena, aus, die Geld ausleihen wollte, vom Bankdirektor aber abgewiesen wird. Der Kassierer möchte ihr helfen und bietet ihr das gestohlene Geld an. Die lehnt jedoch lachend ab. Daraufhin geht der Kassierer heim zu seiner Familie – Mutter, Ehefrau und Tochter – nur um kurze Zeit später, aus Angst gefasst zu werden, in das nächtliche Schneegestöber flieht. Bald darauf kommt auch schon der Bankdirektor samt Polizei im Haus des Kassierers an, den sie nur knapp verpassen. Über einen Filmtrick, ein animierter Zwischentitel, wird der Zuschauer informiert, dass der Protagonist nun polizeilich gesucht wird. Berauscht vom neuartigen Lebensgefühl, das ihm sein erbeuteter materieller Reichtum scheinbar offenbart, kauft er sich einen eleganten Anzug und Hut, besucht ein Sechstagerennen und verprasst sein Geld in einem Tanzlokal. Danach landet er in einem Kneipenkeller und zockt mit zwielichtigen Ganoven. Er entkommt der Spielhölle mit Hilfe eines Heilsarmee–Mädchens, gespielt von Roma Bahn, und folgt ihr in eine Kapelle. Hier plagt ihn die Angst vor einer Inhaftierung und er gesteht dem Mädchen seine Tat. Das übrige Geld verteil er an die Armen, die sich auf die vielen Geldscheine stürzen und dann verschwinden. Zum Schluss verrät ihn das Mädchen an einen Polizisten und um seiner Verhaftung zu entkommen erschießt der Kassierer sich mit einer Pistole. In den verschiedenen Stationen seiner Reise wird er immer wieder von Visionen eines Totenschädels verfolgt, die aus den Gesichtern der Frauen übergeblendet werden. Der hoffnugsvolle Aufbruch des Kassierers in eine neue, bessere Existenz scheint als Analogie zur utopischen Aufbruchstimmung der jungen Expressionisten, und deren Scheitern im Ausgang des Krieges gemeint zu sein. In seinem expressionistischen Stil ist Von Morgens bis Mitternachts extrem konsequent: Sowohl Handlung, obwohl nicht wie so häufig von phantastischer Ausprägung, als auch Spielweise und Dekorationen sind deutlich expressionistisch. Die Formen sind abstrakt, 14 15 grafisch und stark verzerrt, die Räume wirken flächig, ohne erkennbare Perspektive. Kongruent zu den kontrastreichen Dekors stehen die Kostüme und Masken mit ihren aufgemalten geometrischen Formen und weiß nachgezogenen Konturen. Genuine entkommt ihrem Gefängnis und als Florian sie sieht, fällt er unter ihren Bann. Auch der Neffe des Lords, Percy, verliebt sich in die schöne Genuine. Diese bringt Florian dazu, Lord Melo die Kehle durchzuschneiden und verlangt nun von beiden Männern, sich zum Beweis ihrer Liebe selbst zu töten. Doch Florian verliert den Verstand und Genuine selbst verliebt sich in Percy. Auch der Diener weigert sich Florian zu töten. Währenddessen stürmt ein wütender Mob, angeführt vom alten Friseur, das Schloss. Am Ende ersticht Florian Genuine aus Wahnsinn und Eifersucht. Thematisch knüpft Genuine damit an die vorangegangenen Drehbücher Mayers an. Auch in den Werken Johannes Goth und Der Bucklige und die Tänzerin steht eine tragische, zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung im Mittelpunkt der Handlung. Kracauer erkannte aber erst in Genuine eine Schwerpunktverschiebung, weg vom Motiv des Machtbesessenen Tyrannen, hin zum Triebmotiv. Die Ausstattung von Klein ist stark ornamental verziert, weist teilweise schon Stilelemente des Art– Déco auf und wirkt dadurch exzessiv und lebendig. Diese Lebendigkeit geht auch von Andras Genuine aus. Der Stil scheint aber insgesamt durchwachsen, teilweise stark abstrahiert, dabei immer wieder von realistischen Elementen kontrastiert. Artifizielle Dekors treffen auf echte Baumäste, phantastische Ornamente umgeben das reale Spiegelbild des Lords bei seiner Rasur. Was die Spielweise der weiblichen Hauptdarstellerin, sowie der Nebenrollen anbelangt ist Genuine dem Cabinet des Dr. Caligari auffallend ähnlich: Kaum gestaltet, von geringer schauspielerischer Tiefe und unpassend naturalistisch. Dennoch schuf Wiene einen deutlich expressionistischen Film. Ebenfalls kurz nach