Expressionistischer Film

Expressionistischer Film
Hintergründe, Entwicklung und Wirkung
oder: Von Caligari zu Lynch
Sören Ihnenfeld
MM|VR – Design
Professor für Ästhetik:
Prof. Dr. Dieter Knoell
EINLEITUNG – Was ist eigentlich Expressionistisch?
Zu Beginn meiner Recherche ging ich davon
aus, Expressionismus sei, wie etwa historische
Kunstepochen, ein zeitlich klar eingegrenzter
Abschnitt, in dem ganz bestimmte Stilmittel
innerhalb der verschiedenen Kunstgattungen
vorherrschten. So könne eine Zuordnung
bestimmter Werke in die Kategorie des Expressionismus stattfinden. Dies mag für die Bildenden Künste durchaus zutreffend sein, lässt sich
aber nicht unbedingt auf den Film übertragen.
Ganz so leicht, so sollte sich herausstellen, ist
es nämlich nicht, was insbesondere an einer
immernoch sehr undurchsichtigen Zusammenfassung ästhetischer Stiltendenzen liegt.
Der letzte multinationale Epochenstil ist laut
dem Kunsthistoriker Martin Wackernagel das
Rokkoko, welcher 1730 - 1750 vorherrschte.
In der Kunst der Moderne treten dagegen sehr
viele verschiedene Stilrichtungen parallel auf.
Diese sind meist zeitlich und räumlich stark
begrenzt. Mitunter vermischen sich einzelne
Stilelemente untereinander, was eine Zuordnung individueller Stile im 20. Jh. zunehmend
erschwert. Diese Problematik trifft auch auf
die Stiltendenzen des Films zu. Bevor ich dazu
komme, möchte ich jedoch mit der, zwar
obligatorischen, aber dennoch sinnvollen,
Definition des Begriffs Expressionismus in der
Bildenden Kunst beginnen:
Das Wort stammt vom lateinischen expressio
ab und bedeutet «Ausdruck». Im selbstverständnis der Künstler war es in erster Linie
eine Gegenbewegung zu den bestehenden
Konventionen und Tendenzen des Impressionismus und Naturalismus. Was eine genaue
Datierung anbelangt, sind sich viele Quellen
nicht ganz einig, auf die moderne Kunst in
Deutschland beschränkt, ist der Zeitraum von
1910 bis 1922 wohl einigermaßen genau.
Frühe Vorläufer des Expressionismus traten
jedoch bereits zum Ende des 19. Jh. auf und
vermischten sich mit Elementen des Sym-
bolismus und Jugendstils. Sie sind als erste
Gegenreaktionen auf den «Objektiven Ordnungswillen» des Imressionismus zu verstehen.
Künstler aus dieser Zeit, die sich expressionistischen Stilelemeten widmeten waren Vincent
van Gogh, Paul Gauguin, Georges Rouaults, Pablo Picasso, Henri de Toulouse-Lautrec, James
Ensor, Ferdinand Hodler und Edward Munch.
In Frankreich wird diese Strömung der Kunst
als Fauvismus bezeichnet.
Die Zeit des Expressionismus ist geprägt von
tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der
Gesellschaft – Einher mit der Industriellen
Revolution, geht auch die Revolution gegen
das wilhelminische Patriarchat. Der rapide
technologische Fortschritt sorgt für wirtschaftlichen Aufschwung, die Bedeutung von
ökonomischer Funktionalität und Effizienz
wächst an und das Individuum wird in den
Hintergrund gedrängt. Diese neuen Lebensbedingungen standen in Kontrast zu alten
Werten des Bürgertums, was bald zu großen
Spannungen und Unsicherheit führte. Auch
der Erste Weltkrieg hatte erheblichen Einfluss
auf die Generation junger Expressionisten.
Sowohl der Krieg als auch die bald darauf
entstehende Weimarer Republik vermochten
es jedoch nicht, die Gesellschaft im Sinne des
Expressionismus zu verändern.
Charakteristisch für die Malerei dieser Zeit
sind der freie Umgang mit Form und Farben,
die häufig ungemischt verwendet werden. Die
traditionelle Perspektive wird aufgehoben,
Formelemente und Motive werden reduziert.
Den Künstlern des Expressionismus ging es in
erster Linie darum, kein Motiv abzubilden,
sondern die Emotionen, die das Motiv beim
Künstler hervorruft. Also seine ganz subjektive
Wahrnehmung zum Ausdruck zu bringen.
Zusammenfassend lässt sich behaupten, der
Expressionismus ist nicht als bloßer Stil zu
betrachten, sondern als Weltanschauung.
Viele der Künstler schlossen sich in diversen
Vereinigungen zusammen. So zum Beispiel:
Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl
Schmidt-Rottluff, Otto Mueller und Max Pechstein. Sie bildeten die Dresdner Brücke (1905
– 1913) und waren auch Mitglieder der Neuen Secession (1910/1911) in Berlin. Eine
andere Gruppe bildeten unter anderen
Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky, Franz
Marc, Gabriele Münter und Marianne von
Werefkin mit der Neuen Künstlervereinigung
München (1909).
Mitglieder dieser Vereinigung, insbesondere
Kandinsky und Marc bildeten außerdem von
1911 bis 1914 die Redaktion für Den Blauen
Reiter. Sie organisierten Ausstellungen in
München und publizierten einen Almanach.
Es folgt eine Reihe von exemplarischen Werken
des Expressionismus:
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Die großen blauen Pferde, Marc, 1911
Rote Stadt, von Werefkin, 1909
Zwei Mädchen im Grünen, Müller, 1925
Russisches Ballet, Macke, 1912
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DIE ENTSTEHUNG DES EXPRESSIONISTISCHEN FILMS
Bevor man innerhalb der Kinematographie bestimmte Stile definieren kann, musste der Film
ersteinmal als Kunstform anerkannt werden.
Diesen Meilenstein der Filmrezeption setzten
Der Andere von Max Mack und Der Student
von Prag von Hanns Heinz Ewers /Stellan Rye.
Beide Filme hatten ihre Uraufführung 1913.
In Frankreich bewarb der Pathé–Konzern
seine Produktionen als künstlerische Filme
und drehte erfolgreiche Theaterstücke mit
namhaften Darstellern nach, um den Filmmarkt anzukurbeln. Auch in Deutschland
wurden wenige Jahre später die Filme der
führenden Produktionsgesellschaften, als
künstlerisch ambitioniert, den kulturinteressierten Kinogängern schmackhaft gemacht.
Diese Entwicklung des Kunstfilms wird schon
früh durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges
zum Erliegen gebracht und größtenteils mit
Unterhaltungsfilmen ersetzt.
Zu den beliebtesten Genres zu dieser Zeit
(1915 – 1918) gehören Komödien und
Detektivfilme. Diese Filmproduktionen ließen wenig Spielraum für Experimente. Um
den Film als Medium für Propaganda besser
nutzen zu können wurde eine Vereinigung
der Filmfirmen durch das Reich angestrebt.
