3 Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin Bernhard Schwindl Zusammenfassung Die Andrologie kann im Kontext der Reproduktionsmedizin einen nicht zu unterschätzenden Anteil zur Verwirklichung des unerfüllten Kinderwunsches beitragen. Bei ungewollter Kinderlosigkeit liegen etwa zur Hälfte männliche Fruchtbarkeitsstörungen vor. Es finden sich mannigfaltige Auslöser: Störungen der Spermiogenese, des Spermientransportes und der Spermienübertragung. Seltener sind infektbedingte, tumorbedingte, endokrine, genetische, immunologische, toxikologische und sexualmedizinische Gründe für Fruchtbarkeitsstörungen. Auch Alterungsprozesse der Fruchtbarkeitsorgane (auch beim Mann – weniger offensichtlich als bei der Frau) werden in der Bevölkerung häufig unterschätzt. In fast einem Drittel der Paare bleibt der Grund jedoch unklar. Zukünftige Anstrengungen werden darauf ausgerichtet sein, diese Wissenslücken zu schließen. Therapeutische Ansätze sind zum geringen Anteil kausal möglich, zum überwiegenden Teil unterstützen sie die Maßnahmen der assistierten Reproduktionstechnik. Im folgenden Beitrag wird vorgestellt, welche Aufgaben die Andrologie im Kontext des unerfüllten Kinderwunsches hat und welche diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Schlagwörter: Reproduktive Gesundheit – Fertilitätsstörungen beim Mann – andrologische Diagnostik und Therapie bei unerfülltem Kinderwunsch 3.1 Einleitung Die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin haben für hilfesuchende Paare neue Wege zum Wunschkind geebnet. Der männliche Faktor scheint im Zeitalter von ICSI zunehmend vernachlässigbar. Man könnte meinen, dem Andrologen oder Urologen verbliebe nur die Aufgabe, dieses dafür benötigte Spermium quasi als „Sperm Retriever“ aufzuspüren und abzuliefern. Dass die Thematik weit vielschichtiger ist, soll im Folgenden dargestellt werden. Zunächst einmal: Wer ist der Androloge? Die Andrologie (= Männerheilkunde) leitet sich ab aus dem Griechischen als die Lehre des Mannes. In 61 Bernhard Schwindl Deutschland rekrutieren sich die Andrologen zumeist aus den Urologen, traditionell aber auch aus Dermatologen oder internistischen Endokrinologen, die sich während (max. sechs Monate) bzw. nach ihrer Facharztausbildung einer insgesamt mindestens 18-monatigen Zusatzausbildung unterziehen. Der Androloge beschäftigt sich mit Fragen zur Männergesundheit über den Lebenslauf (vom Hodenhochstand des Neugeborenen bis zur Hormonstörung des alternden Mannes), darunter häufig auch mit der männlichen Fortpflanzungsfunktion und ihren Störungen. Etwa zur Hälfte ist der unerfüllte Kinderwunsch durch Fruchtbarkeitsstörungen des Mannes (mit-)bedingt. Von einer Infertilität spricht man, wenn ein Paar über mehr als zwölf Monate, trotz ungeschütztem Verkehr an den fruchtbaren Tagen der Frau, keine (bleibende) Schwangerschaft erwirkt (WHO 2000). Die Ursachen sind vielfältig (siehe Tab. 3.1). Abgesehen von offensichtlichen Störungen der Samendeposition, zu denen auch die Potenzstörungen zählen (die heute zumeist behandelbare Impotentia coeundi oder erektile Dysfunktion sei nicht Thema des Beitrages), sind es in erster Linie die Störungen bei der Samenbildung (Impotentia generandi), die den männlichen Sterilitätsfaktor bestimmen und trotz großer Forschungsanstrengung zu etwa einem Drittel als idiopathisch (also unbekannter Genese) eingestuft werden müssen. In früheren Zeiten war das Rollenverhältnis Mann und Frau klar verteilt: „Der Mann sorgt für den Unterhalt, die Frau sorgt für die Kinder“. Von dem Mythos, dass das „Kinderhaben“ gänzlich Frauensache sei, hat „Mann“ sich selbstverständlich längst verabschiedet. Er ist sich heute zumeist seiner Rolle bewusst. Im günstigen Fall äußert sich dies in der egalitären Aufteilung der Erziehungs- und Familienaufgaben (Stichwort „paternale Eltern(teil)zeit“). Im ungünstigen Fall resultiert aus einer männlichen Fertilitätsstörung eine Selbstwertkrise des Mannes mit Schuldgefühlen gegenüber der Partnerin, zumal die männliche Funktionsstörung meist im Rahmen von reproduktionsmedizinischen Behandlungen am Körper der Frau kompensiert werden muss. Dennoch, die Evolution hat die Rolle der Gebärerin der Frau zugedacht, so dass nach der gemeinsamen Zeugung des Kindes das Austragen und zur Welt bringen des Kindes vor allem in der Verantwortung der Frau steht. Dies kommt besonders auch im Fall einer ungewollten Schwangerschaft zum Ausdruck, insbesondere dann, wenn der Mann sich aus der Verantwortung stiehlt. Zwar lag der Anteil der 2012 geborenen Kinder, deren Väter Elterngeld bezogen haben, in Bayern bereits bei 38,1 % (Statistisches Bundesamt 2014). Dennoch ist die Elternzeit für den Mann über einige Wochen hinaus ein idealisiertes Wunschdenken. Obgleich sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen durch moderne Elternzeitmodelle, den Ausbau von Kinderkrippen und Betreuungsplätzen et cetera verbessert haben, erfordert berufliches Fortkommen meist nach wie vor die starke Präsenz des Mannes am Berufsort. Verständnis von Seiten des Arbeitgebers ist nicht immer zu erwarten und 62 Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin familienfreundliche Arbeitszeitmodelle für Männer sind nach wie vor eher selten vorzufinden. Des Weiteren sind finanzielle Einbußen ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für eine egalitäre Wahrnehmung der Familienaufgaben. De facto bleibt die Gesellschaft hinsichtlich der Kinder-Erziehung nach wie vor zumeist auf die Mutter hin ausgerichtet. Tab. 3.1: Ursachen der Infertilität Primärer (hypergonadotroper) Hypogonadismus Anorchie, Maldeszensus testis Varikozele Nach Radiatio, nach Chemotherapie postentzündlich (Orchitis) Hodenverlust: Hodentumor, Hodentorsion, posttraumatisch Klinefelter-Syndrom Weitere Chromosomenaberration (Translokation, Inversion, Duplikation) Y-chromosomale Deletion Sekundärer (hypogonadotroper) Hypogonadismus Idiopathischer hypogonadotroper Hypogonadismus (IHH) Kallmann-Syndrom (olfaktogenitales Syndrom) Hypophysenadenom, Prolaktinom Endokrinopathie (adrenogenitales Syndrom, Schilddrüsendysfunktion etc.) Schädelbestrahlung Chronische Erkrankungen Kachexie, Gewichtsverlust Hämochromatose Zentrale Ischämie, cerebrales Trauma Testosteronabusus, Anabolika, Rauschmittel GnRH-Rezeptormutation Tertiärer (hypogonadotroper) Hypogonadismus, Hypothalamusstörung Androgenresistenz Mutation des Androgenrezeptors 5-Alpha-Reduktase-Mangel Obstruktion Vasoresektion Prostatacyste, Utriculuscyste CBAVD, cystische Fibrose Anatomische Störung, Samendeposition (Hypospadie, Induratio penis plastica etc.) Immunologische Störung Medikamente, Kunststoffe, Schwermetalle, Pestizide, Nikotin Idiopathische Ursache Quelle: erweitert nach Zitzmann 2011: S. 61 So verwundert es nicht, wenn in den psychosozialen Beratungseinrichtungen auch im Hinblick auf den unerfüllten Kinderwunsch in hohem Prozentsatz vor allem Frauen Rat suchen, seltener das Paar und nur in Ausnahmefällen Männer allein vorstellig werden (Mayer-Lewis 2012). Nach wie vor ist auch die Bereitschaft zum Arzt zu gehen schon bei den jungen Männern nur gering 63 Bernhard Schwindl ausgeprägt und bricht meist mit den U-Untersuchungen im Kindesalter (in Begleitung der Mütter!) ab. Die Hemmschwelle, ärztliche oder psychosoziale Beratung in Anspruch zu nehmen, scheint bei Männern deutlich höher angesetzt zu sein als bei Frauen. Die Rolle des Musterungsarztes, welcher frühzeitig zum Beispiel eine Varikozele aufdecken konnte, ist mit dem Fall der allgemeinen Wehrpflicht weggebrochen. Pädiater und Urologen bemühen sich deshalb, dieses Vakuum mit speziellen Jungensprechstunden und dem Gang in die Schulen (z. T. noch mit ehrenamtlichem Engagement) auszufüllen. Häufig entsteht eine relativ lange Zeitspanne, bis der Mann den Gang zum Andrologen antritt. Oft muss die Partnerin den Weg bereiten. Der Mann ist (wie auch die Frau) heute deutlich älter bei der Realisierung des Kinderwunsches (im Durchschnitt circa 32 Jahre, die Frau circa 29 Jahre) (vgl. Pink-Studie 2014). Das Alter ist eine wesentliche, wenn nicht die hauptsächliche Ursache eines unerfüllten Kinderwunsches, welche jedoch in der Gesellschaft als solche wenig bewusst ist. Nimmt man den Fertilitätsstatus einer 25-Jährigen fiktiv mit 100 % an, so sinkt er ab dem 30. Lebensjahr deutlich; bei der 35-Jährigen ist er bereits auf die Hälfte abgefallen, bei der über 40Jährigen liegt er bei nur 5 %! 