Caligari begann die Decla– Filmgesellschaft mit der Produktion von GENUINE, wieder unter der Regie von Robert Wiene und einem Drehbuch von Carl Mayer. Der eng gesetzte Zeitplan und die Verpflichtung des expressionistischen Malers César Klein als Bühnenbildner zeigen das Interesse der Produktionsfirma, an den finanziellen Erfolg von Caligari anzuknüpfen. Die abenteuerliche Geschichte wird abermals von einer Rahmenhandlung eingefasst, um den Zugang zu erleichtern, und sogar von vornherein als nicht wirklich kenntlich gemacht, da es sich um einen Traum handelt: Der Maler Percy, Harald Paulsen, hat die Priesterin Genuine, Fern Andra, porträtiert und ist nun in seinen Roman vertieft. Er schläft ein und das Bildnis der Genuine erwacht zum Leben und entsteigt dem Gemälde. Sie wird von einer Orientalischen Sekte in deren Rituale einbezogen, trinkt Blut und ihr guter Charakter wird verdorben. Nach einem Tumult gerät Genuine auf einen Sklavenmarkt, wo sie an den alten, voyeuristischen Lord Melo, Ernst Gronau, verkauft wird, der sie einsperrt und niemanden sonst in ihre Nähe lässt. Bewacht wird sie von einem übergroßen ,schwarzen Diener. Allein der Friseur des Lords erhält Zutritt zum Schloss, um ihn täglich zu rasieren. Weil der Friseur verhindert ist, schickt er seinen Neffen Florian, der mit Hans Heinrich von Twardowski besetzt wurde, 16 17 Bei dem dritten expressionistischen Film Wienes, RASKOLNIKOW, handelt es sich um die filmische Adaption von Schuld und Sühne, dem wohl populärsten Roman von Fjodor Dostojewski. Dabei handelt es sich keineswegs um die erste Verfilmung des anspruchsvollem Stoffes. so wurde der Roman bereits in Russland in den Jahren 1910 und 1913, 1916 in Ungarn und dann auch in Deutschland 1919 von William Kahn auf die Leinwand gebracht. Bei den ausgedehnten Selbstreflexionen in Form von inneren Monologen und Introspektion liegt die Verwendung expressionistischer Stilmittel und Medienspezifischer Techniken am nächsten. Wienes Film von 1922 konzentriert sich auf die Geschichte des jungen Jurastudenten Raskolnikow, der in einem Artikel davon ausgeht, dass es «außergewöhnlichen Menschen» erlaubt sein sollte, sich über Hindernisse, etwa in Form von Regeln und Gesetzen, hinwegzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Ein solches Hindernis sieht der finanziell verschuldete Student in einer Pfandleiherin, die er ermordet, um ihre Wertsachen zu verkaufen. Die Schwester der Pfandleiherin wird Zeuge der Tat und ebenfalls umgebracht. Von Schuldgefühlen geplagt, verfällt Raskolnikow bald fibrigen Alpträumen und Visionen. Durch die wiederholten Befragungen eines Untersuchungsrichters unter Druck gesetzt, ist er dem Zusammenbruch nahe und gesteht den Doppelmord schließlich der jungen Sonja, bei deren Familie er wohnt, und in die er schon länger verliebt ist. Nur zu ihr hat er noch Vertrauen. Auch Sonjas Familie ist kurz davor zu zerbrechen – Ihr Vater ist alkoholiker und ihre Mutter beginnt den Verstand zu verlieren. Nachdem ein religiöser Fanatiker sich zu den Morden bekennt und sich das Leben nimmt, geht Raskolnikow zur Polizei und stellt sich. In den Hauptrollen sind Gregori Chmara als Raskolnikow, Maria Kryschanowskaja als Sonja und Pawel Pawlow als Untersuchungsrichter Petrowitsch zu sehen. Um eine gewisse Nähe zur Romanvorlage zu erhalten, wurde als Ausstatter der Russe Andrej Andrejew vom Moskauer Künstlertheater verpflichtet. Seine Bühnenbilder beinhalten große Strukturformen und abstrakte Symbolik. Das Dekor ist wieder stark verformt, gekrümmt und unwirklich, spiegelt dabei zusätzlich besonders gut den Gewissenskonflikt des Protagonisten wider. Die expressionistischen Formen kommen hier weniger durch das Wölben und Verzerren gesamter Gebäude zustande, sondern vielmehr durch die Neuanordnung einzelner Bauteile. Andrejews Architektur vermeidet horizontale und vertikale Linien, Wände sind stark nach vorn geneigt, Balken des Fachwerks stecken wirr ineinander und sind nur selten parallel. Auffällig sind die drastischen Überspitzungen der Formelemente im Dekor zur Kenntlichmachung der alptraumhaften Visionen des Schuldgeplagten Raskolnikow. Spitzen und Zacken stehen überall hervor, wirken bedrohlich und geradezu hysterisch. 