Zusammenfassung - (kulturgeo), RWTH Aachen

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PASSAUER SCHRIFTEN
ZUR
GEOGRAPHIE
Zusammenfassung
D
HERAUSGEGEBEN
VON
ie vorliegende Untersuchung ging
von dem Phänomen tief
einer eigenen Reproduktion der ungleichen Verwirklichungsgreifend
strukturierter
sozialer
Ungleichheit
in
Brasiliens
liegen muss.GAMERITH
WERNER
ERNST STRUCK, DIETER ANHUF UNDchancen
Metropolen aus, die sich in fragmentierten StadtlandschafDie gemäß dem Prinzip der Grounded Theory gewonnenen
Schriftleitung:
Erwin räumlicher
Vogl Nähe treffen All- Erkenntnisse und Zwischenkonzeptionen wurden im Rahmen
ten ausdrückt. In unmittelbarer
tagswelten mit höchst divergierenden Lebensverwirklichungsvon Bourdieus Praxistheorie und der Theorie der Produktion
chancen aufeinander; diese sozial konstruierten Wirklichkeiten
des Raumes von Lefebvre analysiert. Beide Perspektiven imkönnen auch als Summe der alltäglichen Erlebnis- und Akplizieren einen gesellschaftskritischen Blick auf die sozialen
tionsräume bezeichnet werden. Sie spiegeln sich in BrasiliProzesse und Missstände im Kontext der gesellschaftsinternen
ens Städten im unmittelbaren Nebeneinander innerstädtischer
Machtverhältnisse: Bourdieus Erkenntnisperspektive konstiMarginalviertel, den Favelas, mit den Wohnhochhäusern der
tuiert sich wesentlich aus der Überwindung von individualisMittel- und Oberklasse wider. An den Grenzen dieser Stadttischer und strukturalistischer Herangehensweise, wie es eine
welten kommt es zu einem latent hohen Konfliktpotenzial,
kritische Analyse der sozialen Praxis im Kontext der objektidas sich in einer von der Bevölkerung erlebten und erlitteven Strukturen erfordert; Lefebvre geht von einem kritischen
nen, diskursiv konstruierten, aber nicht zuletzt auch real beGesellschaft- und Raumverständnis aus, welches die Trennung
obachtbaren Zunahme von Gewalt, Kriminalität und damit
in materielle und gedankliche Raumkonzeptionen aufhebt und
einhergehender Beeinträchtigung der Handlungsspielräume
damit ein ganzheitliches Verständnis des sozial konstruierten
HEFT
äußert. Dies führt zu Grenzziehungen bzw. verstärkt die beRaumes ermöglicht.
stehenden Grenzen innerhalb der Gesellschaft, welche die soIm Sinne einer kritischen humangeographischen Stadtforziale Alltagspraxis aller beteiligten Akteure dominant prägen.
schung fokussierte die Untersuchung also die Erfassung ungleicher Stadtwelten, um den städtischen Raum als soziales
Gleichzeitig scheint es jedoch Praktiken zu geben, welche das
gesellschaftliche Miteinander trotz der offensichtlich hohen
Produkt seiner Bewohner zu verstehen. Dabei ging es um eine
sozialen Polarisierung und Konfliktzonen vor einer sozialen
Geographie in der Stadt und nicht um eine Geographie der
Stadt. In deren Mittelpunkt steht der verstehende Nachvollzug
Entropie bewahrt. Das zentrale Forschungsinteresse galt demder Konstitution und Wirkmächtigkeit des Raumes, respektientsprechend den Wirkungszusammenhängen der subtil ablaufenden Perpetuierung sozialer Ungleichheit, räumlichen
ve ungleicher Raumproduktion, als sinnhafte Wirklichkeit für
und sozialen Grenzziehungen und den dafür verantwortlichen
das Alltagsleben der betroffenen Akteure. Mit diesem Ziel, die
Machtdifferenzialen.
soziale Grammatik ungleicher Raumproduktion am Beispiel
der fragmentierten Stadtwelten im brasilianischen Salvador
Der Analyse dieses sozialen und räumlichen Phänomens
lag eine praxisorientierte Forschungskonzeption zugrunde, mit
aufzudecken, wurde mit der vorliegenden Arbeit angestrebt,
welcher das Alltagslebens und speziell der Umgang der Bewoheinen konzeptionellen Beitrag für eine Geographie sozialer
ner innerstädtischer Favelas mit der alltäglichen Situation aus
Ungleichheit zu liefern. Eine solche untersucht den Raum als
Benachteiligung und verschiedenen Ausgrenzungsformen beUngleichheitsdimension in seiner gesellschaftlichen Hervorbringung und fragt umgekehrt danach, welche Lebensverwirktrachtet wurde, um es verstehend nachvollziehen zu können.