2012 betrug das mittlere Alter des Mannes im IVF-Zentrum knapp 39, das der Frau 35 Jahre (DIR Jahrbuch 2012). Auch wenn im Gegensatz zur Frau (mit Eintreten der Menopause um das 50. Lebensjahr) eine fixe Altersgrenze der natürlichen Reproduktionsfähigkeit beim Mann nicht gezogen werden muss – das Thema des Social Freezing stellt sich hier bis dato noch nicht – und der gesunde Mann prinzipiell bis ins hohe Alter zeugungsfähig bleibt (z. B. Charly Chaplin oder Luis Trenker als prominente Vertreter), so ist doch das genetische Risiko des älteren Mannes hinsichtlich neuauftretender Punktmutationen (monogene Erbkrankheiten wie die Achondroplasie oder das Apert-Syndrom) sowie wohl auch hinsichtlich genetisch komplexer Krankheitsbilder (Schizophrenie, Autismus, ADHS, bipolare Störungen, Hirntumor, Leukämie) höher (D’Onofrio et al. 2014; McGrath et al. 2014; Zitzmann 2014). Damit untermauern diese Tatsachen die juristisch für die gesetzliche Krankenkasse festgelegte Altersbeschränkung zur Kostenübernahme einer künstlichen Befruchtung, die beim Mann unter 50 Jahren liegt. Männer über 40 Jahre sind von einer Samenspende zur donogenen Insemination (Fremdsamenspende) ausgeschlossen (Hammel et al. 2006). 3.2 Andrologische Praxis und Diagnostik bei unerfülltem Kinderwunsch Es ist Aufgabe des Andrologen, nach exakter Anamneseerhebung und Diagnostik (s. u.) einfühlsam, getragen von einer bereits beim Erstkontakt Ver64 Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin trauen aufbauenden Arzt-Patienten-Beziehung, den Mann bzw. (falls möglich) das Paar über fertilitätsminderndes Verhalten oder eventuell vorliegende ungünstige Befunde aufzuklären und falls erforderlich weitere therapeutische Schritte anzubahnen. Dabei sollte der Behandler – also auch der Androloge – die Technik der psychisch stützenden Gesprächsführung beherrschen. Fortbildungsangebote zur psychosomatischen Grundversorgung können dabei Hilfestellung leisten (Berberich 2004). Folgende Auflistung zeigt, wie und womit der Androloge zur Abklärung der männlichen Fruchtbarkeit (Fertilität) beiträgt: Untersuchung des Urogenitale (Harn- und Geschlechtsorgane) und der männlichen Brust Ultraschall, Urin, Labor (incl. Analyse der Hormone) Spermiogramm (Beurteilung der Samenqualität) Diagnostik genetischer Erkrankungen Ausschluss von Infektionen (incl. sexuell übertragbarer Krankheiten) Beratung und Behandlung von Sexualstörungen Behandlung von Störungen der Erektion (Potenz), der Libido (Lust) und des Samenergusses Operative Maßnahmen (s. u.) Im Allgemeinen wird mit der Erhebung der Vorgeschichte und der Durchführung einer körperlichen Untersuchung (gesamter Habitus, incl. Brust, Urogenitale mit Hodenvolumen, Samenleiter und rektaler Palpation) begonnen. Ultraschall-Untersuchungen des männlichen Genitales und Laboranalysen (s. u.) sind für den Patienten diagnostische Maßnahmen, die kaum belasten. Ungünstige Resultate – wie zum Beispiel einen zufällig entdeckten Hodentumor – gilt es dagegen einfühlsam, jedoch immer objektiv ehrlich zu vermitteln. Durch eine Hodensonographie lassen sich Leistenhoden, Gleithoden, eine Varikozele (Krampfaderbildung im Bereich der Hodenvenen) oder andere Auffälligkeiten relativ schnell erkennen, so dass sie dann einer Behandlung zugeführt werden können. Spermatozelen (Nebenhoden-Retentionszysten) dagegen dürfen erst nach Realisation des Kinderwunsches therapiert werden (Risiko einer obstruktiven Narbe!). Beim hochauflösenden Ultraschall lässt die Struktur des Nebenhodens Rückschlüsse auf eine mögliche Verlegung der Samenwege zu. Sternenhimmel-Verkalkungen sind Ausdruck von Gewebsuntergang und können eventuell auch auf eine Vorstufe zum Tumor hinweisen, weshalb sie der langfristigen Kontrolle bedürfen. Adrenale Resttumore (TART) sind selten, aber richtungsweisend auf ein behandelbares adrenogenitales Syndrom. Transvesikaler Ultraschall lässt einen Blick auf Prostata und Samenblasen zu und kann bei Bedarf (geringes Spermavolumen, Fruktosemangel etc.) durch eine transrektale Sonographie (zur Erkennung von Prostataund Utriculus-Zysten oder Samenblasenobstruktion) ergänzt werden. 65 Bernhard Schwindl Im Zentrum der andrologischen Diagnostik steht die Analyse einer Samenprobe, das Spermiogramm. Auch wenn dies keine invasive Maßnahme darstellt, so ist dennoch das natürliche Schamgefühl des Patienten (u. a. auch abhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe, Kultur oder Religion) zu berücksichtigen. Die Qualität eines Spermiogramms kann stark unter einer falschen Abnahmetechnik leiden. Insbesondere durch eine Nicht-Beachtung der Karenzzeit (Enthaltsamkeit vor der Probengewinnung) kann die Güte des Spermas stark variieren. Eine entsprechende Aufklärung (am besten im Voraus mit Hilfe eines Merkblatts) ist sinnvoll, zumal die Auswertung nach neuerem WHO-Standard (WHO 2010) äußert präzise erfolgt. Mitarbeiterschulung und Spermiogramm-Kurs (Haidl et al. 2011), interne und externe Qualitätskontrollen (verpflichtend seit 2013: Ringversuche, zum Beispiel QuaDeGA: Qualitätskontrolle der Deutschen Gesellschaft für Andrologie; Mallidis et al. 2012) sichern valide Ergebnisse und machen automatisierte Auswertungen entbehrlich. Die Spermagewinnung gelingt idealerweise vor Ort in der andrologischen Praxis. Entsprechende Räumlichkeiten für eine ungestörte Masturbation sind bereitzustellen. Häusliche Gewinnung stellt eher den Ausnahmefall dar (gegebenenfalls mit nicht beschichtetem Spezialkondom) und erfordert eine genaue zeitliche Dokumentation sowie zügigen Transport und unmittelbare Verarbeitung. Eine Wiederholungsuntersuchung im Abstand von sechs Wochen (vor ICSI sind zwölf Wochen gewünscht) soll die intraindividuellen Schwankungen reduzieren. Standardmäßig bestimmt werden die Verflüssigungszeit (15 bis 60 Minuten), die Konsistenz, das Aussehen, das Volumen (> 1,5 ml), der pH-Wert (≥ 7,2), die Motilität an Hand des Direktpräparates (40 %), die Anzahl (> 39 Millionen) und die Konzentration (> 15/ml) nach Verdünnung. Eine Vitalitätsprüfung (> 58 %) und eine Spermatozoen-Antikörper-Bestimmung (im Allgemeinen mittels MAR-Test (Mixed Antiglobulin Reaction) oder Immunobead-Test) schließen sich an. Eine Agglutination (Aneinanderhaften von motilen Spermien an Kopf oder Schwanz) kann bereits im Nativpräparat ein Hinweis für das Vorhandensein von Spermienantikörpern sein; mehr als 50 % an Antikörper gebundene Spermien im MAR-Test scheinen die In-vivoBefruchtung zu beeinträchtigen. Die immunogene Sterilität bleibt jedoch weiterhin ein Buch mit sieben Siegeln. Im Routinebetrieb hat die Antikörperbestimmung im Ejakulat und Serum keinen besonderen Stellenwert. Die Peroxidase-Reaktion erlaubt ein (Infekt-assoziiertes) Granulozyten-Screening (Grenzwert > 1 Millionen Peroxidase-positiver Rundzellen/ml). Bei Leukospermie erfolgt eine Spermabakteriologie (pathologisch > 1000 KBE/ml), gegebenenfalls auch eine erweiterte Infektionsdiagnostik (GranulozytenElastase, Prostatamassage, STD-Erregernachweis). Nach Färbung (Verfahren nach Papanicolaou, Shorr) wird die Morphologie beurteilt (Kopf, Hals- und Mittelstück, Schwanz, Zytoplasmareste). Eine Aussage über die Vitalität der Spermien liefert der Eosin-Test (> 58 %). Eine Wertigkeit im Hinblick auf 66 Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin die Spermienfunktionstüchtigkeit hat auch der früher regelmäßig durchgeführte HOS-Schwelltest (Anschwellen der Spermienschwänze im hyposmolaren Medium), welcher im Rahmen der ICSI-Behandlung eine gewisse Renaissance erlebt. Die optional aus dem Ejakulat bestimmten Werte für Zink (Referenzbereich ≥ 2,4 µmol), Alpha-Glucosidase (Norm ≥ 20 mU) und Fructose (≥ 13 µmol) geben Auskunft über Prostata-, Nebenhoden- bzw. Samenblasenfunktion. Im Zusammenhang mit der Spermiogramm-Beurteilung ist dabei Folgendes anzumerken: Die vermeintliche Abnahme der Spermaqualität, welche in Zeiten des Wohlstands der Nachkriegsjahre beobachtet wurde (im Gegenzug zum Postulat des Anstiegs der Spermien in Not- und Kriegszeiten durch Fortpflanzungsdruck), hat Niederschlag in den veränderten Normwerten für Spermiogramme der WHO 2010 gefunden. Mit ihrer Novellierung wurden die Anforderungen an ein „normales“ Spermiogramm deutlich gesenkt, allerdings unter Einhaltung stringenter Untersuchungsmethoden. So spricht man bereits von Normozoospermie, wenn die Spermienkonzentration mindestens 15 Millionen pro ml beträgt. Die Spermienkonzentration steht dabei in Relation zu Fertilisation und Schwangerschaftsraten. Eine Asthenozoospermie liegt vor, wenn weniger als 32 % vorwärts beweglich sind (wobei nicht mehr unterschieden wird in schnell und langsam progressiv). Die Gesamtbeweglichkeit sollte über 40 % liegen. Nur 4 % der Spermien müssen normal geformt sein, erst darunter wird eine Teratozoospermie konstatiert. Allerdings erreichen Proben aufgrund detaillierter Deskription selten eine MorphologieGüte über 25 % (Menkveld et al. 2011; Nieschlag et al. 2010: 52). So sind zum Beispiel mehr als zwei Kopfvakuolen oder auch ein Zytoplasma-Rest ≥ 1/3 der Spermienkopfgröße als pathologisch zu werten. Ist die Anzahl der Spermien (unterer Referenzwert 39 Millionen) oder die Konzentration reduziert (im Zweifel liegt die Priorität auf der Gesamtzahl), liegt eine Oligozoospermie vor. Ist die Motilität reduziert, spricht man von Asthenozoospermie. Kombinationen aus zwei oder drei Faktoren sind häufig, wobei Letzteres als OAT-Syndrom bezeichnet wird (Oligo-astheno-teratozoospermie-Syndrom). Findet sich kein Spermium, liegt eine Azoospermie vor. Sind nur vereinzelt Spermien (< 1 Millionen/ml) vorhanden, wird eine Kryptozoospermie konstatiert, die für eine künstliche Befruchtung von großer Bedeutung sein kann. 3.3 Sterilitätsfaktoren beim Mann Zahlreiche Abhandlungen in den letzten 30 Jahren beschäftigen sich mit der Verschlechterung der Spermaparameter (Carlsen et al. 1992). Ein zunehmend negativer Einfluss der Umweltfaktoren auf die Spermaqualität wurde ange67 Bernhard Schwindl nommen. Als Belastungen werden u. a. eine vermehrte Östrogenanreicherung der Lebensmittel durch Tiermast, der Einfluss der Pille auf die männlichen Föten im Mutterleib, Kunststoffe, Umweltgifte et cetera angeführt. Erstmals dokumentiert wurde die chronische Bleivergiftung als Ursache der Unfruchtbarkeit Anfang des 19. Jahrhunderts (Heinrichs 2000). Eine Studie neueren Datums (Jörgensen 2011: Longitudinaluntersuchung von 1996 bis 2010 an 5.000 dänischen Rekruten) findet allerdings eine im Wesentlichen konstante Spermienzahl um 40 bis 45 Millionen/ml (bei allerdings nur kurzem Beobachtungszeitraum), so dass Zweifel an der vormals postulierten „Spermienkrise“ aufkamen. Das von Prof. Dr. E. Nieschlag – dem Mentor der deutschen Andrologie – wieder aufgewärmte Thema bleibt deshalb weiter sehr kontrovers (vgl. Nieschlag 2011). Fakt ist, dass Umweltfaktoren (wie z. B. Strahlung, Hitze, Druck) und Kunststoffe (polychlorierte Biphenyle, perfluorierten Kohlenwasserstoffe) Einfluss auf die Spermaqualität haben, sich aber schwer quantifizieren lassen, wenngleich eine neuere Methode, die den Einfluss verschiedener Umweltgifte auf einen Ionenkanal der Spermien misst, vielversprechend ist (Schiffer et al. 2014). Der Einfluss der „Teflonpfanne“ erreicht aber wohl kaum das schädigende Potenzial, welches von persönlichem Fehlverhalten ausgeht (wie z. B. dem übermäßigen Nikotingenuss oder der Testosteron-Substitution des Kraftsportlers). Allgemeine Empfehlungen für die hilfesuchenden Männer lauten deshalb: Nikotinkonsum, exzessiver Ausdauer- und Leistungssport (Marathonläufe etc.), allzu häufige Saunabesuche können für die Realisierung eines Kinderwunsches kontraproduktiv sein; auch zu Letzterem gibt es mittlerweile durch Studien gesicherte Daten (Hammad et al. 2014; Garolla et al. 2013). Dagegen ist Freizeitsport im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsvorsorge zu befürworten, selbst Radsport ist unbedenklich und bewirkt keine andauernde Verminderung der Samenparameter (Sommer 2004; Jung et al. 2008). Was die Kleidung angeht, so soll allzu enge Beinkleidung, welche die Lage und Temperatur der Hoden beeinträchtigt, vermieden werden. Wichtig ist eine ausgeglichene eiweiß- und vitaminreiche Kost. Nahrungsergänzung ist von fraglichem Nutzen: Studien lassen eine Reduktion des zellulären Stresses durch Antioxidantien vermuten. Zumeist ist in entsprechenden Präparaten eine Mischung aus Zink, Folsäure, Vitaminen (wie z. B. B 12, C, D und E), L-Carnitin, Coenzym Q10 und Omega-III-Fettsäuren enthalten. Substitution vermag jedoch eine ausgewogene Mischkost nicht zu ersetzen. Extreme Adipositas ist ebenso wie Magersucht schädlich (BMI > 30 oder < 18). Auch eine radikale Diät kann eine hormonelle Dysbalance auslösen. Alkohol ist nur in kleinen Mengen vertretbar. Der Einfluss von Chemikalien ist zu vermeiden – und hier gilt es insbesondere vor den Auswirkungen von Hormonen, Anabolika und Drogen zu warnen. Des Weiteren gelten Zytostatika und ionisierende Strahlung (vgl. Kap. 3.4) für die Spermatogonien als 68 Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin ungesund. Ob aber der Laptop am Schoß oder das Handy in der Hosentasche eine Rolle spielt, ist schwierig zu beurteilen. Psychische Faktoren fließen ein, wurden in der Vergangenheit mit 30 bis 35 % aber überschätzt. Im Berufsleben soll ungesunder Stress sowie Schichtarbeit ebenso vermieden werden wie eine einseitige nur körperliche oder nur geistige Betätigung. Der günstige Einfluss von Ferien und Milieuveränderung gilt als erwiesen (Stalla 2014). Umgekehrt wirkt ein über Jahre persistierender unerfüllter Kinderwunsch für das Paar (für den Mann in ähnlicher Weise wie für die Frau) belastend. Dies äußert sich im Rahmen von erfolglosen reproduktionsmedizinischen Maßnahmen im Besonderen (z. B. Reaktionen von Angst, Depression oder Trauer). Im Unterschied zu Frauen wird von Männern die Gefühlslage eher selten verbalisiert. Für die Erhebung psychosozialer Belastungsfaktoren empfehlen sich Fragebögen wie zum Beispiel FertiQol, SEAR-M oder die Infertilitätsbelastungsskala (IBS), um belastete Männer zu identifizieren und gezielt unterstützen zu können. Psychopathologische Auffälligkeiten liegen bei den betroffenen Frauen und Männern jedoch nicht gehäuft vor. Eine verhaltensbedingte Fertilitätsstörung ist bei 5 bis maximal 10 % der Paare festzustellen (vgl. Kentenich et al. 2014). Sehr sensibel ist auch mit Störungen der Sexualität umzugehen (Rösing et al. 2009; Strauß et