Nr. 3 | 27. März 2016 NZZ am Sonntag Emily Brontë «Sturmhöhe» in pfiffiger Übersetzung 10 Fabulierfreude Opulenz prägt Florescus neuen Roman 4 Wer kriegt was? Einblicke ins Funktionieren von Märkten 16 1956 Das Jahr, das die Welt veränderte 19 Bücher am Sonntag N Z Z- LI B RO.C H Lies Biografien und entdecke Menschen NEU NEU D Dieser sorgfältig h hergestellte Kunstband g gewährt einen f Blick in faszinierenden d sorgsam gehütete das R Reich von Gertrud D Dübi-Müller ( (1888–1980), Fotografin, S Sammlerin, Freundin u und Förderin von K Künstlern der Moderne. D Die Biografie von C Conrad Gessner erzählt L Leben und Wirken des ‹‹Leonardo da Vinci› der S Schweiz: Eines U Universalgelehrten, d dem die Naturwissens schaften wegweisende E Erkenntnisse v verdanken. M Monique Barbier-Mueller, C Cäsar Menz, G Gertrud Dübi-Müller 1 S., 118 Abb., 176 F 58.–* / € 58.– Fr. ISBN 978-3-03810-139-0 U Urs B. Leu, C Conrad Gessner ((1516–1565) 4 456 S., 70 Abb., F Fr. 48.–* / € 48.– ISBN 978-3-03810-153-6 NEU NEU L Leidenschaftlich ssammelte der glühende Patriot P und Secondo historische Trouvaillen, h Kunstwerke K und S Schlösser. Als Baulöwe v veränderte er seine H Heimat Winterthur; war g gewiefter Geschäftsm mann, Idealist und c charmanter Patron in e einem. M Miguel Garcia, B Bruno Stefanini 1 S., 32 Abb., 160 F 32.–* / € 32.– Fr. ISBN 978-3-03810-146-8 A Auch als E-Book erhältlich NZZ Libro, Buchverlag Neue Zürcher Zeitung Postfach, CH-8021 Zürich. Telefon +41 44 258 15 05, Fax +41 44 258 13 99, [email protected]. * Unverbindliche Preisempfehlung. Erhältlich auch in jeder Buchhandlung und im NZZ-Shop, Falkenstr. / Ecke Schillerstr., Zürich G Generationen von H Hörerinnen und Hörern e erinnern sich noch h heute an ihre S Sendungen und ihre S Stimme. Die Biografie ü über die Radiopionierin T Trudi Weder-Greiner ist e ein Stück Medien- und S Sozialgeschichte der S Schweiz. T Thomas Feitknecht, D Die Pionierin am Mikrofon 1 144 S., 24 Abb., Fr. 38.–* / € 38.– F ISBN 978-3-03810-107-9 Inhalt Die Welt als work in progress Emily Brontë (Seite 10). Illustration von André Carrilho Manche Dinge ändern sich nie. Wie jedes Jahr sind heuer zahllose Varianten bunter Schokoeier im Angebot, wie immer sind die blau-grün gepunkteten die besten, und wie üblich werden sie übermorgen zum halben Preis zu haben sein. Das Leben ist voller Routinen, und gerne geht darob vergessen, dass auch das Ewiggleiche einen Anfang hat. Jener der gepunkteten Eier liegt in einem Glauben, der uns zum Ritual geworden ist, den Menschen vor 2000 Jahren aber noch ziemlich wunderlich erschien – Emmanuel Carrère berichtet davon und zeigt ein making of des Christentums (S. 7). Neues entstand freilich nicht nur in alten Tagen. Auch unsere vermeintlich nachgeschichtliche Zeit ist dem Wandel unterworfen, und zuweilen erfasst er selbst Dinge, die wir als naturgegeben erachten – sei es die Machtstellung Deutschlands (S. 18) oder die Bindung zwischen Mutter und Kind: In einem Essay zu diversen neuen Büchern rund ums Thema «Mutterschaft» (S. 12) geht Nicole Althaus unter anderem der Frage nach, ob das Gebären obsolet wird, wenn sich moderne Medizintechniken weiter ausbreiten. Denn natürlich macht der Wandel auch vor der Wissenschaft nicht Halt. Dank Forschern wie Alvin E. Roth (S. 16) paart sich die Ökonomie mit der Psychologie, und dass die Naturwissenschaft zu einer literarischen Gattung mutiert, ist durchaus keine abwegige Science-Fiction-Phantasie (S. 9, 23). Wie auch immer sich die Welt verändert, es bleibt dabei: Wir wünschen anregende Lektüre. Claudia Mäder Belletristik Kurzkritiken Sachbuch 4 15 Paul Veyne: Palmyra Von Kathrin Meier-Rust Philipp Schönthaler: Survival in den 80er Jahren Von Claudia Mäder Hubert Reeves, Yves Lancelot: Wie kommt das Blau ins Meer? Von Simone Karpf Hannah Arendt: Sokrates Von Kathrin Meier-Rust Nr. 3 | 27. März 2016 NZZ am Sonntag Emily Brontë «Sturmhöhe» in pfiffiger Übersetzung 10 Fabulierfreude Wer kriegt was? 1956 Opulenz prägt Einblickeins Das Jahr, das Florescus Funktionieren die Welt neuen Roman von Märkten veränderte 4 16 19 Bücher am Sonntag Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt Von Manfred Papst 6 Donald Antrim: Der Wahrheitsfinder Von Martin Zingg 7 Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes Von Claudia Mäder 8 Eshkol Nevo: Die einsamen Liebenden Von Stefana Sabin 9 Anita Siegfried: Steigende Pegel Von Charles Linsmayer Chagall bis Malewitsch. Hrsg. v. Evgenia Petrova, Klaus Albrecht Schröder Von Gerhard Mack 10 Emily Brontë: Sturmhöhe Von Janika Gelinek 11 Etgar Keret: Die sieben guten Jahre Von Manfred Koch Kurzkritiken Belletristik 11 Marjaleena Lembcke: Wir bleiben nicht lange Von Claudia Mäder Erica Jong: Angst vorm Sterben Von Manfred Papst Ernst Augustin: Der Kopf Von Manfred Papst Friedrich Christian Delius: Die Liebesgeschichtenerzählerin Von Gundula Ludwig Essay 12 Das vergessene Kapitel der Emanzipation Nicole Althaus schreibt über Mütter und ihren bedrohten Wirkungsraum in unserer Gesellschaft Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Konfuzius Sachbuch 16 Alvin E. Roth: Wer kriegt was und warum? Von Sebastian Bräuer 18 Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum Von Florian Bissig Hans Kundnani: German Power Von Victor Mauer 19 Simon Hall: 1956 Von Kathrin Meier-Rust 20 Hartmut Rosa: Resonanz Von Walter Hollstein 21 Klaartje de Zwarte-Walvisch: Mein geheimes Tagebuch Von Klara Obermüller Frances Borzello: Wie ich mich sehe Von Simone Karpf 22 Katja Gentinetta, Heike Scholten: Haben Unternehmen eine Heimat? Von Susanne Ziegert Harry G. Frankfurt: Ungleichheit Von Urs Rauber Christoph Ribbat: Im Restaurant Von Berthold Merkle 23 Elmar Schenkel: Keplers Dämon Von Angela Gutzeit 24 Gernot Wagner, Martin L. Weitzman: Klimaschock Von Michael Holmes Rainer Erlinger: Höflichkeit Von Manfred Koch Nobelpreisträger Alvin E. Roth schreibt in seinem Buch über die gesellschaftliche Relevanz von Ökonomen (S.16). 25 Johannes Fried: Dies irae Von Michael Fischer 26 Navid Kermani: Einbruch der Wirklichkeit Von Silke Mertins Das amerikanische Buch Robert J. Gordon: The Rise and Fall of American Growth: The U.S. Standard of Living since the Civil War Von Andreas Mink Agenda 27 Picasso, Fenster zur Welt. Hrsg. v. Ortrud Westheider und Michael Philipp Von Manfred Papst Bestseller März 2016 Belletristik und Sachbuch Agenda April 2016 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Claudia Mäder (cmd., Leitung), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Björn Vondras (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Catalin Dorian Florescu breitet mit barocker Fabulierlust die Geschichte zweier Familien aus. Sein neues Buch spielt in New York sowie im Donaudelta und spannt sich über ein ganzes Jahrhundert Lebenspralles Erzählfeuerwerk Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt. C.H. Beck, München 2016. 327 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 17.–. Von Manfred Papst Dieser Mann ist ein Naturereignis. Wer schon einmal erlebt hat, wie Catalin Dorian Florescu – fast nie ohne seine Dächlikappe – aus seinen Büchern vorträgt, kann das bestätigen. Er liest nicht einfach das Eingangskapitel vor wie die meisten seiner Kollegen, sondern präsentiert eine dramatisierte Strichfassung. Zumindest will er das tun. Er ist akribisch vorbereitet. Aber schon nach wenigen Sätzen fällt er sich selber ins Wort. Extemporiert, improvisiert. Es trägt ihn aus der Kurve. Florescu liest so, wie Sonny Rollins Saxofon spielt. Und so schreibt er auch. Das ist mitunter zeitraubend. Vor allem aber ist es ein Glück für uns Leser. Denn an Autoren, die wie dieser sprachmächtige Fabulierer aus dem Vollen ihrer Phantasie schöpfen können und wollen, herrscht in unseren skeptischen Zeiten kein Überfluss. Besonders deutlich wird Florescus Erzählfreude in seinem neuen Roman. Es ist sein insgesamt sechster und nach «Zaira» (2008) sowie «Jakob beschliesst zu lieben» (2011, verdientermassen ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis) der dritte, der im renommierten Verlag C.H. Beck erscheint. Über mangelnde Resonanz kann der Autor sich nicht beklagen: «Jakob beschliesst zu lieben» ging rund 80 000mal über den Ladentisch. Für Schweizer Verhältnisse ist das eine geradezu sensationelle Zahl. Und als Schweizer Autor darf Florescu inzwischen gelten. Er wurde 1967 im rumänischen Temeswar geboren und kam als Fünfzehnjähriger nach Zürich, wo er seither lebt. Er hat sich das Deutsche als Sprache für sein literarisches Schreiben 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 erobert und die hiesige Literatur wie zahlreiche andere Secondos und Secondas enorm bereichert. Bisweilen merkt man Spurenelementen in seiner Prosa an, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist – doch das wirkt nicht störend, sondern so charmant wie ein leichter Akzent, ein Silberblick, ein Lispeln. Märchenhafter Stil Grosses hat sich Catalin Dorian Florescu in seinem neuen Roman vorgenommen. Die Handlung spannt sich über ein Jahrhundert, über drei Generationen und über zwei Kontinente. In den ungeraden Kapiteln sind wir zunächst im brodelnden New York um 1900, in den geraden im verschlafenen Donaudelta. Mit Geduld und Geschick führt der Autor die beiden Erzählstränge schliesslich zusammen: Uns dämmert allmählich, dass der erfolglose Künstler Ray und die Fischerstochter Elena, die sich just am 11. September 2001 in New York kennen lernen, einander die Geschichten ihrer Eltern und Grosseltern erzählen – um sich zu erklären und um ungeachtet aller Schwierigkeiten ein gemeinsames Glück zu finden. Dass Elena genau an dem Tag die Asche ihrer Mutter von den Twin Towers streuen will, als diese unter der Attacke islamistischer Terroristen zusammenbrechen, mag reichlich konstruiert anmuten. Aber Florescu liebt solche Unwahrscheinlichkeiten, sie gehören zu seinem Märchenstil, und sie tun seiner erzählerischen Improvisationskunst so wenig Abbruch, wie das Thema einer kitschigen Ballade den musikalischen Entdeckungsreisen eines Sonny Rollins im Wege steht. In diesem Roman geht es nicht um die – zugegebenermassen manchmal wacklige – Architektur des Ganzen, sondern um die Fülle des Erzählens. Und darin ist Florescu ein Meister. Wie er aus der Per- spektive eines jungen, armen Zeitungsverkäufers, der unter der Brooklyn Bridge steht und vom Vaudeville träumt, das New York in der Neujahrsnacht von 1898 auf 1899 schildert, ist hinreissend. Wir lieben diesen kleinen Kerl, der ein Sänger wie Caruso und ein Entfesselungskünstler wie Houdini werden will. Er ist eine Gestalt, die einem Roman von Dickens entstammen könnte. Wir leiden und fiebern mit ihm. Aber auch die Geschichten aus Rumänien lassen uns nicht kalt. Da herrscht eine ganz andere Zeitmessung, ein ganz anderer Zeitsinn. Im hektischen New York zerfallen die Sekunden in ihre Bruchteile. Im Donaudelta ist ein halber Tag die kleinste Einheit. Und dem zyklischen Weltbild entsprechend heissen Grossmutter, Mutter und Tochter alle Elena. Die mittlere Elena hofft auf eine gute Partie in Amerika. Doch ihre Geschichte geht böse aus. Die junge Frau erkrankt und landet 1937 in der letzten Leprakolonie Europas. Es ist ergreifend, wie Florescu diese vergessene Welt schildert. Ohnehin beeindruckt, wie der Autor Phantasie und Recherche verbindet. Rumänien kennt er aus seiner Erinnerung und aus Familiengeschichten. Immer wieder ist er in seinen Büchern in das Land seiner Kindheit zurückgekehrt. Bisweilen konnte einem die Verklärung dieser von Mythen und Sagen geprägten archaischen Welt fast zu viel werden. Man fürchtete künstliche Folklore, auch das schematische Gegeneinandersetzen von reicher, aber kühler Zivilisation im Westen und malerischer Armut im Osten. Dieser Gefahr des in der Schweizer Gegenwartsliteratur sehr verbreiteten Secondo-Klischees ist Florescu nicht erlegen. Er macht zwar aus seinem Herzen keine Mördergrube. Einmal mehr schwelgt er in Märchen, Mythen, Sagen. Aber es gibt da ein Gegengewicht. Der Roman ist geerdet in unserer Gegenwart HULTON ARCHIVE / GETTY IMAGES von gewaltigen Migrationswellen. Wir empfinden sie vielleicht als Ausnahme. Hier lernen wir sie als Regel kennen. Die Geschichte wiederholt sich. Das zeigt uns Catalin Dorian Florescu in starken Bildern. Auf dem Bazar der Worte Sprachskepsis prägt unsere Moderne, und sie tut das nicht ohne Grund. Wir haben gelernt, unseren Worten und Ge schichten zu misstrauen. Aber wir soll ten diese Haltung nicht zum Dogma erheben. In der Gegenwartsliteratur braucht es die Reduktionisten, die Kriti ker, die Zweifler. Aber es braucht eben auch unverdrossene Erzähler wie Catalin Dorian Florescu. Einen, der sich nicht nur in ratlose Intellektuelle versetzen kann, sondern auch in versoffene Vet teln, Coiffeusen, Ganoven, Magier, Ha fenarbeiter und Störmetzger. Ein entscheidendes Stilmittel dieses begnadeten Autors ist die Aufzählung. Wie ein Händler auf dem Bazar breitet er seine Waren aus. Da leuchtet und riecht alles durcheinander, in sinnlicher Fülle. Ungeduldige Leser mag das antiquiert anmuten. Wer sich aber auf Florescu einlässt, wird in seinen Büchern – und ganz besonders in seinem neuen Roman – genau das lieben. Die lebenspralle Fülle, den Reichtum an Details. Nur ein Beispiel für viele: Der Teufel, erzählt Florescu, hat in Rumänien neunzehn Namen. «Avizua, Abaroca, Oarda, Nes cua, Muha, Aspra, Hluchica, Sarda, Vinita, Zoita, Ilinca, Merana, Feroca, Fumaria, Nazara, Hlubic, Nesatora, Gentia, Samca.» Wenn Schwangere einen Zettel mit diesen Namen auf sich tragen, sind sie gegen die Dämonen ge schützt. Aber wenn sie sie ignorieren, dann stirbt das Neugeborene. In seinem grossen Essay über Charles Dickens hat George Orwell sein Urteil auf eine griffige Formel gebracht: «Scheuss liche Architektur, aber wunderbare Was serspeier». In seiner trockenen Art mein te er den Satz als hohes Lob. Wir zitieren es hier ebenfalls in diesem Sinn. Bei Ca talin Dorian Florescu gibt es so viele wunderbare Wasserspeier, dass uns die Geometrie des Romans gar nicht be schäftigt. Wir lassen uns forttragen von diesem Erzähler und hoffen, dass seine Geschichten niemals aufhören. ● Einer der Schauplätze in Catalin Dorian Florescus neuem Roman: das wimmelnde New York um 1900 (hier: Williamsburg Bridge). 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Der New Yorker Autor Donald Antrim erzählt von einem Pancake-Essen unter Psychoanalytikern WennSeelenklempnersichbelauern Donald Antrim: Der Wahrheitsfinder. Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich. Rowohlt, Reinbek 2016. 224 Seiten, Fr. 17.90, E-Book 12.–. Von Martin Zingg Ob das gut enden wird? Der Psychoanalytiker Thomas hat den Einfall, seine Kollegen vom «Krakower Institut» einzuladen in ein Pfannkuchen-Restaurant. Hier sollen sie sich unterhalten über ihre therapeutische Arbeit, über Theorien, Patienten, Kollegen. Thomas selber ist an diesem Institut zuständig für das Programm «Starke Junge Frauen». Allerdings machen ihm die Kinderpsychologen im Haus die Arbeit schwer, er hätte der Runde an diesem Aprilabend also allerhand zu berichten. Und zugleich ist Tom, wie ihn seine Freunde nennen, auch der Erzähler des höchst ungewöhnlichen Romans «Der Wahrheitsfinder». Natürlich wird das Treffen der psychoanalytischen Belegschaft irgendwann aus dem Ruder laufen. Alle belauern und belagern alle. Am Anfang sind es noch kleine Bosheiten, die ausgetauscht werden, aber bald schon geht es um mehr. Immer stärker geraten unterschiedliche Theorien aneinander, «Melanie Klein» versus «Lacan» versus «Winnicott» versus «untröstliche Post-Freudianer», es sind fast schon Markenartikel, die ins Feld geführt werden. Zugleich knistern da und dort abgelegte und neu aufkeimende Liebschaften, und die liebestolle Atmosphäre färbt die mitunter ziemlich eitlen Kommentare auf doppeldeutige Weise ein. Und natürlich wissen alle in dieser Runde Bescheid über die tiefsitzenden Gründe ihres Handelns, kontrollieren können sie es dennoch selten. Von Tom stammt die Idee zur Einladung – «Der Pfannkuchen symbolisiert Essen als eine Form infantilen Spiels, die Süsse unserer Kindheit und unsere grosse, verlorene, frühkindliche Omnipotenz» –, und von ihm stammt der Bericht, den wir lesen. Er selber kommt darin nicht gut weg. Auffallend ist seine Mühe mit dem Älterwerden: «Ich bin im richtigen Alter, um ein Mann zu sein, aber macht mich das zu einem?». Nein, leider nicht. Tom ist im Grunde noch gar nicht erwachsen. Zwar ist er verheiratet mit Jane, die sich ein Kind von ihm wünscht, aber er kann sich nicht dazu entscheiden. Tom kann sich nie entscheiden: «Das Problem ist, dass ich nicht weiss, wie ein Mann zu sein hat.» Dieses Problem analysiert er nicht bloss, er führt es durch sein Verhalten im «Pancake House & Bar» auch gleich vor. Er provoziert die Anwesenden, die ihn längst als einen kennen, der gelegentlich ausrastet und auch mal Toastbrötchen in die Runde wirft – was seine Kollegen und Kolleginnen selbstverständlich verstehen, nicht aber billigen können. Kollege Richard wird ihn mit aller Kraft an weiteren infantilen Aktionen hindern. Er packt Tom von hinten, hält ihn hoch, und aus unfreiwilliger Höhe wird Tom fortan die Entwicklung des Abends erzählen und halluzinieren. In seiner Nähe ist die Kellnerin Rebecca, mit der er erzählenderweise auch schnell mal Schauplätze des amerikanischen Bürgerkriegs aufsucht. Vor seinen Augen ist das nahe Spital, unter ihm das psychotherapeutische Personal der Klinik, das zu ihm hochblickt – und wir haben vor unseren verblüfften Augen einen ziemlich schrägen und unberechenbaren Roman. Dessen Autor, Donald Antrim (*1958), lebt in Brooklyn. Er hat einige Romane und einen Band mit Erzählungen publiziert, das meiste ist nun auch auf Deutsch greifbar, darunter der Erzählband «Das smaragdgrüne Licht in der Luft». Und eben: «Der Wahrheitsfinder», von Brigitte Heinrich elegant ins Deutsche gehoben, voller Slapstick und Ironie, ziemlich verrückt. ● Emanuel Bergmann Der Trick Roman · Diogenes 400 Seiten, Leinen, sFr 30.