Lagebericht zu Nepal nach den schweren Erdbeben im April und Mai 2015 Der Schaden: Nepal wurde am 25. April von einem verheerenden Erdbeben der Stärke 7,8 erschüttert, dessen Epizentrum in Barpak, dem historischen Gorkha Distrikt rund 80 km nordwestlich von Kathmandu lag. Ein Beben dieses Ausmaßes hatte das Land zuletzt vor 80 Jahren erschüttert. Weit über 300 Nachbeben haben Nepal und seine Bewohner seit April nicht zur Ruhe kommen lassen, darunter ein schweres, ebenfalls verheerendes Beben am 12. Mai. Laut regierungsamtlichen Angaben starben rund 9.000 Menschen. Schätzungen von NGOs, darunter auch das FES Nepal-Büro, gehen von bis zu 20.000 Toten aus. Von Nepals 75 Distrikten wurden 14, die ohnehin zu den ärmsten des Landes zählen, zu Krisengebieten erklärt, 17 weitere gelten als schwer betroffen. Rund eine halbe Million Gebäude wurden im Zuge der Beben zerstört, geschätzte 300.000 sind schwer beschädigt. Wichtige Infrastruktur, darunter die zur Energiegewinnung, Transport und für die Tourismusindustrie wurde beschädigt bzw. zerstört. So musste u.a. der devisenbringende Aufstieg zum Mount Everest in der Touristensaison 2015 gesperrt werden. Die nepalesische Regierung beziffert den Schaden in ihrem Mitte Juni internationalen Gebern vorgelegten „Post Disaster Needs Assessment“ auf sieben Mrd. US Dollar (davon entfallen fünf Mrd. auf physische Schäden und zwei Mrd. auf Einkommensverluste). Das BIP-Wachstum wurde bereits von den ursprünglich erwarteten 4,6 Prozent auf drei Prozent korrigiert. Die gegenwärtige humanitäre Krise im Land wird durch die Tatsache verschärft, dass die Mehrheit der männlichen Bevölkerung der am schwersten betroffenen Krisenregionen das Land als Arbeitsmigranten verlassen hat und ihren Familien sowie dem Wiederaufbau somit nicht zur Verfügung stehen kann. Die politischen Folgen: Unmittelbar nach dem Erdbeben hatten sich nahezu alle führenden nepalesischen Politiker tagelang versteckt bzw. leugnen lassen. Dies hatte der Regierung seitens der Bevölkerung wie auch im Ausland heftige Kritik beschert. Zur großen Überraschung der Bevölkerung erwiesen sich Nepals junge „Netizens“ (Netzbürger_innen), die zuvor in politischen Zusammenhängen nicht weiter aufgefallen waren, in den Tagen nach dem großen Beben als patente Krisenmanager und Lebensretter. Via Facebook und Handy koordinierten sie Informationen über Überlebende und Vermisste aus den Distrikten und erstellten mit Hilfe von Softwareprogrammen Bedarfskarten. So konnten sie die spontan aus dem Ausland herbeiströmenden humanitären Helfer lenken und Hilfsgüter an die richtigen Orte dirigieren. Zwar milderte Bürgerengagement und die sofort einsetzende Hilfe der beiden großen Nachbarn China und Indien die Notlage zahlreicher Opfer, dennoch ist bis heute laute Kritik am Krisenmanagement der nepalesischen Regierung zu vernehmen. Insbesondere auf der lokalen politischen Ebene erweist sich der zentralistische Staat als wenig effektiv bis inkompetent, um die benötigten Hilfen zu leisten. Es droht die Gefahr, dass im Zuge der Notversorgung und dem schieren Überlebenskampf erneut ethnische Konflikte aufflammen könnten. Da zahlreiche Haushalte vor allem in strukturschwachen Regionen aufgrund der starken Arbeitsmigration nur aus Frauen, Kindern und Senioren bestehen, befürchten Beobachter zudem, dass diese bei der Rekonstruktion aufgrund der traditionellen Rechtelosigkeit von Frauen bei Haus- und Landbesitz diskriminiert werden könnten. Offenbar sah sich die nepalesische politische Elite nach den zornigen Anwürfen aus der Bevölkerung schließlich soweit in der Bringschuld, dass die vier führenden Parteien Anfang Juni zum Erstaunen aller Beobachter ein „Abkommen“ vorlegten. Das Abkommen enthält