al. 2004). Luststörungen, Orgasmus- und Ejakulationsstörungen, Störungen der sexuellen Präferenz, Beziehungsstörungen oder Partnerschaftsprobleme werden gelegentlich erst im Rahmen der Kinderwunsch-Abklärung offengelegt. So outen sich zum Beispiel in diesem Kontext auch manche Männer, von der Partnerin bedrängt zu werden. Ein Paar, das mangels Lust oder zeitlicher und räumlicher Trennung selten Geschlechtsverkehr ausübt oder ausüben kann1, bedarf neben dem Ausschluss hormoneller Störungen einer grundlegenden sexualphysiologischen Beratung. Insbesondere unter Maßnahmen der Reproduktionsmedizin kommen Partner nicht selten an ihre körperlichen und psychischen Grenzen. Bei Beziehungskrisen sollte immer eine Paarberatung durch einen kundigen Psychologen stattfinden, wohlwissend, dass sowohl positives als auch negatives Resultat aus künstlicher Befruchtung zur Trennung des Paares führen kann. Genetische Erkrankungen sind in der Kinderwunschsprechstunde mit 4 bis 5 % eher selten ein Thema (Tüttelmann 2011). Weiterführende genetische Tests (z. B. die Bestimmung des AZF-Gen-Lokus am Y-Chromosom oder dem Mukoviszidose bzw. Samenleiteraplasie assoziierten CFTR – cystic fibrosis transmembrane conductance regulator Gen) wiederum greifen in die Persönlichkeitsrechte des Patienten ein und bedürfen aus Datenschutzgründen der schriftlichen Einwilligung und ausführlichen Aufklärung und Beratung (Gendiagnostikgesetz, 01.02.2010). Die ein- oder beidseitige Ductusaplasie 1 „Normwerte“ des Sexualvollzugs variieren altersbezogen und liegen durchschnittlich bei über 150-mal pro Jahr im Alter bis 30 und unter 100-mal pro Jahr im Alter ab 40. 69 Bernhard Schwindl (CUAVD/CBAVD) kann als Minimalvariante einer cystischen Fibrose (Mucoviszidose) gelten (sogenannte atypische Form), bei der in Abhängigkeit der Mutation am CFTR-Gen (am häufigsten die „schwere“ Mutation F508del) die pulmonale oder enterale Symptomatik fehlt. 1 bis 2 % aller infertilen Männer weisen Mutationen im CFTR-Allel auf. Ein Mutationstest und gegebenenfalls die Sequenzierung des gesamten CFTR-Gens ist angezeigt bei Samenleiteraplasie mit Azoospermie, Kryptozoospermie oder positiver Familienanamnese beider Partner (autosomal-rezessiver Erbgang mit Heterozygotenfrequenz in der Allgemeinbevölkerung 1:25). Auch seltene Mutationen im HNF1B-Gen (Hepatic Nuclear Factor 1 Beta) können eine CBAVD (in Verbindung mit Nierenzysten, Diabetes mellitus) verursachen. Eine humangenetische Beratung ist dann vor einer ICSI-Maßnahme immer indiziert. Auch ein negatives Resultat muss vermittelt werden können und zu möglichen Alternativen (wie z. B. zur Fremdsamenspende oder Adoption) beraten werden. Beispielsweise ist bei Vorliegen einer AZFa-Mikro-Deletion am YChromosom, welche histologisch zum Sertoli-Cell-Only-Syndrom führt, sowohl von einer Hodenbiopsie (TESE) als auch von IVF-medizinischen Maßnahmen abzuraten. Auch ein komplettes oder partielles Fehlen von AZFb, b + c führt zur Azoospermie. Bei isolierter AZFc-Deletion kann dagegen eine TESE eventuell befruchtungsfähige Spermatozoen detektieren (Vogt et al. 1996; Krausz et al. 2014). Beim AZF (Azoospermiefaktor)-Locus handelt es sich um eine Region am langen Arm des Y-Chromosomes, die in drei Abschnitte (a, b, c) unterteilt wird. In Abhängigkeit der betroffenen Gensequenz resultiert eine Azoospermie bzw. ein höhergradiges OAT-Syndrom. MikroDeletionen im AZF-Gen sind bei 15 bis 20 % aller Männer mit nicht-obstruktiver Azoospermie zu erwarten. Bei Spermienkonzentration unter 2 Millionen/ml (wenngleich es keinen festen Grenzwert gibt) ist grundsätzlich ein Screening auf eine AZF-Deletion indiziert. Seltenere Gendefekte autosomaler Chromosomen bzw. am X-Chromosom mit Einfluss auf die Fertilität haben noch keinen Eingang in die klinische Diagnostik der Andrologie gefunden. Selten liegen auch Hormonstörungen einer Infertilität zugrunde. Eine Spermienkonzentration unter 10 Millionen/ml sollte Anlass zur Abklärung der Hypophysen-Hodenachse sein. Überprüfung der Testosteronwerte und Hirnanhangsdrüsenhormone LH, FSH sowie ein Schilddrüsenscreening (TSH) gehören dann zum Standard und sind im Einzelfall zu erweitern (SHBG, Östradiol, Prolaktin, Cortisol, 17-OH-Progesteron, Inhibin-B, diverse Funktionstests wie Hypophysenstimulationstest, LH-RH-Test, ClomifenTest, HCG-Test). Die Bedeutung des follikelstimulierenden Hormons (FSH) zeigt das seltene Krankheitsbild des fertilen Eunuchen (Pasqualini-Syndrom). Ein partieller Defekt des Gonadotropin-Releasing-Hormons (GnRH) aus dem Hypothalamus führt zum Mangel an luteinisierendem Hormon (LH) und Testosteron. 70 Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin Nicht betroffen ist dabei die FSH-Bildung, so dass ausreichend Spermien gebildet werden. Häufiger ist die gleichzeitige Verminderung von FSH, LH und Testosteron, dem sogenannten hypogonadotropen Hypogonadismus. Die Therapie der männlichen Fertilitätsstörung ist bekanntermaßen nicht immer ganz einfach. Bei bestimmten Erkrankungen, wie dem zentralnervösen, hypogonadotropen Hypogonadismus ist sie jedoch in hohem Maß erfolgversprechend. Hormonelle Substitution mittels HCG/HMG (bzw. rekombinantem FSH) ist bei hypophysärer (Hirnanhangsdrüse) oder hypothalamischer (Zwischenhirn) Insuffizienz wirksam (vgl. Bouloux et al. 2003). Es wird nach entsprechender Latenz von einigen Monaten (SpermiogeneseDauer beim Menschen etwa 70 Tage) eine erstaunliche Anzahl von Spermien induziert und binnen ein bis zwei Jahren zumeist eine fast normale Fertilität erreicht (Ausnahmen bestätigen die Regel, so zum Beispiel bei einer DAX-1Genmutation). Das bekannteste und häufigste Beispiel eines angeborenen, hypogonadotropen Hypogonadismus ist das Kallmann-Syndrom, welches sich neben der fehlenden bzw. stark verzögerten Pubertätsentwicklung durch eine Anosmie auszeichnet. Der Ausprägungsgrad ist abhängig von einer Vielzahl möglich betroffener Gene unterschiedlichen Vererbungsmusters, so dass eine humangenetische Fachberatung erforderlich ist. Aber auch einen Hypogonadismus auslösende Hypophysentumore können durch medikamentöse Therapie erfolgreich behandelt werden (z. B. das Prolaktinom, welches durch Dopamin-Agonisten am verdrängenden Wachstum gehindert wird), bzw. werden nur beobachtet (z. B. asymptomatische, hormoninaktive Tumore ohne Wachstum) und bei Hormonmangel mit HCG/ HMG substituiert, andere sind chirurgisch anzugehen und erfordern Hormonsubstitution (Schaaf 2012). Das nicht klassische adrenogenitale Syndrom (Late-Onset-AGS), welches durch eine autosomal-rezessiv vererbte Störung der adrenalen Kortikoid-Synthese bedingt ist und mit einer konsekutiven Testosteronüberproduktion einhergeht, ist beim Mann prima facei nicht erkennbar. Bei Vorliegen einer Fertilitätsstörung ist das Syndrom nach Diagnosesicherung (mittels ACTH-Test) durch Cortison-Zufuhr behandelbar (Speiser et al. 2010; Mönig/ Jacobeit 2012; Stieg 2014). In einigen Fällen gelingt es durch Beseitigung eines hormonproduzierenden Hodentumors (z. B. Leydig-Tumor) die gestörte Hormonachse wiederherzustellen. Azoospermie, auffällige FSH- (> 10 U/l) und Inhibin B-Werte (< 80 ng/l) werfen den Verdacht auf eine hochgradige Infertilität auf. Eine Azoospermie beim hypergonadotropen Hypogonadismus (primärer Hodenschaden) erfordert immer operative Maßnahmen (TESE bzw. Mikro-TESE), um die (zum Teil minimale) Chance zur Realisierung des Kinderwunsches zu nutzen. So fin71 Bernhard Schwindl den sich bei einem Mann mit Klinefelter Syndrom (47, XXY), der häufigsten chromosomal bedingten Infertilitätsstörung (1/500 männliche Neugeborene), in etwa 40 % der Fälle Spermatogenese-Inseln, die