alles behandelbar Physio- und Ergotherapie, Logopädie ... Viele Kinder sind heute schon im Grundschulalter durchtherapiert wie früher schwerkranke Erwachsene. Der Kinderarzt Michael Hauch findet: Erzieher und Lehrer sind mitverantwortlich für eine Fehlentwicklung. Die Grundschulrektorin Astrid Ficinus verteidigt den Einfluss der Pädagogen. Ein Streitgespräch. Moderation Barbara Esser Fotos Henning Ross „Ich erlebe es häufig, dass Kinder schon nach sechs Wochen Schule als hochauffällig eingestuft werden“ michael hauch, kinderarzt 60 „Man sollte Therapien nicht verteufeln. Sie unterstützen unsere pädagogische Arbeit“ Astrid ficinus, Grundschulrektorin 61 Bei der aktuellen Umfrage einer Krankenkasse gaben nahezu alle niedergelassenen Kinderärzte an, dass sie heute mehr motorische Defizite, Verhaltensauffälligkeiten, Sprachstörungen und psychische Probleme unter Kindern beobachten als vor zehn Jahren. Würden Sie widersprechen, Herr Hauch? Michael Hauch: Ich versuche es differenzierter zu betrachten. Dass die Auffälligkeiten insgesamt zugenommen haben, bestätigen die Schuleingangsuntersuchungen. Mein Eindruck ist allerdings auch, dass Kinder heute schneller auffällig werden. Früher waren Eltern und Lehrer wahrscheinlich etwas gelassener – und die Kinder etwas anders erzogen. Wie erleben Sie das an Ihrer Grundschule, Frau Ficinus? Astrid Ficinus: Wir sehen mehr Verhaltensauffälligkeiten als noch vor fünfzehn Jahren. Es gibt mehr Kinder, die unruhig sind und sich schwer konzentrieren können. Auch die motorischen Defizite haben zugenommen. Je nachdem wie stark diese Auffälligkeiten in einer Klasse mit dreißig Schülern sind, müssen wir aktiv werden. Ohne Hilfe von außen können wir die Probleme oft nicht bewältigen. Aktiv werden kann heißen: eine Therapie empfehlen. Herr Hauch, in Ihrem kürzlich erschienenen Buch „Kindheit ist keine Krankheit“ berichten Sie, dass immer mehr Eltern auf Geheiß der Lehrer oder Kita-Erzieher in Ihre Sprechstunde kommen und um eine Therapie für ihre Kinder bitten. Läuft da was schief? Michael Hauch: In der Tat. Denn die Eltern kommen weniger aus eigener Sorge, sondern weil ihnen Erzieher oder Pädagogen sagen, mit ihrem Kind stimme etwas nicht. Es vergeht kaum ein Tag in meiner Praxis, an der nicht verunsicherte Mütter um Physio-, Ergotherapie- oder Logopädieverordnungen für ihre Kinder bitten. Manchmal bringen sie schon die Adresse eines Ergotherapeuten oder Logopäden mit und erwarten, dass ich nur schnell unterschreibe. Der Druck kommt von den Erziehern und Pädagogen? Michael Hauch: Ich sehe, dass Eltern oft schon im Kindergartenalter mit einer ganz klaren Diagnose einer Erzieherin in meine Praxis kommen. Häufig sind das sehr junge Erzieherinnen. Die älteren, erfahrenen sind da entspannter. In der Erzieherausbildung ist diese frühzeitige Erkennung und auch Intervention bei vermeintlichen Fehlentwicklungen heute ein großes Thema. Die Aufmerksamkeit dafür ist sehr gestiegen. 62 Michael Hauch Werdegang Michael Hauch, Jahrgang 1957, ist seit mehr als 20 Jahren niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in Düsseldorf. Zuvor arbeitete er in der KinderOnkologie und -Neurologie der Universitätskinderklinik in Düsseldorf. Kürzlich erschien sein Buch „Kindheit ist keine Krankheit. Wie wir unsere Kinder mit Tests und Therapien zu Patienten machen“ (Fischer, 14,99 Euro) erschienen. Auch in den Schulen? Michael Hauch: Auch da. Ich erlebe es häufig, dass Kinder schon sechs Wochen nach Schulstart als hochauffällig eingestuft und die Eltern zum Kinderarzt geschickt