–* Der große Zabbatini war im Berlin der 30er-Jahre ein berühmter Zauberkünstler. Am Ende seines Lebens hat er in Los Angeles nochmals einen großen Auftritt – dank eines kleinen Jungen, der felsenfest an seine Zauberkräfte glaubt. * unverb. Preisempfehlung 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 John Irving Straße der Wunder Roman · Diogenes 784 Seiten, Leinen, sFr 35.–* Ein Buch über Wunder, die uns widerfahren, und Wunder, die wir selber bewirken. Verführerisch bunt, magisch und spannend erzählt: ein Buch über die Suche nach einer Heimat in der Fremde und in der Literatur. Foto: © Bogenberger / autorenfotos Foto: Philipp Rohner / © Diogenes Verlag Foto: © Basso Cannarsa / Opale / Leemage / laif ANZEIGE Benedict Wells Vom Ende der Einsamkeit Roman · Diogenes 368 Seiten, Leinen, sFr 30.–* Ein berührender Roman über drei Geschwister, die früh ihre Eltern verlieren. Über das Überwinden von Verlust und Einsamkeit und die Frage, was in einem Menschen unveränderlich ist. Und vor allem: eine große Liebesgeschichte. BRITISH MUSEUM / BPK Ermittlung Emmanuel Carrère geht den Ursprüngen des Christentums nach und legt ein gewaltiges erzählerisches Werk vor, das in keine Schublade passt EinUngläubiger aufderSpurdes Unglaublichen Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2016. 524 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 21.90. Von Claudia Mäder «Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden.» Lukas 24,5–6. Zwei schlichte Sätze. Geschrieben zwischen 60 und 80 n. Chr., sind sie dafür mitverantwortlich, dass wir an diesem Wochenende wahlweise nach Osternestern suchen oder im Stau stehen. Was einst der Wunderglaube einer kleinen Sekte war, taktet heute jede Agenda und verwirrt so manchen Kopf: Wie kann es sein, dass sich das Christentum wider alle Wahrscheinlichkeit derart durchgesetzt hat, dass noch in aufgeklärten Zeiten etliche «ansonsten nicht verrückte» Leute an Vorgänge wie die Auferstehung Jesu glauben? Das ist die Frage, die Emmanuel Carrère umtreibt. Ihr nachzuforschen, ist er umso besser in der Lage, als er in den 1990ern selber eine «christliche Phase» durchlaufen hat. Auf dem Höhepunkt einer Lebens- und Schaffenskrise wandte sich der Autor von der Pariser Bücherszene ab und dem Heiligen Evangelium zu. Während drei Jahren, die er am Anfang des Buches schildert, wähnte sich Carrère «von der Gnade berührt» – erstmals gespürt hatte er sie in einem Satz von Johannes, der ihn auf geheimnisvolle Weise von der Bürde des Lebens zu entlasten versprach: «Ein anderer wird dich gürten und dich dorthin führen, wohin du nicht gehen wolltest.» Umkehr der Werte Zwar nahm Carrère die Zügel bald wieder selber in die Hand und verlor seinen Glauben. Geblieben aber ist eine Faszination für den Gegenstand – und mit dem Johannes-Zitat ein Satz, der sich gleichsam als Motto über das Œeuvre des Franzosen setzen liesse: Wer ein Buch von Emmanuel Carrère liest, gibt sich einem gewieften Autor hin und folgt ihm atemlos in Gefilde, die auf der Landkarte der Interessen zuvor weisse Flecken waren – seien es französische Konsumentenschutzgesetze («Alles ist wahr», dt. 2014), der russische Nationalbolschewismus («Limonow», dt. 2012) oder das Urchristentum, mit dem «Das Reich Gottes» im Hauptteil aufwartet. Nach 100 Seiten im Pariser Intellektuellenmilieu steht man mitten im Gewimmel der globalisierten Welt des Römischen Reiches. Ähnlich wie heute wandten sich dort im ersten Jahrhundert viele Leute neugierig einer östlichen Religion zu: Das Judentum faszinierte weitum, u. a. auch in Makedonien, wo Lukas lebte, der spätere Verfasser der Apostelgeschichte sowie des nach ihm benannten Evangeliums – und die eigentliche Hauptfigur des Buches. Oder vielmehr: eine von zwei Hauptfiguren. Denn Carrères «Ich», das vorher als Gottessucher aufgetreten ist, ist weiterhin präsent, und zwar als – nunmehr agnostischer – Erzähler und reflexives Zentrum, das der Lukas-Figur Gedankengänge eingibt und Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Der Evangelist ist so etwas wie Carrères urchristliches Alter Ego; ihm folgt er von Troas, wo Lukas auf Paulus trifft und vom Freizeitjuden zum Christen wird, über Jerusalem bis nach Rom. Dieser Lukas erlebt hautnah nicht nur alle Entwicklungen und Spannungen im Lager der frühesten Christen, sondern insbesondere auch die Umkehr der Werte, die der neue Glaube vornimmt. Arm sein statt reich, dumm statt weise, krank statt gesund – dieses Programm, so der Erzähler, stellt alles antike Denken auf den Kopf. Zur Veranschaulichung ruft er uns und Lukas während der Überfahrt nach Syrien eine Szene der Odyssee in Erinnerung: Die Nymphe Kalypso bietet Odysseus an, in ewiger Jugend auf ihrer fernen Insel zu leben. Doch der antike Held wählt die Heimkehr zu seiner Frau und mit dem realen Leben das langsame Sterben. Paulus und die Seinen haben sich für die andere Seite – das «ewige Leben» – entschieden, und das erzählende Ich kommt nicht umhin, sich vorzustellen, wie sein menschlicher Lukas auf hoher See und mit Odysseus im Kopf von Zweifeln beschlichen wird: Begeht nicht eine «Riesendummheit», wer sein Leben etwas Irrealem weiht «und dafür dem, was wirklich existiert, den Rücken zukehrt: der Wärme der Körper, dem bittersüssen Geschmack des Lebens und der wunderbaren Unvollkommenheit des Wirklichen»? Die Frage ist, wie die Figur, erklärtermassen erdacht. Über Lukas ist wenig bekannt und Carrère folglich «einerseits frei und andererseits gezwungen, etwas zu erfinden». All diese Erfindungen bewegen sich aber in einem engen Raum, den eine Fülle von Quellen aus und über Lukas’ Zeit absteckt – der Erzähler phantasiert keine Geschichten zusammen, sondern stellt sich eine Figur mit menschlichen Gedanken vor, die bestenfalls auf faktischem und in jedem Fall auf «nichtunmöglichem» Terrain agiert. Was dabei entsteht, ist ein Buch, das sich jeder Schublade entzieht; von einer «Ermittlung» ist einmal die Rede, und tatsächlich trifft dieser Begriff einen Kern. Erkennungssymbol des Christentums schlechthin: das Kreuz. Hier eine byzantinische Reliquie aus dem frühen 11. Jahrhundert. Literarische Glanzstücke Das Geheimnis des Glaubens vermag selbstredend auch diese grosse Untersuchung nicht aufzudecken. Aber wenn sich Carrère an Lukas’ Fersen heftet, geht nicht nur ein einst Gläubiger einem neu Gläubigen nach, sondern auch ein jetziger Schriftsteller einem antiken Autor. Die Fahndung ist also auch eine literarische, und auf diesem Gebiet lässt sich einiges dingfest machen: «Das Reich Gottes» zeigt Lukas als Informationensammler, Quellenleser, Kopist, Neuformulierer und Geschichtenmonteur, und je tiefer man in das Buch eintaucht, desto deutlicher wird, dass Carrère seinem Alter Ego bis in die Schreibverfahren hinein ähnelt . . . Wenn der Autor am Ende «im Namen der Romanschriftstellerzunft» den Hut vor Lukas’ Glanzstück – der Weihnachtsgeschichte – zieht, so muss man, im Namen der lesenden Zunft, dasselbe auch vor Carrères Meisterwerk tun. Denn nichts anderes ist sein «Reich Gottes». ● Global Times Der packende Roman von Toni Stadler zur weltweiten Mobilität von Menschen, Ideen, Kulturen, Religionen und Gewalt. buch.ch | thalia.ch | exlibris.ch | tonistadler.com 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Bei Eshkol Nevo fügen sich Einzelschicksale zu einem magisch-realistischen Gesellschaftsbild Liebeswirrenim jüdischenTauchbad Von Stefana Sabin Eine Mikwe, früher Judenbad genannt, ist in der jüdischen Tradition ein Tauchbad, das der rituellen Reinigung und Läuterung dient – kein Ort der Hygiene, sondern ein kultischer Ort, dem in einer jüdischen Gemeinde eine hohe Bedeutung zukommt. Deshalb beschliesst ein amerikanischer Wohltäter, in einer israelischen Wüstenstadt, die wegen der vielen archäologischen Funde eine besonders fromme Bevölkerung angezogen hat und «Stadt der Gerechten» genannt wird, zum Gedenken an seine verstorbene Frau eine Mikwe bauen zu lassen. Der lokale Bürgermeister macht sich auf die Suche nach einem geeigneten Bauplatz und findet ihn in einer Neubausiedlung am Rande der Stadt, wo nur russische Einwanderer wohnen und die deshalb herablassend Sibirien genannt wird. «Die Mikwe in Sibirien» heisst im hebräischen Original der Roman, in dem Eshkol Nevo von den Schicksalen erzählt, die sich in dieser Mikwe kreuzen. Von fromm bis atheistisch Der Bürgermeister dieser fiktiven «Stadt der Gerechten» und sein Assistent, der neu eingewanderte russische Schachmeister und sein Enkel, die israelische Neubekehrte und ihr amerikanischer Mann, der palästinensische Bauunternehmer und der israelische Offizier – es sind allesamt einsame Gestalten: «Die einsamen Liebenden», wie der Titel der deutschen Übersetzung ankündigt. So werden mehrere Liebesgeschichten miteinander verwoben, und immer wieder wird die Mikwe in Sibirien zu einem Kontakt: [email protected] www.buchplanet.ch 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 zentralen Ort der Handlung gemacht. Der Assistent des Bürgermeisters, der für den Bau verantwortlich ist, erlebt an der Mikwe ein unerklärliches Wiedererwachen der Sehnsucht nach seiner Jugendliebe, die er dort dann auch tatsächlich trifft. Das unerwartete Wiedersehen der früheren Liebenden ist eine Schlüsselszene im Roman. Sie zeigt, wie die Protagonisten ihre Selbstbeherrschung aufgeben und sie sich gleich wieder zurückerkämpfen, wie sie sich nach einem Neubeginn sehnen und dennoch den Mut dafür nicht aufbringen. Denn Nevos Thema ist nicht nur der Schatten, den die Vergangenheit auf die Gegenwart wirft, sondern auch der mögliche Schatten, den die Gegenwart auf die Zukunft werfen würde. Weil sie sich stets an ihren Träumen reiben, suchen Nevos Figuren Halt in einem Glauben, dem sie dann doch nicht ganz trauen. Den frommen und halbfrommen Einwohnern der «Stadt der Gerechten» setzt Nevo die Neueinwanderer entgegen und inszeniert ein Aufeinanderprallen der Kulturen, dem er satirisch-komische Szenen abgewinnt. Nevos Neueinwanderer werden von pragmatischen Überzeugungen geleitet, und da sie nicht wissen, was eine Mikwe ist, glauben sie, dass ihnen die Stadtverwaltung ein Gesellschaftshaus gebaut hat. So besetzen sie das neue Gebäude, um dort Schachturniere abzuhalten. Erst als der Bürgermeister sie überredet, die Mikwe ihrer Bestimmung entsprechend zu benutzen, fangen die Einwanderer an hinzugehen – und als sie erkennen, dass ihnen dort ihre jugendlichen Kräfte wiederkehren, mutiert die Mikwe zu einem begehrten Treffpunkt der Siedlung: allerdings nicht wegen eines religiösen Umbesinnens der atheistischen Einwanderer, sondern wegen ihrer neu erwachten erotischen Energien. Als der amerikanische Wohltäter mit seiner Klarinette spielenden Be- Habis-Center – Zufahrt A Waldau 1 | 9230 Flawil gleiterin die Mikwe besucht, ist er von dem lebhaften Treiben so überrascht, dass ihn der Schlag trifft. Aber als er im Krankenhaus wieder erwacht, kann er sich an nichts erinnern. Tatsächlich scheint die Mikwe in Sibirien eine magische Aura zu haben. Verborgene Leidenschaften leben wieder auf, neue Sehnsüchte erwachen – und damit neue Zweifel. Auch deshalb befinden sich Nevos Figuren in einem anhaltenden existenziellen Selbstgespräch, das sie einsam macht – sie sind wie jene Vögel, die «plötzlich alleine weitab ihrer üblichen Zugrouten auftauchen, weit weg von ihrem Schwarm, als habe sich etwas in ihrem inneren Kompass verschoben». Wie diese Vögel sind auch Nevos Romanfiguren «verlorene Einzelgänger», die die Orientierung zu behalten und einen lebbaren Weg zwischen Glück und Unglück zu finden versuchen. Ganz und gar originell Dass trotz der unglücklichen Liebesgeschichten der Roman keineswegs traurig ist, verdankt sich Nevos sicherem Gespür für die ausgewogene Mischung aus Realismus, Phantastik und Satire. Wie David Grossman verankert Nevo seine Handlungen in der israelischen Realität; wie Abraham Yehoshua verleiht er dem Geschehen eine magische Dimension; wie Etgar Keret reichert er die Geschichten mit satirischen Episoden an – und ist dennoch ganz und gar originell. Das hat nicht zuletzt mit einer geschickten narrativen Technik zu tun: Nevo verknüpft mehrere Handlungsfäden, wechselt die Erzählperspektiven und unterbricht immer wieder die Chronologie durch Rückblenden und Reflexionen. Dabei hält er den epischen Rhythmus konstant. So gelingt es ihm, die Empfindungen seiner Figur nachvollziehbar zu machen und aus Liebesgeschichten ein Sozialgemälde zu zeichnen. ● Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch Eshkol Nevo: Die einsamen Liebenden. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. dtv premium, München 2016. 304 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 16.90. Roman Die Archäologin Anita Siegfried macht aus der verrückten Vision des Bündner Ingenieurs Pietro Caminada eine packende Sience-Fiction-Story ZuSchiffvonGenuanachBasel Anita Siegfried: Steigende Pegel. Bilgerverlag, Zürich 2016. 221 Seiten, Fr. 34.–. Von Charles Linsmayer Am Montespluga soll eine Staumauer, über der Rofflaschlucht ein vermoostes Zementrohr stehengeblieben sein . . . Nicht anders als bei ihren Jugendromanen von 1993 und 1994, die auf den Ausgrabungen auf dem Üetliberg beruhten und die Zeit von 500 v. Chr. evozierten, könnte die studierte Archäologin Anita Siegfried auch diesmal auf Spuren einer vergangenen Epoche gestossen sein. Sie entwickelt daraus den Roman eines transalpinen Kanals, der von Genua über Thusis nach Basel führte und das Gefälle mittels röhrenförmigen geneigten Schleusen überwand. Darin wurden die aufwärts fahrenden Schiffe vom steigenden Pegel der einen Schleuse hoch- und vorwärtsgetrieben, weil die in der parallel verlaufenden zweiten Röhre abwärts fahrenden Schiffe den nötigen Auftrieb erzeugten. Im Prolog von «Steigende Pegel» wird uns der Erfinder des Projekts, der Bündner Pietro Caminada, präsentiert, wie er Roms Politik und Wirtschaft 1908 an einem Neujahrsempfang vergeblich für seine Idee gewinnen will, immerhin aber mit einem Kompliment des Königs hausieren kann: «Man wird noch lange von Ihnen reden.» Dann, nach einem Zeitsprung ins Jahr 1933, sind wir mitten im Geschehen drin. Auf der «Rachele», einem von 150 Kanalschiffen, machen wir die Fahrt von Genua nach Thusis mit, werden mit dem Funktionieren des Schleusensystems vertraut und teilen den Alltag des Capo Sergio und des Schiffsjungen Riccio. Alle Schiffer weisen irgendeinen Makel auf, sind behindert oder kriegsversehrt, Alkohol wird in Strömen konsumiert, und der Albtraum aller ist das «male della montagna», das bei der Fahrt durch den 15 km langen Splügentunnel all die Unglücklichen herumgeistern lässt, die beim Bau des Kanals starben. «Wer in diesen Abgrund geschaut hat, für den gibt es kein Entrinnen», erkennt Riccio und ergreift wie andere vor ihm die Flucht, ehe er das Loch nochmals passieren muss. Der zweite Teil führt zurück zu den Anfängen des Projekts, als Caminada nach 1886 in Rio Hafenanlagen und Strassenbahnen baut und mit vielem Schiffbruch erleidet, bis er mit seiner Frau, einer Brasilianerin, nach Rom zurückkehrt, um sich, während er auch da mit fast allen Projekten scheitert, bis zu seinem Tod 1923 nicht von der Idee des Alpenkanals abbringen zu lassen. Der dritte Teil, ein Artikel aus der New York Times von 1930, verrät schliesslich, dass sein Assistent Filippo Balzani, ein gläubiger Faschist, Caminadas Vision von 1924 bis 1931 als Teil von Mussolinis Modernisierungswahn ohne Rücksicht auf Verluste umgesetzt hat und die Schiffsverbindung 1931 eröffnet wird. So geschickt und fast schon glaubwürdig all das inszeniert und beschrieben ist: Es hat den transalpinen Kanal natürlich nie gegeben. Was es gab, sind Caminadas originale Pläne, und die hat Anita Siegfried so gekonnt und überzeugend in die Erzählung eingebaut, dass man ihrer Science Fiction nur allzu leicht auf den Leim gehen könnte. Was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass Figuren wie der unglückliche Caminada, seine Frau Luiza und der clevere Balzani, aber auch die Kanalschiffer Sergio und Riccio genau so lebensecht gezeichnet sind wie das Zeitko- lorit im kolonialen Brasilien oder im faschistischen Italien. «Man muss nicht der liebe Gott sein, um Unvorstellbares zu verwirklichen», verkündet Caminada 1908, und indem er den Satz ad absurdum führt, führt der Roman, mit dem Anita Siegfried nach dem im England des 19. Jahrhunderts spielenden Roman «Die Schatten ferner Jahre» von 2007 ein weiteres Beispiel ihrer eigenwilligen historischen Erzählkunst vorlegt, zugleich auch die menschliche Hybris als solche ad absurdum. Jene Hybris, die, Gott sei’s geklagt, schon Bedenklicheres hervorgebracht hat, als eine alpine Wasserstrasse es hätte werden können . . . ● Russische Avantgarde Künstlerische Kraftpakete Man glaubt es kaum, aber die Künstler der russischen Moderne waren Saftwurzeln, die sich auch nicht scheuten, den Körper einzusetzen. Sport war teilweise so angesagt wie Malerei, vielleicht weil zu Beginn des 20. Jahrhunderts Wettkämpfe zur Kultur der russischen Grossstädte gehörten. Die Ringkämpfer, die Natalia Gontscharowa 1908 bis 1909 malte, sind eines der wenigen Beispiele, in denen diese Leidenschaft auch in der Kunst ihren Ausdruck fand. Das Bild war 1910 in der skandalträchtigen Moskauer Avantgarde-Ausstellung «Karo Bube» zu sehen. Die Künstlerin zeigt weder die selbstgefälligen Posen der zahlreichen Gruppenfotos, noch fängt sie reportageartig den Kampf ein. In kühner Vereinfachung steigert sie die Dynamik der beiden Kämpfer zu existenzieller Expressivität. Das ist damals sonst nur Malewitsch vor seinen abstrakten Bildern gelungen. Entdeckungen wie diese hält der Band (Ausstellung: Albertina, Wien, bis 26. Juni) in Hülle und Fülle bereit. Gerhard Mack Chagall bis Malewitsch. Die russischen Avantgarden. Hrsg. v. Evgenia Petrova und Klaus Albrecht Schröder. Hirmer, München 2016. 