Unter der Leitung von Alfred Hugenberg,
Generaldirektor bei Krupp, wurde die
Deutsche Lichtbild–Gesellschaft gegründet.
Ausländische Firmeninhaber wurden enteignet
und Produktionsgesellschaften zusammengeführt. So wurde, durch den Chef des
Generalstabs des Feldheeres, General
Ludendorff vorangetrieben, im Dezember
1917 schließlich die Universum–Film AG
gegründet. Finanziert über Treuhänder
wie der Bosch AG, Lloyd und der AEG,
wurde die Ufa zur größten Filmgesellschaft Europas. Nach der Niederlage
des Kaiserreichs blieben diese Firmenstrukuren
erhalten. Konzerne wie die Deutsche
Lichtbild–Gesellschaft und die Decla–Filmgesellschaft wuchsen sogar schneller denn je.
Die anfangs meist mittelständischen Betriebe der Filmindustrie sind innerhalb weniger Jahre zu kapitalistischen Großkonzernen
geworden. Die neu entstandene Infrastruktur
der Filmindustrie bot vielversprechende Möglichkeiten für die Filmproduktion.
Ebenfalls neue Möglichkeiten ergaben sich
aus der Aufhebung der Zensur im November
1918. Innovationen im Bereich der Ästhetik
blieben jedoch aus – stattdessen wurde eine
Vielzahl von, als Aufklärungsfilme getarnten,
erotischen Unterhaltungsfilmen produziert,
in denen auch seinerzeit berühmte Darsteller
zu sehen waren, die bei den Konzernen meist
längerfristig unter Vertrag standen. Dennoch
wurde die Emanzipierung des deutschen
Films als Kunstform wieder vorangetrieben.
Die Augen der Mumie Ma (1918), Carmen (1918), Madame Dubarry (1919),
Anna Boleyn (1920), Sumurun (1920) und
Das Weib des Pharaos (1922) versucht
Lubitsch dem Film den Anspruch
auf künstlerisce Gestaltung und Ästhetik
wiederzugeben. Diese, vom italienischen
Monumentalfilm beeinflussten, sowie seine
Komödien Die Puppe (1919) und Die Bergkatze
(1921) enthalten teilweise malerische Dekors
und muten möglicherweise expressionistisch an, sind jedoch gesamtästhetisch
und inhaltlich weit vom expressionistischen
Film entfernt. Lang bedient sich in Filmen wie
dem Zweiteiler Dr. Mabuse, Der Spieler (1922)
und Inferno – Ein Spiel von Menschen
unserer Zeit oder Metropolis (1925/26) meist
realitätsnaher, dabei streng geometrischer
Ornamente und Dekors. In Inferno finden sich
jedoch expressionistische Dekors und Gemälde.
Wie Langs Werke, so enthalten auch viele
andere Filme der 20er Jahre expressionistische Elemente aber die ästhetische Grundhaltung weist dabei gleichzeitig neoromantische,
impressionistische, realistische und naturalistische Stilelemente auf. Dies ist ebenfalls in Filmen wie Der Gang in die Nacht (1920), Der Brennende Acker (1921) und Der Gang in die Nacht
(1921/22) von Murnau zu beobachten. Seine
bekannteste Inszenierung, Nosferatu – Eine
Symphonie des Grauens (1921/22), wird auf
Grund der alptraumhaften Stimmung und
des, heutzutage leicht albern wirkenden, Spiels
von Max Schreck als Graf Dracula, oft als
expressionistisch bezeichnet. Aber auch hier
sind die Aufnahmen naturbelassen, Dekors
und Motive realistisch. Eine Verfremdung
findet ausschließlich in der Nachbearbeitung
und Montage statt.
Die prägendsten Filmschaffenden dieser Zeit
waren Ernst Lubitsch, Fritz Lang und Friedrich
Murnau. In seinen Monumentalfilmen
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Die Bezeichnung «expressionistisch» wurde
zwischen 1916 und 1919 im Rahmen der
Filmtheorie erstmals verwendet und geprägt.
Für die Vermarktung von Das Cabinet des Dr.
Caligari gebrauchte die Produktionsgesellschaft die Bezeichnung, was bald zu seiner
Verbreitung und Anwendung auf ähnliche
Insenierungen führen sollte, ohne dabei
eine genauere Abgrenzung des Stils vorzunehmen.
Was ist denn nun also als expressionistischer
Film zu bezeichnen und welche Film bedienen
sich lediglich einzelner Stilelemente und Versatzstücke des Expressionismus? Um der Antwort auf diese Frage näher zu kommen, werde
ich mir einige, als expressionistisch geltende,
Filme ansehen und analysieren.
in seiner Geburtsstadt Holstenwall. Es beginnt
mit der Ankündigung eines Jahrmarkts. Francis
und sein Freund Alan beschließen, dort hinzugehen. In einer Parallelmontage sehen wir einen
älteren Mann, Dr. Caligari, wie er durch die
Straßen der Stadt geht. In einem Verwaltungsgebäude spricht er mit einem schlecht gelaunten Beamten, dem Stadtsekretär, um die
Erlaubnis für seine Vorführung auf dem Jahrmarkt zu erhalten. Der Sekretär lässt Caligari
lange warten, um ihn schließlich zu einem
anderen Beamten weiterzuschicken. Dieser erlaubt Caligari die Vorführung.
2. Akt – Am nächsten Tag wird der Sekretär
tot in seinem Bett aufgefunden. Er wurde von
einem Unbekannten Täter mit einem Messer
erstochen und die Polizei sucht nun nach Hinweisen. Francis und Alan schlendern über den
Jahrmarkt und treffen auf den mysteriösen
Caligari, der vor seiner Bude mit folgenden
Worten um Aufmerksamkeit wirbt:
«Step rrrrright in! Presenting here for the first
time Cesare the Somnambulist. The miraculous Cesare – twenty-three years old, he has
slept for twenty-three years – Continuously –
Day and Night! Right before your eyes Cesare
will awaken from his death-like trance. Step
right in!» Francis und Alan betreten das Cabinet
und sehen zu, wie der Somnambule aus seinem
Schlaf erwacht. Caligari behauptet, er könne
die erwachte Gestalt, die in einer aufgestellten
Holzkiste liegt, befehligen. Außerdem sei der
Somnambule allwissend und könne die Zukunft vorhersagen. Das Publikum soll nun
Fragen stellen um sich selbst davon überzeugen
zu können. Alan tritt nach vorne und fragt:
«How long will I Live?», worauf der
Somnambule, zu Alans Entsetzen antwortet:
«Till the break of dawn»
DAS CABINET DES DR. CALIGARI
Robert Wiene, 1920 (restauriert; engl. Texte)
Inhaltlich wirkt dieser Film schnell verwirrend,
da er in eine Kern– und eine Rahmenhandlung
gegliedert ist, deren Übergänge nicht immer
ganz deutlich erscheinen, schaut man nicht
genau hin. Die Handlung als Ganzes wird in
sechs Akte unterteilt:
1. Akt – In einem Park unterhalten sich zwei
Männer auf einer Bank. Der eine berichtet
von Geistern, die ihn aus seinem eigenen Haus
vertrieben hatten. Daraufhin tritt eine Frau,
Jane, ins Bild und nähert sich den beiden. Sie
ist die Verlobte des anderen Mannes auf der
Bank, Francis. Dieser antwortet, er habe mit
Jane zusammen etwas viel seltsameres erlebt als
die Geistererscheinungen seines Gegenübers.