einen Kompromiss zur umkämpften Verfassungsnovelle. Seit rund einem Jahrzehnt wird im Zuge dieser Verhandlungen um das Thema „Föderalismus“ gerungen. In dem nun vorgelegten Abkommen versprechen die Parteien, bis zum 15. Juli einen mehrheitsfähigen Verfassungsentwurf zu präsentieren, der den Weg zu einem föderalen System ebnet. Zur Erinnerung: Bereits beim Friedensschluss mit den kämpfenden Maoisten im Jahr 2006 war fest vereinbart worden, dass der Friedensprozess erst dann vollendet sei, wenn Nepal ein föderales System einführe. Seitdem war wenig passiert, denn das Thema symbolisiert wie kaum eine andere Forderung der Maoisten ihren Machtkampf gegen die etablierten Eliten Nepals. Die Maoisten sowie einige ethnisch orientierte Parteien erhoffen sich in einem föderalen System mehr Einfluss und Mitspracherechte für die rund 123 Ethnien des Landes sowie bessere Regierungsführung auf der regionalen und lokalen Ebene. Ihre Forderungen nach einem, grob gesagt, ethnisch basierten Föderalismus hingegen gilt Beobachtern als wenig realistisch und realisierbar. Die elitäre politische Klasse des Landes hat ihrerseits wenig Interesse an einem Abschied vom Status Quo und dem damit einhergehenden Machtverlust. Sie tat daher bislang ihr Bestes zur Blockade nahezu aller politischen Prozesse. So kommt es, dass Nepal seit einem knappen Jahrzehnt - ohne gültige Verfassung - selbst auf lokaler Ebene keine gewählten Volksvertreter_innen mehr hat, sondern von einem zentralistisch korrupten System entsandter Beamter „verwaltet“ wird. Die Partner des 16-Punkte-Abkommens vom 8. Juni sind die Kongresspartei, die Kommunistische Partei Nepals, die (gemäßigten) Maoisten sowie eine ethnisch definierte Madeshi-Gruppierung. Zusammen stellen diese Parteien über zwei Drittel des Parlaments. Im Zuge der Vereinbarung stimmten die Maoisten der Etablierung eines parlamentarischen Systems zu (mit deutlich weniger Abgeordneten als den gegenwärtig 601) sowie dem Amt eines zeremoniellen Präsidenten. Es wurde zudem beschlossen, Nepal eine föderale Struktur mit acht Provinzen zu geben. Eine mögliche „Sollbruchstelle“, so sehen es Beobachter, könnte künftig sein, dass das Abkommen die Demarkation der acht Provinzen nicht definiert, sondern deren Gestaltung einem Expertengremium überlassen will. Kriterien zur Schaffung einzelner Provinzen wie „Identität und Ressourcen“, also Ethnie, Sprache, Kultur und ökonomische und natürliche Ressourcen, sind zwar im Abkommen aufgeführt, doch boten genau diese Kriterien bislang stets Grund zum Streit und führten schließlich zur politischen Totalblockade der vergangenen Jahre. Mit dem Abkommen haben Nepals führende Parteien zwar guten Willen gezeigt – und diesen sicherlich im Hinblick auf die erhofften Hilfen der internationalen Gemeinschaft auch zeitlich günstig demonstriert. Doch den zuvor im Parlament geführten politischen Grabenkrieg um Nepals künftigen Föderalismus lagerten sie mit dem Abkommen lediglich hastig in das noch zu bildende Expertengremium aus. Wie es weiter gehen könnte - Zwei Szenarien: a) Politische Einheit schafft Kraft für den Wiederaufbau Aus gutem Grund hatte das 16-Punkte-Abkommen im Juni in Kathmandu für Euphorie gesorgt. Wie es schien, könnte in den Trümmern des Erdbebens wenigstens eine neue politische Harmonie gedeihen, die es dem Land erlauben würde, schneller wieder auf die Beine zu kommen. Der politische Schulterschluss hat die internationalen Geber dann auch offensichtlich ausreichend davon überzeugt, dass es Nepals Politiker mit dem politischen und physischen Wiederaufbau ernst meinen. Die am 26. Juni einberufene internationale Geberkonferenz bescherte Nepal insgesamt 4,4 Mrd. US Dollar Katastrophen- und Aufbauhilfe (Davon