312 S., 194 Abb., Fr. 52.–. 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Emily Brontës Klassiker «Sturmhöhe» erscheint in einer höchst eigenwilligen Neuübersetzung SchlampenundLahmärsche In «Wuthering Heights» aus dem Jahr 1847 schuf Emily Brontë kraftvolle Figuren. Hier auf einer Zeichnung von Balthus: Catherine und Heathcliff. Emily Brontë: Sturmhöhe. Aus dem Englischen von Wolfgang Schlüter. Hanser, München 2016. 640 S., Fr. 46.90. Wegen technischer Probleme erscheint der für März angekündigte Titel erst im Mai. Von Janika Gelinek Es sei eine «abstossende Geschichte», schrieb einer der ersten Rezensenten bei Erscheinen von «Wuthering Heights» 1847 – und das lässt sich auch 170 Jahre später, wo an der Identität der unter Pseudonym schreibenden Emily Brontë und am Weltrang ihres Romans keine Zweifel mehr bestehen, nur schwer bestreiten. Massive verbale und physische Gewalt begleiten die Vorgänge rund um das einsam gelegene Landhaus in Yorkshire, ferner, wie der Übersetzer Wolfgang Schlüter im Nachwort zutreffend zusammenfasst, «bekommt man geboten: Spielsucht und Alkoholismus, Kindesmisshandlung, Tierquälerei, Krankheiten in extenso, unterlassene Hilfeleistung, Sterbeszenen, Rachephantasien, Grabschändung, Freiheitsberaubung». 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 AKG - IMAGES Kritik am Hang zum Braven Das, was sich über drei Generationen hinweg zwischen Wuthering Heights und Thrushcross Grange, zwischen den Familien Earnshaw und Linton und insbesondere zwischen Catherine Earnshaw und dem Findelkind Heathcliff an Liebe und Hass, Rachsucht und Vergeltung abspielt, ist im kollektiven Gedächtnis fest verankert und hat, neben Musikerinnen, Dramatikern und Regisseuren, immer wieder auch Übersetzerinnen herausgefordert. Es zeugt von Schlüters philologischer Akribie und seinem Selbstbewusstsein, dass er im hervorragenden Anhang des Buches nicht nur alle der 13 bislang vorliegenden deutschen Übersetzungen angibt, sondern anhand des 17. Kapitels auch einen detaillierten Übersetzungsvergleich unternimmt. Insgesamt sieht er hier bei seinen Vorgängerinnen eine zu grosse Scheu und reflexhaft glättende Bravheit am Werk, die den Ausgangstext in «glattpolierte Belletristik» überführt und gerade die wörtliche Rede zu einer «Sprache aus dem Deutschunterricht viktorianischer Gouvernanten» gerinnen lässt. Dieser Verzagtheit im Hinblick auf die atemlose Syntax, die groben Kraftausdrücke und Dialektpassagen des Originals setzt Schlüter seine «Plädoyers für Wagnisse» entgegen, die sich etwa so anhören, wenn Heathcliff in Beisein des überraschten und entsetzten Erzählers Lockwood seine Schwiegertochter anfährt: «Da machste dir wieder ’n faulen Lenz! Die andern verdienen sich ihr Brot – und du? Lebst von meiner Fürsorge! Schmeiss deinen Schund weg und such dir was zu arbeiten! Für die Pest, dich ständig vor Augen zu haben, sollste mir bezahlen – hörste? Verfickte Schlampe!» Wer hier zusammenzuckt, wird auch mit dem Rest des Romans wenig Freude haben, doch damit durchaus Wolfgang Schlüters Intention entsprechen, der in einer «wirkungsadäquaten Wiedergabe» dem «anno 2016 verrohten Leser» das verstörende Potenzial des Romans für die viktorianische Leserschaft nahebringen will. Diese Intention ist wesentlich befremdlicher als vereinzelte «Tussis», «Vollkoffer» und «Lahmärsche», über die man sich geschmäcklerisch ereifern mag. Und das nicht nur, weil die englische Leserschaft ja auch ohne wirkungsäquivalente Übersetzung auskommen und sich mit «damnable jade» zufrieden geben muss, sondern vor allem, weil Schlüter keinerlei historische Erwartungshaltung bei seinen Lesern voraussetzt und überdeutlich markieren zu müssen glaubt, dass ein heute moderat erscheinender Kraftausdruck damals einen veritablen Konventionsbruch darstellte. So wie Heathcliff später über seine ihm verhasste Ehefrau Isabella Linton berichtet, welche «Herkulesarbeit» es gewesen sei, sie davon zu überzeugen, dass sie ihm «mit ihrer Vernarrtheit auf den Sack» gehe, bietet Schlüter sein grosses übersetzerisches Können dafür auf, den Leser keinesfalls jener Illusion zu überlassen, die darin besteht, für die Dauer der Lektüre einer fremden Welt anzugehören. Im arroganten Irrglauben, der Leser sei ohnehin der artifiziellen Operation der Übersetzung gewahr, schafft er eine bewusst aufrüttelnde Differenz zum womöglich fälschlich einlullenden Klassiker, ohne zu berücksichtigen, dass doch eine Übersetzung zumeist nicht als Interpretation herangezogen wird, sondern weil man das Original nicht lesen kann oder will. Voll brausenden Lebens Wenn also der Bediente Robert von Thrushcross Grange, der sich im Original eines schlichten Hochenglischen bedient, plötzlich nur aus dem Grund mit einem Hamburger Dialekt ausgestattet wird, um ihn sozial vom grässlichen Faktotum Joseph von Wuthering Heights abzugrenzen, hat man es mit einer sehr freien Fortschreibung des Originaltextes zu tun. Für die werden zwar ebenso ausführlich Gründe angegeben wie für Josephs irritierendes Wienerisch, das Schlüter dessen Verschlagenheit und Misogynie am besten abzubilden scheint, in sprachlicher, inhaltlicher oder gar ästhetischer Hinsicht vermag sie jedoch nicht zu überzeugen. Catherine und Heathcliff aber stürmen weiter durch den einzigen Roman der Pfarrerstochter Emily Brontë, seltsamerweise unabhängig davon, ob sie «Kanaille», «Bestie» oder «Schlampe» sagen. Es ist ihnen eine Kraft eigen, die, obgleich so kraftvoll in Sprache gefasst, jenseits von ihr spürbar bleibt, oder, wie Virginia Woolf 1916 über den Roman schrieb: «Es ist, als könnte Emily Brontë alles, woran wir menschliche Wesen erkennen, null und nichtig machen und diese unerkennbaren Schemen mit solch brausendem Leben erfüllen, dass sie die Realität übersteigen.» ● Erzählungen Der israelische Autor Etgar Keret beschreibt sein Leben so, dass man abwechselnd lachen und weinen muss Pastrami mitAmeisen Kurzkritiken Belletristik Marjaleena Lembcke: Wir bleiben nicht lange. Nagel & Kimche, 2016. 188 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 16.90. Erica Jong: Angst vorm Sterben. Aus dem Englischen von Tanja Handels. S. Fischer, 2016. 366 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–. Zwei Finninnen, zahllose Zigaretten und literweise Wodka – das ist die Hauptausstattung von Marjaleena Lembckes Roman. Er spielt in einem Spital in London, wo die 49-jährige Sisko mit Krebs im Endstadium liegt und Besuch von ihrer Schwester erhält. Die beiden reden nicht viel, doch das Gesagte ist genug, eine schwierige Beziehung zwischen ersehnter Nähe und gefühlter Distanz zu skizzieren. Die Angst vor dem Alleinsein spitzt sich im Angesicht des Todes nur weiter zu, und die Stärke des Buches besteht darin, dem Sterben unverstellt ins Auge zu blicken. Wenn es aber ums Leben geht, beginnen die Probleme: Sisko säuft noch im Krankenbett, ihre Schwester tat es lange Zeit genauso, und auch die in Rückblenden eingeführten Brüder entflohen vor ihrem Verschwinden in Räusche – Suizide, Aids und Süchte lasten wie Flüche auf der Familie und überfrachten das Gefüge der Geschichte. 1973 wurde die US-Autorin Erica Jong mit dem Roman «Angst vorm Fliegen» schlagartig weltberühmt. Er wurde zum Kultbuch der weiblichen sexuellen Emanzipation. An diesen Erfolg konnte die Autorin mit ihren acht folgenden Romanen nicht mehr anknüpfen. Nun will sie mit «Angst vorm Sterben» das Rezept wiederholen. Das Buch erzählt von einer 60-jährigen New Yorkerin, die von ihrem zwanzig Jahre älteren, schwerreichen Mann nach wie vor verehrt, aber nicht mehr sexuell befriedigt wird. Das will sie nicht hinnehmen; deshalb setzt sie auf Datings. Dazwischen besucht sie ihre gebrechlichen Eltern im Krankenhaus. Auch ihr Mann muss nach einem Zusammenbruch hospitalisiert werden. Der Kontrast von Sex und Verfall ist mitunter witzig, wird aber sehr strapaziert. Zudem ist das Buch sprachlich ohne jeden Reiz und strotzt von Ratgeber-Platitüden. Woody Allen preist es. Unbegreiflich. Ernst Augustin: Der Kopf. C.H. Beck, 2016. 538 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 22.–. Friedrich Christian Delius: Die Liebesgeschichtenerzählerin. Rowohlt, 2016. 208 S., Fr. 27.90, E-Book 19.–. Als der 1927 im Riesengebirge geborene Psychiater Ernst Augustin 1962 seinen Romanerstling «Der Kopf» herausbrachte, staunte das deutsche Feuilleton. Da betrat einer mit einem ganz neuen Ton die literarische Bühne. «Türmann stand auf seinem Balkon und fühlte sich bedroht»: So beginnt die Geschichte des Freidenkers, der sich vor seiner eigenen Phantasie fürchtet und sich darum, gleichsam in einer Flucht nach vorn, die grösstmögliche Katastrophe ausdenkt. Diese ereignet sich dann auch prompt, und sie hinterlässt eine wüste, leere Welt, in der nur wenige in Kellern überleben. Erst allmählich belebt sich die Erde wieder, und am Ende steht Türmann wieder auf seinem Balkon. Hat sich die ganze Geschichte nur in seinem Kopf abgespielt? Jahrzehntelang war dieses merkwürdige, vielschichtige Buch vergriffen. Endlich liegt es wieder vor. 2006 hat F. C. Delius mit der biografischen Erzählung «Bildnis der Mutter als junge Frau» sein Meisterwerk vorgelegt. Nun kehrt der Büchnerpreisträger von 2011 zu seiner Familiengeschichte und zur Erzähltechnik von damals zurück: In einem einzigen, in zahlreiche kurze Abschnitte gegliederten Langsatz lässt er seine Erzählerin im Januar 1969 von Den Haag über Amsterdam nach Frankfurt fahren. Drei Liebesgeschichten gehen ihr dabei durch den Kopf: ihre eigene, die ihrer Eltern und diejenige einer Vorfahrin während der napoleonischen Kriege. Die fünftägige Fahrt wird zu einer Zeitreise, in der sich die Biografien verflechten. Das ist ehrgeizig gedacht, aber nur teilweise geglückt, weil Manierismen sowie Klischees sich einschleichen und weil Informationen für die Leser der Innenperspektive manchmal arg in die Quere geraten. Etgar Keret: Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn. Aus dem Englischen von Daniel Kehlmann. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 223 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–. Von Manfred Koch Als der israelische Schriftsteller Etgar Keret seine Frau zur Entbindung in ein Krankenhaus bei Tel Aviv bringt, hat es gerade wieder einen Terroranschlag gegeben. Keret sitzt vor der Geburtsstation; die Ärzte und Krankenschwestern haben indes alle Hände voll zu tun, um die Verwundeten zu versorgen. «Womöglich», schreibt er, «fühlt auch das Baby, dass die Sache mit dem Geborenwerden gerade nicht so dringend ist.» Ein Reporter, der den prominenten Autor auf dem Gang entdeckt hat, hält ihm ein Mikrofon unter die Nase und ist bitter enttäuscht, dass er keinen traumatisierten Augenzeugen, sondern einen glücklichen werdenden Vater vor sich hat. «Zu schade, dass du nicht dort warst. Eine Reaktion von einem Schriftsteller wäre gut für meinen Artikel gewesen. Jemand Originelles.» Die Opfer sagten immer das Gleiche, alles voll Blut usw. Das sei, bescheidet ihn Keret höflich, nicht deren Fehler, sondern liege daran, dass die Anschläge immer gleich seien: «Was soll man schon über eine Explosion und sinnloses Sterben Originelles sagen?» Er habe keine Ahnung, meint der andere: «Du bist der Schriftsteller.» Dass in Israel Leben und Tod näher aneinander liegen als anderswo, ist bekannt. An Etgar Kerets Geschichten sieht man, wie daraus auch eine unvergleichliche Mischung aus Trauer und Witz entstehen kann. Das Baby, ein Junge, kommt ohne Komplikationen zur Welt, und Keret schildert ihr gemeinsames Familienleben im Einzugsbereich des immer mal wieder drohenden Todes. Der Schriftsteller ist originell. Wenn sie auf der Autobahn von einem Raketenangriff überrascht werden, spielen sie am Strassenrand «Pastrami-S andw ich»: Mama unten, Papa oben, das Kind als geschützte Fleischscheibe zwischen ihnen. Liegt man lange, weil die Raketen nicht aufhören, gibt’s «Pastrami mit Ameisen». Als Lev, der Sohn, sieben ist, stirbt Kerets Vater, ein polnischer Jude, der den Holocaust in einem Erdloch überlebt hat. Und Keret erzählt so wunderbar von des Vaters Macke, seitdem viel zu grosse und viel zu teure Wohnungen anzumieten, dass dem Leser nichts anderes übrig bleibt, als Tränen zu lachen. ● Claudia Mäder Manfred Papst Manfred Papst Gundula Ludwig 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Essay Gleich vier Bücher widmen sich dieses Frühjahr den Müttern und ihrem bedrohten Wirkungsraum in unserer Gesellschaft. Es wurde langsam Zeit. Denn die mütterliche Kümmerarbeit ist nichts weniger als der Lackmustest der Emanzipation. Von Nicole Althaus Dasvergessene Kapitelder Emanzipation Das Territorium der superreichen Alphamütter ist vergleichsweise klein. Es reicht vom Central Park im Westen bis zur Lexington Avenue im Osten, von der 60. Strasse im Süden bis ungefähr zur 96. Strasse im Norden. Kein Herrschaftsgebiet, von dem grosse Einflüsse auf die Gesellschaft zu erwarten sind, würde man denken. Und doch haben die mütterlichen Statuskämpfe und Machtrituale in diesem kleinen Rechteck Manhattans im letzten Sommer die ganze Welt bewegt. Nicht weil die privilegierten Vollzeitmamas der Upper East Side, welche die Anthropologin und Autorin Wednesday Martin in ihrem soeben auf Deutsch erschienenen Buch «Die Primaten von der Park Avenue» beobachtet und minutiös beschreibt, repräsentativ für den Rest der Menschheit wären. Schliesslich leben die allermeisten Mütter nicht in Luxuswohnungen, haben keine Ehemänner mit Millioneneinkommen, besitzen keine Birkin Bags im Wert Mutterschaft im Fokus Rund um den Tag der Frau ist im März eine ganze Reihe von Büchern erschienen, die auf unterschiedliche Weise allesamt den Stand des «Mutterseins» in unseren postmodernen Gesellschaften untersuchen: • Alina Bronsky, Denise Wilk: Die Abschaffung der Mutter. Kontrolliert, manipuliert und abkassiert – warum es so nicht weitergehen darf. DVA, München 2016. 256 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 16.90. • Esther Göbel: Die falsche Wahl. Wenn Frauen ihre Entscheidung für Kinder bereuen. Regretting Motherhood. Droemer Knaur, München 2016. 224 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 20.–. • Wednesday Martin: Die Primaten von der Park Avenue. Mütter auf High Heels und was ich unter ihnen lernte. Berlin Verlag, Berlin 2016. 320 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 14.–. • Anne-Marie Slaughter: Was noch zu tun ist. Damit Frauen und Männer gleichberechtigt leben, arbeiten und Kinder erziehen können. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 352 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 20.