Mit einer Rückblende zu dieser seltsamen
Geschichte endet hier die Rahmenhandlung.
Ab jetzt erzählt Francis von seinen Erlebnissen
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Bestürzt eilen die beiden Freunde aus dem
Zelt und verlassen den Jahrmarkt. Auf ihrem
Weg nach Hause treffen sie Jane, mit der sie
sich kurz unterhalten. Kurz darauf gestehen
sich beide, in die Frau verliebt zu sein. Sie entschließen sich, ihre Freundschaft nicht daran
zerbrechen zu lassen und wollen Jane entscheiden lassen, wen der beiden sie wählen wird.
In der Nacht schleicht sich eine dunkle Gestalt
an das Bett des schlafenden Alan und greift ihn
an. Alan wehrt sich, kämpft um sein Leben,
unterliegt jedoch und wird getötet.
3. Akt – Als Francis am nächsten Tag vom Tod
seines Freundes erfährt, muss er sofort an die
unheilvolle Prophezeiung des Cesare denken
und veständigt die Polizei. Außerdem berichtet er Jane und ihrem Vater, Dr. Olsen.
Dieser nutzt seinen Einfluss, um eine
Untersuchung des Somnambulen zu erwirken.
Zusammen mit dem Doktor geht Francis zum
Wohnwagen Caligaris, der die beiden freundlich begrüßt und sie Cesare untersuchen lässt.
Zur gleichen Zeit schleicht ein Mann verdächtig durch die Straßen und versucht in eines der
Häuser einzubrechen. Der, mit einem Dolch
bewaffnete, Mann wird jedoch bemerkt und
von einigen Passanten aufgehalten. Sie bringen
ihn zur Polizei, in der Annahme, den gesuchten
Mörder in flagrantie erwischt zu haben. Noch
im Wohnwagen Caligaris erfahren Francis und
Dr. Olsen von der Festnahme und brechen
ihre Untersuchung ab und machen sich auf
den Weg zur Polizei. Caligari scheint sichtbar
erleichtert, als die beiden gehen.
4. Akt – Der Gefasste wird verhört und gesteht,
dass er eine Frau ermorden wollte und dabei
so wie der gesuchte Täter vorgehen wollte, um
den Verdacht auf ihn zu lenken. Mit einem
Stich in die Seite und einem ähnlichen Dolch.
In der Zwischenzeit wird Jane unruhig und
geht los, um nach ihrem Vater bei Caligari zu
suchen. Sie wird eingeladen, Cesare zu besichtigen, flieht aber entsetzt, als dieser die Augen
öffnet und sie ansieht. Francis ist nochimmer
sehr misstrauisch und kehrt in der Dunkelheit
zu Caligaris Wohnwagen zurück, wo er durch
das Fenster späht und Caligari, sowie Cesare
schlafend vorfindet. In der Stadt aber schleicht
eben dieser durch die Straßen, in das Haus
von Jane. Mit der Absicht sie zu erstechen,
nähert er sich ihrem Bett, hält jedoch inne
und lässt schließlich den Dolch sinken. Von
der Schönheit der Frau bezaubert, entführt er
sie aus ihrem Schlafzimmer und trägt sie fort.
Ihre Schreie wecken die Mitbewohner, die Cesare hinterhereilen. Nach einer kurzen Strecke
finden sie Jane auf dem Boden liegend, ohne
den Entführer zu Gesicht zu bekommen. Jane
beteuert, von Cesare angegriffen worden zu
sein, aber Francis, der zurückgekehrt ist, habe
den schlafenden Somnambulen die ganze
Nacht über beobachtet.
5. Akt – Wieder im Polizeigebäude vergewissert sich Francis, dass der dort Inhaftierte Verbrecher immernoch in seiner Zelle sitzt. Dann
geht er, gemeinsam mit der Polizei, zu Caligari
und dringt in dessen Wohnwagen ein. Es stellt
sich heraus, dass in der Holzkiste nur eine Puppe liegt, die wie Cesare aussieht. Der wütende
Caligari flieht. Francis verfolgt ihn bis auf den
Hof einer Irrenanstalt, wo er die Pfleger nach
einem Patienten namens Caligari fragt. Die
können ihm allerdings nicht weiterhelfen und
verweisen ihn an den Direktor der Anstallt. Im
Büro angekommen, stellt Francis mit Entsetzen fest, dass der Direktor selbst Caligari ist.
Er rennt auf den Hof um dem Personal davon
zu erzählen. Sie warten bis der Direktor nach
Hause gegangen ist und durchsuchen dann
gemeinsam das Büro. Hier finden sie ein altes
Buch über Somnambulismus und erfahren in
einem Aufsatz, mit dem Namen «Das Cabinet des Dr. Caligari», von einem Mystiker, der
in Italien, im Jahre 1703 ein Dorf terrorisiert
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haben soll, indem er einem Somnambulen
dazu befahl, mehrere Menschen zu ermorden.
Außerdem finden Francis und die anderen ein
Tagebuch, in dem der Direktor voller Freude von der Einlieferung eines Somnambulen
berichtet. Es folgt eine Rückblende die zeigt,
dass der Direktor schon lange auf eine Möglichkeit gewartet hat, dem Geheimnis dieses Mystikers auf die Spur zu kommen und
zu lernen, den Somnambulen zu befehligen.
Er scheint geradezu besessen davon zu sein.
6. Akt – Der Direktor ist in sein Büro zurückgekehrt. Cesare wird gefunden und in das
Zimmer gebracht – er ist tot. Als der Direktor
ihn sieht, erleidet er einen Zusammenbruch,
rastet scheinbar aus. Die anwesenden Ärzte überwätigen ihn und sperren ihn, in eine
Zwangsjacke gefesselt, weg.
Nun wechselt der Film wieder zur Rahmenhandlung des ersten Akts, wo Francis mit dem
älteren Mann auf der Bank sitzt. Er beendet
seine Erzählung mit: «... and from that day
on, the madman never again left his cell»
Anschließend stehen die beiden auf und gehen
gemeinsam. Plötzlich befinden sie sich auf
dem Hof der Irrenanstalt, der von diversen
Geisteskranken bevölkert ist. Unter ihnen ist
auch Cesare, der eine Blume in Händen hält.
Francis erkennt Jane, die auf einem Thron
sitzt, und macht ihr einen Antrag. Sie lehnt ab
mit den Worten: «We queens are not free to
answer the call of our hearts» Francis taumelt
zurück und wir sehen den Direktor den Hof
betreten. Es ist der selbe wie in der Erzählung.