18 19 Die Betonung der expressionistischen Formen wird fast schon überstrapaziert, während die Metaphysik, die Sezierung des Konflikts zwischen dem Verstand, der Seele und dem Verbrechen überzeugend visualisiert wird. Die Kostüme der Figuren zeigen ihren sozialen Status an: Raskolnikow trägt einen abgenutzten Mantel, höhergestellte Personen, wie der Untersuchungsrichter, sind in feine Anzüge gekleidet. Sonjas Wandel von einer Prostituierten zur geläuterten, religiösen Frau wird durch ihren Garderobenwechsel symbolisiert. Trägt sie zu Beginn noch einen frechen Federhut und ein farbenfrohes Kleid, wird sie später mit einem züchtigen, geschlossenen Gewand in reinem Weiß gezeigt. Die Lichtgestaltung ist abermals durch starke Helldunkel–Kontraste, in Form von dunklen Räumen und Korridoren, gespickt mit hellen Lichtflecken, geprägt. Wenn der Protagonist fast vollständig in diesen düsteren Korridoren verschwindet, scheint der Schatten wie ein Symbol für Raskolnikows Innerstes, wo ein Kampf zwischen Hell und Dunkel – Gut und Böse ausgefochten wird. An anderen Stellen sind Lichter direkt auf die Oberflächen auf- gemalt. Die teilweise in phosphoreszierenden Farben gezogenen Linien werden von Lichtkegeln hervorgehoben und unterstützen die spitzen, aggressiven Konturen des Dekors. Häufig werden mit Scheinwerfern auch wichtige Figuren fokussiert, statt sie in einer Großaufnahme zu zeigen. Das Schauspiel der russischen Darsteller ist reduziert, dabei sehr naturalistisch – mit Ausnahme der Traumsequenzen – und stellt sich damit in Kongruenz zu den abstrakten Bühnenbildern. Es ist psychologisierend aber nicht sehr expressionistisch. 20 DAS EXPRESSIONISTISCHE THEATER IM VERGLEICH Harry Alan Potamkin degradierte 1929 die Ästhetik expressionistischer Filmproduktionen zu einer Kopie der Theaterästhetik. Auch Kracauer beschrieb in seinem Aufsatz «Wiedersehen mit alten Filmen» von 1939 die expressionistischen Filmdekors als Theaterdekorationen, was er später in seinem Hauptwerk relativieren sollte. Hier schreibt er von einer «Nähe des Caligari zur Bühne». Zur Zeit des 1. Weltkrieges sorgten materielle Engpässe für eine Reduzierung und Abstrahierung der Bühnenbilder und expressionistische Dramen begünstigten diese Vereinfachung. Um Emotionen zu verdichten und auf das wesentliche herunterzubrechen, blieb die Bühne fast völlig leer oder man beschränkte sich auf wenige Details. Diese reduzierten Formelemente heben fast immer auch die Essenz der Dichtung hervor und bedienen sich mehr oder weniger abstrahierter Symbole. Besonders in späteren Stücken wurde exzessiv mit Farbe gearbeitet und die Farbgebung expressionistischer Malerei auf die Bühnenbilder übertragen. Wie auch der Film, bedient sich das expressionistische Theater starker Helldunkel–Kontraste und greift dabei auf moderne Lichttechnik zurück. Grelle Lichtakzente oder dunkle Schatten unterstreichen die Stimmung von Dekorationen und Schauspielern. Außerdem hilft das Licht bei der Gliederung abstrakter Räume. Insgesamt ist das expressionistische Thaeater bestimmt von Verdichtung, Konzentration und Symbolik, zugunsten einer visionären Umsetzung des Grundmotivs. Später wurde das Bühnenbild teilweise sogar vom expressionistischen Film beeinflusst. MERKMALE EXPRESSIONISTISCHER FILME – eine Zusammenfassung: Nach dieser exemplarischen Sichtung möchte ich nun versuchen, die gemeinsamen Eigenschaften expressionistischer Inszenierungen anzuführen, um die am Anfang gestellte Frage nach einer Definition, im Bereich Film zu beantworten. Die Dekors expressionistischer Filme sind überwiegend verzerrt, teilweise bis zur Unförmigkeit überzeichnet. Eigentlich statische Flächen wie Hauswände fallen nach vorn oder hinten, Fenster, Giebel und andere