–. Im Schatten der Erwerbsarbeit Tatsächlich sind heute Vollzeitmütter eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Wednesday Martin ist bei weitem nicht die einzige Autorin, die das Bemuttern als weibliche Last und Lust einer genaueren Betrachtung unterzieht. Gleich drei weitere Neuerscheinungen fragen nach den Voraussetzungen und Folgen mütterlicher Kümmerarbeit und beschreiben damit verbundenes Glück und Unglück. Da wären die Frauen, die sich in der Mutterrolle gefangen fühlen, die Esther Göbel im Buch «Die falsche Wahl» thematisiert. Vor Jahresfrist hatte eine wissenschaftliche Studie der israelischen Soziologin Orna Donath das Thema erstmals aufs Tapet gebracht und unter dem Hashtag #regrettingmotherhood für Zündstoff gesorgt. Denn auch wenn die Frau nicht mehr in der Mutterschaft aufgehen will und muss, so ist die weibliche Distanzierung vom eigenen Kind doch noch immer ein grosses Tabu. Da ist die Rechtfertigungsschrift mit dem Titel «Was noch zu tun ist» von Anne-Marie Slaughter, der Ex-Beraterin von Hillary Clinton. Als Slaughter 2012 aus familiären Gründen ihren Prestigejob gekündigt und in der amerikanischen Wochenzeitschrift «Atlantic» angeklagt hatte, dass Frauen eben doch nicht alles haben könnten, löste sie ein mittleres Beben in der Me- Frauen, die sich nicht entscheiden wollten zwischen Job und Kind, sind heute der emanzipierte Normalfall – sie haben alles gewollt und bekommen. Vorab alle Arbeit. dienlandschaft aus, das bis nach Europa ausstrahlte. Und dann ist da noch das Buch mit dem provokativen Titel «Die Abschaffung der Mutter», in dem die beiden deutschen Autorinnen Alina Bronsky und Denise Wilk beschreiben, wie Fortpflanzungsmedizin, Feminismus und Fremdbetreuung die Mutter langsam, aber sicher obsolet machen. So unterschiedlich die Titel sich dem Thema annähern, eines steht fest: Im Frühling 2016 steht nicht die Mutter als Berufstätige im Mittelpunkt der Diskussion, sondern die Mutter als Zentrum der Familie. Es geht den Autorinnen nicht um die Frage, wie Kind und Karriere vereinbar sind, sondern um die Feststellung, dass die weibliche Kümmerarbeit (in der Fachsprache «Carearbeit» genannt) auch nach einem halben Jahrhundert Emanzipation noch immer im Schatten der Erwerbsarbeit steht und nicht die Wertschätzung erhält, die sie verdient. Uterus oder Hirn Den Fokus auf die Gratispflegearbeit hat unser rasant ergrauender Planet bitter nötig. Insofern haben die vier Autorinnen die Zeichen der Zeit erkannt. Viel zu lange hat es gedauert, bis das Hegen und Pflegen endlich als menschliches Bedürfnis und gesellschaftliche Notwendigkeit erkannt und nicht mehr einfach als lästige Begleiterscheinung eines veralteten Rollenbildes ignoriert wurde. Diese Verspätung hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Mutter bis heute das ungeliebte Stiefkind des Feminismus geblieben ist. Die Frauenbewegung hat es zwar geschafft, ein neues Frauenbild zu etablieren, aber die Frau ▲ 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 eines Kleinwagens und erhalten für die erfolgreiche Aufzucht der Jungmannschaft keinen Hausfrauen-Bonus. Doch sie teilen mit den weiblichen Primaten der Park Avenue eine wichtige Erfahrung: Das Wirkungsfeld der Mutter ist in unserer postmodernen Gesellschaft bedroht, mütterliche Fürsorge und Hingabe ist keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern im Gegenteil zum Untersuchungsgegenstand mutiert, der wahlweise belächelt oder überhöht wird. Dass Wednesday Martin Feldforschung in der eigenen Nachbarschaft betreibt und ihre Geschlechtsgenossinnen durch die Brille der Anthropologin beschreibt, ist deshalb weniger originell als vielmehr symptomatisch für eine Zeit, in der Kinder im Lebenslauf einer Frau kein Imperativ mehr sind, sondern bloss noch eine immer weiter an den Rand der Fruchtbarkeit gedrängte Option. STOCK4B CREATIVE / GETTY IMAGES Die Frau als Empfangende, Schwangere und Gebärende – wird sie, wie einige Autorinnen argumentieren, von der modernen Medizin entbehrlich gemacht? 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Essay als Mutter wurde auf dem steinigen Weg in die Freiheit irgendwo aufs Abstellgleis gestellt. Denn Fürsorge, Pflege und der Dienst am Nächsten passen so gar nicht zur propagierten Unabhängigkeit und Selbstermächtigung der Frau. Hundertfach beschrieben Feministinnen die Falle, in die Mütter nach der Geburt der Kinder tappen. Simone de Beauvoir brachte es auf die berühmt gewordene Formel: «Mutterschaft ist die Versklavung der Frau durch die Gattung.» Aber keine setzte sich zum Ziel, die Falle zu entschärfen. Wer Mutter ist, kann nicht frei sein – so lautete die Bilanz der Frauenbewegung. Aushängeschilder wie Kate Millett, Germaine Greer, Simone de Beauvoir und Alice Schwarzer zogen die Konsequenzen und blieben kinderlos. Wer sich freiwillig in die Falle begibt, ist – besonders seit Erfindung der Pille – selbst schuld. So wurde die Frau zwar von der Mutterschaft als Schicksal befreit, aber die Mutter nicht vom Schicksal der statuslosen Gratisarbeitskraft. Die Avantgarde des Feminismus hat den Bauch dem Kopf geopfert und damit die Frau erneut auf ihr Geschlecht reduziert. Sie darf jetzt zwar wählen: Uterus oder Hirn. Beides aber geht noch immer nicht. Als Mutter wird die Frau geköpft. Ganz wie es Rousseaus Erben vormachten, als sie während der Französischen Revolution Madame Roland guillotinierten, weil sie sich erdreistet hatte, nicht nur Kinder, sondern auch politische Gedanken zu gebären. «Sie war Mutter, doch sie hatte die Natur vernachlässigt, indem sie sich über sie erheben wollte», hiess es in der Begründung ihrer Hinrichtung. Koalition für die Fürsorge Die Scharfrichter – meist sind es Richterinnen – gibt es heute noch. Verbal köpften sie etwa unter dem Hasthag #regrettingmotherhood die Frauen, die öffentlich gestanden, in der Mutterschaft nicht die erhoffte Erfüllung gefunden zu haben. Oder sie bezichtigen Mütter wie Anne-Marie Slaughter des Hochverrats am Feminismus, weil sie für das Wohl der Familie den Job an den Nagel hängen. Es scheint, dass eine ganze Frauengeneration in der Leerstelle herumtappt, die der Feminismus hinterlassen hat. Das Entweder-oder ist zur Falle für alle Frauen geworden. Mutterschaft wird aus der weiblichen Körperbiografie verdrängt. Die unbefleckte Empfängnis ist kein biblischer Mythos mehr, sondern wird zunehmend Realität. Filmfestival Berlin CiCae-Preis Heiner-Carow-Preis dings offen. Ihre Vorschläge gehen leider nicht über das Einbeziehen der Väter und die Forderung nach einer Entzauberung des «Karrierewahns» als nächsten Schritt der Emanzipation hinaus. Geburten als Dienstleistungen Die superreichen Mütter Manhattans halten auch Einzug ins US-Fernsehen: Bild aus der TV-Serie «Odd Mom Out». Die Mütter, die zu Hause geblieben sind, tragen heute als Fulltime-Entertainerinnen und Frühestförderungsbeauftragte für jede Matheaufgabe die Verantwortung, an der das Kind scheitert. Frauen, die lieber Karriere machen als Kinder, werden zu Rentenprellerinnen gestempelt und müssen sich für ihren Gebärstreik permanent rechtfertigen. Die Frauen aber, die sich nicht entscheiden wollten zwischen Job und Kind, sind heute der sogenannt emanzipierte Normalfall – sie haben alles gewollt und alles bekommen. Vorab alle Arbeit und allen Stress. Das ist die Ausgangslage für die Neuerscheinungen dieses Frühjahrs. Sie alle machen sich daran, das vergessene Kapitel der Emanzipation wenn nicht zu Ende zu schreiben, dann doch zu skizzieren. Für Anne-Marie Slaughter ist klar, dass die Frau zwar befreit und unabhängig geworden ist, dass die Frauenbewegung damit aber erst den halben Weg zurückgelegt hat. Bauch und Kopf, so plädiert sie, müssen endlich miteinander versöhnt werden, weil das Entweder-oder zu einem grossen Konflikt zwischen Ehrgeiz und Fürsorge geführt habe. Wie recht sie damit hat, zeigt ein simples Beispiel. Entscheidet eine Frau, für einen Job in eine andere Stadt zu ziehen, gilt das als mutig und neugierig. Dieselbe Entscheidung für einen Mann und die Familie zu treffen, löst heute nurmehr ein Stirnrunzeln aus und wird als Abhängigkeit interpretiert. «Um die Frauen gleichzustellen, haben wir sie von der Betreuungsarbeit als Lebensinhalt befreit und sie ins Berufsleben geschickt. Leider haben wir unterwegs die Betreuungsarbeit als sinntragende wichtige Arbeit entwertet», konstatiert Slaughter und fordert eine grosse Koalition für die Fürsorge. Wie diese konkret in unserem kapitalistischen System aussehen könnte, lässt sie aller- Anerkennung der Kümmerarbeit fordern auch Alina Bronsky und Denise Wilk in «Die Abschaffung der Mutter». Bloss fällt ihre Gesellschaftsdiagnose sehr viel düsterer aus. Für die beiden Autorinnen, die zusammen zehn Kinder geboren haben, hat die Emanzipation die Mütter nicht bloss links liegen lassen, sondern entbehrlich gemacht: Fortpflanzungsmedizin und Kaiserschnitt stellten die Mutter körperlich als Empfangende und Gebärende in Frage und die Fremdbetreuung verdränge sie als frühkindliche Bindungsfigur, argumentieren sie. «Die Reproduktionsmedizin etabliert Routinen, die eine mütterliche Beziehung als Nebeneffekt eines rein biologischen, geradezu veralteten Vorgangs abtun, den man mit technischen Mitteln leicht umgehen kann. Systematisch werden Familien geschaffen, in denen eine Mutter grundsätzlich nicht vorgesehen ist. Um die mutterlosen (Anm. d. Redaktion: etwa die homosexuellen) Familien nicht zu benachteiligen, wird die Mutter-Kind-Bindung zu einer Option unter vielen bagatellisiert.» Die Thesen von Alina Bronsky und Denise Wilk sind gewagt und bewusst überspitzt – manchmal schiessen die beiden Autorinnen auch über das Ziel hinaus, doch ihre gesellschaftliche Diagnose stimmt: Die nährende Mutter ist nicht mehr en vogue. Innerhalb einer einzigen Generation ist die Geburt von der Leistung der Frau zur Dienstleistung an der Frau umgewertet worden. Und die nächste Generation ist gerade dabei, auch die Schwangerschaft in ein Dienstleistungsverhältnis umzuformen: Die ersten Prominenten lassen sich ihren Kinderwunsch von einer Leihmutter verwirklichen und sorgen mit dem Portemonnaie für den Fortbestand ihrer Gene. Mutterschaft wird damit aus der weiblichen Körperbiografie verdrängt. Die unbefleckte Empfängnis ist kein biblischer Mythos mehr, sondern wird zunehmend Realität. Und sie zeigt das grosse und traurige Paradox der Emanzipation auf, das Esther Göbel in «Die falsche Wahl» skizziert: Während die Schere zwischen den Geschlechtern kleiner wird, vergrössert sie sich unter Müttern. Verliererinnen sind die Immigrantinnen, die ihre eigenen Kinder in fernen Ländern zurücklassen, um fremde Kinder zu gebären, wickeln und trösten. Es wäre traurig, wenn das vergessene Kapitel der Emanzipation damit endete, dass Mutterschaft nicht integriert, sondern einfach outgesourct wird. ● roSAlie THoMAss KAori MoMoi GRÜSSE AUS FUKUSHIMA Ab 24. MäRz iM Kino 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 der neue Film von Doris Dörrie www.filmcoopi.ch Kolumne LUKAS MAEDER Charles LewinskysZitatenlese Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neuer Roman «Andersen» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Gegenüber einem jüngeren Menschen kann man sich unsicher fühlen. Wie wollen wir denn heute wissen, ob er uns nicht in Zukunft übertreffen wird? Ist jedoch jemand inzwischen vierzig, fünfzig Jahre alt geworden und hat sich immer noch keinen Namen gemacht, dann braucht man vor ihm keine Scheu zu haben. Konfuzius Manchmal schreibt jemand sein allererstes Buch, und man denkt beim Lesen die ganze Zeit: Das kann doch nicht wirklich ein Erstlingswerk sein. Dazu schreibt der Mann viel zu perfekt. Zu souverän. Zu selbstsicher. «Die Leiden des jungen Werthers» (damals noch mit Genetiv-S) war so ein Erstlingsroman. Wahrscheinlich betraf die Selbstmordwelle, die das Buch ausgelöst haben soll, lauter MöchtegernAutoren, die den Vergleich mit ihren eigenen bescheidenen Talenten nicht ertrugen. Oder die «Buddenbrooks». Ein gerade mal Sechsundzwanzigjähriger bringt sein erstes Buch heraus, und schon schreibt Rainer Maria Rilke in einer Besprechung: «Man wird sich diesen Namen unbedingt notieren müssen.» Manchmal sind solche Erstlingsautoren nicht nur unverschämt gut, sondern auch unverschämt jung. Der Débutroman von Benjamin Lebert – in mehr als dreissig Sprachen übersetzt – erschien, als der Autor noch nicht einmal den Autoführerschein machen durfte. Kein Wunder, heisst der Titel «Crazy». Im Normalfall allerdings verläuft der Entwicklungsweg eines Schriftstellers weniger steil. Das erste Buch ist meistens noch mit unverdauten Empfindungen überladen, beim zweiten scheint vielen Autoren bereits der Stoff auszugehen, und erst mit dem dritten oder vierten entwickelt sich die handwerkliche Sicherheit, die zum Schreiben eben auch gehört. Ausser bei jenen Glückskindern, die das alles nicht nötig zu haben scheinen. Gerade habe ich wieder so ein Buch gelesen. Sein Verfasser ist zwar kein Teenager mehr, aber doch erst gerade so alt wie mein Sohn, und er versichert glaubhaft, dies sei tatsächlich ein Erstlingswerk. Dabei hat er die Stilsicherheit eines erfahrenen Schreibers, spürt mit professioneller Präzision, wann seine Geschichte einen Szenenwechsel braucht, und weiss Pointen zu setzen, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Entweder hat dieser Autor schon ein halbes Dutzend Romane unter Pseudonym verfasst, oder die Muse hat sich einfach in ihn verliebt. Wenn er nicht so sympathisch wäre, würde ich neidisch auf ihn werden. Ach ja: Er heisst Emanuel Bergmann und sein Buch «Der Trick». Sie sollten es lesen. Kurzkritiken Sachbuch Paul Veyne: Palmyra. Requiem für eine Stadt. C.H. Beck, 2016. 140 Seiten, Fr. 26.90. Philipp Schönthaler: Survival in den 80er Jahren. Der dünne Pelz der Zivilisation. Matthes & Seitz, 2016. 280 S., Fr. 31.90. Der Titel des schmalen Bändchens verheisst Trauer. Tatsächlich schreibt Paul Veyne, der 86-jährige Doyen der französischen Althistoriker, mit diesem Porträt der Wüstenstadt Palmyra eine Elegie. Vergleichbar mit Venedig zeigte die Oasenstadt am Rande der syrischen Wüste ein hybrides Stil- und Identitätsgemisch: Man sprach aramäisch, kleidete sich persisch, die Statuen waren aus Bronze, die Tempel hatten Fenster – und doch gehörte man gleichzeitig zur hellenistisch-römischen Weltkultur. Es geht um Luxushandel und Wüstenpisten, um Grabfiguren, eine Säulenstrasse, die keine war, und um vieles mehr in einer viertausendjährigen Geschichte. Die Zerstörung erwähnt Veyne mit keinem Wort. Nur gewidmet hat er sein Buch Khaled al-Asaad, dem syrischen Archäologen Palmyras, der im vergangenen August mit 81 Jahren vom IS ermordet wurde, weil er sich «für Götzenbilder interessierte». Die 80er: Das waren nicht nur Achselpolster und Föhnfrisuren, sondern auch Wurmgerichte und Lianenschwünge. «Survival» lautete das Wort des Jahrzehnts, das eine Unmenge von Überlebensratgebern aufkommen und eine beachtliche Zahl von halbnackten Männern irrwitzige Trainingseinheiten im Urwald absolvieren sah. Der Literaturwissenschafter Philipp Schönthaler geht in einer breit angelegten Untersuchung der Frage nach, wo der Survival-Boom jener Jahre herrührte. Einleuchtend ist, dass in Zeiten von Reaktorunfällen und Waldsterbeszenarien die Zivilisation zur Gefahr und Wappnung zum Gebot geredet wird. Paradox oder bezeichnend bleibt, dass sich die Survival-Manie in den 80ern parallel zu Sicherheit und Wohlstand ausbreitete und in Zeiten und an Orten, da sich Menschen tatsächlich ums Überleben sorgen, niemand an die Abfassung entsprechender Ratgeber denkt. Hubert Reeves, Yves Lancelot: Wie kommt das Blau ins Meer? C.H. Beck, 2016. 123 Seiten, Fr. 21.90. Hannah Arendt: Sokrates. Apologie der Pluralität. Matthes & Seitz, 2016. 108 Seiten, Fr. 16.90, E-Book 10.90. Warum ist das Meer blau, das Rote Meer viel salziger als der Atlantik und warum gibt es im Mittelmeer keine Gezeiten? Diesen und ähnlichen Fragen gehen der Astrophysiker Hubert Reeves und der verstorbene Ozeanograph Yves Lancelot gemeinsam auf den Grund. Ursprünglich gedacht als Antwort auf die vielen Fragen der eigenen Enkelkinder, bietet dieses Buch wohl auch so manchem Erwachsenen noch nicht bekannte Hintergründe und Informationen zu den grossen blauen Teichen dieser Welt. Die Faszination der beiden Wissenschafter für die Phänomene rund ums Meer – Gezeiten, Tsunamis, Vulkane und nicht zuletzt die Rolle der Ozeane in der Klimaentwicklung – ist ansteckend. Dies, weil die beiden Forscher neben Fakten und Zahlen vor allem auch ihre persönliche Beziehung zu diesen geheimnisvollen Gewässern schildern. Texte von Hannah Arendt setzen oft einiges voraus und sind deshalb nicht ganz einfach zu lesen. Dafür enthalten sie immer höchst eindrucksvolle Passagen. So verhält es sich auch mit diesem Vortrag über Sokrates, den die Philosophin 1954 an der University of Notre Dame in Indiana hielt und der nun erstmals auf Deutsch vorliegt. Er handelt etwa von der sokratischen Unterscheidung zwischen Meinung und Wahrheit, vom Gespräch unter Freunden über das Wesen der Freundschaft, von Platons Höhlengleichnis und schliesslich vom Staunen, aus dem die grossen Fragen hervorgehen und zu dem sie zurückführen. Wem der griechischen Zitate zu viele werden, der blättere zur vorzüglichen Einleitung von Matthias Bornmuth oder zu zwei Aufsätzen von Arendts einstigem Assistenten Jerome Kohn, der an ihre grosse Begabung zur Freundschaft erinnert. Kathrin Meier-Rust Simone Karpf Claudia Mäder Kathrin Meier-Rust 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Wirtschaft Alvin E. Roth, Schulabbrecher und Nobelpreisträger, tritt zur Verteidigung seiner Zunft an: Moderne Volkswirte erstellen keine abstrakten Modelle, sondern betätigen sich forschend als Lebensretter DerÖkonom, derdieWelt verbessert Alvin E. Roth: Wer kriegt was und warum? Bildung, Jobs und Partnerwahl: Wie Märkte funktionieren. Siedler, Hamburg 2016. 