Daraufhin stürzt sich Francis auf ihn und ruft:
«He is Caligari Caligari Caligari!», wird aber
von Pflegern festgehalten und eingesperrt.
Der Film endet mit den Worten des Direktors:
«At last I understand his delusion. He thinks
I am that mystic –CALIGARI–! Now I know
exactly how to Cure him...»
Nachdem nun die Inhaltliche Ebene ausgebreitet ist, kann ich weiter auf den Filmstil, Stimmung und mögliche Deutungen eingehen.
Über die Frage nach der Verantwortlichkeit für
den Stil des Films, insbesondere des Dekors,
stritten sich die Beteiligten Personen – besonders seit der, dem Film früh zugemessenen
großen Bedeutung für das Image des deutschen
Kinos. Entscheidend war sicher der Einfluss
der Austatter, wie des Architekten der Decla,
Hermann Warm. Die Verantwortlichen und
die zeitgenössischen Rezepienten waren sich
einig, dass das Motiv der Irrenanstalt sehr
gut zu dem ausgefallenen, expressionistischen
Stil passten. Robert Wiene erkannte von Anfang an die Möglichkeiten, die Realitätsfernen
Formelemente des Expressionismus zu seinem
Vorteil zu nutzen, Zumal das Budget für
die Produktion nicht besonders hoch war.
Tatsächlich unterstützen die verzerrten, spitzen
Formen des Dekors die insgesamt düstere,
beklemmende Stimmung des Werks. Auch die
Drehbuchautoren Carl Mayer und Hans Janowitz hatten wohl großen Einfluss auf den Stil.
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Die zackigen, teilweise nach vorn gewölbten
Flächen sind in mehreren Ebenen aufgestellt
und geben der Szene eine starke räumliche
Wirkung. Bemerkenswert sind die Kontrastreichen Lichter und Schatten, die nicht etwa
durch Kunstlicht der Studioausstattung entstanden, sondern direkt aufgemalt wurden.
Dieses Vorgehen war in erster Linie eine Maßnahme, um Strom zu sparen, da die Versorgung in Berlin um 1919 sehr schlecht war
und dem Produktionsteam nur ein begrenztes
Kontingent an Strom zur Verfügung stand.
Die harten Kontraste des bemalten Dekors
lassen die Szenen unwirklich erscheinen.
Dabei ist zu bedenken, dass es sich um einen
Schwarzweiß–Film handelt, wodurch die
Helldunkel–Kontraste wesentlich hervorgehoben werden. Vorgeführt wurden die Filme
zu jener Zeit aber meist mit Farbtönung oder
Colorierung. Die Typischen Farbtöne sind
dabei bläulich–gelb am Tag, grün-blau in der
Nacht. In Das Cabinet des Dr. Caligari kommen außerdem Grüntöne für die Rahmenhandlung und bräunliche Rosatöne für die
Szenen in Janes Zimmer zum Einsatz. Letztere
unterstreicht natürlich die Weiblichkeit...
Ein weiterer, wichtiger Faktor, neben den Dekors, ist sicherlich die Spielweise der Hauptdarsteller, insbesondere die des Werner Krauß
als Dr. Caligari und Conrad Veidt als Cesare.
Die merkwürdig artifizell wirkenden Gesten
und Bewegungen Caligaris verstärken seine
andersartigkeit und unterstützen seine Rolle als Antagonisten. Sein Gang ist leicht gebückt, mechanisch und abgehackt. Sein hoher
Hut lässt ihn dabei nicht klein wirken.
Er tendiert dazu, Bewegungsabläufe künstlich
zu strecken oder abrupt abzubrechen, um in unnatürlicher Haltung zu erstarren. Im Kontrast
dazu, sowie zum expressionistischen Dekor,
stehen die Darstellungsweisen der übrigen
Darsteller des Ensembles. Friedrich Feher als
Francis und Hans–Heinz von Twardowski als
Alan halten sich überwiegend an bewährte
Darstellungsmuster, ohne sich der Stilisierung des Films anzupassen. Sie bewegen sich
10 realistisch, ihre Gesten sind theatralisch und
klischeehaft. Besonders die Schauspielerische
Leistung der Lil Dagover als Jane wird schon
in zeitgenössischen Kritiken negativ bewertet.
So schreibt beispielsweise Herbert Jhering im
Berliner Börsen–Courier vom 29.02.1920:
«Lil Dagover ist die süße Talentlosigkeit, die
mit ihrer ausdruckslosen Glätte überall, aber
hier erst recht, unmöglich ist. Der Expressio11 nismus entlarvt, er verlangt eine unnachgiebige
Auswahl der Schauspieler.» Der Vorteil dieser
Naturalistischen Spielweise ist ein leichterer
Zugang – Die Zuschauer können sich mit den
Protagonisten identifizieren und Empathie mit
ihnen empfinden. Sieht man sich das überwiegend naturalistisch spielende Ensemble,
und die übrigen Inszenierungen Wienes an,
lässt sich behaupten, dass er eigentlich kein
12 expressionistischer Regisseur gewesen ist.
Die Kameraeinstellungen, überwiegend halbBei der Farbgebung hat man sich also noch auf
nah und halbtotal in Frontalsicht, ergeben sich
geltende Konventionen beschränkt. Durch
aus den vorgefertigten Bühnenbildern. Großden Vorgang der Viragierung werden die Kanaufnahmen sind hingegen eher selten, werden
ten geringfügig unscharf, Kontraste werden
dadurch aber um so bedeutsamer für die
leicht abgeschwächt.
Dramaturgie und Handlung.
Durch die passive Kamera kommen die kontrastreichen Licht–, Schattenkompositionen
stärker zur Geltung. Bis auf wenige Ausnahmen
bleibt die Kamera fix. Dies ist mitunter den
Drehbedingungen im Atelier geschuldet, wo
die Dekorationen schon einen Großteil der
Räumlichkeiten einnahmen und wenig Platz für
Kamerabewegungen ließen. Bemerkenswert
ist der Gebrauch von Irisblenden, der in zahlreichen Szenen eine räumlichkeit schafft,
beziehungsweise die schon vorhandene Tiefenwirkung der Bildkomposition verstärkt.
KRACAUERS INTERPRETATION
In seinem 1947 veröffentlichten Buch Von
Caligari zu Hitler bemerkt der Filmtheoretiker
und Soziologe Siegfried Kracauer einen sozialpsychologischen Zusammenhang von Plot,
insbesondere der Figur des Dr. Caligari, und
der Entwicklung des Nationalsozialismus in
Deutschland. Er sieht Caligari als machtbesessenen Psychopathen, als Tyrann, der den,
das Volk repräsentierenden, Durchschnittsmenschen kontrolliert und zum Töten abkommandiert, wie es der militaristische Staat tut.