Bauelemente verformen zu Trapezen. Die Architektur wird dadurch sehr dynamisch, scheint bei radikalen Verzerrungen der Gravitation zu trotzen. Zusätzlich kommen häufig dekorative und ornamentale Elemente zum Einsatz, die geometrisch wirken und dabei helfen, den Raum zu gliedern. Gute Beispiele sind die Strahlenförmig zulaufenden Bemalungen auf dem Boden des Hofs der Irrenanstalt im Cabinet des Dr. Caligari oder etwa das Treppengeländer im Haus der Pfandleiherin in Raskolnikow. Bei letzterem, und auch in anderen späten Produktionen, treten architektonische Elemente and die Stelle aufgemalter Linien und Flächen. Teilweise wird die Perspektive zumindest zurückgenommen, wodurch ein grafischeres, zweidimensionales Bild entsteht., die jedoch nicht so stark ausgeprägt wurde wie in der Malerei. Auch das Gestaltungselement der Farbe kann im expressionistischen Film nicht angewandt werden. Die Funktionalität der Filmdekors unterscheidet diese von expressionistischer Malerei zusätzlich. Auch im Vergleich zum Bühnenbild des expressionistischen Theaters bleiben die Dekors relativ gegenständlich, nicht vollkommen abstrakt, wie im radikalsten Fall eine leere Theaterbühne. Von Morgens bis Mitternachts ist hierbei wohl der Film, dessen Ausstattung am puristischten ausfällt. Die häufige Verwendung von grafischen oder architektonischen Symbolen haben Theater und Film gemeinsam. Ein aufgemaltes Spinnennetz, in dessen Zentrum der Untersuchungsrichter sitzt, versinnbildlicht in Raskolnikow die lauernde Bedrohung, die Falle, in die der Protagonist gelockt werden soll. 21 22 23 24 In ihrer Wirkung sich gegenseitig unterstützend, sollen Dekors und Schauspieler expressionistischer Filme miteinander verschmelzen. Die Gewichtung beider Elemente ist dabei im Film umgekehrt. Steht im Theater deutlich der Mensch im Vordergrund, gewinnt im Film das Dekors und die daraus entstehende Bildkomposition stark an Bedeutung. Schauspieler wie Werner Krauß und Conrad Veidt versuchten sich durch ihr artifizielles Schauspiel, mechanische, gezielt verlangsamte Bewgungen und unnatürlichen Posen, der Ästhetik der Filmdekors zu nähern. Rhythmisierte Bewegungsmuster, unorganisch abrupt akzentuierte Abläufe und angespannte, konzentrierte Körperhaltungen sind Merkmale des expressionistischen Filmspiels. Bei der Betrachtung der bevorzugten Handlungsmotive fällt eine Anhäufung Phantastischer, düster–schauriger Handlungen auf. Diese Schauerromantischen Motive finden ihre Vorbilder in der Trivialliteratur. Es bestehen durchaus Analogien zu Schriftstellern wie Edgar Allen Poe oder Karl Heinz Strobl und Alfred Kubin. Poe wird zu den Vertretern der sogenannten schwarzen Romatik gezählt. Als Handlungsorte dienen meist ahistorische, nicht genauer lokalisierte Schauplätze. Es findet sich zwar immer auch eine soziale Realität, die aber in verzerrter und übertriebener Form dargestellt wird. In den ersten Künstlerisch ambitionierten Filmen, wie Der Student von Prag, Nosferatu oder Golem tauchen vermehrt übernatürliche, unmenschliche Gestalten und Kreaturen auf. Diese Tendenz bleibt in expressionistischen Filmen weitgehend aus. Stattdessen handelt es sich um ungewöhnliche Menschen, mit unnatürlichen, grotesken Phantasien, Gelüsten oder Obsessionen, von denen auch der Handlungsverlauf bestimmt wird. Béla Balázs schrieb 1924: 25 «Traum und Vision. Das ist das Gebiet, wo der Expressionismus jedem Philister einleuchtet». Unterstützt wird die Wirkung von Schauspiel und Dekor durch gezielte Beleuchtung mit starken Helldunkel–Kontrasten. In manchen Fällen sind Licht und Schatten direkt auf die Oberflächen aufgemalt. EINFLUSS EXPRESSIONISTISCHER FILME In der heutigen Zeit finden wir immernoch deutliche Spuren des expressionistischen Films und seiner ästhetischen Qualitäten. Auch wenn moderne Inszenierungen, Standards und Sehgewohnheiten keine rein expressionistischen Produktionen mehr zulassen dürften, stoßen wir immer wieder expressionistische Elemente innerhalb vielzähliger