A. Einführung „Rem tene, verba sequentur.“ (Behalte die Sache im Blick, die Worte werden folgen.) — Marcus Porcius Cato Diese Analyse ist nicht der Anfang der rhetorischen Entscheidungsanalyse. Schon zu Beginn der Neunziger Jahre führte Katharina Gräfin von Schlieffen mit einer Schar von Helfern ein Projekt zur Erforschung der rhetorischen Zusammensetzung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und journalistischer Vergleichstexte durch1. Bald darauf, zu Beginn der 2000er Jahre, folgten mit Unterstützung der VW-Stiftung Analysen zahlreicher Verwaltungsgerichtsentscheidungen2. Inzwischen ist das Forschungsfeld auf Entscheidungen des Bundesgerichtshofs3 und des Bundesfinanzhofs4 ausgeweitet. Bis heute werden die meisten Juristen auf die Frage, wie sie juristische Erkenntnis gewönnen, in etwa antworten: „durch Subsumtion des Lebenssachverhalts unter eine Gesetzesnorm“ oder „streng logisch“ oder „zwingend deduktiv“. Dass dies so nicht der Fall ist, sondern dass ein Gutteil juristischer Praxisarbeit von Rhetorik geprägt ist, soll Leitgedanke und Hauptthese dieser Arbeit sein. Zeichnet man die lange Geschichte rhetorischer Tradition bis zu ihren durch Schriften nachweisbaren Wurzeln nach, gelangt man in eine Zeit, da auch das Recht vor allem mit dem gesprochenen Wort erzeugt wurde. Die Ursprünge dieser Tradition sind bis weit in die Antike zurückverfolgbar, die förmliche Gerichtsrede immerhin bis ins 5. Jahrhundert vor Christus nach Griechenland5. Sie ist eine der drei Redegattungen, die Aristoteles in seiner bis heute maßgeblichen 1 Vgl. hierzu Katharina Sobota (von Schlieffen), Rhetorisches Seismogramm – eine neue Methode in der Rechtswissenschaft, in: JZ 5/1992, S. 231 bis 237; dies., Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 15, Juristische Rhetorik, Tübingen 1996, S. 115 (118 ff.). 2 Vgl. Erste Hagener Rhetorikstudie, VW-Stiftung 2004. 3Hierzu Hauke Käding, Diss. Hagen 2015 (im Erscheinen). 4Hierzu Caroline Stepputat, Diss. Hagen 2015 (im Erscheinen). 5Dazu Josef Martin, Antike Rhetorik. Technik und Methode, München 1974, S. 52 ff.; vgl. auch Werner Eisenhut, Einführung in die antike Rhetorik und ihre Geschichte, 5. unver. Aufl., Darmstadt 1994, S. 8 ff. 9 Analyse des Vorgangs der Überzeugung, seiner „Rhetorik“, niedergeschrieben hat. Dabei war seine Absicht nicht etwa, einen Leitfaden oder ein praktisches Handbuch der Rhetorik zu verfassen, zumal vermutet wird, dass es unzählige solcher Werke bereits gab6. Nein, er näherte sich dem Thema reflektierend und beleuchtete geradezu szientifisch – wie es seine Art gewesen zu sein scheint – die Mechanismen der Überzeugung in Wort und Schrift. Die Verbindung von Recht und Rhetorik7 tritt nun also bereits in der „Rhetorik“ des Aristoteles, auch und gerade durch die Behandlung der Gerichtsrede, deutlich hervor, und auch Ciceros Werk „Über den Redner“ verflicht beides immer wieder miteinander.8 Schlieffen postuliert, Recht und Rhetorik seien Äste desselben Stammes9, White bezeichnet das Recht gar als „Ast der Rhetorik“10. Über die Säkularisierung und Aufklärung der Frühneuzeit und die Logifizierungsbemühungen, die mit ihnen einhergingen, geriet die Rhetorik indes zunehmend ins Hintertreffen, bis sie schließlich im Hinblick auf juristische Entscheidungserzeugung als Verschleierungs- und Manipulationskunst von der gesamten juristischen Welt verleugnet