303 Seiten, Fr. 36.90, E-Book 23.90. Von Sebastian Bräuer Fast jeder Mensch würde wohl eine Niere spenden, um eine geliebte Person zu retten. Aber die Bereitschaft sinkt deutlich, wenn er nur die Möglichkeit hat, das Organ einer anonymen Datenbank anzubieten. Und selbst wenn ein Mensch seinem Arzt gegenüber signalisiert, er sei zu einer Spende bereit, ist längst nicht gesagt, dass seine Niere ihren Weg zu einem akut Bedürftigen in einer anderen Stadt findet. Denn solange mit der Transplantation viel Geld zu verdienen ist, mit der Vermittlung aber wenig, hat das Krankenhaus einen fatalen Anreiz, den potenziellen Spender zu verheimlichen: Es könnte darauf setzen, die Transplantation zu einem späteren Zeitpunkt selbst vorzunehmen. Die Folge sind vermeidbare Todesfälle. Alvin Roth hat in den USA nachhaltig Abhilfe geschaffen. Der Wirtschaftsprofessor, der heute an der Uni Stanford lehrt, baute in enger Zusammenarbeit mit Chirurgen eine Spenderdatenbank auf. Das Projekt startete 2004 im Bundesstaat New England. Mittlerweile ermöglicht es landesweit jedes Jahr hunderte Transplantationen. Jetzt laufen sogar Versuche, den Austausch zu internationalisieren. Roth löste ein Problem, an dem zuvor die Politik gescheitert war – auf Basis von spieltheoretischen Erkenntnissen. Schlüssel zum Erfolg waren auch finanzielle Anreize: Spitäler müssen wissen, dass sie für jede Niere, die sie 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 infolge geteilter Informationen abgeben, ausreichend Geld erhalten. Aber eben nicht nur. Transparenz herzustellen, Kooperation zu ermöglichen und altruistische Motive zu fördern, hat nicht zwingend mit Geld zu tun. Märkte so zu gestalten, dass Angebot und Nachfrage tatsächlich zusammenfinden können, ist Roths Lebensthema. In seinem Buch «Wer kriegt was und warum?» erklärt er, warum Märkte häufig nicht wie gewünscht funktionieren und wie sich das mit intelligentem Design verhindern lässt. Dabei sind «Märkte» in aller Regel mehr als Orte, an denen eine Ware gegen Geld getauscht wird. Roth geht beispielsweise auch der Frage nach, wie Studenten mit möglichst geringen Reibungsverlusten an Hochschulen vermittelt werden können. Oder wie sich Online-Partnerbörsen möglichst erfolgsversprechend gestalten lassen. Der Spieltheoretiker ist im Jahr 2012 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Trotzdem ist er ausserhalb von Fachkreisen weitgehend unbekannt geblieben. Er ist keiner der Ökonomen, die sich permanent zu jedem Thema von der Euro-Krise bis zum Klimawandel in den Medien äussern. Erfrischend unideologisch Dabei wäre es wünschenswert, dass Forscher wie der 64-Jährige in Debatten präsenter wären. Denn sie beweisen, dass Volkswirte tatsächlich praktische Ansätze zur Verbesserung der Welt bieten können – und nicht nur davon reden, was anders sein sollte. Die Ökonomie hat seit Jahren ein Imageproblem wie kaum ein anderer Wissenschaftszweig, was damit zu tun hat, dass die noch nicht einmal korrekte Unterstellung, niemand habe die Finanzkrise vorhergesagt, zum Allgemeingut geworden ist. Ähnlich häufig zu hören ist die Aussage, Ökonomen entwickelten Modelle auf Basis der wirklichkeitsfremden Grundannahme, Menschen handelten ausschliesslich rational und egoistisch, was ihre Schlussfolgerungen unbrauchbar mache. Dieser Vorwurf war eine Zeit lang auch durchaus berechtigt. Alvin Roth beweist mit seiner praxisnahen Forschung, dass es auch anders geht, und fordert Kollegen auf, psychologische Erkenntnisse ebenfalls nicht länger zu ignorieren. Er schreibt in seinem Buch: «In den letzten Jahren haben Verhaltensökonomen traditionelle ökonomische Annahmen auf den Kopf gestellt, weil sie erkannten, dass Menschen nicht gnadenlos berechnend und rein eigennützig handeln, und Marktdesigner vergeben grosse Chancen, wenn sie dies vergessen.» In der alten Ökonomie, die langsam von neuen Ansätzen ersetzt wird, gab es auf versagende Märkte allzu oft zwei diametral unterschiedliche Ant- DDP IMAGES nen. Er habe sein Frühstück ausfallen lassen, weil er befürchtete, durch Anblicke und Gerüche werde ihm schlecht. Was aber unbegründet gewesen sei, so fasziniert sei er gewesen. Laien gibt «Wer kriegt was und warum?» einen leicht lesbaren Einblick in eine Wissenschaft, in der ein fundamentaler Wandel eingesetzt hat. An einigen Stellen hätte das Lektorat darauf bestehen können, gewisse Wiederholungen zu streichen. Sie stören den Lesefluss aber nur minimal. worten. Ein Lager sah darin eine Rechtfertigung für staatliche Interventionen. Das andere Lager argumentierte, Preise seien gerade wegen der staatlichen Einmischung verzerrt. Roth entzieht sich der schlichten Kategorisierung. Marktdesign bedeutet für ihn, Bedingungen zu schaffen, damit Handel funktionieren kann. «Einige Märkte funktionieren deshalb schlecht, weil sie noch gänzlich unreguliert sind, während andere unter nicht sachgerechter Regulierung leiden», schreibt er. Das mag naheliegend tönen, ist für einen Ökonomen aber bereits bemerkenswert unideologisch. Am Ende des Buches geht Roth auf die oft erbittert geführte Debatte zwischen Interventionisten und Laissez-faire-Kapitalisten ein, indem er süffisant den österreichischen Ökonomen Friedrich August von Hayek zitiert, einen Vordenker des Liberalismus. Schon Hayek sei der Meinung gewesen, dass funktionierende Märkte Eigentumsrechte voraussetzen, hält Roth fest. Hayek habe 1944 in sei- nem Manifest «Der Weg zur Knechtschaft» geschrieben: «Man könnte das Verhalten des Liberalen gegenüber der Gesellschaft mit dem des Gärtners vergleichen, der eine Pflanze pflegt und der zur Schaffung der für sie günstigen Wachstumsbedingungen möglichst viel über ihren Bau und ihre physiologischen Funktionen wissen muss.» Das liest sich Jahrzehnte später wie eine Begründung, warum spieltheoretische Experimente, in denen Verhaltensweisen von Menschen erforscht werden, das Fundament der Wirtschaftslehre sein sollten. Nobelpreisträger Roth, der einst die High School abgebrochen hatte (was seine steile akademische Karriere nicht behindern sollte), verzichtet in seinem Buch vollständig auf fachspezifische Begrifflichkeiten und mathematische Formeln. Stattdessen erzählt er unterhaltsam und anekdotenreich von Projekten wie der Nierendatenbank. Beispielsweise beschreibt er den Stolz, den er verspürte, als er die Möglichkeit erhielt, einer Transplantation beizuwoh- Märkte funktionieren, wenn Angebot und Nachfrage zusammenfinden. Das gilt auch im Bereich der Transplantationsmedizin, den Alvin Roth untersucht hat. Vom Zahnarzt übertrumpft Das Buch ist ein Plädoyer, die Ökonomie wieder ernst zu nehmen. Platte Vorurteile, das Fach klammere sich an überholte Modelle, ärgern Roth. Einmal schrieb er dem britischen Wochenmagazin «The Economist» einen erbosten Leserbrief, als dieses behauptete, die Ökonomie sei keine Wissenschaft. «Unsere heutige Medizin wird Ihren Enkeln primitiv erscheinen», sagte er im Januar im Interview mit der NZZ am Sonntag. «Was nicht bedeutet, dass man nicht heute schon zum Arzt gehen sollte, wenn man krank ist. Genauso sollten wir auch heute schon einen Ökonomen um Rat fragen, wenn eine Wirtschaftskrise ausbricht.» Wie wichtig Alvin Roth für die Fachwelt werden könnte, verdeutlicht die Rezension des kanadisch-amerikanischen Wissenschafters Alex Tabarrok im «Wall Street Journal». «Es war schmerzhaft, als sich selbst meine Mutter zu fragen begann, ob Ökonomen weniger brauchbar seien als Zahnärzte», schreibt Tabarrok in dem US-Leitmedium. «Wer kriegt was und warum?» ist das Buch, das ich ihr zur Ehrenrettung meines Berufes geben sollte.» ● 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Kultur Der Literaturwissenschafter Carlos Spoerhase würdigt die Dreidimensionalität der Bücher Vom Wert der Wälzer Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne. Wallstein, Göttingen 2016. 76 Seiten, Fr. 19.90. Von Florian Bissig Bücher nehmen Raum ein. Für diese Wahrheit wird kaum ein Leser dieser Seiten Belege brauchen. Doch der Berliner Literaturwissenschafter Carlos Spoerhase konstatiert, seine Zunft schenke ihr zu wenig Beachtung. Ausführlich zeigt er in seinem Essay, wie die Modernisten die ersten zwei Dimensionen des Buchs untersucht hatten. Für Paul Valéry verband sich bei der Rezeption eines Buchs die schrittweise, lineareLektüremiteiner«überblickshaften Oberflächenlektüre» der Buchseite. Die grafischen Innovationen der Werbebranche seiner Zeit sah er als Chance. Nicht so Walter Benjamin, der im Gewimmel von farbigen Schriftzügen im öffentlichen Raum das Ende der Buchkultur sah. Der dritten Dimension des Buchs schenkten die Modernisten keine Beachtung, und laut Spoerhase tut dies die Wissenschaft bis heute nicht. Er geisselt einen «fundamentalen Zweidimensionalismus der bisherigen Beobachtung des Buches». Daher erstaunt es, dass Spoerhase selbst nicht über das Offensichtliche hinausgeht. Er beschränkt sich auf den Hinweis, dass die besondere Dicke und Schwere von grossen Romanen selbst eine Botschaft ist. Das schiere Volumen von Wälzern wie «Moby-Dick» oder «Infinite Jest» markiere den Anspruch der Werke auf totale Welthaltigkeit. Gewiss wahr, doch was ist mit der räumlichen Dimension des Buchs überhaupt? Die zeitliche Struktur der Buchlektüre, die «Kulturtechnik» des Hantierens mit Büchern – das alles trifft ja nicht nur auf den «Klopper» von 1000 Seiten zu. Ob seiner Wälzerhuberei versäumt es Spoerhase, an den aktuellen Kontext seines Themas anzuknüpfen: Was geht bei der Überführung von Büchern in zweidimensionale Digitalisate verloren? Gemäss Spoerhase nichts weiter, könnte man meinen, ausser der Tatsache, dass man dicke Bücher als Türstopper verwenden kann. Es bleibt uns, seinen Essay als Türstopper aufzufassen, der den Durchgang zur von ihm geforderten gründlichen Analyse des räumlichen Charakters von Büchern freihalten soll. Doch dazu könnte sich Spoerhases Bändchen als zu flach erweisen. ● Zeitgeschichte Wie zwischen 1871 und 1945 hat Deutschland heute eine «halbhegemoniale» Stellung inne, befindet Hans Kundnani. Er wirft dem Land vor, seine Machtposition schlecht zu nutzen ZurückindieZukunft? Von Victor Mauer Ein wiedervereinigtes Deutschland, so notierte Margaret Thatcher 1993 in ihren Memoiren, «ist schlichtweg viel zu gross und zu mächtig, als dass es nur einer von vielen Mitstreitern auf dem europäischen Spielfeld wäre». Nicht ein «europäischer Superstaat», sondern eine klassische Politik des «Gegengewichts» sollte die Deutschen deshalb einhegen. François Mitterrand teilte die Sorgen, hatte aber eine andere Lösung parat. «Die Macht Deutschlands», so hatte ihm sein Berater Jacques Attali aufgeschrieben, «beruht auf seiner Wirtschaft, und die DMark ist die deutsche Atombombe.» Die «deutsche Atombombe» mit Hilfe einer europäischen Währungsunion zu entschärfen, sollte nach französischen Vorstellungen dazu beitragen, das strukturelle Problem der materiellen Stärke Deutschlands und seiner politischen Rolle in Europa zu lösen. Heute, ein Vierteljahrhundert später, ist die «deutsche Frage» zurück auf der europäischen Agenda. Die Währungsunion hat das Dilemma nicht gelöst, sondern verschlimmert. Wie zwischen 1871 und 1945, so die an den Historiker Ludwig Dehio angelehnte These von Hans Kundnani, hat Deutschland wieder eine «halbhegemoniale» Stellung in Europa inne – allerdings nicht in geopolitischer, sondern in geoökonomischer Form. Das Land ist zu schwach, um den 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 Schwarz-Rot-Gold statt Sternenbanner: In Hans Kundnanis Augen drückt Deutschland dem vereinten Europa den Stempel seiner eigenen Präferenzen auf. PRISMA BILDAGENTUR Kontinent zu beherrschen, und zu stark, um sich einzuordnen. Kundnanis Befund ist weder falsch noch neu; aufschlussreich ist aber die Begründung, die der Senior Fellow beim German Marshall Fund in Berlin liefert. Spricht er zunächst noch davon, die Eurokrise sei durch die Interaktion von Ländern im Rahmen einer schlecht konstruierten Gemeinschaftswährung verursacht worden, wird Deutschland zunehmend zum Universaljoker, um die Malaise zu erklären. Anders als die USA als westeuropäischer Hegemon nach 1947 habe es seine Macht in der Eurokrise nicht klug genutzt. Statt den eigenen Handelsbilanzüberschuss zu verringern, Inflation zuzulassen und als «consumer of last resort» zu fungieren, habe es anderen mit dem Schlachtruf nach Haushaltsdisziplin, Schuldenabbau und Strukturreformen die eigenen Präferenzen aufgezwung e n . Hans Kundnani: German Power. Das Paradox der deutschen Stärke. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C.H. Beck, München 2016. 207 Seiten, Fr. 27.90. Kurzum: Deutschland habe in Europa nicht für Stabilität gesorgt, sondern Instabilität gesät. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass der Autor mit therapeutischem Eifer auf paläo-keynesianische Positionen und die Vergemeinschaftung der Schulden setzt, um der vermeintlichen «Wettlaufdynamik der Koalitionsbildung» und der «gemeinsamen Front» gegen Deutschland gerade noch rechtzeitig Einhalt zu gebieten. Dass die Eurozone aus eigenständigen Staaten besteht, die sich im Rahmen der Gemeinschaft einmal verbindliche Regeln auferlegt haben, wird dabei ebenso nonchalant beiseitegeschoben wie die Tatsache, dass die im Kontext der Krise erzielten Vereinbarungen durchaus das Bemühen widerspiegeln, die unterschiedlichen Bedürfnisse auszutarieren. Die zentrale These vom Paradox der deutschen Stärke ist eingebettet in den Versuch, die grossen Linien der deutschen Aussenpolitik von 1871 bis heute pointiert herauszuarbeiten. Das meiste ist bekannt, manches originell, einiges überholt, anderes verzerrt, wieder anderes schlicht falsch. Herausgekommen ist, im besten Sinne des Wortes, eine Streitschrift. Zum Nachdenken regt sie an, und Widerspruch ist garantiert. Dass die deutsche Geschichte noch nicht zu Ende ist, wie Kundnani in Anlehnung an einen Bestseller von Francis Fukuyama festhält, hat die Aussagekraft einer leeren Phrase. Gerade deshalb hätte man sich aber gewünscht, er hätte seinen 2014 veröffentlichten Text für die deutsche Ausgabe nicht nur um ein mäanderndes Nachwort ergänzt. Ansatzpunkte liefert die deutsche Aussenpolitik seit dem letzten Sommer jedenfalls zuhauf. ● Geschichte Alabama, Ghana, Suez, Ungarn: Weltweit erhoben sich 1956 die Menschen für ihre Freiheit. Simon Hall verbindet die Bewegungen zu einem packenden Buch EinJahrdesinbrünstigen Aufbegehrens Simon Hall: 1956. Welt im Aufstand. Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 487 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 28.90. Von Kathrin Meier-Rust KEYSTONE-FRANCE / GAMMA-KEYSTONE / GETTY IMAGES «1946» (von Victor Sebestyen) erklettert gerade die Bestsellerliste, «1913» (von Florian Illies) war eines der bestverkauften Sachbücher der vergangenen Jahre. Geschichtsschreibung pflegte sich immer sowohl geografisch als auch zeitlich einzugrenzen, wie könnte sie sonst den uferlosen Strom der Jahre und Fakten bewältigen. Mit der Globalisierung der Welt hat sich dieses Konzept aber in einer merkwürdig paradoxen Weise verändert: Die neue Ausweitung des geografischen Raumes auf die ganze Welt geht einher mit einer Verkleinerung des Zeitraumes zu einem Punkt hin, zum Punkt eines einzigen Jahres nämlich. Auftakt mit Brandanschlag Man spricht inzwischen vom «seitlichen Blick» auf die Geschichte, von einer «horizontalen» statt der üblichen vertikalen Darstellung. Wie in einem Brennpunkt soll sich in einem breit dargestellten Jahr der Lauf der Geschichte bündeln. Und dieser Brennpunkt soll die historische Entwicklung für Laien besser erhellen als die überfordernde vertikale Längssicht. Ist das wirklich so? Über ein Dutzend Bücher mit einer Jahreszahl als Titel sind jedenfalls im vergangenen Jahrzehnt erschienen, und mit etwas Skepsis nimmt man nun auch noch «1956» zur Hand. Der britische Amerika-Historiker Simon Hall rechtfertigt seine Wahl mit dem «kollektiven Drama dieses Jahres», welches heute in Vergessenheit geraten sei: Ganz im Gegensatz zum eher überdramatisierten Jahr 1968 gälten die 1950er heute generell als glanzlose, von Konformität und Konsum erstickte Zeit – während sich in Wahrheit gerade damals die Menschen weltweit zu einem «monumentalen Kampf» erhoben, der «die Nachkriegswelt von Grund auf verändern sollte». In der Schweiz erinnert die Jahreszahl 1956 vor allem an den Ungarn-Aufstand. Hall beginnt seine Schilderung des Jahres jedoch in Montgomery, Alabama, mit einem Brandanschlag auf das Haus des damals 27-jährigen Pfarrers Martin Luther King am 30. Januar. Die Anfänge der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung mit dem Busboykott in Montgomery und dem gewalttätigen Widerstand gegen die Integration von schwarzen Schülern in den Südstaaten wird zu einem grossen Strang dieses Buches. Kunstvoll verflicht ihn Hall mit zwei anderen. Einerseits mit dem Aufbegehren gegen die Sowjetherrschaft in den Ländern des Obstblockes, Das Jahr 1956 war u. a. geprägt von Unabhängigkeitskämpfen gegen die Kolonialmächte. In Senegal (Bild vom 8.1.1956) etwa erhielten nach Streiks und Revolten alle erwachsenen Bürger das Stimmrecht. das durch die «Geheimrede» Nikita Chruschtschows vom 25. Februar in Moskau ausgelöst und mit der brutalen Niederwerfung des Ungarn-Aufstandes im November (vorläufig) beendet wurde. Und andererseits mit dem Unabhängigkeitskampf gegen die Kolonialmächte in Afrika – insbesondere in Algerien, Ghana, Ägypten und Südafrika –, der in der Suezkrise, ebenfalls Anfang November 1956, einen ebenso dramatischen wie symbolischen Höhepunkt fand. Glänzender Erzähler Ein schönes Kapitel widmet Hall auch dem Rock’n’Roll, jener «Dschungelmusik», die damals zu ersten TeenagerKrawallen führte und den Angriff der westlichen Jugend auf das Establishment einläutete. Und er beschliesst das Buch in Kuba, wo am 2. Dezember 1956 ein völlig überladener alter Kahn namens Granma ein paar seekranke junge Männer an Land brachte. Just im Jahr, als die Sowjetunion durch ihr brutales Vorgehen in Osteuropa den Führungsanspruch für jede idealistische revolutionäre Bewegung verlor, sollten diese Männer der linken Utopie neuen Glanz und ungeahnte Attraktion verleihen. Der Historiker Simon Hall ist ein glänzender Erzähler, der es immer wieder aufs Neue versteht, einzelne dramatische Episoden in den Gang der Ereignisse einzuordnen und mit erhellenden Rück- und Ausblicken zu erklären. Geschmeidig wechselt er zwischen den Schauplätzen, folgt gleichzeitig der Chronologie des Jahres und erhöht die Spannung mit Cliffhangern, die einen zum Weiterlesen zwingen. Immer wieder zieht Hall jene erhellenden Querverbindungen und Parallelen, um die es ihm letztlich in diesem Buch geht, weil er sie für das zentrale Element des Jahres 1956 hält: So wie King seinen Kampf auch als Stärkung der amerikanischen Demokratie im Kalten Krieg verstand, sahen sich ungarische und algerische Freiheitskämpfer solidarisch mit dem Bürgerrechtskampf. «Die Bemühungen um Unabhängigkeit in Afrika, Ungarns Todeskampf gegen den Kommunismus und das entschiedene Drängen der amerikanischen Neger, als Bürger (…) anerkannt zu werden, sind untrennbar verbunden» – so bilanziert nicht Simon Hall das Jahr, sondern schon Martin Luther King im Januar 1957. 60 Jahre danach erstaunt vor allem die schier unglaubliche Antiquiertheit der offen rassistischen und kolonialen Rhetorik, mit der machtpolitische Interessen verteidigt und brutalste Gewalt damals gerechtfertigt wurden. Auch wer politische Korrektheit nicht mag, steht heute fassungslos vor diesem Reden und Denken. Ähnlich weit weg erscheint von heute gesehen aber auch die idealistische Inbrunst, mit der damals die Demonstranten sangen: ob Marseillaise, Internationale oder Gospel Song. Die Desillusionierung, die seither stattgefunden hat, mag nötig gewesen sein, doch «1956» führt uns auch die Entpolitisierung, den Zynismus, den Materialismus und nackten Egoismus unserer eigenen Zeit vor Augen. Ein Buch mit einer Jahreszahl als Titel kann also tatsächlich die historische Entwicklung erhellen – wenn es denn so mitreissend erzählt und analysiert wie «1956». ● 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Soziologie Hartmut Rosa analysiert den Menschen als Beziehungswesen und stellt fest, dass die «Beschleunigung» den Aufbau von glücklichmachenden Bindungen behindert WiedasLebengelingenkönnte Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp, Berlin 2016. 816 Seiten, Fr. 45.90, E-Book 37.–. Von Walter Hollstein Hartmut Rosa hat sich viel vorgenommen. Der Soziologe aus dem badischen Lörrach, der seit längerem in Jena lehrt, formuliert eine ganz neue «Soziologie der Weltbeziehung». Dabei hat er den Anspruch «einer umfassenden Rekonstruktion der Moderne» als gesellschaftstheoretischen Grossentwurf. Aber es ist nicht nur das. Rosa verspricht auch Zukunft und Optimismus. Das ist bemerkenswert. Die soziologische Debatte der Moderne wird von negativen Gesellschaftsbildern bestimmt. Danach leben wir «im Niedergang», in einer «Risikogesellschaft», sind «zugerichtete Menschen» in «Sklavenmentalität», unser Selbst ist erschöpft, und wäre es nach Jean Baudrillard gegangen, hätte schon «das Jahr 2ooo nicht mehr stattgefunden». Da will Rosa Kontrapunkte setzen, die wieder Orientierung und Sinn ermöglichen sollen. Doch damit nicht genug. Rosa offeriert das Heilsversprechen eines besseren Daseins: «Gelingendes Leben» will er skizzieren. Was wird davon eingelöst? Leiden am Leistungsdruck Als Schlüsselbegriff zu allem präsentiert Rosa die «Resonanz» – so auch der Titel seines neuen Buches. Nun ist dieser Ansatz zunächst einmal nicht besonders revolutionär. Der Volksmund wusste ja schon immer: «Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.» So simpel ist es bei Rosa selbstverständlich nicht: «Resonanzen sind Ergebnis und Ausdruck einer spezifischen Form der Beziehung zwischen zwei Entitäten, insbesondere zwischen einem erfahrenden Subjekt und begegnenden Weltausschnitten.» Das meint, dass sich «gelingendes Leben» nicht in Form von Ressourcen und Erworbenem messen lässt, sondern von unserer Beziehung zur Welt abhängig ist. Von diesem Austausch leben wir letztlich. Resonanz ist insofern eine Art Gleichgesinnung mit der natürlichen Aussenwelt und den anderen Menschen. Rosa präsentiert ein beeindruckendes Spektrum von Materialien, die diese Weltbeziehungen belegen: angefangen beim Atmen, Essen oder Lachen über Familie, Freundschaft, Politik und Konsum bis zu Natur, Kunst und Geschichte. Die derart vielfältigen Weltbeziehungen sieht Rosa nun aber auf fundamentale Weise gestört. Bei der Formulierung dieser Diagnose greift er auf seine Gesellschaftskritik zurück, die er schon früher in seiner ebenso wichtigen wie innovativen Kritik der «Beschleunigung» herausgearbeitet hat. Exakt diese Dynamik erschwere unsere aktuelle Weltbeziehung. Die moderne Gesellschaft müsse sich «immerzu ausdehnen, (...) wachsen und innovieren, Produktion und Konsumtion steigern (...), um ihren formativen Status quo zu erhalten». Dieser kontinuierliche Leistungsdruck beeinträchtige zunehmend die «Weltbeziehung» der Menschen, was sich für Rosa konkret «an den grossen Krisentendenzen der Gegenwart» festmachen lässt: ökologische Krise, Demokratiekrise und Psychokrise. In ihrer Gesamtheit untergraben diese Krisen die menschlichen Möglichkeiten gelingender Resonanz: «Entfremdung wird dann zum Grundmodus der Weltbeziehung.» Was tun? Bis Seite 725 entwirft Rosa eine ebenso faszinierende wie stellenweise apokalyptische Gesellschaftskritik, in die er auch zum Schluss seines grossen Werkes wieder zurückfällt. «Und wo bleibt das Positive?», liesse sich mit Erich Kästner fragen. Das Wenige, das Rosa da skizziert, entbehrt des konkreten Gebrauchswerts. Symptomatisch dafür ist denn auch Rosas Schlusssatz: «Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zen- traler Massstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und Antworten.» Nach der facettenreichen und beeindruckenden Gesellschaftskritik, die Rosa vorlegt, mutet ein solcher Satz ausgesprochen naiv an – wenn nicht sogar ärgerlich. Die Versprechen eines optimistischen Gesellschaftsentwurfs und der Darlegung dessen, was für die Menschen «gelingendes Lebens» ist, bleiben damit unerfüllt. Verarmung der Soziologie Zudem stellt sich die Frage nach dem historischen Stellenwert von Rosas Theorie. Rosa wirft der bisherigen Soziologie vor, die «Bezogenheit» des Menschen nicht zur Genüge zu berücksichtigen. Das mag in gewisser Weise stimmen. Umgekehrt lässt sich fragen, ob die «Radikalisierung der Beziehungsidee», die Rosa vornimmt, nicht dazu führt, konkrete gesellschaftliche Bedingungen nicht ernst genug zu nehmen, sie schliesslich auch zu entpolitisieren. Zudem könnte die Reduktion auf die «wechselseitige Bezogenheit» von «Subjekt und Welt» eher eine Verarmung der Soziologie bedingen gegenüber «alten» und spannenden Ansätzen von der Dialektik zwischen menschlichem Verhalten und gesellschaftlichen Verhältnissen oder den «alltäglichen Lebenswelten», wie sie Schütz und Luckmann beschreiben. Diesen wirft Rosa vor, zu rationalistisch zu argumentieren. Das kann sein; aber auch Rosa verbleibt letzlich in einem recht engen Netz von Rationalismus. So nimmt er viele Resonanzansätze – jenseits des Mainstreams – gar nicht erst zur Kenntnis. Bei aller Hochachtung vor Hartmut Rosas Werk wird man fragen müssen, ob er nicht ein wenig von seiner Stoffflut erdrückt worden ist. Sein Schlusswort als schon prophylaktische «Verteidigung der Resonanztheorie gegen ihre Kritiker» wirkt jedenfalls nicht sonderlich souverän. ● Walter Hollstein ist emeritierter Professor für politische Soziologie Wir begleiten Sie vom leeren Blatt bis zum eigenen Buch. www.co-libri.ch 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 Holocaust Das unlängst entdeckte Tagebuch einer jungen Jüdin protokolliert das Grauen in den Lagern Unter Todesgefahr gegen das Vergessen anschreiben Klaartje de Zwarte-Walvisch: Mein geheimes Tagebuch. Aus dem Niederländischen von Simone Schroth. C.H. Beck, München 2016. 202 Seiten, 6 Abb., Fr. 28.90, E-Book 15.–. Von Klara Obermüller Ein Buch wie dieses hat 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wohl niemand mehr erwartet. Autorinnen wie Anne Frank und Etty Hillesum, wie Grete Weil und Jessica Durlacher haben in Tagebüchern und Romanen eindrücklich beschrieben, wie es den Juden erging im besetzten Amsterdam und später in Westerbrok, von wo sie direkt in die Vernichtungslager von Bergen-Belsen, von Auschwitz und Sobibór deportiert wurden. Mit neuen Einsichten war kaum mehr zu rechnen. So dachte man und irrte sich gründlich. Vor ein paar Jahren stiessen zwei holländische Forscher im Museum für jüdische Geschichte in Amsterdam auf das Tagebuch einer unbekannten jungen Frau, die am 22. März 1943 von «Judenjägern» aufgegriffen und am 4. Juli vom Konzentrationslager Vught aus nach Westerbrok gebracht worden war, wo sich ihre Spur verlor. Das namenlose Dokument war dem Museum von der Tochter des Holocaust-Überlebenden Salomon de Zwarte übergeben worden. Woher es kam, wusste sie nicht. Wie so viele, die der Vernichtung entkommen waren, hatte auch ihr Vater nie über seine Vergangenheit gesprochen und das Geheimnis um das Tagebuch mit ins Grab genommen. Dank den Recherchen der holländischen Forscher konnte das Geheimnis nun aber gelüftet werden: Die Tagebuchschreiberin war Klaartje de ZwarteWalvisch, geboren am 6. Februar 1911 in Amsterdam, ermordet in Sobibór am 16. Juli 1943. Vom Tag der Verhaftung bis unmittelbar vor dem Abtransport nach Polen hatte sie ihre Erlebnisse schriftlich festgehalten und die Aufzeichnungen in letzter Minute ihrem Schwager Salomon de Zwarte übergeben, der sie in Westerbrok zum Zug begleitet hatte. Das «geheime Tagebuch» der Klaartje de Zwarte-Walvisch ist kein Dokument subtiler Introspektion, sondern ein unter Zeitdruck und Todesgefahr geführtes, sprachlich recht ungeschliffenes, aber dafür umso glaubwürdigeres Protokoll des Grauens, geführt in der Hoffnung, «dass alles, was ich hier aufgeschrieben habe, einmal die Aussenwelt erreicht». Lange sollte es dauern, bis der Wunsch der Tagebuchschreiberin in Erfüllung ging. Doch jetzt liegt das Buch nicht nur in Holland, sondern auch im deutschsprachigen Raum vor und gibt einer längst vergessenen jungen Jüdin aus Amsterdam ihren Namen und ihre Stimme zurück. Wie Ad van Liempt in seinem Editionsbericht und Leon de Winter in seinem Nachwort betonen, hatte die Tagebuchschreiberin Klaartje de ZwarteWalvisch keine literarischen Ambitionen. Ihre Eintragungen weisen weder die Intimität des Tagebuchs von Anne Frank noch die spirituelle Tiefe der Aufzeichnungen von Etty Hillesum auf, aber sie sind von einer Schärfe der Beobachtung und einer Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die sie einmalig machen. Historisch bedeutsam werden sie überdies dadurch, dass es über Vorgänge wie das Verhalten der Judenjäger oder die Zustände im Lager Vught bisher kaum Berichte gab, und schon gar nicht so an- schauliche, wie es derjenige der Klaartje de Zwarte-Walvisch ist. Eine Frau, die so schreibt wie sie, hat nur zwei Ziele vor Augen: Sie will Zeugnis ablegen, und sie will am Leben bleiben. Obwohl von zarter Konstitution, ist Klaartje de Zwarte-Walvisch bis zuletzt eisern auf ihren Stolz und ihre Würde bedacht. Sie tut es, indem sie ihre Peiniger mit Verachtung straft und sich ihren Leidensgenossen gegenüber die seltene Gabe des Mitgefühls bewahrt. «Ich selbst und tapfer» will sie bleiben, so heisst es einmal. Das Überleben war ihr nicht vergönnt. Der Wunsch aber, unter unmenschlichen Bedingungen ein Mensch zu bleiben, der ging in Erfüllung. ● Kunstgeschichte Selbstporträts von Frauen Selbstbildnisse haben eine Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Die Kunsthistorikerin Frances Borzello widmet sich im vorliegenden Buch den Selbstporträts von Frauen. Dabei geht sie der Frage nach, wie sich Selbstbilder von weiblichen Künstlerinnen von jenen ihrer männlichen Kollegen unterscheiden. Borzello erklärt, warum weibliche Selbstporträts im 16. Jahrhundert v. a. in Form von Musikerinnenbildern entstanden und sich Ende des 18. Jahrhunderts als Mütterdarstellungen manifestierten. Ein tiefgreifender Wandel fand im 20. Jahrhundert statt, das neue Themen wie Sexualität oder Schmerz aufgriff. Neben Gemälden zeigt das Buch auch fotografische Selbstporträts, die, wie bei Vivian Maier, oft aus Spiegelungen entstanden. Der Spiegel galt als Symbol für die Suche nach der Wahrheit unter der Oberfläche, und die Amerikanerin, deren viele Fotos erst 2013 entdeckt wurden, drückte auf den Auslöser, wann immer sie sich in Schaufenstern, Aussenoder Wandspiegeln entgegenblickte. Simone Karpf Frances Borzello: Wie ich mich sehe. Frauen im Selbstporträt. Brandstätter, Wien 2016. 272 Seiten, 180 Farbabbildungen, Fr. 42.90. 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Wirtschaft Wie steht es um den Standort Schweiz? 25 Unternehmer beantworten heikle Fragen Hohe Qualität, tiefe Verunsicherung sophin Katja Gentinetta und die Sozialwissenschafterin Heike Scholten, beide in der Politikberatung tätig, haben Vertreter von 13 Grossunternehmen, zehn Kleinunternehmen und zwei Start-ups aus verschiedenen Branchen zu ihrem Verhältnis zur Schweiz befragt. Dabei wollten sie ergründen, ob es eine besondere Bindung zum Land gibt, die über das rein wirtschaftliche Kalkül hinausgeht. Noch schneidet die Schweiz in den Rankings gut ab. Die Befragten lobten Tugenden wie die hohe Arbeitsmoral, die Qualität der Arbeit, die Konsensbereitschaft und das liberale Denken. Doch die Wertepfeiler beginnen Rost anzusetzen. Eine zunehmende Kluft zwischen Stimmvolk, Wirtschaft und Politik kommt zur Sprache. Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Arbeitskräften aus Europa könnten viele Katja Gentinetta, Heike Scholten: Haben Unternehmen eine Heimat? NZZ Libro, Zürich 2016. 272 Seiten, Fr. 43.90. Von Susanne Ziegert Wird die Schweiz im Jahr 2050 nur noch als «Weide voller Kühe» glänzen oder weiterhin ein Innovationsstandort sein? Dieser Gegensatz, den ein Schweizer Manager formuliert, ist überspitzt. Doch er drückt die Sorge vieler Unternehmer um die Zukunft des Standortes aus. Vor allem die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und der Frankenkurs trüben die Wachstumsaussichten. Das geht aus den Porträts in «Haben Unternehmen eine Heimat?» hervor, die aus Interviews mit 25 Unternehmern und Managern verdichtet wurden. Die Philo- Chefetagen zur Suche nach alternativen Standorten motivieren. Einige der Unternehmer ziehen andere Schlüsse und wollen sich künftig stärker in der Schweiz engagieren, um ihren Bedürfnissen Gehör zu verschaffen. Dies ist ganz im Sinne der Autorinnen, die von den CEOs fordern, sich als «Citoyens» zu begreifen, die aktiv in den Diskurs eingreifen. Die Porträts bieten Einblick in die Gedankengänge wichtiger Unternehmer. Dabei mag der Leser aus Neugier bedauern, dass sie anonymisiert wurden. Dadurch konnten sich die Befragten jedoch ungewohnt offen über heikle Fragen wie mögliche Verlagerungen äussern. Besonders lehrreich ist der erste Teil des Buches, der den Heimatbegriff historisch einordnet und daran erinnert, dass die Schweizer «Heimat» bis ins 19. Jahrhundert ein Auswanderungsland war. ● Essay Der US-Philosoph Harry G. Frankfurt plädiert für weniger Gleichheit und mehr Suffizienz Genug ist genug Harry G. Frankfurt: Ungleichheit. Suhrkamp, Berlin 2016. 