Filme. In Folge der Machtergreifung der Nazis 1933 verließen viele deutsche Filmschaffende das Land und gingen nach Hollywood. Hier bildeten sich zwei Filmgenres heraus, die weitgehend vom Expressionismus beeinflusst waren: Der Horrorfilm und der Film Noir. Das Immer wieder in Horrorfilmen auftauchende Motiv der durch das Böse bedrohten Unschuld wurde schon in Filmen wie Das Cabinet des Dr. Caligari vorweggenommen. Auch Motive wie Angst und Tod sind im Filmexpressionismus stark vertreten und werden im Horrorgenre aufgegriffen. Das Genre Film Noir entstand im amerikanischen Kino der 40er und 50er Jahre, als dessen erster Vertreter Die Spur des Falken von John Huston, 1941 gilt. Sowohl ästhetisch als auch inhaltlich tendieren Filme dieser Gattung zur Romantisierung, haben dabei aber einen zynisch pessimistischen Grundton. Das Ensemble beinhaltet fast immer einen verzweifelten Detektiv in der Rolle des Antihelden und eine attraktive Femme fatale. Die Fokussierung auf die subjektive Wahrnehmung der Hauptfigur ist dabei eine weitere Parallele zum expressionistischen Film der 20er Jahre, wie etwa in Raskolnikow. In der Gestaltung seiner Filmdekors scheint insbesondere Tim Burton stark vom Expressionismus beeinflusst zu sein. In seinen Filmen wie Beetlejuice von 1988 oder The Nightmare Before Christmas von 1993 fallen die verzerrten, skurril wirkenden Kulissen auf. Daneben gibt es auch einige direkte Nachahmungen expressionistischer Werke, wie etwa die Neuverfilmung von Das Cabinet des Dr. Caligari von David Lee Fischer im Jahr 2006 oder die Homage The Imaginarium of Doctor Parnassus von Terry Gilliam, 2009. Am deutlichsten beeinflusst ist wohl das Werk des Regisseurs David Lynch, dessen surrealistisch alptraumhafte Inszenierungen sich mit Themen wie Metamorphose, Voyeurismus, Unterbewusstsein und Traumwelten auseinandersetzen. Lynch selbst zählt zu seinen größten Einflüssen die Maler Edward Hopper, Francis Bacon und Henri Rousseau. Außerdem habe ihn Franz Kafka stark geprägt. Diese Prägung kommt besonders in seinem 1997 erschienenen Film Lost Highway zur Geltung. Als Gegenpart zu Motiven wie Mittelstand, Geborgenheit der Kleinstadt, Familie und Liebe treten unterdrückte Gewalt und Lust auf. In Introspektion werden Unbewusste Triebe und Obsessionen behandelt und mit filmi- schen Mitteln visualisiert. Desweiteren finden sich Motive des Doppelgängers oder fremdartiger Gestalten. So auch in Lost Highway der Mystery Man und die Figuren Renée und Alice. Lynch bedient sich einer offenen Erzählstruktur und seine Werke lassen viel Spielraum für Interpretationen. Bemerkenswert ist auch sein Einsatz von Musik und Soundkulissen, die dazu beitragen, eine banale Alltagssituation in Horror umschlagen zu lassen. Lynch und Burton sind wohl die einzigen, in deren Werken sich eine anhaltende Tendenz zum Expressionismus entdecken lässt. Nennenswert ist ansonsten noch der visuelle Stil von Lemony Snicket‘s A Series of Unfortunate Events von Brad Silberling, 2004 und La Cité des enfants perdus von Jean-Pierre Jeunet, 1995. Während der Expressionismus vor allem in den Bereichen des Dekors und der Motive weiterhin erkennbar bleibt, lässt sich scheinbar eine rein expressionistische Spielweise nicht mehr zeitgemäß verantworten. Verbliebene Elemente und Einflüsse der expressionistischen Filme lassen sich nicht mehr eine eng definierte Kategorie beschränken, sondern tauchen, in mehr oder weniger ausgeprägter Form, in vielen der heutigen Genres und Subgenres auf, meist ohne in den Vordergrund der ästhetischen gestaltung zu rücken. 26 27 QUELLEN: - Jürgen Kasten, Der expressionistische Film, ISBN 3-88811-546-9, MAkS Publikationen - Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler, ISBN 978-3518280799, Suhrkamp - Gerhard Vana, Metropolis: Modell und Mimesis, ISBN 3-7861-2345-4, Gebr. Mann Verlag - Wikipedia: Artikel zu Expressionismus, im Text genannte Filme, Lynch, Burton
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