lichungschancen durch soziale Raumprodukte hervorgebracht
Die Untersuchung erfolgte in zwei Favelas unterschiedlicher
bzw. eingeschränkt werden. Die Arbeit verfolgte damit eine
Größe in Salvador da Bahia. Die Erkenntnisse wurden wäh„Kritik am Alltagsleben“, wie Lefebvre sie forderte, zu versterend drei mehrmonatiger Forschungsaufenthalte, im Wesenthen als eine Kritik an der gesellschaftlichen Ordnung und an
lichen durch die Teilnahme am Alltagsleben und durch Geder städtischen Organisation des Raumes.
spräche und Interviews mit den Favela-Bewohnern sowie den
Als wichtigstes Ergebnis der Datenanalyse zeigte sich das
Bewohnern der angrenzenden Mittel- und Oberschichtviertel
generiert. Bei den Favelas handelt es sich um die Wohnorvon vielen Favela-Bewohnern geteilte Praxisprinzip eines Hate und Lebensmittelpunkte der städtischen Unterklasse, die
bitus der Scham. Dieser kann als soziale Grammatik begrifdurch die Bereitstellung ihrer Arbeitskraft zu einem minimafen werden, welche einen Schlüssel zum Verstehen ungleicher
len Einkommen das Funktionieren des städtischen Lebens erMit
18 Abbildungen, 12 Tabellen und 27Raumproduktion
Bildern und zur Perpetuierung des von strukturiermöglichen. Hinsichtlich ihrer gesellschaftlich eingeschränkten
ter Ungleichheit gekennzeichneten Alltagslebens darstellt. Als
Beachtung und Anerkennung formieren sie eine gesichtslose
internes verborgenes Regelwerk, eine dem Alltagssinn kaum
Masse ­Subalterner, eine Klasse aus „Entbehrlichen“, in welbewusste Struktur, kann er die soziale Praxis dirigieren. Er
cher der Einzelne, als bloße Arbeitskraft betrachtet, jederzeit
bewirkt, dass Alltagspraktiken, die zur Reproduktion ungleiersetzt werden kann. Gerade bei dieser Bevölkerungsgruppe
cher Strukturen beitragen, von den Akteuren selbst in der Reerschienen die Widersprüche zwischen einer vermeintlichen
gel nicht in dieser Wirkung bewusst wahrgenommen werden
„Akzeptanz“ und einem willentlichen „Interesse“ am Erhalt
­können, da sie einem präreflexiven sozialen Sinn folgen bzw.
der sozialen Missstände besonders augenscheinlich. Dies führdiesen selbst formieren. Ein Habitus der Scham kann schamte zu der Vermutung, dass in deren gelebter Alltagswelt ein
zentrierte Praxisformen hervorbringen, welche bei den soziSchlüssel für die vermeintlichen „Paradoxien“ zwischen den
al unterlegenen oder „beherrschten“ Akteuren nicht nur die
Wahrnehmungs-,
Bewertungsund
Handlungsmustern
und
­Mechanismen derPassau
Beschämung über ihren defizitären soziaSelbstverlag Fach GEOGRAPHIE der Universität
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Veronika Deffner
Habitus der Scham –
die soziale Grammatik
ungleicher Raumproduktion
Eine sozialgeographische Untersuchung der Alltagswelt
Favela in Salvador da Bahia (Brasilien)
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len Status verschleiern, sondern gleichfalls stigmatisierte, beschämende Räume zu produzieren und zu reproduzieren vermögen.
Die zentrale Erkenntnis der Untersuchung für eine geographische Ungleichheitsforschung ist darin zu sehen, dass Raum
ein Medium zu Stärkung der Ungleichheitsstrukturen darstellt
– wie ganz wesentlich an der Repräsentation der ­Favela als
„Risiko- und Gewaltraum“ deutlich wird. Der aus den analyHERAUSGEGEBEN
VON
sierten Praxisformen abgeleitete
Habitus der Scham und seine
Bindung an Räumlichkeiten zeigen ein Konzept auf, mit dessen
Hilfe raumbezogene Zuschreibungen als machttechnologische
Instrumente zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse beschrieben werden können. Die Frage, ob dieses Konzept
übertragbar ist, hängt von den Normativen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen und der Frage ab, inwieweit die
Gesellschaft sich der Suche nach Gerechtigkeit im Sinne der
„Moderne“ verschreibt und dies in der sozialen Praxis effektive
Umsetzung finden kann.
ERNST STRUCK, DIETER ANHUF UND WERNER GAMERITH
Schriftleitung: Erwin Vogl
HEFT
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Veronika Deffner
Habitus der Scham –
die soziale Grammatik
ungleicher Raumproduktion
Eine sozialgeographische Untersuchung der Alltagswelt
Favela in Salvador da Bahia (Brasilien)
Mit 18 Abbildungen, 12 Tabellen und 27 Bildern
Selbstverlag Fach GEOGRAPHIE der Universität Passau