Der «kleine Mann», verkörpert durch den
schlafwandelnden Cesare, ist seinem Meister
willenlos ausgeliefert.
Besonders interessant wird in diesem Zusammenhang der Verlauf der Rahmenhandlung:
Francis stellt sich hier als Wahnsinnig heraus und der Direktor/Caligari wird in seiner
13 Machtposition als Wohlwollende Autorität
dargestellt. Der erste Drehbuchentwurf sah
Außerdem wird durch Masken die Aufmerksamin der Schlussszene Francis und Jane vor, wie
keit immer wieder auf bestimmte Punkte oder
sie einer Abendgesellschaft gemeinsam die
Personen fokussiert. Auch als Montagemittel
Schauergeschichte erzählen. Stattdessen wird
zur Überblendung zwischen Sequenzen wird
ein überraschender Perspektivwechsel vordie Irisblende häufig eingesetzt. Filmhistorisch
genommen und nicht Caligari, sondern der
wird Das Cabinet des Dr. Caligari als «BefreiErzähler als Verrückt entlarvt.
ung vom Kitsch» und Festigung des Films als
Kracauers Ausführungen stützen sich auf die
Künstlerisches Medium bezeichnet. Dennoch
im Exil verfassten Aufzeichnungen von Hans
fanden sich selbstverständlich auch Kritiker der
Janowitz, in denen die Behauptung aufgestellt
antinaturalistischen Bildgestaltung, darunter
wird, Caligari sei als Symbol für die Obrigder französische Regisseur Jean Epstein oder
keit des Kaiserreichs entworfen und Cesare
der russische Regisseur Sergej Eisenstein.
stelle die zum Wehrdienst verpflichteten UnLetzterer kommentierte Wienes Film im Jahre
tertanen dar. Dies gilt jedoch als nachträglich
1941 als «barbarische Orgie der Selbstvernichdurch Janowitz hinzugedeutet, wie auch antung gesunden Menschentums in der Kunst,
gebliche expressionistische Stiltendenzen im
dieses Massengrab aller gesunden Prinzipien des
Originaldrehbuch, das durchweg konventioFilms, dieses Schlachtfeld stummer Hysterie,
nell erscheint. Ebenfalls nicht nachgewiesen,
dieser Tummelplatz bemalter Leinwand, stümist die Behauptung Fritz Langs, er selbst sei für
perhaft gezeichneter Kulissen, angepinselter
die Rahmenhandlung, oder zumindest für die
Gesichter, unnatürlicher Verzerrungen und
Anfangsszene verantwortlich. Insgesamt ist
abenteuerlicher Hirngespinste». Trotzdem
die Entstehungsgeschichte damals wie heute
war er am expressionistischen Film interessiert
sehr undurchsichtig und kaum vorbehaltlos
und nahm seine Stilmittel positiv auf.
nachzuvollziehen.
EXPRESSIONISTISCHE STUMMFILME NACH CALIGARI
Nachdem Das Cabinet des Dr. Caligari in
weiten Kreisen erfolgreich in den Lichtspielhäusern lief, begann die Produktion weiterer
expressionistischer Inszenierungen. Nur Zehn
Wochen nach der Premiere von Caligari Begannen die Dreharbeiten zu VON MORGENS
BIS MITTERNACHTS. Die verantwortlichen
Produzenten waren Herbert Juttke und Georg
Isenthal. Juttke schrieb zusammen mit Karl Heinz
Martin das Drehbuch. Martin fungierte außerdem als Regisseur. Das Interesse der Verleiher
blieb jedoch gering, sodass es zunächst zu keiner
öffentlichen Vorführung kam. Erst 1963 wurde
eine Kopie des Films vom Staatlichen Filmarchiv der DDR gekauft und aufgeführt.
Das Drehbuch basiert auf der erfolgreichen
literarischen Vorlage des gleichnamigen
expressionistischen Dramas von Georg Kaiser.
Es geht um einen Kassierer, alias Ernst Deutsch,
der der Versuchung nachgibt und eine größere
Menge Geld stiehlt, um seinem kleinbürgerlichen Alltag zu entkommen. Die Motivation
für diese Tat geht von einer schönen Dame,
gespielt von Erna Morena, aus, die Geld ausleihen wollte, vom Bankdirektor aber abgewiesen wird. Der Kassierer möchte ihr helfen und
bietet ihr das gestohlene Geld an. Die lehnt jedoch lachend ab. Daraufhin geht der Kassierer
heim zu seiner Familie – Mutter, Ehefrau und
Tochter – nur um kurze Zeit später, aus Angst
gefasst zu werden, in das nächtliche Schneegestöber flieht. Bald darauf kommt auch schon
der Bankdirektor samt Polizei im Haus des
Kassierers an, den sie nur knapp verpassen.
Über einen Filmtrick, ein animierter
Zwischentitel, wird der Zuschauer informiert,
dass der Protagonist nun polizeilich gesucht
wird. Berauscht vom neuartigen Lebensgefühl,
das ihm sein erbeuteter materieller Reichtum
scheinbar offenbart, kauft er sich einen eleganten Anzug und Hut, besucht ein Sechstagerennen und verprasst sein Geld in einem
Tanzlokal. Danach landet er in einem Kneipenkeller und zockt mit zwielichtigen Ganoven.
Er entkommt der Spielhölle mit Hilfe eines
Heilsarmee–Mädchens, gespielt von Roma
Bahn, und folgt ihr in eine Kapelle.
Hier plagt ihn die Angst vor einer Inhaftierung
und er gesteht dem Mädchen seine Tat. Das
übrige Geld verteil er an die Armen, die sich
auf die vielen Geldscheine stürzen und dann
verschwinden. Zum Schluss verrät ihn das
Mädchen an einen Polizisten und um seiner
Verhaftung zu entkommen erschießt der
Kassierer sich mit einer Pistole. In den verschiedenen Stationen seiner Reise wird er
immer wieder von Visionen eines Totenschädels verfolgt, die aus den Gesichtern der Frauen
übergeblendet werden. Der hoffnugsvolle
Aufbruch des Kassierers in eine neue, bessere
Existenz scheint als Analogie zur utopischen
Aufbruchstimmung der jungen Expressionisten, und deren Scheitern im Ausgang des
Krieges gemeint zu sein.
In seinem expressionistischen Stil ist Von
Morgens bis Mitternachts extrem konsequent:
Sowohl Handlung, obwohl nicht wie so häufig von phantastischer Ausprägung, als auch
Spielweise und Dekorationen sind deutlich
expressionistisch. Die Formen sind abstrakt,
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grafisch und stark verzerrt, die Räume wirken
flächig, ohne erkennbare Perspektive. Kongruent zu den kontrastreichen Dekors stehen die
Kostüme und Masken mit ihren aufgemalten
geometrischen Formen und weiß nachgezogenen Konturen.
Genuine entkommt ihrem Gefängnis und als
Florian sie sieht, fällt er unter ihren Bann.
