Mythos wohin man sieht

LESERFORUM
Mythos wohin man sieht...
Bernd Lindemann zu: Brigitte Falkenburg, Wieviel erklärt uns die
Hirnforschung, Heft 1/2012
Es ist ein abwägendes, argumentierendes
Essay, das die Physikerin und Philosophin
Brigitte Falkenburg ihrem Buch "Mythos
Determinismus" vorausschickte. Und doch
sind die Hauptargumente irritierend. Ich hebe
zwei Punkte hervor:
1) Die Autorin erklärt, dass kausale physikalische Prozesse entweder deterministisch
oder indeterministisch ablaufen. Dieses alternative Verhalten sei im Neuronensystem abwechselnd realisiert. So sei die Entstehung
und Fortleitung elektrischer Impulse auf der
Nervenfaser deterministisch, die Impulsübertragung an der Synapse aber probabilistisch,
ein patch-work.
Hier gebe ich zu bedenken, dass nicht ein
Mosaik von Naturprozessen oder Verhaltensweisen vorliegt, sondern eins von Modellen
oder Erklärungsweisen. Die deterministischen Beschreibungen sind ja Idealisierungen, die aus realistischeren probabilistischen
(zum Beispiel molekular-dynamischen) Beschreibungen bottom-up herleitbar sind. Wer
etwa den Mechanismus der Impuls-Fortleitung auf der Nervenfaser - nach Falkenburg
ein deterministischer Vorgang - experimentell untersucht, findet eine Welt von probabilistisch zu beschreibenden Prozessen, nämlich die Dynamik der Ionenkanal-Moleküle.
Im Übrigen sind probabilistische Modelle
keineswegs gesetzlos. Sie enthalten zwar stochastische Entscheidungen, doch zwischen
physikalischen Alternativen die in ihren
Wahrscheinlichkeiten festgelegt sind. Die
Gesetzmäßigkeit ist aus Zustandsdiagrammen ersichtlich.
Die Alternative von entweder deterministischen oder probabilistischen Prozessen gibt
es nicht, viele Naturprozesse sind jedoch sowohl probabilistisch als auch deterministisch
modellierbar. Die Prozesse ändern sich nicht,
wenn wir das Modell wechseln. Nehmen wir
als Beispiel eine Fluss(Kraft) Relation für
elektrische Leiter aller Art. Die Prozesse, die
dem Leitwert g zugrunde liegen, sind Gegenstand probabilistischer Beschreibungen (z.B.
Master-Gleichung), welche sie als nicht-reversible, dissipative Vorgänge kennzeichnen
und ihren Zeitbedarf mit inversen Geschwindigkeitskonstanten spezifizieren (Zeitpfeil.)
Wir wechseln nun zu deterministischen Beschreibungen wie I = g V, worin g mit einer
Konstanten approximiert wird (Ohmsches
Gesetz). Die Idealisierung ist eine EnsembleMittlung mit Vernachlässigung des Fluktuationsterms. Die nicht-reversible, dissipative
Natur der Leitwert-Prozesse und ihr Zeitbedarf mag in den deterministischen Modellen
nicht mehr erkennbar sein, aber natürlich ist
sie in der Realität noch vorhanden. Eine Verkleinerung des Ensembles würde das zeigen.
Eine Trennung von Prozessen in irreversible,
die den Gesetzen der Thermodynamik unterliegen und deterministische, die es nicht tun
(wie im Essay auf Seite 11 rechts oben), ist
irreführend.
2) Falkenburg folgert, die biophysikalische
Welt des Gehirns sei kausal offen (könne von
außerhalb der Physik ursächlich beeinflusst
werden), eben wegen des vermeintlichen
patch-work, das nicht (oder nicht vollständig) durch physikalische Gesetze beschreibbar sei. So habe die physische Welt Kausalitätslücken, durch die das Mentale in unserem
Neuronensystem Änderungen verursacht.
Die kausale Geschlossenheit der Physik - ein
Mythos.
Ist das gerechtfertigt? Der Beobachtung zufolge entsteht Wirkung auf Materie durch
Wechselwirkung mit anderer Materie. Verallgemeinert bedingt dies die sog. kausale
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Geschlossenheit der Natur. Sie bedeutet, dass
in der physikalischen Welt nur physikalische
Ursachen vorkommen. Es ist eine umfassende Aussage, diese Verallgemeinerung K,
wenn auch keine Allaussage, da und wenn
neben der physikalischen auch die mentale
Welt zu berücksichtigen ist. Falkenburg bezeichnet K als heuristische "Verfahrensregel". Wir wollen K jedoch - wie andere induktiv erschlossene Aussagen - als Hypothese behandeln. Hypothese K ist dann prinzipiell falsifizierbar, wenn auch gut gesichert.
Hat Brigitte Falkenburg K falsifiziert? Am
Beispiel der „mentalen“ Steuerung von Prothesen will sie zeigen, dass als mental, extraphysisch verstandene Gedanken auf einen in
den Kortex implantierten elektronischen
Chip ursächlich wirken. Nun hat ein solcher
Chip zwar Sensoren für elektrische Potentiale, nicht aber für Mentales. Die Ingenieure
wüssten garnicht, wie sie solche Sensoren
bauen sollten. Gedanken kommen nur als indirekte Ursache der Chip-Aktivierung in Frage, zwischengeschaltet sind Neurone mit ihren Potentialen. Dann aber benötigt man das
Neuroimplantat nicht als Indikator, alltägliche Willkürbewegungen genügen schon.
Doch nicht die als extraphysisch spezifizierten Gedanken, sondern ihre konkreten neuronalen Korrelate haben kausale Potenz, kommen als Ursache der Chip-Aktivierung in
Frage. Diese bekannte Alternative, die mit K
kompatibel ist, wurde nicht ausgeschlossen.
Eine Falsifizierung von K, mit oder ohne
Chip, ist nicht erfolgt.
Gleichwohl spekuliert die Autorin, dass extraphysische Gedanken wie physikalische
Konkreta kausal auf Neurone wirken. Dies
wäre jedoch ein Fall von Reifikation (A.N.
Whitehead, 1967). Die biophysikalische Welt
wäre dann kausal offen. Das ist nach dem
Gesagten nicht zu rechtfertigen.
UNSER AUTOR:
Bernd Lindemann ist Professor i.R. für
Physiologie an der Universität des Saarlandes ([email protected]). Der Autor dankt Prof.
Jürgen Schnakenberg für Kommentare.
Information Philosophie
Jahrgangsband 40:
Heft 200 = 3/4 2012,
Seite 172-173