Internat, 1981 – Die Flickenjeans Einmal in der Woche gab es in Reiners Haus eine Klassenversammlung, bei der es hauptsächlich um organisatorische Fragen ging, Pater Andreas aber auch Missetäter bestrafte oder, sollten diese nicht zu ermitteln gewesen sein, eben wenigstens die üblichen Verdächtigen streng ermahnte. Bei einer der Versammlungen wies der Pater, ohne auch nur für einen Moment von seinen Notizen aufzublicken, scheinbar beiläufig darauf hin, dass bei der Messe eine graue Flanell- oder eine schwarze Kordhose und ein weißes Hemd zu tragen wären. Er musste auch gar nicht deutlicher werden, denn Reiner war der einzige, der zur Messe stets eine helle Jeans mit Schlag und Flicken trug. Doch obwohl ihm selbstredend weder die bösen Blicke der Nonnen und Priester, noch das alberne Kichern der jüngeren Schüler entgingen, hatte ihn bisher noch nie jemand darauf angesprochen, vermutlich hatte man angenommen, er würde es auch so irgendwann begreifen. Das Problem war nur, dass er ja längst begriffen hatte, und es war schließlich auch keineswegs seine Absicht, zu provozieren, nur allzu gerne hätte er sich konform verhalten. Vielmehr war die Flickenjeans noch seine beste Hose, die Pflegeeltern wollten ihm einfach keine katholische Hose kaufen, da half kein Bitten und kein Betteln. Und auch der Hinweis auf die Internatsregeln hatte am Ende nur dazu geführt, dass die Pflegemutter eine abgewetzte Kordhose, die noch aus der Fetter-Sack-Phase des Pflegevaters übriggebliebene war, für ihn geändert hatte. Die Hose war zwar dunkelblau und nicht schwarz, wäre letzten Endes vermutlich aber so gerade noch als katholisch genug durchgegangen. Jedoch, ob nun aus völliger Gleichgültigkeit, Faulheit oder einfach nur, weil sie eben nicht besonders gut nähen konnte,... Na, jedenfalls hatte die Pflegemutter zwar den Hosensaum enger genäht, nicht aber die Hosenbeine. Das Ergebnis glich eher einem Hosenrock, als einer Hose: Der Schritt befand sich nur knapp über Kniehöhe und die mindestens um das Zweifache zu weiten Hosenbeine schlotterten schlaff um Reines Beine. „Passt doch prima!“, hatte die Pflegemutter aufmunternd gesagt, als Reiner die Hose anprobiert hatte. „Bevor ich das … - Ding – anziehe, gehe ich lieber nackt in die Kirche“, hatte der in Gedanken erwidert. Danach hatte er nie wieder um eine katholische Hose gebeten. Das wäre aber natürlich auch sinnlos gewesen, hatte er jetzt doch seine verdammte schwarze Kordhose – beim besten Willen, irgendwann muss aber auch mal Schluss sein mit den ständigen Forderungen. Also trug Reiner, trotz deutlicher Warnung, beim nächsten Gottesdienst wieder die Flickenjeans. Die Mitschüler blickten verstohlen zu ihm herüber und überall wurde getuschelt – in einem katholischen Internat war so etwas schon ein ausgewachsener Skandal -; Reiner kam sich vor wie auf dem Präsentierteller. Pater Andreas schwieg zwar still, starrte ihn dafür aber umso wütender an, und der tattrige Pater Methusalem überging ihn bei der Kommunion . Nach der Messe hingegen umringten ihn die Schüler, klopften ihm auf die Schulter und ließen ihrer Bewunderung für seine Heldentat freien Lauf: „Coole Aktion, Reiner, hätte ich mich nie getraut!“, „Peace, Mann, Jesus hätte auch Jeans getragen!