Auch der Neffe des Lords, Percy, verliebt sich
in die schöne Genuine. Diese bringt Florian
dazu, Lord Melo die Kehle durchzuschneiden
und verlangt nun von beiden Männern, sich
zum Beweis ihrer Liebe selbst zu töten. Doch
Florian verliert den Verstand und Genuine
selbst verliebt sich in Percy. Auch der Diener
weigert sich Florian zu töten. Währenddessen
stürmt ein wütender Mob, angeführt vom alten
Friseur, das Schloss. Am Ende ersticht Florian
Genuine aus Wahnsinn und Eifersucht.
Thematisch knüpft Genuine damit an die vorangegangenen Drehbücher Mayers an. Auch
in den Werken Johannes Goth und Der Bucklige und die Tänzerin steht eine tragische, zum
Scheitern verurteilte Liebesbeziehung im Mittelpunkt der Handlung. Kracauer erkannte
aber erst in Genuine eine Schwerpunktverschiebung, weg vom Motiv des Machtbesessenen
Tyrannen, hin zum Triebmotiv. Die Ausstattung von Klein ist stark ornamental verziert,
weist teilweise schon Stilelemente des Art–
Déco auf und wirkt dadurch exzessiv und
lebendig. Diese Lebendigkeit geht auch von
Andras Genuine aus. Der Stil scheint aber insgesamt durchwachsen, teilweise stark abstrahiert, dabei immer wieder von realistischen
Elementen kontrastiert. Artifizielle Dekors
treffen auf echte Baumäste, phantastische
Ornamente umgeben das reale Spiegelbild des
Lords bei seiner Rasur. Was die Spielweise der
weiblichen Hauptdarstellerin, sowie der Nebenrollen anbelangt ist Genuine dem Cabinet
des Dr. Caligari auffallend ähnlich: Kaum gestaltet, von geringer schauspielerischer Tiefe
und unpassend naturalistisch. Dennoch schuf
Wiene einen deutlich expressionistischen Film.
Ebenfalls kurz nach Caligari begann die Decla–
Filmgesellschaft mit der Produktion von
GENUINE, wieder unter der Regie von Robert
Wiene und einem Drehbuch von Carl Mayer.
Der eng gesetzte Zeitplan und die Verpflichtung des expressionistischen Malers César
Klein als Bühnenbildner zeigen das Interesse
der Produktionsfirma, an den finanziellen
Erfolg von Caligari anzuknüpfen. Die abenteuerliche Geschichte wird abermals von einer
Rahmenhandlung eingefasst, um den Zugang
zu erleichtern, und sogar von vornherein als
nicht wirklich kenntlich gemacht, da es sich
um einen Traum handelt: Der Maler Percy,
Harald Paulsen, hat die Priesterin Genuine,
Fern Andra, porträtiert und ist nun in seinen Roman vertieft. Er schläft ein und
das Bildnis der Genuine erwacht zum
Leben und entsteigt dem Gemälde.
Sie wird von einer Orientalischen Sekte in
deren Rituale einbezogen, trinkt Blut und ihr
guter Charakter wird verdorben. Nach einem
Tumult gerät Genuine auf einen Sklavenmarkt,
wo sie an den alten, voyeuristischen Lord Melo,
Ernst Gronau, verkauft wird, der sie einsperrt
und niemanden sonst in ihre Nähe lässt.
Bewacht wird sie von einem übergroßen
,schwarzen Diener. Allein der Friseur des
Lords erhält Zutritt zum Schloss, um ihn täglich zu rasieren. Weil der Friseur verhindert
ist, schickt er seinen Neffen Florian, der mit
Hans Heinrich von Twardowski besetzt wurde,
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Bei dem dritten expressionistischen Film
Wienes, RASKOLNIKOW, handelt es sich um
die filmische Adaption von Schuld und Sühne,
dem wohl populärsten Roman von Fjodor
Dostojewski. Dabei handelt es sich keineswegs
um die erste Verfilmung des anspruchsvollem
Stoffes. so wurde der Roman bereits in Russland in den Jahren 1910 und 1913, 1916 in
Ungarn und dann auch in Deutschland 1919
von William Kahn auf die Leinwand gebracht.
Bei den ausgedehnten Selbstreflexionen in
Form von inneren Monologen und Introspektion liegt die Verwendung expressionistischer
Stilmittel und Medienspezifischer Techniken
am nächsten. Wienes Film von 1922 konzentriert sich auf die Geschichte des jungen
Jurastudenten Raskolnikow, der in einem
Artikel davon ausgeht, dass es «außergewöhnlichen Menschen» erlaubt sein sollte, sich
über Hindernisse, etwa in Form von Regeln
und Gesetzen, hinwegzusetzen, um ihre Ziele
zu erreichen. Ein solches Hindernis sieht der
finanziell verschuldete Student in einer Pfandleiherin, die er ermordet, um ihre Wertsachen
zu verkaufen. Die Schwester der Pfandleiherin
wird Zeuge der Tat und ebenfalls umgebracht.
Von Schuldgefühlen geplagt, verfällt Raskolnikow bald fibrigen Alpträumen und Visionen.
Durch die wiederholten Befragungen eines
Untersuchungsrichters unter Druck gesetzt,
ist er dem Zusammenbruch nahe und gesteht
den Doppelmord schließlich der jungen Sonja,
bei deren Familie er wohnt, und in die er schon
länger verliebt ist. Nur zu ihr hat er noch Vertrauen. Auch Sonjas Familie ist kurz davor zu
zerbrechen – Ihr Vater ist alkoholiker und ihre
Mutter beginnt den Verstand zu verlieren.
Nachdem ein religiöser Fanatiker sich zu den
Morden bekennt und sich das Leben nimmt,
geht Raskolnikow zur Polizei und stellt sich.
In den Hauptrollen sind Gregori Chmara als
Raskolnikow, Maria Kryschanowskaja als Sonja
und Pawel Pawlow als Untersuchungsrichter
Petrowitsch zu sehen. Um eine gewisse Nähe
zur Romanvorlage zu erhalten, wurde als
Ausstatter der Russe Andrej Andrejew vom
Moskauer Künstlertheater verpflichtet. Seine
Bühnenbilder beinhalten große Strukturformen und abstrakte Symbolik. Das Dekor ist
wieder stark verformt, gekrümmt und unwirklich, spiegelt dabei zusätzlich besonders gut den
Gewissenskonflikt des Protagonisten wider.
Die expressionistischen Formen kommen hier
weniger durch das Wölben und Verzerren gesamter Gebäude zustande, sondern vielmehr
durch die Neuanordnung einzelner Bauteile.
Andrejews Architektur vermeidet horizontale
und vertikale Linien, Wände sind stark nach
vorn geneigt, Balken des Fachwerks stecken
wirr ineinander und sind nur selten parallel.
Auffällig sind die drastischen Überspitzungen der Formelemente im Dekor zur Kenntlichmachung der alptraumhaften Visionen
des Schuldgeplagten Raskolnikow. Spitzen
und Zacken stehen überall hervor, wirken
bedrohlich und geradezu hysterisch.