wurde. Die „neue“11 Lehre erkannte Recht aus Gesetz und Lebenssachverhalt und bediente sich, so die noch immer landläufige Meinung, lediglich der logischen Überzeugungskraft der Verbalisierung juristischer Zusammenhänge ohne Rückgriff auf „verpönte“ Manipulationstechniken der Rhetorik. Lange war damit die Rhetorik, jedenfalls nominell, aus der europäischen Rechtspraxis verbannt. Nachdem Recht und Rhetorik in einer Jahrhunderte währenden Tradition stets gemeinsam gewirkt hatten, sollte nun Recht aus dem Gesetz erkannt werden und nicht Spielball auf dem Austragungsfeld der großen Wortfechter sein. Und dies, so war man sich bis vor Kurzem (fast) einig, gelang auch. 6Dazu Aristoteles selbst: Rhet. I.1, 1354a 10 ff., 1354b 15 ff. 7 Dazu u. a. Wolfgang Gast, Juristische Rhetorik, 4. Neubearbeitete Auflage, Heidelberg 2006, Rn. 1. 8Vgl. Marcus Tullius Cicero, De Oratore (Über den Redner), Ausgewählte Werke Bd. IV, hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2008, passim. 9 Katharina von Schlieffen, Rhetorische Analyse des Rechts, in: Rouven Soudry (Hrsg.), Rhetorik: Eine interdisziplinäre Einführung in die rhetorische Praxis, Heidelberg 2006, S. 42 ff. (47). 10 James Boyd White, Heracles’ Bow: Essays on the Rhetoric and Poetics of Law, University of Wisconsin Press, Madison, WI., (Neudruck 1989), S. 29. 11 Das Erkennen seienden Rechts war freilich schon damals nicht neu, insofern handelt es sich hier nur um eine zur Wiedergeburt erstarkte Strömung, die Jahrtausende alte rhetorische Einflüsse auf die Rechtsfindung zu verdrängen suchte. 10 Erst der pionierhafte Vorstoß des Mainzer Rechtswissenschaftlers Theodor Viehweg, der mit seinem Werk „Topik und Jurisprudenz“ das Bollwerk des juristischen Entscheidungsfindungsverständnisses in der Rechtspraxis mit einem subtilen Fragezeichen versah, rief die Rhetorik wieder ins Bewusstsein wirkender Rechtswissenschaftler und Juristen. Damit begann eine erneute Diskussion zur Herstellung und Darstellung der Rechtsfindung, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg mit der Freirechtsschule angeklungen war. Kurz und prägnant zusammengefasst, weist Viehweg nach, dass das Vorgehen der Jurisprudenz eben nicht (nur) logisch und deduktiv ist, sondern topisch – und damit rhetorisch. Erst Jahrzehnte später, nachdem das Werk so gut wie kaum positiv rezipiert worden war, entwickelte sich aus dem Funken, den Viehweg entfacht hatte, eine Strömung in der Rechtstheorie, auf der später die oben erwähnten Analysen und auch die vorliegende fußen sollten: die Rhetorische Rechtstheorie. Sie wirft Fragen betreffs jurisprudenziellen Handelns auf und bemüht sich in einer neuerlichen Anstrengung, eine Theorie der Praxis zu entwickeln, die in der Rechtstheorie bislang fehlt12. Zahlreiche empirische Textanalysen in verschiedenen Bereichen sammeln sich zu einer Grundlage für dieses große Vorhaben. Diese Arbeit möchte hierzu einen kleinen Beitrag leisten, indem sie die Analysearbeit in einen weiteren juristischen Tätigkeitsbereich hineinträgt: die strafrechtliche Praxis. Um also auf den Auftakt zurückzukommen, ist die Arbeit insofern eben nicht der Anfang; den haben andere gemacht. Aber sie ist ein Anfang13. 12 Zu den Bemühungen in diese Richtung bereits Werner Krawietz/Martin Morlok (Hrsg.), Vom ScheiteRn und der Wiederbelebung juristischer Methodik im Rechtsalltag – ein Bruch zwischen Theorie und Praxis?, Rechtstheorie 32 (2001), Heft 2/3. 