Preises für Verständigung und Toleranz

Die Rede im Internet:
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Bundespräsident Joachim Gauck
bei der Verleihung des „Preises für Verständigung und
Toleranz“ an Michael Blumenthal
am 14. November 2015
in Berlin
Das
Jüdische
Museum
verleiht
heute
seinen
Preis
für
Verständigung und Toleranz. Wir haben schon gehört, dass es ein
besonderer Abend ist. Es sollte ja ein Abend der Freude und der
Dankbarkeit werden. Das soll er übrigens auch bleiben. Aber nun hat
sich diese Grundmelodie gegen ein hässliches und abstoßendes
Nebengeräusch durchzusetzen. Und wir, die wir uns auf diesen Abend
und diesen so besonderen Preisträger so intensiv gefreut haben, wir
haben nun unseren Schrecken, unsere Trauer und auch unser
Mitgefühl mitgebracht – Mitgefühl mit unseren französischen Freunden,
die in der vergangenen Nacht von skrupellosen Mördern heimgesucht
wurden. In Paris haben die Gewalttäter ein furchtbares Verbrechen
verübt – mitten in Europa, in einer Stadt, die wie keine andere für das
Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit steht.
Diese Anschläge in Paris, sie haben uns auf schreckliche Weise
vor Augen geführt, wozu Hass und Intoleranz fähig sind. Ich danke
Ihnen, lieber Herr Professor Schäfer, und ich danke Ihnen allen, dass
wir diesen Abend gemeinsam mit einer Schweigeminute eröffnet
haben. Unser Schweigen und unsere Herzen, die gehören zu diesem
Tag, unsere empfindsamen, mitfühlenden Herzen. Aber wir lassen uns
unsere Freude und Dankbarkeit nicht nehmen. Wir feiern, meine
Damen und Herren.
Verständigung und Toleranz – an Tagen wie dem heutigen spüren
wir es doch, wie kostbar diese Werte sind. Und wie wichtig es auch ist,
sie mit Entschlossenheit zu verteidigen – gegen die Feinde der Freiheit
und gegen Extremisten aller Art.
Wir opfern ihnen also diesen Abend nicht, wir opfern ihnen auch
nicht unsere Freude und unsere Dankbarkeit.
Ich habe heute öffentlich davon gesprochen, dass wir zu unserer
Entschlossenheit manchmal auch die Bereitschaft brauchen, das, was
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wir lieben und achten und wovon wir leben, zu verteidigen. In einer
Welt, die lange Jahrzehnte so gelebt hat, als verstünden sich Freiheit
und Wohlstand und Demokratie von selbst, muss man das gelegentlich
in die Köpfe und Herzen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger
bringen, und ich bitte Sie alle, mich dabei zu unterstützen.
Nun aber zu dem Zweck unseres Abends und zu dem freudigen
Anlass. Wir ehren heute ja einen so besonderen Mann, dessen
Lebenswerk und dessen ganze Biographie in beispielloser Weise für
Verständigung und für Toleranz stehen. Lieber Michael Blumenthal,
seien Sie uns ganz herzlich willkommen! Ich freue mich, dass wir
diesen Tag mit Ihnen haben, und ich freue mich, dass hier so viele
Menschen sind, denen es ein Fest ist, Ihnen zu gratulieren und Sie
willkommen zu heißen.
Kennen Sie die Familie Blumenthal? Vor sechs Jahren haben
Schüler und Schülerinnen der Regine-Hildebrandt-Gesamtschule in
Oranienburg bei Berlin ein Experiment gewagt. Sie wollten wissen, ob
die Erinnerung an jüdisches Leben, an jüdische Kultur in ihrer Stadt
lebendig ist. Sie wollten wissen, ob sich in Oranienburg wohl jemand
an
den
Namen
Blumenthal
erinnert.
Sie
haben
also
eine
Straßenumfrage gemacht. Das Ergebnis war erfreulich, wenn auch
nicht völlig überraschend.
Schließlich sind Sie ja, lieber Michael Blumenthal, inzwischen seit
15 Jahren Ehrenbürger Ihrer Heimatstadt und das nicht, weil der
Kulturdezernent sich das ausgedacht hat. Der Vorschlag, er kam aus
der Bevölkerung. In Oranienburg kennen viele noch Ihren Namen, den
Namen des ehemaligen amerikanischen Finanzministers, der nach
Deutschland zurückkam, um das Jüdische Museum in Berlin zu leiten.