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Die Betonung der expressionistischen Formen
wird fast schon überstrapaziert, während die
Metaphysik, die Sezierung des Konflikts zwischen dem Verstand, der Seele und dem Verbrechen überzeugend visualisiert wird.
Die Kostüme der Figuren zeigen ihren sozialen
Status an: Raskolnikow trägt einen abgenutzten
Mantel, höhergestellte Personen, wie der Untersuchungsrichter, sind in feine Anzüge gekleidet. Sonjas Wandel von einer Prostituierten
zur geläuterten, religiösen Frau wird durch
ihren Garderobenwechsel symbolisiert. Trägt
sie zu Beginn noch einen frechen Federhut
und ein farbenfrohes Kleid, wird sie später mit
einem züchtigen, geschlossenen Gewand in
reinem Weiß gezeigt.
Die Lichtgestaltung ist abermals durch starke
Helldunkel–Kontraste, in Form von dunklen
Räumen und Korridoren, gespickt mit hellen
Lichtflecken, geprägt. Wenn der Protagonist
fast vollständig in diesen düsteren Korridoren verschwindet, scheint der Schatten wie
ein Symbol für Raskolnikows Innerstes, wo ein
Kampf zwischen Hell und Dunkel – Gut und
Böse ausgefochten wird. An anderen Stellen
sind Lichter direkt auf die Oberflächen auf-
gemalt. Die teilweise in phosphoreszierenden
Farben gezogenen Linien werden von Lichtkegeln hervorgehoben und unterstützen die
spitzen, aggressiven Konturen des Dekors.
Häufig werden mit Scheinwerfern auch
wichtige Figuren fokussiert, statt sie in einer
Großaufnahme zu zeigen. Das Schauspiel der
russischen Darsteller ist reduziert, dabei sehr
naturalistisch – mit Ausnahme der Traumsequenzen – und stellt sich damit in Kongruenz zu
den abstrakten Bühnenbildern. Es ist psychologisierend aber nicht sehr expressionistisch.
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DAS EXPRESSIONISTISCHE THEATER IM VERGLEICH
Harry Alan Potamkin degradierte 1929 die
Ästhetik expressionistischer Filmproduktionen zu einer Kopie der Theaterästhetik.
Auch Kracauer beschrieb in seinem Aufsatz
«Wiedersehen mit alten Filmen» von 1939 die
expressionistischen Filmdekors als Theaterdekorationen, was er später in seinem Hauptwerk
relativieren sollte. Hier schreibt er von einer
«Nähe des Caligari zur Bühne».
Zur Zeit des 1. Weltkrieges sorgten materielle
Engpässe für eine Reduzierung und Abstrahierung der Bühnenbilder und expressionistische
Dramen begünstigten diese Vereinfachung.
Um Emotionen zu verdichten und auf das wesentliche herunterzubrechen, blieb die Bühne
fast völlig leer oder man beschränkte sich auf wenige Details. Diese reduzierten Formelemente
heben fast immer auch die Essenz der Dichtung
hervor und bedienen sich mehr oder weniger
abstrahierter Symbole. Besonders in späteren
Stücken wurde exzessiv mit Farbe gearbeitet
und die Farbgebung expressionistischer Malerei auf die Bühnenbilder übertragen. Wie auch
der Film, bedient sich das expressionistische
Theater starker Helldunkel–Kontraste und
greift dabei auf moderne Lichttechnik zurück.
Grelle Lichtakzente oder dunkle Schatten unterstreichen die Stimmung von Dekorationen
und Schauspielern. Außerdem hilft das Licht
bei der Gliederung abstrakter Räume.
Insgesamt ist das expressionistische Thaeater bestimmt von Verdichtung, Konzentration und Symbolik, zugunsten einer visionären Umsetzung des Grundmotivs. Später
wurde das Bühnenbild teilweise sogar vom
expressionistischen Film beeinflusst.
MERKMALE EXPRESSIONISTISCHER FILME –
eine Zusammenfassung:
Nach dieser exemplarischen Sichtung möchte
ich nun versuchen, die gemeinsamen Eigenschaften expressionistischer Inszenierungen
anzuführen, um die am Anfang gestellte Frage
nach einer Definition, im Bereich Film zu
beantworten.
Die Dekors expressionistischer Filme sind
überwiegend verzerrt, teilweise bis zur Unförmigkeit überzeichnet. Eigentlich statische
Flächen wie Hauswände fallen nach vorn oder
hinten, Fenster, Giebel und andere Bauelemente verformen zu Trapezen. Die Architektur
wird dadurch sehr dynamisch, scheint bei
radikalen Verzerrungen der Gravitation zu
trotzen. Zusätzlich kommen häufig dekorative
und ornamentale Elemente zum Einsatz, die
geometrisch wirken und dabei helfen, den
Raum zu gliedern. Gute Beispiele sind die
Strahlenförmig zulaufenden Bemalungen auf
dem Boden des Hofs der Irrenanstalt im Cabinet des Dr. Caligari oder etwa das Treppengeländer im Haus der Pfandleiherin in Raskolnikow. Bei letzterem, und auch in anderen
späten Produktionen, treten architektonische
Elemente and die Stelle aufgemalter Linien
und Flächen. Teilweise wird die Perspektive
zumindest zurückgenommen, wodurch ein
grafischeres, zweidimensionales Bild entsteht.,
die jedoch nicht so stark ausgeprägt wurde wie
in der Malerei. Auch das Gestaltungselement
der Farbe kann im expressionistischen Film
nicht angewandt werden.
Die Funktionalität der Filmdekors unterscheidet diese von expressionistischer Malerei zusätzlich. Auch im Vergleich zum Bühnenbild
des expressionistischen Theaters bleiben die
Dekors relativ gegenständlich, nicht vollkommen abstrakt, wie im radikalsten Fall eine leere
Theaterbühne. Von Morgens bis Mitternachts
ist hierbei wohl der Film, dessen Ausstattung
am puristischten ausfällt.
Die häufige Verwendung von grafischen
oder architektonischen Symbolen haben
Theater und Film gemeinsam. Ein aufgemaltes Spinnennetz, in dessen Zentrum der
Untersuchungsrichter sitzt, versinnbildlicht in
Raskolnikow die lauernde Bedrohung,
die Falle, in die der Protagonist gelockt
werden soll.
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In ihrer Wirkung sich gegenseitig unterstützend, sollen Dekors und Schauspieler expressionistischer Filme miteinander verschmelzen.
Die Gewichtung beider Elemente ist dabei
im Film umgekehrt. Steht im Theater deutlich der Mensch im Vordergrund, gewinnt im
Film das Dekors und die daraus entstehende
Bildkomposition stark an Bedeutung.