sagten die EU und Großbritannien jeweils 110 Mio. US Dollar, die USA 130 Mio., Japan 260 Mio., die Asiatische Entwicklungsbank 600 Mio. und die Weltbank 500 Mio. US Dollar zu.). Allen voran jedoch boten Indien und China großzügige Hilfen an, insgesamt 1,5 Milliarden US Dollar. Beiden Nachbarstaaten, die miteinander in ständigem Grenzkonflikt und ökonomischer Rivalität verbunden sind, ist daran gelegen, Nepal als „Pufferstaat“ stabil zu wissen, um sicher gehen zu können, dass keiner der Großnachbarn in Kathmandu mehr Einfluss hat als der andere. Es besteht also Grund zur Annahme, dass die Elendslage der Bevölkerung nach dem Erdbeben von den politisch Verantwortlichen als Auftrag zur Kompromissbildung verstanden wird. Diese ist Voraussetzung für einen zügigen und erfolgreichen Wiederaufbau des Landes. Alle Geber appellierten an Nepals Regierung, die Hilfssummen transparent und verantwortungsvoll auszugeben, Forderungen nach mehr Demokratie und Einheit sprachen sie hingegen nicht an. Positiv ist bislang, dass der erste, Anfang Juli präsentierte Verfassungsentwurf dem Parlament künftig explizit mit einer Dreiviertelmehrheit erlaubt, die Verfassung erneut zu ändern. Diese Aussicht entschärft einzelne Sätze und bietet zu einem späteren Zeitpunkt, nach Erledigung der lebenswichtigen Aufbauarbeiten, Raum für Grundsatzdebatten und Revisionen. Dass diese Debatten notwendig sein werden, deutete bereits die breite Empörung von republikanisch-religiöser Seite an, mit der die im Entwurf gemachte Festlegung Nepals auf ein säkulares, sozialistisches System kommentiert wurde. Ein weiteres positives Signal ist, dass die regierende Kongresspartei zwar unter Druck, aber dennoch klar gemacht hat, die Macht mit den anderen großen Parteien teilen zu wollen, sobald die neue Verfassung angenommen werde. Es gibt zudem Anzeichen, dass die Hardliner-Maoisten zunächst bei ihrer konstruktiven Rolle bleiben wollen, obgleich ihnen der Kompromisscharakter des Verfassungsentwurfes entschieden zu weit geht. Positiv ist auch, dass nach anfänglicher Kritik an mangelnder Inklusion nun landesweite Konsultationen mit Nepals Zivilgesellschaft anberaumt wurden (genauer am 20. und 21. Juli), wobei noch unklar ist, wie die Ergebnisse dieser öffentlichen Diskussionen Eingang in den Verfassungsentwurf finden sollen. All dies deutet auf eine einstweilige Entspannung im jahrzehntealten Machtkampf um Nepals Politik. Denn nur wenn dieser sichtbar beigelegt wird, könnte sich eine Einheitsregierung ohne Reibungsverluste ans Werk des Krisenmanagements und des Wiederaufbaus machen. Nur eine Einheitsregierung könnte es unter diesen Umständen wagen, die seit einem Jahrzehnt ausgesetzten und daher dringend erforderlichen Wahlen auf kommunaler Ebene durchzuführen. Denn ohne gewählte Volksvertreter_innen und damit Mitspracherechte einzelner Ethnien und lokaler Vertreter_innen droht das Wiederaufbau- und Nothilfeprogramm zu einer Steilvorlage für Ungerechtigkeiten und Korruption zu werden. Das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Regierung könnte, nach ersten Wiederaufbau-Erfolgen, wieder wachsen und wäre eine gute Grundlage für die notwendigen politischen Grundsatzdebatten der Zukunft. b) Ein Verfassungs-Schnellschuss facht alle Konflikte an Kritische Kommentatoren hatten es schon kommen sehen: Als Anfang Juli der erste Verfassungsentwurf im Parlament vorgelegt wurde, reagierten trotz verabredeter Protest-Abstinenz nicht nur Vertreter_innen der Opposition, sondern auch Abgeordnete der regierenden Kongresspartei empört. Schon warnen viele, dass die Verfassung nicht wie versprochen Mitte August (die erste Deadline war ursprünglich für den 15. Juli angekündigt worden) zur Verabschiedung