zur TESE geeignet sind (Høst et al. 2014). Allerdings werden diese mit zunehmendem Abstand zur Pubertät rarefiziert, so dass eine frühzeitige Kryo-TESE (das Einfrieren von Samenzellen, die mit Hilfe einer TESE entnommen wurden) propagiert wird. Insbesondere bei noch normalen Testosteronspiegeln ist die Aussicht auf Erfolg besser. Eine HCG-Vorbehandlung wird empfohlen. Mosaikformen (in 7 % der Fälle) weisen eine Restspermiogenese auf, so dass auch Spontanschwangerschaften berichtet wurden. Gut organisierte Selbsthilfegruppen stehen den betroffenen Patienten und Paaren (wie auch bei vielen anderen genetischen oder endokrinologischen Erkrankungen) in der Bewältigung der persönlichen Lebenssituation bei. Einen positiven Einfluss einer hochdosierten HCG-Vorbehandlung (3 x 5.000 IU/3x/Woche) vor wiederholter Mikro-TESE fanden japanische Forscher auch bei hypergonadotropen Patienten (mit hohem LH, FSH) bei nicht-obstruktiver Azoospermie (Shiraishi et al. 2012 b). Ob man Patienten mit idiopathischem OAT-Syndrom mit Antiöstrogenen oder Aromatase-Inhibitoren helfen kann, ist ebenfalls Gegenstand der Forschung (Schlegel 2012). Letztere werden eher bei übergewichtigen Patienten mit ungünstigem Testosteron/Östrogen-Verhältnis gelegentlich „off-label“ eingesetzt (Kumar 2013). Der Einfluss von Infektionen des Genitalbereichs wird häufig unterschätzt. Tabelle 3.2 listet die im Zusammenhang mit Fertilitätsstörungen am häufigsten genannten Infektionen auf. Bakterielle Infekte der männlichen Adnexe sollten konsequent und resistenzgerecht, im Fall einer chronisch-bakteriellen Prostatitis über vier bis sechs Wochen, antibiotisch behandelt werden. Auch der asymptomatische Erregernachweis kann über eine Dauer von etwa zehn Tagen zur Verbesserung der Fertilitätsparameter behandelt werden. Allerdings gibt es auch eine Beeinträchtigung der Fertilität durch längere Antibiose-Anwendung (Weidner et al. 2013). Außerdem erfordern zunehmende Antibiotika-Resistenzen der Erreger im Bereich der sexuell übertragbaren Erkrankungen neben dem Einsatz stärkerer Antibiotika eine nicht müde werdende und forcierte Aufklärungsarbeit. Die Promiskuität unter Jugendlichen lässt ein Ansteigen von Chlamydien, Mykoplasmen- und UreaplasmenInfekten erkennen. Die Epididymitis (Entzündung des Nebenhodens) des jungen Mannes ist häufig Chlamydien assoziiert; als Vektor dient oft die gering bis asymptomatische Partnerin, welche bei chronisch schleichendem Verlauf eine Sterilität durch Eileiterobstruktion erleiden kann. Ein Ausfluss aus der Harnröhre kann mittels Abstrich und moderner PCR (Polymerasekettenreaktion) rasch abgeklärt werden. Eitriger Harnröhrenausfluss oder die Nebenhodenentzündung des jungen Mannes ist nicht selten mit einer Gonorrhoe assoziiert. Verklebungen im Bereich der Samenkanälchen verhindern den Samen72 Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin transport. Selbst wenn nur ein Hoden betroffen ist, so geht die Infektion häufig (bei bis zu 40 % der Patienten) mit einer Reduktion der Fertilität einher (Pilatz 2014). Autoimmun-Prozesse werden diskutiert. Tab. 3.2: Genitale Infektionen mit Einfluss auf Fertilität Infektion Urethritis Erreger Nachweis Therapie Neisseria gonorrhoea Polymerasekettenreaktion Ceftriaxon 1 g i.m./i.v. einmalig (PCR) (Urethralabstrich), (bei Adnexitis 7 Tage und länKultur, Mikroskopie ger), zunehmende Resistenz Chlamydia trachomatis, Ureaplasma urealyticum, Mycoplasma hominis PCR, (Mikroskopie, Spe- Doxcyclin 2 x 100 mg über 10 zialnährböden für Kultur) bis 14 Tage bzw. Azithromycin (Urethralabstrich, Ersturin) 1,5 g p. o. bzw. 500 mg über 3 Tage (bei STD-Erregern jeweils Partnermitbehandlung, Kontrolle nach 6 Wochen) Epididymitis Gram.-neg. Keime, STD-Erreger Urinkultur, Urethralabstrich Levofloxacin 500 mg 10 Tage und länger); bei Alter < 35 Jahre bzw. STD-Anamnese Ceftriaxon 1 x 1g i. m. u. Doxcyclin 2 x 100 mg 10 bis 14 Tage (Partnermitbehandlung) Prostatitis, Adnexitis masculina, UrogenitalTbc Gram.-neg. Harnwegsinfekt-Keime (E. coli, Klebsiella, Proteus etc.); selten M. tuberculosis Mikroskopie, Urinkultur, modifizierte zweiGläserprobe (Prostatamassage bei chron. Prostatitis: Exprimaturin ≥104 KBE/ml bzw. 10 x höher als MittelstrahlUrin), Spermabakteriologie (≥103 KBE/ml) Resistenzgerecht nach Antibiogramm (z. B. Gyrasehemmer; bei chron. bakt. Prostatitis über 4 bis 6 Wochen!), Behandlung der asymptomatischen Prostatitis hinsichtlich Fertilität unklar (Wagenlehner et al. 2009); Tbc (s. Leitlinien) Lues Treponema pallidum Mikroskopie, PCR, Screening-Test, TPHA Penicillin G 3 x 10 MioIE i.v./10 Tage; Benzathin-P. 2,4 Mio i.m. Orchitis (mögliche postinfektiöse Sterilität) Mumps-Virus (MuV) Virus: Rachenabstrich, Urin (PCR); Antikörper: Urin- bzw. Serum-AK (Enzymimmunoassay) Keine antivirale Medikation, sympt. Antiphlogistika, Corticoid (besser: Impfprophylaxe) Herpes genitalis Herpes simplex virus (HSV) Typ 2 PCR: Abstrich (von Bläschen) bei unklarer Klinik Primäraffekt: Aziclovir Tbl. 3 x 400 oder 5 x 200 mg über 7 bis 10 Tage, (seltener i. v. 3 x 5 mg/kgKG). Rezidiv: Therapie über 5 Tage, Suppressiontherapie beim häufigen Rezidiv (> 6/a): 2 x 400 mg über Monate; lokal Aziclovir Creme 2 g (Wirkung unklar). Alternativ Famciclovir, Valaciclovir Condyloma accuminata Humanes PapillomVirus (HPV) v. a. Typ 6,11 (40,42,44,54,61) Klinik, Typisierung entbehrlich, Histologie bei Malignitätsverdacht Chirurgie, Laser-, Kryotherapie, Externa (Podophyllin toxisch!, Imiquimod, Grünteeextrakt) Quelle: Eigene Darstellung 73 Bernhard Schwindl Dass auch virale Infekte eine immunologische Sterilität auslösen können, ist von der Mumpserkrankung des Jugendlichen hinlänglich bekannt. Der Einfluss zahlreicher weiterer viraler Infekte ist hinsichtlich der Auswirkung auf die männliche Fertilität weniger evident (Gizzo 2014). Cai (2014) berichtet über eine Reduktion der Spermamotilität und -morphologie. Kondylomata accuminata (Feigwarzen durch HPV-Viren) im Genitalbereich sollten vor einer reproduktionsmedizinischen Maßnahme sowohl beim Mann als auch bei der Frau saniert werden. HPV-Infektionen des Mannes erhöhen die Abortrate nach IVF/ICSI-Verfahren, wie eine italienische Forschergruppe um Perino beschreibt (Perino et al. 2011). Toxische Medikation (z. B. Podophyllotoxin) und lange Eradikationsdauer (im Durchschnitt > 7 Monate; vgl. Giuliano et al. 2011) können dann in Konflikt mit dem Leidensdruck und Alter des Kinderwunschpaares stehen. Für eine Extraktsalbe aus Grünteeblättern ist dagegen keine teratogene Wirkung bekannt. Chirurgische, Kryo- bzw. thermische Verfahren bewirken einen schnelleren Behandlungserfolg. Da HPVViren auch in Samenspenden enthalten sein können, stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach einer Testung nach HPV-Viren im Samen. Diese Frage stellt sich vor allem unter dem Aspekt, dass die gängigen Spermaaufbereitungsmethoden nur geringe Auswaschraten (< 15 %) erzielen (Foresta 2011). Ubiquitäres Vorkommen von HPV-Viren (etwa 150 bis 200 Typen) mit hoher Durchseuchungsrate von 50 bis 70 % auf gesunder Haut macht ein generelles Screening mit Genitalabstrichen – selbst bei Beschränkung auf die aggressiven Typen (Condylomata induzierten Typen 6, 11; onkogen sind v. a. Typen 16, 18) – nicht effektiv (Köhn/Schanz/Schreiber 2014). Dem Ansinnen gesunder Männer, die aus Verunsicherung über eine latente Infektion eine Testung wünschen, sollte deshalb eher widersprochen werden. Ob eine HPV-Impfung beim jungen Mann dem Erhalt der Fertilität dienlich ist, kann derzeit jedoch ebenso wenig beantwortet werden wie die Frage, ob sich dadurch der Prostatakrebs des Alters verhindern