Sie haben diese außergewöhnliche Popularität „das interessante
Kuriosum eines ehemaligen Oranienburgers“ genannt, „der es in
Amerika zu etwas gebracht hat“. Ja, so kann man es auch ausdrücken.
Ich
würde
sagen,
unter
den
zahlreichen
öffentlichen
Persönlichkeiten Ihrer Familie – wenn wir in die Vergangenheit
schauen, zu den Vorfahren zählen Rahel Varnhagen und der Komponist
Giacomo Meyerbeer – haben Sie es zur größten Bekanntheit gebracht,
in Oranienburg und weit darüber hinaus.
Der kleine Film, aus dem die anfangs zitierte Straßenumfrage
stammt, ist Teil der Zeitzeugen-Projekte, an denen Sie und andere
einst aus Deutschland vertriebene Juden teilgenommen haben. Es fällt
in diesem Beitrag der Satz: „Lebendige Spuren gibt es heute nur noch
von denen, die rechtzeitig gingen.“ So haben Sie es da ausgedrückt.
Auf Ihre Familie, lieber Michael Blumenthal, trifft dieser traurige Satz
zu. Wie gut, dass sie Deutschland rechtzeitig verlassen haben. Und wir
sind froh und dankbar, Sie aus diesem Grunde heute unter uns zu
wissen. Das ist nicht selbstverständlich.
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Ja, nun waren Sie also aus diesen Gründen, die uns allen bekannt
und vertraut sind, weit weg von Berlin – Berlin, das Ihre erste Heimat
war und inzwischen eine zweite Heimat für Sie geworden ist. Und wir
sind dankbar, dass Sie sich 1997 entschieden haben, die Leitung des
Jüdischen Museums in dieser Stadt zu übernehmen. Sie haben Ihrer
zweiten Heimat damit nicht nur aus einer Verlegenheit geholfen. Sie
waren die beste aller denkbaren Besetzungen – als Jude aus Amerika,
der die innere Verbindung zu Deutschland nie verlor, aber unser Land
– wo nötig – kritisch zu beurteilen vermochte und während der
Nachkriegsjahrzehnte seine positiven Wandlungen auch aufmerksam
begleitete.
Wir ehren in Michael Blumenthal einen Mann für seine Verdienste
um Verständigung und Toleranz, der seine Talente entfalten konnte,
weil er einst deutschen Häschern entkam. An den Reichtum an
Begabungen zu erinnern, der Deutschland durch die Vertreibung oder
Ermordung seiner jüdischen Bevölkerung verloren ging, ist für meine
Generation mit der Ahnung verbunden, wieviel glücklicher unsere
Geschichte hätte verlaufen können. Und wie viel mehr an kulturellem
Reichtum diese Stadt Berlin hätte haben können. Das kommt noch
dazu.
Aber wenn wir uns heute treffen, dann wissen wir etwas, was uns
allen zu Herzen geht: Das jüdische Leben in Deutschland hat nicht
aufgehört zu existieren, auch wenn wir Älteren unter dem Eindruck des
Holocaust mit Leo Baeck glauben mussten, dass „die Epoche der Juden
in Deutschland ein für alle Mal vorbei“ sei. Michael Blumenthal fordert
uns auf, unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was wir heute, 70
Jahre später, vorfinden: ein lebendiges religiöses und säkulares
jüdisches Leben in Deutschland und natürlich ganz besonders hier in
Berlin. Dazu gehört auch zu erkennen, dass sich die jüdische
Gemeinschaft
in
Deutschland
in
den
vergangenen
Jahrzehnten
verändert hat, dass sie viel größer, vielschichtiger und lebendiger
geworden ist, dass sie neue, andere Erfahrungen und andere kulturelle
Hintergründe hinzugewonnen hat, vor allem natürlich – wir merken es
in Berlin sehr deutlich – durch die Juden aus der ehemaligen
Sowjetunion, die zu uns kamen, und durch die Zuwanderung der –
meist jungen – Israelis.