Schauspieler wie Werner Krauß und Conrad
Veidt versuchten sich durch ihr artifizielles
Schauspiel, mechanische, gezielt verlangsamte Bewgungen und unnatürlichen Posen, der
Ästhetik der Filmdekors zu nähern. Rhythmisierte Bewegungsmuster, unorganisch abrupt
akzentuierte Abläufe und angespannte, konzentrierte Körperhaltungen sind Merkmale
des expressionistischen Filmspiels.
Bei der Betrachtung der bevorzugten Handlungsmotive fällt eine Anhäufung Phantastischer, düster–schauriger Handlungen auf.
Diese Schauerromantischen Motive finden
ihre Vorbilder in der Trivialliteratur. Es bestehen durchaus Analogien zu Schriftstellern wie
Edgar Allen Poe oder Karl Heinz Strobl und
Alfred Kubin. Poe wird zu den Vertretern der
sogenannten schwarzen Romatik gezählt.
Als Handlungsorte dienen meist ahistorische,
nicht genauer lokalisierte Schauplätze. Es findet sich zwar immer auch eine soziale Realität,
die aber in verzerrter und übertriebener Form
dargestellt wird. In den ersten Künstlerisch
ambitionierten Filmen, wie Der Student von
Prag, Nosferatu oder Golem tauchen vermehrt
übernatürliche, unmenschliche Gestalten
und Kreaturen auf. Diese Tendenz bleibt in
expressionistischen Filmen weitgehend aus.
Stattdessen handelt es sich um ungewöhnliche Menschen, mit unnatürlichen, grotesken
Phantasien, Gelüsten oder Obsessionen, von
denen auch der Handlungsverlauf bestimmt
wird. Béla Balázs schrieb 1924:
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«Traum und Vision. Das ist das Gebiet,
wo der Expressionismus jedem Philister
einleuchtet». Unterstützt wird die Wirkung
von Schauspiel und Dekor durch gezielte Beleuchtung mit starken Helldunkel–Kontrasten. In manchen Fällen sind Licht und Schatten direkt auf die Oberflächen aufgemalt.
EINFLUSS EXPRESSIONISTISCHER FILME
In der heutigen Zeit finden wir immernoch
deutliche Spuren des expressionistischen Films
und seiner ästhetischen Qualitäten. Auch
wenn moderne Inszenierungen, Standards
und Sehgewohnheiten keine rein expressionistischen Produktionen mehr zulassen dürften, stoßen wir immer wieder expressionistische Elemente innerhalb vielzähliger Filme.
In Folge der Machtergreifung der Nazis 1933
verließen viele deutsche Filmschaffende das
Land und gingen nach Hollywood. Hier bildeten sich zwei Filmgenres heraus, die weitgehend vom Expressionismus beeinflusst waren: Der Horrorfilm und der Film Noir. Das
Immer wieder in Horrorfilmen auftauchende
Motiv der durch das Böse bedrohten Unschuld
wurde schon in Filmen wie Das Cabinet des
Dr. Caligari vorweggenommen.
Auch Motive wie Angst und Tod sind im
Filmexpressionismus stark vertreten und
werden im Horrorgenre aufgegriffen. Das
Genre Film Noir entstand im amerikanischen Kino der 40er und 50er Jahre,
als dessen erster Vertreter Die Spur des
Falken von John Huston, 1941 gilt.
Sowohl ästhetisch als auch inhaltlich tendieren
Filme dieser Gattung zur Romantisierung, haben dabei aber einen zynisch pessimistischen
Grundton. Das Ensemble beinhaltet fast immer einen verzweifelten Detektiv in der Rolle des Antihelden und eine attraktive Femme
fatale. Die Fokussierung auf die subjektive
Wahrnehmung der Hauptfigur ist dabei eine
weitere Parallele zum expressionistischen Film
der 20er Jahre, wie etwa in Raskolnikow.
In der Gestaltung seiner Filmdekors scheint
insbesondere Tim Burton stark vom Expressionismus beeinflusst zu sein. In seinen Filmen
wie Beetlejuice von 1988 oder The Nightmare
Before Christmas von 1993 fallen die verzerrten, skurril wirkenden Kulissen auf.
Daneben gibt es auch einige direkte Nachahmungen expressionistischer Werke, wie etwa
die Neuverfilmung von Das Cabinet des Dr.
Caligari von David Lee Fischer im Jahr 2006
oder die Homage The Imaginarium of Doctor
Parnassus von Terry Gilliam, 2009.
Am deutlichsten beeinflusst ist wohl das Werk
des Regisseurs David Lynch, dessen surrealistisch alptraumhafte Inszenierungen sich mit
Themen wie Metamorphose, Voyeurismus,
Unterbewusstsein und Traumwelten auseinandersetzen. Lynch selbst zählt zu seinen größten
Einflüssen die Maler Edward Hopper, Francis
Bacon und Henri Rousseau. Außerdem habe
ihn Franz Kafka stark geprägt. Diese Prägung
kommt besonders in seinem 1997 erschienenen
Film Lost Highway zur Geltung.
Als Gegenpart zu Motiven wie Mittelstand,
Geborgenheit der Kleinstadt, Familie und Liebe treten unterdrückte Gewalt und Lust auf.
In Introspektion werden Unbewusste Triebe
und Obsessionen behandelt und mit filmi-
schen Mitteln visualisiert. Desweiteren finden
sich Motive des Doppelgängers oder fremdartiger Gestalten. So auch in Lost Highway der
Mystery Man und die Figuren Renée und Alice.
Lynch bedient sich einer offenen Erzählstruktur und seine Werke lassen viel Spielraum für
Interpretationen. Bemerkenswert ist auch sein
Einsatz von Musik und Soundkulissen, die
dazu beitragen, eine banale Alltagssituation in
Horror umschlagen zu lassen.
Lynch und Burton sind wohl die einzigen, in
deren Werken sich eine anhaltende Tendenz
zum Expressionismus entdecken lässt. Nennenswert ist ansonsten noch der visuelle Stil
von Lemony Snicket‘s A Series of Unfortunate
Events von Brad Silberling, 2004 und La Cité
des enfants perdus von Jean-Pierre Jeunet, 1995.
Während der Expressionismus vor allem in
den Bereichen des Dekors und der Motive
weiterhin erkennbar bleibt, lässt sich scheinbar eine rein expressionistische Spielweise
nicht mehr zeitgemäß verantworten. Verbliebene Elemente und Einflüsse der expressionistischen Filme lassen sich nicht mehr eine eng
definierte Kategorie beschränken, sondern
tauchen, in mehr oder weniger ausgeprägter
Form, in vielen der heutigen Genres und Subgenres auf, meist ohne in den Vordergrund
der ästhetischen gestaltung zu rücken.
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QUELLEN:
- Jürgen Kasten, Der expressionistische Film, ISBN 3-88811-546-9, MAkS Publikationen
- Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler, ISBN 978-3518280799, Suhrkamp
- Gerhard Vana, Metropolis: Modell und Mimesis, ISBN 3-7861-2345-4, Gebr. Mann Verlag
- Wikipedia: Artikel zu Expressionismus, im Text genannte Filme, Lynch, Burton