lässt. Der Einfluss einer HPV-Infektion auf Krebserkrankungen der Mundhöhle, des Anus und des äußeren Genitales ist dagegen gesichert. Die Diagnostik hinsichtlich HSV 2 (Herpes simplex genitalis) wird selten durchgeführt, ist jedoch bei unklaren, klinischen Befunden (und nur da!) indiziert, zumal auch eine therapeutische Leitlinie dazu existiert. Die Gefahr, dass eine HIV-Infektion zur chronischen, behandelbaren Erkrankung herabgestuft wird, ist, epidemiologisch gesehen, gefährlich. Die Akzeptanz eines Kondoms ist rückläufig. Mischinfektionen sind häufig und die Vulnerabilität der Schleimhaut steigt mit der Frequenz der Sexualkontakte. Die Circumcision des Mannes hat dabei protektiven Charakter. Ejakulationsstörungen lassen sich medikamentös oft nur schwer behandeln (Therapieversuch u. a. mit Alpha-Sympathomimetika). Bei Patienten mit ausbleibender Ejakulation (z. B. Querschnittsyndrom) können ein Vibrations74 Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin stimulator oder eine Elektrostimulation zur Samengewinnung zum Einsatz kommen. Inseminationen werden bei Extremformen des verfrühten Samenergusses, der sogenannten Ejaculatio ante portas (Samenerguss vor dem Eindringen in die Scheide) oder der Ejaculatio retarda/deficiens (später bzw. ausbleibender Samenerguss) notwendig. Anejaculation bzw. retrograde Ejaculation (Samenerguss nach hinten in die Blase) tritt zum Beispiel nach einer Blasenhalsoperation oder einer vegetativ-sympathischen NervengeflechtResektion im kleinen Becken auf. Retrograde Ejakulation oder Anejakulation ist beispielsweise in 10 bis 15 % eine therapie-assoziierte Komplikation nach retroperitonealer Lymphknotenresektion beim metastasierten Hodentumor (Heidenreich et al. 2012). Neurologische Erkrankungen (M. Parkinson, Multiple Sklerose) und Medikamente (SSRI-Antidepressiva, Alpha-Blocker) sowie häufig ein Diabetes mellitus sind weitere Ursachen (Schaaf 2012). Die therapieresistente retrograde Ejakulation erfordert ein Auswaschen der Spermien aus der Blase und eine spezielle Spermaaufbereitung (McMahon et al. 2013). Indikationsbezogen kommen auch operative Verfahren zur Verbesserung der Fertilität zum Einsatz: Durch Varikozelen-Verödung oder Ligatur (zur Beseitigung der Krampfadern am Hoden) kann das Milieu der Spermatogonien (Keimzellen) verbessert werden, so dass die Zahl und Motilität der Spermien zunehmen kann. Ob dadurch die Schwangerschaftsrate verbessert wird, bleibt jedoch umstritten. Insbesondere die prophylaktische Varikozelenbehandlung (antegrade Sklerosierung) des Jugendlichen scheint den Fertilitätsstatus nicht zu bessern (vgl. Bogaert et al. 2013: Studie mit 372 Jugendlichen). Dagegen zeigen Untersuchungen einer japanischen Arbeitsgruppe (Shiraishi et al. 2012 a) eine Verbesserung der ICSI-Erfolge nach Varikozelotomie sowie ein Absinken der Abortrate (Esteves et al. 2010). Abdel-Meguit (2012) fand selbst bei azoospermen Patienten, die wegen einer Varikozele mittels mikrochirurgischer, inguinaler Varikozelotomie behandelt wurden, in über einem Viertel der Patienten mit histologisch spätem Reifungsarrest bzw. Hypospermatogenese Spermien. Keine Verbesserung erfuhren allerdings jene Patienten mit früher Reifungsstörung oder Sertoli-Cell-Only-Syndrom. Samentransportstörungen können ebenfalls Grund für eine Operation sein. Die Vasoresektion (Samenleiterdurchtrennung) wird als Verhütungsoperation nach Realisierung des Kinderwunsches und abgeschlossener Familienplanung – auch zur Vermeidung hormoneller Nebenwirkungen der Pille bei der Frau – häufig durchgeführt (Engelmann et al. 1990; 2009). 3,5 % der Patienten wünscht durch veränderte Lebensumstände (wie z. B. eine neue Partnerin oder auch ein weiterer Kinderwunsch mit gleicher Partnerin) eine Wiederherstellung der Zeugungsfähigkeit. Eine Wiedervereinigung der Samenleiter ermöglicht die Vasovasostomie (VVS) bzw. Vasoepididymostomie (VES). Zunehmend verfeinerte Operationstechniken unter dem Mikroskop mit zwei- bis dreischichtiger Naht bei Fadenstärken bis 11-0 finden Anwen75 Bernhard Schwindl dung (Weiske 1996; Schwarzer 2012). Auch ein intraabdomineller Verschluss (z. B. nach Samenleiterdurchtrennung im Rahmen eines endoskopischen Hernienverschlusses) lässt sich mikrochirurgisch oder laparoskopisch roboterunterstützt im Einzelfall korrigieren (Zimmermann 2014). Die Durchgängigkeitsrate nach VVS beträgt 80 bis 90 % (bei VES um 50 %); die Schwangerschaftsraten liegen mit circa 60 % (bei VES bis 40 %) niedriger, wobei als Ursache neben dem weiblichen Faktor Störungen des Immunsystems durch Eröffnung der Blut-Hodenschranke nach Vasektomie mit konsekutiver Autoantikörperbildung diskutiert werden. Das Vasektomie-Intervall oder eine Granulombildung spielen für den Erfolg dagegen keine entscheidende Rolle (Magheli et al. 2010). Im Vergleich mit einer IVF-Maßnahme (TESE/ICSI s. u.) ist die Refertilisierungsoperation des Mannes eine langfristig wirkende und im Vergleich zu IVF-Maßnahmen (TESE/ICSI) günstigere und natürlichere Variante. Kombinierte Verfahren (mit gleichzeitiger Gewinnung von Spermien bzw. Hodengewebe zur Kryokonservierung für IVF-Maßnahmen) erhöhen die Chancen, zumal bei höherem Vasektomie-Intervall (> 10 Jahre) eine Erholung der Funktion bis zu zwei Jahren dauern kann (Schwarzer et al. 2013). Eine weitere Methode ist die Eröffnung des blockierten Samenweges im Bereich der hinteren Harnröhre bzw. der Prostata mittels elektrischer Schlinge (TURED) im Falle von (eher seltenen) Prostatazysten. Auch eine hochgradige Penisverkrümmung kann die Samendeposition in die Scheide unmöglich machen. Angeboren, oder wie im Falle der Induratio penis plastica (Morbus Peyronie) erworben, kann sie groteske Ausmaße annehmen. Eine Penisbegradigungsoperation ist hier eine praktikable Lösung, die in der Regel keinen nachteiligen Einfluss auf das Orgasmuserleben und den Samenerguss hat (Klotz 2007). Penisprothetik ist bei Versagen der medikamentösen Potenztherapie die ultimo ratio, die ebenfalls eine Samendeposition auf natürlichem Weg erlaubt. Plastische Eingriffe am Genitale (z. B. eine Frenulumplastik, das Kürzen der Vorhaut, eine Hypospadie-Korrektur, eine Penisbegradigung oder -verlängerung) können ebenfalls der Samendeposition dienen. Last-but-not-least stehen assistierte Reproduktionstechniken zur Verfügung. Bei unauffälliger Fertilität des Mannes können die Samenfäden durch Masturbation gewonnen, aufbereitet und „gewaschen“ werden, um dann für eine intrauterine Insemination Verwendung zu finden. Eine ausreichende Spermienkonzentration von 10 Millionen/ml (nach Aufbereitung 5 Millionen/ml) ist (auch im Kassenrecht) Voraussetzung. Weitere Kriterien sind eine ausreichende Gesamt-Motilität (30 % bzw. 50 % nach Swim-up-Verfahren) bzw. die progressive Motilität (25 % bzw. 40 % nach Swim-up-Verfahren) sowie die Morphologie (20 %, auch 20 % nach Swim-up-Verfahren). Insbesondere letztere Parameter stehen in Konflikt mit den neuen WHO-Referenzwerten, 76 Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin so dass die kassenrechtlichen Voraussetzungen (Richtlinien über künstliche Befruchtung, zuletzt vom 18.12.2012) einer Revision bedürfen. Bei geringeren Spermienkonzentrationen werden im direkten Swim-upVerfahren die beweglichen Spermien für IVF- oder ICSI-Maßnahmen gewonnen. Auch hier fehlen nach Wegfall des Kriteriums der schnell progressiven Beweglichkeit (vormals Motilität WHO A; ICSI-Indikation, wenn kleiner 15 % bzw. 30 % nach Swim-up) mangels valider Studienlage noch genauere Richtlinien des gemeinsamen Bundesausschusses, welche der beiden Methoden zum Einsatz kommen soll2. Bei Patienten mit