“ … Von da an war Reiner im ganzen Internat als Rebell, ja, als der Rebell, bekannt. Pater Andreas dagegen sprach das Thema nie wieder an, und auch sonst niemand. Selbst die bösen Blicke wurden mit der Zeit immer weniger, man hatte sich eben daran gewöhnt, ein schwarzes Schaf gab es schließlich in jeder Herde. Zunehmend freundete Rainer sich mit der Rolle des Rebellen, die man ihm ursprünglich ja von außen aufgezwungen hatte, an und nahm bald unter den Klassenkameraden eine Führungsrolle ein, was allerdings wohl auch daran lag, dass er aufgrund zweier Ehrenrunden zwei Jahre älter als die meisten von ihnen war. Eine erste Bewährungsprobe für seinen neuen Status als Rebell und Anführer sollte sich bereits einige Wochen nach dem Jeans-Vorfall ergeben. Und zwar kam Pater Andreas bei einer Gruppenversammlung auf das Thema Körperhygiene zu sprechen, er hätte mitbekommen, dass viele Schüler ihre Penisse nicht richtig wüschen, vor allem unter der Vorhaut, und er würde das fortan persönlich kontrollieren. „Woher will der verdammte Pfaffe den wissen, ob und wie wir unsere Pimmel waschen?“, fragte Reiner sich ärgerlich – damals sagte er noch „Pimmel“ statt „Schwanz“. Dazu sollten die Schüler, wie der Pater weiter ausführte, nach dem Duschen vor ihm aufmarschieren, die Vorhäute zurückziehen und die Pellköpfe – er sagte natürlich „Eicheln“ präsentieren. Danach ging Pater Andreas gleich zum nächsten Tagesordnungspunkt über. Reiner war baff; unwillkürlich mußte er kurz auflachen – Pater Andreas bedachte ihn mit einem tadelnden Blick -, vor seinem inneren Auge zog das Bild nackter Schüler auf, die vor dem Pater in Reih und Glied strammstanden, indessen jener, gekleidet in eine schnittige Kavallerieuniform samt auf Hochglanz polierten, beinahe kniehohen Lederstiefeln, die Gerte unter der linken Achsel, im Befehlston brüllte: „Stiiiillgestanden! … Diiie Hände an diiie Pimmeli … Präsentiert die Pellköpfe!“ Darauf schritt er mit strengem Blick die Reihe der Schüler ab und begutachtete die Eicheln, indem er mit der Gerte auf diejenigen Exemplare wies, die ihm besonders ins Auge fielen: „Da ist noch etwas Kranzkäse, Martin: zwei Tage Arrest! … Sehr gut, Peter, nehmt euch mal ein Beispiel an eurem Kameraden! - tadelloser Penis. … Und hier? - jaaa, in Ordnung, aber gib dir beim nächsten mal etwas mehr Mühe, Daniel … Seifenreste, Klaus?: einen Tag Arrest!“ Reiner verscheuchte das Bild aus seinen Gedanken und blickte in die Runde; die meisten hatten nur verschämt den Blick gesenkt und waren rot geworden, die übrigen schienen gar vollends ungerührt, einige kicherten verlegen, Unterdessen der Pater also bereits auf den nächsten Tagesordnungspunkt zu sprechen gekommen war, hob Reiner langsam den Arm. „Ja, - ähh – Reiner?“, fragte Pater Andreas betont freundlich. „Also, ich jedenfalls ziehe meine Vorhaut auf gar keinen Fall vor Ihnen zurück!“, sagte Reiner mit leiser – im Gruppenraum war es ohnehin so leise, das man die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören können -, aber fester Stimme. Der Pater war wie vor den Kopf gestoßen; inzwischen war es derart leise geworden, keiner wagte auch nur mehr zu atmen, dass man sogar eine Wimper hätte fallen hören können. Pater Andreas schnappte hilflos nach Luft, brachte aber kein Wort heraus, offener Widerspruch war einfach nicht vorgesehen. Nachdem Reiner den ersten Schritt gemacht hatte, brachten nach und nach die mutigeren unter den Klassenkameraden, zunächst ganz vorsichtig zwar, ebenfalls ihr Unbehagen zum Ausdruck; schließlich brach der Damm vollständig und fast alle schlugen sich auf Reiners Seite, sodass sich Pater Andreas gezwungen sah, den geordneten Rückzug anzutreten und die Peniskontrolle abzublasen. „Vielleicht hast du ja Recht, Reiner“, sagte er, in dem kläglichen Versuch, das Gesicht zu wahren, kleinlaut. „Aber achtet von heute an darauf, euch auch wirklich überall gründlich zu waschen!“ „Da bin ich dir wohl in die Pimmel-Parade gefahren, du Pfaffenarsch“, dachte Reiner hämisch, indem er das Becken auf dem Stuhl nach vorne schob und die Hände in die Hosentaschen seiner Flickenjeans schob, „musst du wohl auch weiter deine FKK-Magazine als Wichsvorlage benutzen.“
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