bereit sein werde, da ihr Entwurf über zu viele grundsätzliche Fragen hinwegstolpert. Kritikern bereiten halbgare Sätze zum künftigen föderalen System Bauchschmerzen. Sie erwarten mehr Konkretes zum Grundgedanken der föderalen Ordnung, verbirgt sich hinter dieser doch die heikle Frage nach Nepals Identität zwischen Hindu-Nation und sozialistischer Republik, zwischen Kastendenken und egalitären Aspirationen. Auch das Lob des bewaffneten Kampfes im Präambel-Entwurf sorgte für Aufregung, da es möglicherweise Gewalt als Mittel der Politik legalisiert. Ebenso das nach wie vor übergriffige Selbstverständnis der Legislative gegenüber Nepals Judikative lässt die Anfangseuphorie verpuffen, ganz zu schweigen von den nach wie vor unklaren Mitspracherechten für ethnische Minderheiten. Beobachter befürchten nun, dass diese mit dem Entwurfstext erneut heraufbeschworenen Debatten über den künftigen Staat und die Lebenschancen aller Nepales_innen die eben noch demonstrierte Geschlossenheit schnell wieder unterminieren werden. So könnte der Verfassungs-Schnellschuss der vier führenden Parteien just das Gegenteil bewirken: statt politischer Einheit nun den politischen Gau. Dieser wäre erreicht, wenn Nepals Eliten der im Monsunregen noch immer in Zelten wohnenden Bevölkerung statt klaren Wiederaufbau-Konzepten politische Kabale bieten. Ein Zurück zum Status Ante, also der irgendwie auch komfortablen politischen Blockade des Jahrzehntes vor dem Erdbeben, ist angesichts der Leiden von Millionen von Nepales_innen keine Option mehr. Schafft es der durchaus respektierte greise Premier Sushil Koirala und die Kongresspartei in den kommenden Wochen nicht, die eben erst geschmiedete Koalition der Willigen beisammen zu halten, droht Nepal ein Schicksal wie Haiti. Auf der karibischen Insel stehen auch fünf Jahre nach dem verheerenden Erdbeben kaum intakte Gebäude, Millionen an Hilfsgelder sind verschwunden und in der Bevölkerung kocht der Zorn. Anders als Haiti ist Nepal jedoch keine Insel, sondern labiler Sicherheitsabstandshalter zwischen zwei nervösen Großmächten, China und Indien, die gerne und schnell mal zur Waffe greifen. Adrienne Woltersdorf, Referat Asien und Pazifik, Juli 2015 Die FES in Nepal Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist in Nepal seit 1995 aktiv. Sie begleitet und unterstützt den Demokratisierungs- und Friedensprozess in Nepal auf zentralstaatlicher, regionaler und lokaler Ebene. Sie arbeitet dabei eng mit Medien, Gewerkschaften, Universitäten und zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen. Ein besonders wichtiger Partner der Arbeit sind politische Parteien. Die Stiftung bietet Plattformen für den überparteilichen Dialog zu Fragen der zukünftigen Verfassung des nepalesischen Gemeinwesens an und setzt sich insbesondere für das Thema innerparteiliche Demokratie ein. In enger Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftsbewegung Nepals engagiert sich die FES für soziale Gerechtigkeit und gute Arbeit. Weitere thematische Schwerpunkte der Arbeit der FES in Nepal sind die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, die Gleichstellung der Geschlechter und die Förderung der Rechte der Dalits („Unberührbare“). Mit ihren Angeboten ist die FES nicht nur in den Zentren des Landes, sondern auch in den entlegenen Regionen des Himalaya-Staates präsent. Darüber hinaus engagiert sich die Stiftung grenzüberschreitend für eine stärkere Einbindung Nepals in regionale Kooperationsstrukturen. Das Büro der FES mit Sitz in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu wird von Dev Raj Dahal, einer nepalesischen Ortskraft, geleitet. Bilder aus Kathmandu nach den Erdbeben:
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