retrograder Ejakulation (z. B. nach Blasenhalseingriff oder neurogen nach Eingriffen im kleinen Becken mit Destruktion des symphatischen Nervengeflechtes) können Spermien durch Isolation aus dem alkalisierten Urin und Aufbereitung (am effektivsten mit der Dichtegradienten-Methode) konzentriert für IVF-Methoden gewonnen werden. Bei Anejakulation gelingt es meistens, durch Vibration der Eichel oder durch rektale Elektrostimulation Sperma zu gewinnen. Durch die Aufbereitungsmethoden wird erreicht, dass Infektionserreger, Spermien-Agglutination oder auch (bedingt und abhängig von der Methode) Antikörper beseitigt bzw. reduziert werden (Schneider et al. 2014). So wird für HIV-Patienten (humane Immundefizienz) empfohlen, zur Eliminierung viraler Ribonukleinsäure und proviraler Desoxyribonukleinsäure die Dichtegradienten- und Swim-up-Methode zu kombinieren, um – durch eine negative Transkriptions-Polymerasekettenreaktion (RT-PCR) überprüft – den Partner nicht zu gefährden (WHO-Laborhandbuch 2010). Als Standard-Therapie für die immunogene Infertilität mit Nachweis von Anti-Spermien-Antikörpern gilt die ICSI-Behandlung, wobei der Einsatz von Glucokortikoiden nicht überzeugt hat (AWMF-Leitlinie Immunologische Infertilität 013-40/2012). Leider sind die verfügbaren Testverfahren wegen fehlender Antigenspezifität nur bedingt aussagekräftig; der MAR-Test (pathologisch > 30 %) wird in der Routine häufig eingesetzt. Das andrologische Repertoire zur Bereitstellung von Samenfäden bei hochgradig gestörter Spermatozoon-Bildungsstörung umfasst die Hodenbiopsie mit Gewinnung von TESE-Material (Material nach testikulärer Spermien Extraktion), die MESA (mikrochirurgische Aspiration von Spermien aus dem Nebenhoden) und die aufwendigere Mikro-TESE (jeweils in Verbindung mit ICSI). Letztere bleibt schwersten Störungen mit Isolierung von einzelnen funktionstüchtigen Samenkanälchen vorbehalten. Ein oder beide Hoden werden dabei mittels Sektionsschnitt eröffnet und unter Zuhilfenahme eines Mikroskopes auf Spermiogenese-Inseln durchsucht (Diemer et al. 2011). Gleichzeitige Histologie-Gewinnung schließt Hodenkrebsvorstufen (TIN) aus und liefert im Voraus Hinweise über die Sinnhaftigkeit aufwendiger Vorbehand2 Anmerkung: Die Unterscheidung in schnell (A) und langsam (B) progressive Spermien wurde wegen hoher Untersucher-Variabilität aufgegeben. 77 Bernhard Schwindl lung der Frau (Johnson et al. 1980; Bergmann 2007). Die Kryokonservierung ermöglicht dabei ein von der gynäkologischen Behandlung der Frau zeitlich unabhängiges Vorgehen ohne wesentlichen Funktionsverlust der Spermien im ICSI-Verfahren (Schulze/Thoms/Knuth 1999). Durch mechanische oder enzymatische Aufarbeitung gelingt es bei obstruktiver Ursache fast regelhaft (z. B. nach vorausgegangener Vasoresektion), aber auch bei nicht obstruktiver Ursache in 50 bis 60 % der Behandlungen, Spermien (oder haploide Spermatiden) zu isolieren. Die Qualität der Spermien steigt mit zunehmender Differenzierung. Die MESA erfordert im Gegensatz zur TESE das Operationsmikroskop und wird nur selten, wie zum Beispiel bei der (nicht für Refertilisierungsoperationen zugänglichen) CBAVD (bilaterale Samenleiteraplasie) eingesetzt. Beim ICSI-Verfahren wird ein einzelnes Spermium in die Eizelle injiziert. Dadurch kann Männern mit Gen- oder Chromosomen-Defekten (z. B. der AZFc-Deletion auf dem Y-Chromosom oder dem Klinefelter-Syndrom mit der Chromosomenaberration XXY) im günstigen Fall zu einem eigenen Kind verholfen werden. ICSI ist auch Mittel der Wahl bei Männern mit immotilen Spermien durch Schwanzdefekte, wie zum Beispiel bei dem sogenannten Kartagener-Syndrom. Kritisch anzumerken bleibt, dass derartige Defekte auch an nachfolgende Generationen weitervererbt werden (z. B. AZFc-Locus an alle Söhne). Eine humangenetische Beratung sollte in solchen Fällen deshalb immer bereits vor einer reproduktionsmedizinischen Maßnahme erfolgen (Foresta 2005). Vor einer ICSI-Maßnahme muss dem Paar eine humangenetische Beratung angeboten werden (Richtlinien über künstliche Befruchtung, zuletzt vom 18.12.12). Auch sind die Paare über ein höheres relatives Fehlbildungsrisiko beim ICSI-Verfahren (Fehlbildungsrisiko bei IVF circa 1,4 % vs. ICSI 2,3 %) aufzuklären. Die in letzter Zeit im Rahmen von ICSI-Behandlungen vermehrt in das Blickfeld geratenen epigenetischen Störungen („Imprinting Disorders“, zu denen Krankheitsbilder wie das Beckmann-Wiedmann-Syndrom, das Retinoblastom oder eine seltene Variante des Willi-PraderSyndroms zählen, welche durch Abschalten von väterlichen oder mütterlichen Genen entstehen) haben möglicherweise mehr mit der hochgradig reduzierten männlichen (und weiblichen) Fertilität als mit dem ICSI-Verfahren an sich zu tun (Sutcliffe et al. 2006; Vermeiden/Bernadus 2013). Nicht zuletzt ist es Aufgabe des Andrologen, den Mann bzw. das Paar über die Behandlungsmöglichkeiten sowie über die auf ihn und das Paar zukommenden Belastungen objektiv zu informieren und die erhobenen Befunde an ein eventuell in Anspruch genommenes IVF-Zentrum weiterzuleiten. Eine gute Kooperation erleichtert die Abläufe und stärkt das Vertrauen der Patienten. Ein Netzwerk mit Fachkräften aus der Gynäkologie, Reproduktionsmedizin, Labormedizin, Humangenetik, Psychologie und Beratungskräften sozialer Einrichtungen ist fruchtbar. 78 Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin 3.4 Tumorerkrankungen und Fertilitätsprotektion Allgemeinerkrankungen, insbesondere auch konsumierende Erkrankungen, die zum Teil auch schon in jungen Jahren auftreten, können mit einer Reduktion der männlichen Fertilität einhergehen. Ein Hodentumor, der eventuell im Rahmen einer Fertilitätsabklärung zufällig entdeckt wird, kann die Lebensplanung des Paares durchkreuzen. Auch wenn die Heilung des Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit gelingen kann, so sind doch erhebliche psychische Belastungen (wie z. B. neben dem Umgang mit der Erkrankung selbst auch die Unterbrechung von Ausbildungs- oder Berufsphasen), körperliche Anstrengungen (z. B. durch die Chemotherapie oder Bestrahlung) und nicht zuletzt auch Belastungen finanzieller Art (z. B. bei der Sperma-Kryokonservierung für die künstliche Befruchtung, die keine Kassenleistung ist) zu bewältigen. Hier ist der Gesetzgeber gefordert, jungen Männern, die am Anfang ihrer beruflichen Karriere stehen und aufgrund von einer Erkrankung in Not geraten sind, finanziell unter die Arme zu greifen. Die jungen Männer scheuen zuweilen die anfallenden Kosten für Kryosperma (von circa 400 Euro incl. HIV- und Hepatitis-Serologie) plus die Folgekosten für die Einlagerung. Die Sperma-Kryokonservierung ist in der Urologie ein seit Langem etabliertes Verfahren. Mit modernen Einfriertechniken (Kryoprotektivum, Kryostraws, flüssiger Stickstoffdampf, programmierbare Einfrierautomaten) lassen sich Spermien bzw. Gewebepartikel über Jahrzehnte ohne Qualitätsverlust (mit Ausnahme häufig reduzierter Motilität nach dem Auftauen, so dass dann auf die Methoden der assistierten Reproduktion zurückgegriffen werden muss) lagern (vgl. Feldschuh 2005). Vor einer Behandlung (und nur in Ausnahmefällen binnen weniger Tage nach Beginn der Therapie unter dokumentierter Aufklärung der Risiken) kann unter sexueller Karenz ein SpermaDepot angelegt werden. Dies kann auch schon bei Jugendlichen (ab dem 13. Lebensjahr, Tanner-Stadium 3+, Hodenvolumen 8 ml, gegebenenfalls unterstützt durch Elektrostimulation) erfolgen. Bei jüngeren Kindern ist die Hodenbiopsie zur späteren Transplantation testikulärer Stammzellen Gegenstand der Forschung (Ehmcke/Schlatt 2006). Derzeit noch im experimentellen Stadium, ist