Als der Libeskind-Bau des Jüdischen Museums fertiggestellt war,
versprachen
Sie,
Michael
Blumenthal,
das
„herausfordernde,
phantasievolle und großartige Gebäude dafür zu nutzen, ein ebenso
außergewöhnliches
neues
Jüdisches
Museum
in
Berlin
zu
verwirklichen“. Da haben Sie nun wahrlich Wort gehalten und es zu
einem der wichtigsten und beliebtesten Museen der Stadt gemacht, ein
Museum, das weit mehr ist als ein städtisches Museum. Michael
Blumenthal wollte die ganze jüdische Geschichte in Deutschland in den
Blick nehmen, so wie er es immer verstanden hat, den Blick zu weiten,
statt ihn zu verengen. So ist es ihm gelungen, ein Museum von
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nationalem Rang zu schaffen und Millionen Besucher für die Geschichte
der Juden in Deutschland zu interessieren.
Und das ist so enorm wichtig, denn Toleranz und Verständigung
wachsen eben nur auf der Grundlage von gegenseitigem Interesse.
Dies und noch vieles mehr ließe sich vom Amerikaner Michael
Blumenthal lernen, zum Beispiel: Gelassenheit – Gelassenheit im
Umgang mit dem vermeintlich oder tatsächlich Fremden, damit
zugleich aber auch ein Bewusstsein für das Eigene und die eigenen
Werte, die eigenen Wurzeln. Aufgeschlossenheit und die Bereitschaft,
immer Neues zu wagen. Michael Blumenthal hat es zu seinem und zu
unserem Glück sein Leben lang so gehalten: als Flüchtling in Shanghai,
als gerade 21-jähriger Emigrant in den Vereinigten Staaten, als
Student
der
Volkswirtschaftslehre
in
Princeton,
als
wirtschaftspolitischer Berater der Präsidenten John F. Kennedy und
Lyndon B. Johnson, als Finanzminister unter Präsident Jimmy Carter,
als Bankier, Unternehmer und schließlich als Direktor des Jüdischen
Museums in Berlin.
Lieber Michael Blumenthal,
wie wertvoll ist Ihre Erfahrung für uns alle! Sie haben es
verstanden, diese Erfahrung zu multiplizieren. Die Spur, die Sie in
Berlin hinterlassen haben, ist zu unserem Glück ebenso frisch wie
lebendig. Ihre Arbeit war für die Berliner und die Deutschen insgesamt
ein großes Geschenk. Und dafür sind wir von Herzen dankbar.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, in diesen speziellen
Wochen
und
Monaten
noch
einen
weiteren
Aspekt
wenigstens
andeuten. Der Amerikaner Blumenthal kam zu uns aus einem Land, in
dem Einwanderer schon über viele Generationen integriert wurden und
sich integriert haben. Er selber gehörte zu ihnen. Er hat einmal den
Eingliederungsprozess in die neue Heimat beschrieben als einen
Prozess, um den sich beide Seiten bemühen müssen, Einwanderer wie
Einheimische: integriert werden und sich integrieren. Die noch unter
seiner
Leitung
gegründete
Akademie
des
Jüdischen
Museums
beschäftigt sich mit diesen hochaktuellen Fragen. Und von diesen
Fragen hängt für uns in dieser zu einer Einwanderungsgesellschaft
gewordenen politischen Landschaft eine Menge ab.
Lieber Michael Blumenthal,
von den Anregungen Ihrer Jahre als Direktor des Jüdischen
Museums werden noch Generationen profitieren. Auch dafür sind wir
Ihnen dankbar.
Meine Damen und Herren,
ja, ich komme zum Anfang zurück, wir haben neben der
Grundmelodie
dieses
Abends
Nebengeräusche
vernommen.
Würdigung
Michael
von
durchaus
Aber
Blumenthal
der
ist
die
verstörenden
Schlussakkord
der
gleiche
meiner
geblieben:
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Dankbarkeit, Entschlossenheit, Hoffnung. Wir lassen nicht zu, dass die
Feinde der Freiheit die Macht über unsere Herzen und Köpfe gewinnen!
Wir können uns dessen sicher sein, weil wir wissen, dass es unter uns,
die
wir
den
demokratischen
Staat
und die
offene
Gesellschaft
verteidigen, Menschen wie Sie gibt, lieber Michael Blumenthal. Sie
stehen uns mit Ihrem Lebenszeugnis zur Seite und überzeugen uns mit
Ihrem Lebenswerk davon, dass wir die uns mögliche Verantwortung als
schönste aller Lebensform begreifen und leben. Ich danke Ihnen.