13 Frei nach Robert Jordans „The Wheel of Time“. 11 B. Zielsetzung der Arbeit Wie einige Arbeiten zuvor in anderen Rechtsgebieten will sich die vorliegende Schrift kritisch mit diesem Fragenkreis „Rhetorik und Recht“ auseinandersetzen und die hartnäckige These, das Recht, speziell die Rechtsprechung, sei frei von oder jedenfalls arm an Rhetorik14, widerlegen oder zumindest erschüttern. Spezifisch stellen sich für die Analyse von strafgerichtlichen Urteils- und Beschlusstexten die folgenden Leitfragen für die Untersuchung: 1. In welchem Maß setzen Strafrichter in ihren Texten überhaupt rhetorische Wirkmittel ein? 2. Welchen Anteil haben die rhetorischen Wirkmittel Logos, Ethos und Pathos an der Begründung in derartigen Texten? 3. Ist die Argumentation syllogistisch oder enthymematisch aufgebaut? 4. Wie verhält sich das Maß des eingesetzten Pathos zum Logosanteil von strafrechtlichen Texten? Welche Erkenntnisse über die Überzeugungskraft oder die Intensität der Überzeugungsintention können in diesem Zusammenhang gewonnen werden? Genauer: Gestattet das Zusammenspiel von Quantität und Qualität von Logos und Pathos Rückschlüsse auf den „Entscheidungskorridor“ des Textes – den Teil, der den Tenor hauptsächlich trägt? 5. Welche Konklusionen lassen sich aus dieser Untersuchung für die Methodenlehre und die Praxis der Jurisprudenz ziehen? Diese Fragestellungen erwachsen aus den zuvor geführten Untersuchungen verfassungs- und verwaltungsgerichtlicher Urteile und dem Ansatz der Rhetorischen Rechtstheorie, in Sonderheit den Untersuchungen von Schlieffen zum Rhetorischen Seismogramm15 und zum Enthymem16. Dabei kann es nicht realistische Zielsetzung dieser Arbeit sein, statistisch belastbare Untersuchungsergebnisse17 14 Vgl. hierzu etwa den „Sine-ira-et-studio“-Hinweis von Meyer-Goßner und Appl: Lutz Meyer-Goßner/Ekkehard Appl, Die Urteile in Strafsachen, 27. Auflage, München 2002, Rn. 240. 15Vgl. Katharina Sobota (von Schlieffen), Fn. 1 (Seismogramm). 16Jüngst Katharina von Schlieffen in: JZ 3/2011, S. 109 ff.; zum derzeitigen Verständnis- und Erkenntnisstand des Enthymems in der Rechtwissenschaft und Philosophie siehe: Das Enthymem: Zur Rhetorik des juridischen Begründens, Rechtstheorie, 42. Jahrgang, hrsg. v. Katharina von Schlieffen, 4/2011. 17 Die Visualisierungen der Argumentstruktur und sämtliche Ergebnisse der Textuntersuchung sind unter www.rechtsrhetorik.de abrufbar. 13 zur wenigstens einigermaßen sicheren Beantwortung dieser Fragen zu liefern – allein die Zahl der untersuchten Texte müsste sich dafür mindestens oberhalb der dreistelligen Grenze bewegen; vielmehr soll die empirische Untersuchung einiger strafrechtlicher Texte jedenfalls solche Ergebnisse liefern, die Anlass und Rechtfertigung für weitere Untersuchungen in dieselbe Richtung geben könnten. Insofern sollen die Resultate immerhin indiziell wirken. Bevor aber der empirische Teil der Arbeit beginnen kann, müssen nunmehr die Grundsteine der Untersuchung gelegt werden. Wiewohl jedoch eine vollständige Beleuchtung der Genese des genannten rhetorischen Ansatzes den vorgegebenen Rahmen der Arbeit sicherlich strapazieren würde, ist es m. E. unerlässlich, die Silhouette der Rhetorischen Rechtstheorie im Folgenden zumindest in ihren Grundzügen nachzuzeichnen. 14
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