es im Tierversuch bereits gelungen (Jahnukainen 2012). Während bei Kindern unter zwölf Jahren beide Eltern entscheiden, wird das Kind ab dem zwölften Lebensjahr in die vertragliche Regelung mit einbezogen. Im Falle eines Ablebens wird das Gewebe vernichtet oder von den Eltern zu wissenschaftlichen Zwecken gespendet (Amsterdam, Münster). Die Kosten werden im Rahmen der Studie vom Institut übernommen (Meißner 2014). Leider existieren Studien darüber, dass nur etwa die Hälfte (!) der Patienten, die im Rahmen einer Krebsbehandlung vor einer Chemotherapie oder Radiotherapie stehen, über fertilitätsprotektive Maßnahmen ausreichend auf79 Bernhard Schwindl geklärt wird. Nach Chemotherapie besteht in Abhängigkeit der Anzahl der Zyklen und der verwendeten Substanzen (niedrigtoxisch z. B. Methotrexat, Vinblastin, Bleomycin; stark toxische Alkylanzien wie Cispatin, Ifosfamid, Cyclophosphamid) häufig Infertilität. Am Beispiel der PEB (Cisplatin, Etoposid, Bleomycin)-Chemotherapie des Hodentumors lässt sich trotz möglicher Erholungstendenz von zwei bis vier Jahren mit zwei Zyklen eine Einschränkung der Fertilität (Azoospermie, Oligozoospermie) bei 20 %, mit drei Zyklen bei 50 % und mit vier Zyklen bei 70 % der Patienten erwarten. Zwar lassen sich in bis zu 60 % der Patienten später durch eine Hodenbiopsie vitale Spermien nachweisen, die Realisation des Kinderwunsches ist jedoch unsicher. Der Radrennsportler Lance Armstrong, dem nach seiner Hodenkrebserkrankung noch vier Kinder mittels TESE/ICSI-Verfahren geschenkt wurden, ist ein prominentes Beispiel für die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin im Kontext von Krebserkrankungen mit fertilitätsschädigender Behandlung. Bestrahlung mit einer Dosis von 1,2 Gray ist gonadotoxisch. Die DosisWirkbeziehung ist aus der vorbeugenden Bestrahlung des Hodens bei der testikulären intraepithelialen Neoplasie (TIN, einer Krebsvorstufe) gut bekannt. Eine Gonadendosis von 4 Gray hat eine Azoospermie zur Folge. Eine Leitlinie zur Fertilitätsprotektion bei Jugendlichen mit Tumor, Lymphom, Leukämie und anderen Erkrankungen vor medizinischer Bestrahlung und Chemotherapie ist in Planung. Gynäkologischerseits wurde 2006 das Netzwerk „Fertiprotekt“ geschaffen (Wolff et al. 2011; Dittrich 2014) und ein ähnliches mit „Androprotect“ für den Mann initiiert3. Fertilitätsprophylaxe im weiteren Sinn stellen gesundheitspräventive Maßnahmen dar, wie zum Beispiel die Impfung gegen Mumps oder die rechtzeitige Behandlung eines Hodenhochstandes. Beim Kryptorchismus (fehlende skrotale Positionierung des Hodens) gilt es ein Syndrom auszuschließen. Bilateral betroffen sind Erwachsene zu etwa 90 % infertil. Nicht deszendierte Hoden weisen zudem ein erhöhtes Malignitätspotenzial auf. Rechtzeitige Hormonbehandlung bzw. Orchidopexie (die operative Fixierung des Hodens im Skrotum bis zum Ende des 1. Lebensjahres) kann die Entwicklung der Spermatogonien begünstigen (Mathers 2009; Rösch 2011; Ludwikowski 2014). Andrologische Aufklärung und Gesundheitshygiene sollten frühzeitig ansetzen und thematisiert werden. Ein Hodenverlust durch Torsion, nach einer Entzündung oder aufgrund anderer Ursache, kann bei informierten Eltern und Jugendlichen so oftmals vermieden werden. 3 80 Informationen zu Androprotect unter http://repro.klinikum.uni-muenster.de (Kliesch, S./ Schlatt, S.). Andrologische Fragestellungen im Kontext der Reproduktionsmedizin 3.5 Ausblick In den letzten Jahren wurden über das „normale“ Spermiogramm hinaus weiterführende Tests entwickelt, die die Qualität der Spermien validieren sollen. Der sogenannte Protamin-Test kann a) Aussage geben, ob Spermien gebildet werden und b) ihr Fertilisierungspotenzial bei IVF/ICSI abschätzen (vgl. Rogenhofer et al. 2013). Protamin ist ein Kernprotein, das ausschließlich von haploiden männlichen Keimzellen bei Kondensierungsvorgängen des Chromatins im Austausch gegen Histone freigesetzt wird. Ein weiterer am Markt befindlicher und ebenfalls nicht von den Kassen vergüteter Test, der Auskunft über die genetische Qualität der Spermatozyten geben soll, beurteilt die DNS-Fragmentation. Vermehrte Fragmentation (z. B. durch Apoptose-Vorgänge, chromosomale Störungen etc.) erhöht die Abortrate und vermindert die Schwangerschaftsraten. Die DNS-Fragmentationsrate hat möglicherweise einen Stellenwert bei der Entscheidung zur Inseminationsbehandlung bzw. IVF-Maßnahme des scheinbar gesunden Mannes, tritt jedoch in ihrer Aussage im ICSI-Zyklus zurück, da über das einzelne verwendete Spermatozoon keine Aussage getroffen werden kann. Bei hoher DNS-Fragmentationsrate (> 30 %) ist ein ICSI-Verfahren erfolgreicher. Im P-ICSI-Verfahren an Hyaluronsäure andockende Spermien sollen dabei eine höhere Erbgutintegrität aufweisen (vgl. Aitken/Koppers 2011). Vieles hat sich in dem relativ jungen Fach der Andrologie seit der Entdeckung des Spermiums (im Jahr 1677 mikroskopisch durch den Studenten Johan Ham entdeckt und von Anton van Leeuwenhoek beschrieben) an Erkenntnissen eingestellt, aber noch mehr gibt es zu erforschen. Insbesondere auf dem Gebiet der Genetik sind in Zukunft Neuerungen (wie z. B. hinsichtlich multifaktorieller Erbgänge) zu erwarten. Viele Fragen bleiben weiter zu erforschen: Wieso vermag ein scheinbar intaktes Spermium eine scheinbar intakte Eizelle nicht zu befruchten? Warum liegt auch nach zahlreichen IVF-Maßnahmen die Baby-Take-Home-Rate nur bei 20 bis 25 %? Lassen sich mittels geeigneter Verfahren (wie etwa der Raman-Mikrospektroskopie) einzelne vitale Spermien mit höherem Befruchtungspotenzial auslesen? Welche Behandlung ist evidenzbasiert, was grenzt an Scharlatanerie oder nutzt den Placebo-Effekt? Sind Impfungen für die immunologische Sterilität wirksam? Lassen sich epigenetische Marker für den klinischen Gebrauch einführen? Sind Spermien-DNS-Fragmentierung oder Spermien-FISH-Analysen ihr Geld wert? Sind neue Sequenzierungsmöglichkeiten zu überlegen? Kann die Proteomik Aufschluss über fertilitätsmindernde Reaktionen geben? Gelingt es, neue Methoden auf molekularer Ebene zur Detektion oder Entwicklung intakter Spermien zu etablieren? Wie funktionieren die Zellorganellen (Peroxisomen) bei der Spermienentwicklung? Welche Rolle spielen die vermehrt 81 Bernhard Schwindl im Hoden fertilitätsgestörter Männer gefundenen Mastzellen? Sind Spermatogenese-Stammzellen der Schlüssel zum Verständnis der Hodentumorentstehung und gelingt es, aus ihnen ein künstliches Spermium herzustellen? Antworten auf diese Fragen scheinen noch in weiter Ferne. Auch die Präimplantationsdiagnostik steht erst am Anfang ihrer Entwicklung. Hier tauchen zum Beispiel folgende zentrale Fragen auf: Lassen sich mittels Gentechnik Krankheiten vermeiden und Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischer Indikation vermindern? Grundsätzlich muss überlegt werden, ob innovative Forschung und Anwendung in Zeiten der Kostenbegrenzung bezahlbar bleiben. Eine reiche Gesellschaft sollte in ihre Zukunft investieren. Einen Anspruch auf ein Designerkind aber wird es (hoffentlich) nie geben. Es stellen sich viele Fragen. So bleibt es spannend, zukünftige Entwicklungen in den Laboratorien abzuwarten. Ärztekammern, Ethikkommissionen und gesellschaftliche Organisationen werden wachsamen Auges missbräuchlichen Anwendungen entgegentreten müssen. Literatur Abdel-Meguit, T. A. (2012): Predictors of Sperm Recovery and Azoospermia Relapse in Men with Nonobstructive Azoospermia after Varicocele Repair. In: Journal of Urology 187, 1, S. 222-226. Aitken, R. J./Koppers, A. J. (2011): Apoptosis and DNA Famage in Human Spermatozoa. 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