109 Seiten, Fr. 14.90, E-Book 12.–. Von Urs Rauber Harry G. Frankfurt, emeritierter Professor für Philosophie der Universität Princeton, gilt als wissenschaftliches Enfant terrible. Seine Analyse des Begriffs «Bullshit» wurde in den USA zum Bestseller. In seinem neuen Werk mischt sich der Ethiker lustvoll in die durch Thomas Piketty angeregte Debatte um ökonomische Ungleichheit ein. Seine Entgegnung ist brillant und provokativ, seine These schnörkellos: Ökonomische Ungleichheit als solche ist moralisch nicht verwerflich. Unerwünscht ist sie nur dort, wo sie unannehmbare Ungleichheiten anderer Art erzeugt. Deshalb sei es schädlich, sich dem ökonomischen Egalitarismus als moralischem Ideal zu verschreiben. Die Beispiele dazu findet jeder in seiner Umgebung: Wer kennt nicht begüterte Personen, die zutiefst unglücklich sind? Und anderseits Menschen, die bescheiden leben, andern helfen und dabei hochzufrieden wirken? Als Alternative zum Egalitarismus vertritt Frankfurt das Suffizienzprinzip: «Was ökonomisch zählt, ist, dass jeder genug hat.» Ökonomische Umverteilung bis hin zur materiellen Gleichheit sei vor allem deshalb abzulehnen, weil sie stets mit Zwang, also Freiheitseinschränkung, verbunden sei. Das Prinzip der Gleichheit behindere die Menschen darin, selbst ihre finanzielle Lage zu bestim- men, und verleite sie dazu, ihre Aufmerksamkeit auf Wünsche und Bedürfnisse anderer zu richten. Das Gleichheitsprinzip trage zur «moralischen Orientierungslosigkeit und Seichtigkeit unserer Zeit» bei. Schliesslich gelte es, soziale Gleichheit von anderen Postulaten zu unterscheiden, die der Autor selbstredend vertritt: Chancengleichheit, gleiche Achtung, gleiche Rechte usw. Ausführlich philosophiert Frankfurt über das Dilemma von Menschen zwischen Schadensvermeidung und Nutzenoptimierung oder darüber, warum der Begriff «genug» auf das Optimum, nicht auf das Maximum ziele. Auch wenn die Polemik in einem dünnen Band daherkommt, wirkt einiges redundant. Im Geiste des Autors möchte man rufen: Wir haben verstanden, nun aber genug! ● Gastronomie Im Restaurant stillt der Mensch nicht nur den Hunger, sondern auch seinen Geltungsdrang Die Eitelkeit isst mit Christoph Ribbat: Im Restaurant. Suhrkamp, Berlin 2016. 228 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–. Von Berthold Merkle Im Restaurant wird gegessen und geschlemmt. Stimmt das? Christoph Ribbat belehrt uns eines Besseren. «Die Geschichte des europäischen Restaurants Ende des 18. Jahrhunderts beginnt damit, dass die Menschen keinen Hunger haben», schreibt er. Und damit ist schon das Wesentliche gesagt. Denn es geht beim Restaurantbesuch nicht um das Sattwerden, sondern um das Sehen und Gesehenwerden. Nur am Rande und vielleicht auch als offizielle Begründung geht es auch um den Genuss. 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 Mit derartigen Prämissen gewappnet, kann der Paderborner Kulturwissenschafter ganz unbefangen untersuchen, was sich alles im Restaurant abspielt – vor den Augen der Gäste, vor allem aber dort, wo es keiner sieht. Dabei kommt er mit seinen Beobachtungen zu haarsträubenden Erkenntnissen. Als Faustformel gilt: Je weiter weg vom Gast, desto schlimmer. Ribbat belässt es aber nicht bei vielen Beispielen von ekligen Szenen im Umgang mit Lebensmitteln und Hygiene. Sein präziser Blick gilt vor allem auch den sozialen und menschlichen Umständen. Wenn die einen das Leben geniessen wollen, müssen andere dafür schwer schuften. Nirgendwo sonst sei das Wesen des Kapitalismus so deutlich und auf so engem Raum zu erkennen, meint der Autor. Das Rastlose, das Unmittelbare nimmt Ribbat auch in seiner Erzählform auf. In mannigfaltigen Episoden beschreibt er die Entwicklung der Gastronomie in den letzten 250 Jahren in allen ihren Arten: ganz unten, ganz oben. Er erzählt von Döner-Imbissen und Drei-Sterne-Tempeln, von Günter Wallraff als getarntem Reporter bei McDonald’s und Ferra Adrià als zeitweise bestem Koch der Welt. Frappierend, was der Autor alles gefunden hat. Sogar die Tiefpunkte der Geschichte spielten (auch) im Restaurant: die Diskriminierung und Verfolgung der Juden in Deutschland und der Farbigen in den USA. Dabei urteilt Ribbat nicht, sondern vertraut auf die Kraft der Montage. Die Geschichten wirken richtig – beim nächsten Restaurantbesuch wird es der schöne Schein schwerer haben. ● Wissenschaft Dichterische Imagination und naturwissenschaftliche Präzision gelten als getrennte Sphären. Elmar Schenkel belegt ihre traditionelle Verwandtschaft WoPhantasieundForschung ihreSchnittmengehaben literarischen Opus magnum wissenschaftskundig auf die astronomisch-kosmologischen Umwälzungen seiner Zeit reagierte. Und dann der Sprung: In Dantes Höllen-Allegorie scheine schon das auf, so Schenkel, was physikalisch erst Stoff für das 20. und 21. Jahrhundert wurde – das Schwarze Loch oder die Dunkle Materie. Manchmal verliert sich der Autor allerdings im PhantastischSpekulativen, wenn er mit Lust am Fabulieren die erhellenden Momente im Zusammenspiel von Wissenschaft und Literatur, von Traum und Wirklichkeit, von Spiel und Forschergeist, von Dichtung und Durchdringung von Wissenschaftstheorien ausmalt. Elmar Schenkel: Keplers Dämon. Begegnungen zwischen Literatur, Traum und Wissenschaft. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 400 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 25.–. Von Angela Gutzeit Es gibt rhetorische Formeln, die so eingängig sind, dass sie sich vom Namen ihres Schöpfers komplett lösen. Das trifft beispielsweise auf den Begriff der «two cultures» zu, den Charles Percy Snow im Jahre 1959 kreiert hat. Der Engländer war Physiker, verfasste aber auch etliche Romane, die er unter anderem nutzte, um seinen eigenen Wissenschaftsbetrieb aufs Korn zu nehmen. Snows literarisches Werk dürfte heute weitgehend vergessen sein. Aber seine provozierende These, die eine komplette Entfremdung zwischen der geisteswissenschaftlichliterarischen Sphäre und dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich diagnostizierte, überlebte den 1980 gestorbenen Percy Snow. Gegenwart kommt zu kurz SCIENCE SOURCE / MAURITIUS IMAGES Schutzraum für Gewagtes Der 1953 geborene Anglist Elmar Schenkel kennt natürlich den englischen Intellektuellen. Und in mancher Hinsicht wirkt sein jüngstes Buch «Keplers Dämon. Begegnungen zwischen Literatur, Traum und Wissenschaft» wie eine trotzige Replik auf Snows Diktum von den zwei auseinanderdriftenden Kulturen: Auf rund 400 Seiten versammelt der Autor eine beachtliche Menge von Beispielen, die die Verwobenheit von literarisch-künstlerischer Imagination und wissenschaftlichem Denken belegen. Elmar Schenkels Hauptinteresse richtet sich dabei auf Menschen, die Heinrich von Kleists Anspruch erfüllen, ein Geistesmensch habe sich auf beides zu verstehen – sowohl auf eine Metapher wie auch auf eine Formel. Sein Gewährsmann – oder wie Schenkel formuliert sein «Wappen» – ist dabei Johannes Kepler. Der Astronom des frühen 17. Jahrhunderts ist der Verfasser der Schrift «Somnium sive astronomia lunaris». Und da Schenkel einen eingängigen, lockeren Schreibstil pflegt, erklärt er Keplers Schrift über eine fiktive Mondreise kurzum zum frühsten Beispiel der Science-Fiction-Literatur. Noch einem ganzheitlichen Denken verpflichtet, kleidete der Gelehrte hier seine Erkenntnisse über die Bewegungsgesetze der Planeten in eine Traumvision. Für Kepler, so schreibt Elmar Schenkel, sei die Literatur in dieser Anfangsphase der Wissenschaftsgeschichte eine Der Astronom Johannes Kepler verpasste seinen revolutionären wissenschaftlichen Erkenntnissen ein literarisches Tarnmäntelchen. Art Raumschiff für Gedanken und Erkenntnisse gewesen, die nicht anders hätten ausgedrückt werden können. Ganz abgesehen davon, dass es höchst gefährlich war, das damals immer noch gültige mittelalterliche Weltbild, das die Erde als Zentrum des Universums ansah, mit den neuen heliozentrischen Erkenntnissen zu konfrontieren. Literatur also als Versuchs- und Schutzraum für neues Denken. Schenkel widmet dem Thema Kosmologie und Literatur drei Unterkapitel unter wechselnden Gesichtspunkten. Sein Prinzip ist dabei – wie übrigens im gesamten Buch – das Spiel mit Querverbindungen über Jahrhunderte hinweg, zwischen Entdeckungen, Ideen und Schriften kluger Köpfe. Beispiel Dante Alighieri: Schenkel charakterisiert den Dichter der Göttlichen Komödie als frühprotestantischen Kritiker, der in seinem Trotzdem – man folgt Schenkels Abzweigungen gern, die unter anderen zu Mary Shelley, zu Edgar Allen Poe, E. T. A. Hoffmann und H. G. Wells führen, zu Autoren, die sich der dunklen Seiten des menschlichen Wissenschaftsstrebens annahmen. Schön setzt der Autor auch das Phänomen «Zeit» in Verbindung mit der beginnenden Hirnforschung im 19. Jahrhundert und den fiktiven Zeitreisen und Schauergeschichten in der Literatur. Und trotzdem klafft in diesem durchaus kundigen Buch eine Lücke: Die Beschäftigung mit der Gegenwart kommt einfach zu kurz. Schenkel verweist zwar auf Autoren wie Daniel Kehlmann, Judith Schalansky oder Durs Grünbein, die in ihren literarischen Werken den Graben zwischen der Literatur und den Naturwissenschaften immer wieder bewusst überspringen. Man könnte weitere hinzufügen, wie etwa den Dichter Raoul Schrott. Aber worum geht es ihnen, wenn sie sich naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bedienen? Und gibt es denn umgekehrt Einflüsse auf die Wissenschaft? Worin könnten die bestehen, ausser in einer vermittelnden Schreibweise? Tatsache ist wohl doch, und Schenkel deutet das in seiner Arbeit durchaus auch an, dass der literarisch-naturwissenschaftliche Austausch im Laufe der Jahrhunderte im Spezialistentum untergegangen ist. Siehe Charles Percy Snow. Zumindest erweist sich das Interesse als Einbahnstrasse. Und so ist Elmar Schenkels historisch kenntnisreiches Buch wohl als Aufforderung zur Umkehr zu verstehen. «Sinn und Sinnlichkeit», so lesen wir bei ihm, «sollten wieder zusammenkommen». Ein Ruf nach Wiedergewinnung der verlorenen Einheit angesichts einer Menschheit, die alle ihre Kräfte und Fähigkeiten brauchen wird, um zu überleben. ● 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Klima Zwei Amerikaner warnen vor den Gefahren einer extremen Erderwärmung Spielmitdem Feuer Gernot Wagner, Martin L. Weitzman: Klimaschock. Überreuter, Wien 2016. 256 Seiten, Fr. 35.90. Von Michael Holmes Der Klimabericht des Intergovernmental Panel of Climate Change enthält über 2000 Seiten voller Daten und beruht auf über 9000 Studien. Öffentliche Diskussionen zum Thema drehen sich meist um die Zukunftsszenarien, denen die Experten die grösste Eintrittswahrscheinlichkeit zuschreiben. Die Prognose: Ohne Gegenmassnahmen wird sich das Weltklima bis zum Jahr 2100 um 3,7 bis 4,8 Grad erwärmen, verglichen mit dem vorindustriellen Stand. Gernot Wagner, Chefökonom des Environmental Defense Fund, und Harvard-Ökonom Martin Weitzman verfechten in ihrer fesselnden und faktenreichen Warnschrift «Klimaschock» die These, dass wir die Gefahren der Klimaerwärmung unterschätzen, wenn wir das Hauptaugenmerk auf die wahrscheinlichsten Entwicklungen legen. Ihre grösste Sorge gilt der extremen Erderhitzung, deren Wahrscheinlichkeit zwar niedrig, aber keinesfalls vernachlässigbar sei. Sie unterziehen die IPCC-Daten gründlichen Risikoanalysen und gelangen zu dem furchterregenden Resultat, dass die Chance einer globalen Erwärmung um mindestens sechs Grad bis 2100 ohne grossen Kurswechsel bei etwa zehn Prozent liegt. Die Verteilungskurve dieser «globalen Lotterie» besitze, was Statistiker einen «Fat Tail» nennen. Das bedeutet, dass Ausschläge auf der Negativseite extrem ausfallen. Zudem legen die Autoren dar, dass aufgrund von Umschlagspunkten eine exponentielle Zunahme von oft irreversiblen Schäden droht. So lassen sich Eismassen nicht wiederherstellen. Wagner und Weitzman malen den fiebernden Plus-sechsGrad-Planeten nicht detailliert aus, äussern jedoch begründete Furcht, dass ein solcher Extremwandel zur «Zerstörung der Natur und Zivilisation, wie wir sie kennen», führen würde. Was tun? Die Autoren plädieren für eine Emissionssteuer, deren Höhe den negativen Auswirkungen entspricht. Eine solche Sündensteuer schaffe starke Marktanreize für Emissionsminderungen aller Art. Der Staat müsse den Rahmen sichern, die Märkte effiziente Lösungen finden. Herkömmlichen Studien zufolge sollte die Steuer mindestens 35 Euro pro Tonne CO2 betragen. Für die Autoren sollte sie aufgrund der gewaltigen Risiken deutlich höher ausfallen. Sie betrachten das Klimaproblem als ein Versicherungsproblem ersten Ranges für die gesamte Menschheit. Verantwortungsvolle Klimapolitik verlange globales und langfristiges Risikomanagement. Ausführlich widmet sich das Buch dem Problem, dass die Emissionssteuer die Bürger der partizipierenden Staaten belastet, die erwünschten Effekte jedoch 600 Personen posierten 2007 nackt auf dem Aletschgletscher und machten so auf die der ganzen Welt zugute kommen. So hat jeder Staat ein Interesse daran, die Steuer zu meiden. Zudem sind die reichen Länder die Hauptverursacher, arme Länder jedoch die Hauptleidtragenden des Klimawandels. Wir hätten keine andere Wahl, als an die Moral zu appellieren, meinen die Autoren. Zwar könnten wir den Planeten kühlen, indem wir reflektierende Schwefelpartikel in die Stratosphäre senden. Aber das «Geo-Engineering» käme wegen zahlreicher Risiken nur als begrenzte Notlösung in Frage. Das Buch ist frei von Polemik und Panikmache. Es zeichnet sich durch einen Gesellschaft Rainer Erlinger rühmt die Höflichkeit und legt, höflich gesagt, ein nettes Buch vor Lob einer unterschätzten Tugend Rainer Erlinger: Höflichkeit. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 348 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–. Von Manfred Koch «Höflichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.» Das Sprichwort ist witzig, weil es den Verstoss gegen das soziale Gebot, sich anständig zu verhalten, als Grammatikfehler vorführt. Darin liegt seine fast schon philosophische Doppelbödigkeit. Inhaltlich empfiehlt es Rücksichtslosigkeit als Karrieremittel, gibt sprachlich aber listig zu verstehen, dass, wer diesem Rat folgt, aus der gemeinsamen Sprache herausfällt. Das Sprichwort besagt sein Gegenteil: Höflichkeit ist eine Zier und weiter kommt man gut mit ihr – zumindest als Mensch unter Menschen. Rainer Erlingers Buch ist ein Plädoyer für 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 Höflichkeit als wertvolle humane Tugend. Zwar gilt sie vielen, wie der Untertitel andeutet, als «wertlos», weil die Zeit der gepflegten Umgangsformen vorbei sei. Wer so denkt, verwechselt nach Erlinger aber Höflichkeit mit Etikette. Deshalb lautet seine Ausgangsdefinition: «Höflichkeit ist ein Verhalten, in dem sich die Achtung für den Anderen ausdrückt.» Es geht demnach um eine altruistische Einstellung. Die Etikette wäre dagegen selbstbezogen, sie dient nach Erlinger allein dem korrekten Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit. Mit diesem Kompass begibt sich Erlinger ins Gewoge des Alltagslebens. Der Mediziner und Jurist ist seit vielen Jahren Autor der Kolumne «Die Gewissensfrage» im Magazin der «Süddeutschen Zeitung», in der er die kleinen ethischen Verwirrungen diskutiert, die wir alle kennen. Sie entstehen meist aus Kol- lisionen gleichberechtigter, aber unvereinbarer moralischer Ansprüche. Soll ich meinem Ehemann, der ein Bäuchlein angesetzt hat, auf seine Frage, ob mir sein Aussehen noch gefällt, ehrlich (und somit brutal) oder höflich (und somit verlogen) antworten? Drücke ich das hässliche Weihnachtsgeschenk dem Geber gleich wieder in die Hand oder zeige ich mich höflicherweise angetan? Solche Fallgeschichten bilden das Rückgrat des Buchs, und es ist überwiegend erhellend, Erlingers Antworten zu lesen. So erhält die Frau mit dem zunehmenden Mann den Hinweis, dass die Debatte um den Bauch als Höflichkeitsspiel geführt werden könnte, in dem sie ihm regelmässig versichert, nicht zu dick zu sein. Und er, weil er das Spiel kennt, wird gerade dadurch daran erinnert, dass einige Kilo herunter müssen. Immer wieder zeigt sich, dass es in der jeweiligen Kulturgeschichte Seit 2000 Jahren ist die Apokalypse ein Thema. Johannes Fried geht der Langlebigkeit des Endzeitdenkens nach Immer wieder Weltuntergang Johannes Fried: Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs. C.H. Beck, München 2016. 352 Seiten, Fr. 38.90. MICHAEL WÜRTENBERG / EX-PRESS Von Michael Fischer Auswirkungen der Erderwärmung aufmerksam. meist nüchternen Ton, eine stringente Argumentation und profunde Sachkenntnis aus. Unklar bleibt jedoch, wie sicher die Zahlen zu den Extremszenarien sind. Woraus genau ergeben sich die gewaltigen Unsicherheiten? Von welchen Faktoren hängt das Ausmass der Erwärmung ab? Die Wähler werden einschneidende Massnahmen nur akzeptieren, wenn sich Belege für die ernste Gefahr einer dramatischen Erderhitzung häufen. Dennoch nennt dieses wichtige Buch mehr als genug Gründe für die Notwendigkeit zu raschem, entschlossenem und wohlüberlegtem Handeln. ● Krieg, Terrorismus, Tsunamis, Epidemien, Krisen, nukleare Katastrophen: Es sind solche Ereignisse, die auch heute noch bei vielen Menschen apokalyptische Ängste auslösen und das, obwohl wir in Europa scheinbar in einer nahezu vollständig säkularisierten Gesellschaft leben. Ausgehend von dieser Beobachtung untersucht der deutsche Historiker Johannes Fried in seinem Buch «Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs» die Wurzeln des apokalyptischen Denkens in der europäischen Kultur. Die apokalyptische Denkfigur des drohenden Weltuntergangs ist für Fried ein typisches Merkmal der christlich-abendländischen Kultur. Von den biblischen Propheten über die Aufklärung bis hin zur Moderne hat das apokalyptische Denken unser unbewusstes Weltbild über 2000 Jahre hinweg entscheidend geprägt. Den Ursprung der christlichen Apokalyptik, deren religiöse Wurzeln in der jüdischen Tradition liegen, sieht Fried in der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem im Jahre 70 n. Chr. Die christliche Apokalypse ist aus dem jüdischen Messianismus hervorgegangen und hat deren apokalyptische Vorstellungen radikalisiert. Daraus entstand die christliche Geschichtstheologie als lineare Heilsgeschichte, die letztlich auf einen Untergang der ganzen Welt hinausläuft. Der Weltuntergang als eine alles zerstörende Katastrophe ist demnach für Fried eine Erfindung des frühen Christentums. In der Folge wurde die christliche Apokalyptik in der Spätantike und im frühen Mittelalter zum theologischen Fundament zahlreicher sozialer und politischer Utopien, welche die Erwartung des drohenden Weltuntergangs mit dem ethischen Appell zur Rettung der gefährdeten Welt verbanden. Die Drohung des Weltendes und der Wille zur Weltrettung sind in der christlichen Apokalyptik eng miteinander verwoben. Auch heute noch wohnt dem apokalyptischen Denken in seiner säkularisierten Form dieser ethische Impuls zur Rettung der bedrohten Menschheit inne. Mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften und der damit einsetzenden Säkularisierung in der frühen Neuzeit verschwand das apokalyptische Denken aber erstaunlicherweise nicht. Vielmehr verwandelte es sich und findet sich in säkularisierter Form auch heute noch, etwa in den kosmologischen Theorien, die die moderne Physik über das Ende des Universums aufstellt. Frieds kulturhistorische Untersuchung legt plausibel dar, dass die prophetisch-visionäre Sprache der christlichen Apokalyptik in der europäischen Kultur über 2000 Jahre hinweg zu einem archetypischen Deutungsmuster historischer Ereignisse geworden ist. Dies zeigt das Buch anhand zahlreicher Beispiele aus Malerei, Musik, Literatur, Film und zeitgenössischer Popkultur von Science Fiction bis Heavy Metal. Die brillant geschriebene Studie stellt nichts weniger als die erste umfassende Kulturgeschichte der Apokalypse dar. Sie überzeugt mit originellen Ideen, einer Fülle faszinierender Beispiele aus der europäischen Kulturgeschichte von der Antike bis ins 20. Jahrhundert sowie zahlreichen Bezügen zur politischen Gegenwart. ● Apokalypse à la Hollywood: Im Film «2012» (Regie: Roland Emmerich) löst eine plötzliche Kontinentaldrift Erdbeben und Tsunamis aus. Situation auf ein ganzes Bündel von Fähigkeiten ankommt: Aufmerksamkeit, Taktgefühl, Phantasie und nicht zuletzt Formulierungsgeschick. Allgemeine Verhaltensregeln lassen sich nicht geben. Das Problem ist, dass sich eine übergreifende Theorie der Höflichkeit aus dieser Kolumnenkollektion nicht ergibt. Wir lesen von der Unhöflichkeit im Internet oder der Überhöflichkeit der Ostasiaten, was oft vergnüglich ist, im Ganzen aber beliebig bleibt. Nachteilig wirkt sich aus, dass Erlinger nicht auf die Begriffsgeschichte von Höflichkeit/Zivilisiertheit/Manieren eingeht. Da hätte er allerdings auch referieren müssen, dass bedeutende Denker Zweifel an der einfachen Entgegensetzung von ‹äusserlicher Etikette› und ‹echter Höflichkeit› hatten. Entsteht die wahre Moralität im Herzen der Individuen nicht auch durch das blosse Training von gutem Benehmen? ● 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Reportage Navid Kermanis Bericht von der Balkanroute macht die neue Völkerwanderung fassbar Reise gegen den Flüchtlingsstrom Navid Kermani: Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa. C.H. Beck, München 2016. 92 Seiten, 12 Abb., Fr. 16.90, E-Book 10.–. Von Silke Mertins Navid Kermanis Blick auf die Welt ist wie der eines Fotografen, der dasselbe vor der Linse zu haben scheint wie alle anderen und doch ein ganz und gar einmaliges Foto schiesst. Der deutsch-iranische Schriftsteller und Bestsellerautor hat die Flüchtlingsroute über den Balkan bereist wie so viele Reporter. Doch wie er das Gesehene beschreibt und in einen grösseren Zusammenhang einbettet, ist unvergleichlich vielschichtig. Kermani beginnt im Herbst 2015, begleitet von dem grossartigen MagnumFotografen Moises Saman, seine Reise gegen den Flüchtlingsstrom – von Köln aus über Ungarn, die Balkanstaaten und die griechische Insel Lesbos bis an die türkisch-syrische Grenze. Immer wieder wird er von Saman gescholten, weil er ein ums andere Mal erschöpfte Menschen in sein Auto lädt und zum nächsten Hafen fährt. Er kann nicht anders. Navid Kermani erzählt einerseits, wie junge Helfer nicht mehr dieselben sind, wenn sie einmal von Flüchtlingsschicksalen berührt wurden. Gleichzeitig beschreibt er aber auch die bizarren Szenen an den griechischen Stränden, wenn die Flüchtlinge «von langhaarigen Männern und knapp bekleideten Frauen, die signalgelbe Westen tragen und ‹welcome welcome› schreien», in Empfang genommen werden. In der Türkei trifft der Schriftsteller nicht nur auf die Flüchtlinge und ihre Schleuser, sondern auch auf türkische Polizisten am Strand, die gar nicht wissen wollen, wo die Schlauchboote los- fahren, und auch ganz plötzlich kein Englisch mehr verstehen. Es sind vor allem die unauffälligen Details, die Kermanis Büchlein so besonders machen. Da ist der kroatische Polizist mit dem teilnahmslosen Gesicht, dem die Tränen kommen, als ein kleines Mädchen ihm über die blaue Uniform streicht, als sei er etwas besonders Wertvolles. Oder die Flüchtlinge, die sich ausschütten vor Lachen, als Kermani sie fragt, warum sie eigentlich nicht in die Golfstaaten gingen. «Der Schuh von Frau Merkel ist mehr wert als alle arabischen Führer!», ruft ein Mann. Und da ist auch die Moschee im türkischen Basmane Gar, die für jeden Toilettengang und jedes Glas Tee bei den Flüchtlingen abkassiert. Man begreift auf den nicht einmal 100 Seiten dieser literarischen Reportage mehr über die nahöstliche Völkerwanderung nach Europa als in fünf Jahren Zeitungslektüre. ● Das amerikanische Buch Die US-Wirtschaft zwischen Sprung und Stolpergang Stagnation ist das Schlagwort dieser politischen Saison in Amerika. Ökonomen stellen ein seit Jahrzehnten stockendes Wachstum fest. Dagegen will Donald Trump auf der Rechten mit Handelskriegen und Grenzmauern vorgehen. Während Trump Fremdenhass provoziert, macht Bernie Sanders auf der Linken gierige Milliardäre für stagnierende Realeinkommen verantwortlich. In dieser gereizten Atmosphäre ist die seriöse Kritik dem Wirtschaftshistoriker Robert J. Gordon dankbar für ein wuchtiges Werk. The Rise and Fall of American Growth: The U.S. Standard of Living since the Civil War (Princeton University Press, 762 Seiten) erklärt Amerikas lahmende Konjunktur auf Grundlage einer immensen Fülle von Daten. Doch wie der Titel signalisiert, gibt der Professor der Northwestern University in Chicago seinen Landsleuten kaum Hoffnung auf eine bessere Zukunft. 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 AP PHOTO Gordon zählt zu den Grössen seines Fachs in den USA. Hier legt er eine Zusammenfassung seiner Forschungsarbeit vor. Dabei denkt der 75-Jährige in grossen Epochen. Primär abhängig von der Landwirtschaft, stagnierten Wohlstand und Produktivität der Menschheit über Jahrtausende. Um 1750 setzen mit der Industrialisierung Wachstum und höhere Lebensstandards ein. Doch erst ab 1870 machen die USA nach Ende ihres Bürgerkriegs den «grossen Sprung» in ein «ausserordentliches Jahrhundert»: Amerika wird zur führenden Industrienation und zum Inbegriff der technischen Moderne. Hohe Produktivitätsraten schaffen eine starke, gut ausgebildete Mittelschicht. Doch um 1970 endet der Sprung in einem Stolpern. Obwohl das Jahrzehnt zwischen 1994 und 2004 nochmals ein gleichkäme. Gordon belegt seine These mit zahlreichen Grafiken und produziert damit eine moderne Wirtschaftsgeschichte Amerikas. Das Buch ist so nutzerfreundlich, wie ein ernsthaftes Opus dieses Genres es nur sein kann. «The Rise and Fall» ist übersichtlich gegliedert, liefert Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Kapitel und macht Zahlen und Statistiken mit Einblicken in den Alltag anschaulich. So bekommt die alte Weisheit «Geld stinkt nicht» mit der Anekdote neuen Gehalt, dass noch um 1900 zwei Meter hohe Haufen von Pferdemist den Zugang zum Bankenviertel an der New Yorker Wall Street erschwerten. Die Autoproduktion (Fabrik in Detroit, 1920) war ein Treiber des wirtschaftlichen «special century», das Robert J. Gordon (unten) beschreibt. Zwischenhoch bringt, erlahmt ab jetzt die Kraft der Volkswirtschaft. Gordon führt das «special century» Amerikas auf epochale Innovationen in fünf Feldern zurück: Chemie und Pharmakologie, Elektrizität, urbane Kanalisation, Verbrennungsmotoren sowie Kommunikationsmittel wie Telegraph, Telefon oder Radio. Die guten Zeiten um die Jahrtausendwende betrachtet er als Frucht der digitalen Revolution. Gerade aus dieser leitet Robert J. Gordon aber seinen Pessimismus ab. Obwohl Computer, Internet und Smartphones unsere Lebenswelt revolutionierten, brachten sie keinen Produktivitätsschub, der etwa den Folgen der Motorisierung nach 1920 Das Buch wird deshalb weithin als Meisterwerk und Pflichtlektüre gelobt. Das gilt auch für Kritiker wie einen Rezensenten im Fachjournal «Foreign Affairs», die auf Nanotechnologie, künstliche Intelligenz oder Genforschung als Motoren zukünftiger Prosperität setzen. Robert J. Gordon listet dagegen in einem Nachwort «Gegenwinde» auf, die seinen Pessimismus untermauern. Demnach tragen eine alternde Bevölkerung, marode Infrastruktur und Erziehungssysteme, nicht zuletzt aber die zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft zu der Stagnation von Wohlstand und Produktivität bei. Auf diesen Feldern sieht der Wirtschaftshistoriker zwar auch Möglichkeiten, den «Niedergang des amerikanischen Wachstums» zumindest abzuschwächen. Aber in dieser Wahlkampfsaison heizen Steuererhöhungen für Wohlhabende und Konzerne als Quelle für staatliche Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur die gereizte Atmosphäre nur noch weiter an. ● Von Andreas Mink Agenda Pablo Picasso Die Welt im Fenster Agenda April 16 Basel Donnerstag, 7. April, 19 Uhr Max Frisch: Ignoranz als Staatsschutz. Überwachung damals und heute. Gespräch mit Markus Seiler und David Gugerli, Moderation: Thomas Strässle, Fr. 18.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Info: www.literaturhaus-basel.ch. Sonntag, 10. April, 19 Uhr Sofalesung mit Meral Kureyshi: Elefanten im Garten. Moderation:Maja Bagat, Fr. 18.–. Literaturhaus (siehe oben). Donnerstag , 14. April, 19 Uhr Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt. Moderation: Katrin Eckert, Fr. 18.–. Literaturhaus (s. oben). Bern Das Werk Pablo Picassos ist so reich und vielfältig, dass Ausstellungsmacher die verschiedensten motivischen Ansätze wählen können, ohne jemals einen Horror vacui fürchten zu müssen. Ein besonders ergiebiges Thema hat sich Ortrud Westheider für eine Schau ausgesucht, die noch bis zum 16. Mai im Bucerius Kunst Forum Hamburg zu sehen ist. Es geht um das Motiv des Fensters. Dieses zieht sich durch Picassos gesamtes Werk. Wir finden es schon in mehreren um 1899/1900 entstandenen «Interieurs», es begegnet uns aber auch auf einer Glückwunschkarte für Guillaume Apollinaire von 1905, in der kubistischen Phase des Malers und nach deren Überwindung. Auf einem Exlibris für Alexandre Paul Rosenberg von 1935 taucht es ebenso auf wie auf dem Ölgemälde «Femme couchée lisant» (Bild) von 1939, das zur Sammlung Musée national Picasso in Paris gehört. Der Katalog zur Ausstellung ist ein schön gestaltetes, schlankes Schaubuch, enthält aber auch einige interessante Forschungsbeiträge. Manfred Papst Picasso, Fenster zur Welt. Bucerius Kunst Forum. Herausgegeben v. Ortrud Westheider und Michael Philipp. Hirmer, München 2016. 192 Seiten, Fr. 48.70. Bestseller März 2016 Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Peter Stamm: Weit über das Land. S. Fischer. 224 Seiten, Fr. 25.90. Jojo Moyes: Ein ganz neues Leben. Wunderlich. 528 Seiten, Fr. 28.90. Nicholas Sparks: Wenn du mich siehst. Heyne. 576 Seiten, Fr. 20.90. Dora Heldt: Böse Leute. DTV. 368 Seiten, Fr. 18.90. Tommy Jaud: Sean Brummel: Einen Scheiss muss ich. Fischer. 320 Seiten, Fr. 23.90. Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt. C.H. Beck. 327 Seiten, Fr. 25.90. Jo Nesbø: Blood on Snow. Das Versteck. Ullstein. 256 Seiten, Fr. 16.90. Elke Heidenreich: Alles kein Zufall. Hanser. 240 Seiten, Fr. 22.90. Rita Falk: Leberkäsjunkie. DTV. 272 Seiten, Fr. 23.90. Robert Galbraith: Die Ernte des Bösen. Blanvalet. 672 Seiten, Fr. 29.90. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.90. Jesper Juul: Leitwölfe sein. Beltz. 216 Seiten, Fr. 21.90. Silvia Aeschbach: Älterwerden für Anfängerinnen. Wörterseh. 176 Seiten, Fr. 26.90. Ildikó von Kürthy: Neuland. Wunderlich. 400 Seiten, Fr. 24.90. Ajahn Brahm: Der Elefant, der das Glück vergass. Lotos. 240 Seiten, Fr. 22.90. Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume. Ludwig. 224 Seiten, Fr. 26.90. Arno Renggli: Der Hund starb – was er nicht überlebte. Wörterseh. 168 Seiten, Fr. 17.90. Bertrand Piccard: Die richtige Flughöhe. Piper. 320 Seiten, Fr. 32.90. Michael Nast: Generation Beziehungsunfähig. Edel. 240 Seiten, Fr. 19.90. Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Kiepenheuer & Witsch. 256 S., Fr. 27.90. Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 15.03.2016. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Mittwoch, 6., bis Samstag, 9. April Aprillen: Berner Lesefest. Mit Dorothee Elmiger, Aboud Saees, Christoph Geiser u.a., Einzeleintritt Fr. 15.–, Tages- und Festivalpass Fr. 40.– und 90.–. Schlachthaus Theater, Rathausgasse 20. Info: www.aprillen.ch. Locarno Donnerstag, 14., bis Sonntag, 17. April Eventi letterari: Utopia & Amore. Mit Ian McEwan, Arno Camenisch, Patrizia Valduga u.a., Einzeleintritt Fr. 10.–, Tagesund Festivalpass Fr. 30.– und 90.–. Verschiedene Veranstaltungsorte in und um Ascona. Info und Tickets: www.eventiletterari.ch. Zürich Donnerstag, 14. April, 20 Uhr Charles Lewinsky: Andersen. Buchpremiere mit Lesung und Gespräch. Moderation: Moritz Leuenberger, Fr. 20.–. Theater Rigiblick, Germaniastr. 99. Tickets: www.theater-rigiblick.ch. Dienstag, 19. April, 20 Uhr Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit. Lesung und Gespräch, Fr. 25.–. Kaufleuten, Pelikanstrasse 18. Info: www.kaufleuten.ch. Mittwoch, 20. April, 20 Uhr David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar. Lesung und Gespräch, Fr. 25.–. Kaufleuten (siehe oben). Donnerstag, 21. April, 19.30 Uhr Joanna Bator: Dunkel, fast Nacht. Lesung und Gespräch, Fr. 18.–. Literaturhaus, Limmatquai 62. Kartenreservation: 044 254 50 00. Bücher am Sonntag Nr. 4 erscheint am 24.04.2016 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 E W DIENSTAG 19.04.2016 20 UHR IM FESTSAAL en tar der jung -S g n ti o o h S Der e iteraturszen n deutschen L neuen Roma m e in e s s u a liest it. er Einsamke d e d n E m o V Ticketpreise: 25.–/15.– (mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank, AHV/IV oder mit Legi) Spezialangebot: 75.– (inkl. 2-Gänge-Menü) Unser ganzes Programm finden Sie auf kaufleutenliteratur.ch. Besuchen Sie uns auch auf Twitter und Facebook. 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