werden. „Wenn Sie da nichts tun, wird das nichts mit dem Gymnasium“, heißt es dann. Und die Eltern sind alarmiert. Mir berichten Eltern, dass Grundschullehrerinnen schon beim ersten Elterngespräch die Prospekte von passenden Therapeuten auf den Tisch gelegt haben, mit der Empfehlung, diese doch schnellstens aufzusuchen. Die Eltern haben dann plötzlich ganz großen Druck. Astrid Ficinus: Ich sehe das ein bisschen anders. An meiner Schule vermeiden wir Diagnosen. Aber natürlich weisen wir Eltern darauf hin, wenn uns etwas auffällt und raten ihnen, zum Kinderarzt zu gehen. Das ist unsere Pflicht. Wir sind als Schule nicht nur verpflichtet zu erziehen und zu bilden, wir haben auch den Auftrag, individuell zu fördern. Individuelle Förderung ist heute das große Credo der Bildungspolitik. Wie verändert das den Schulalltag? Astrid Ficinus: Das bedeutet intensive Arbeit. Die Zeit, die meine Kollegen und ich aufgrund schwieriger Fälle in Elterngesprächen zubringen, steht in keinem Verhältnis zu dem, was unsere eigentliche Aufgabe ist. Allein letzte Woche hatte ich sechs Gespräche. Übrigens fiel nicht ein einziges Mal das Wort Therapie. Oft kommen Kinder bei mir allerdings schon mit einem ganzen Therapie katalog aus dem Kindergarten oder einer anderen Schule an. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass die schulärztlichen Gutachten viel differenziertere Aussagen über das schulpflichtige Kind treffen als dies früher der Fall war. Wir als Schule können dadurch frühzeitiger individuelle Fördermaßnahme einplanen. Führt der Förderauftrag der Grundschulen zu einem vorschnellen Abstempeln von Kindern als Problemfall? Astrid Ficinus: Ganz klar nein. Die individuelle Förderung ist eine große Chance. Wir schauen ganz genau, wie man ein Kind zum Beispiel durch besondere Aufgaben gezielt fördern kann. Gerade mit der Inklusion sind wir da stark gefordert. Wir müssen diese Kinder ja auch mitnehmen. Anhand der Förderpläne können die Eltern sehen, dass wir das Kind im Blick gehabt haben. Die wollen ja, dass ihr Kind es schafft und müssen deshalb mitziehen. Michael Hauch: Ich habe gar nichts gegen Förderung, vor allem wenn sie die Familie mit einbezieht. Aber medizinische Therapie ist eben etwas ganz anderes. Da wird ein Problem aus der Familie ausgelagert. Jeder vierte sechsjährige Junge bekommt inzwischen eine Sprachtherapie, jeder achte macht eine Ergotherapie. Verordnen Kinderärzte zu leichtfertig? Michael Hauch: Viele stellen zu schnell Verordnungen aus, ohne das Kind ausführlich zu untersuchen und auch die Gesamtsituation anzusehen. Das Elternhaus, die Ziele der Therapie. Therapien sollten wirklich nur dann zum Einsatz kommen, wenn alles andere nichts gebracht hat. Warum tun Ärzte das? Viele Ihrer Kollegen beklagen ja selbst die Therapieflut. Michael Hauch: Oft beugen sie sich dem Druck der Eltern. Die Ärzte sind auch nur in ihrem Medizinsystem drin. Denen fällt eben als erstes eine Therapie ein, wenn ein Kind Bewegungsstörung hat – und nicht unbedingt der Fußballverein oder der Weg in einen Psychomotorikkurs. Bei vernachlässigten Kin- dern ist oft falsch verstandene Wohltätigkeit das Motiv. Nach dem Motto, wenn sich schon zu Hause keiner kümmert, dann spielt wenigstens eine Therapeutin einmal die Woche eine halbe Stunde liebevoll mit dem Kind. Nur: Das bringt nichts! Man muss mit den Familien arbeiten, man darf das nicht an Therapeuten delegieren. 2013 haben die Krankenkassen 5,4 Milliarden Euro für die sogenannten Heilmittel ausgegeben. Ist das Budget, das Kinderärzte für entsprechende Verordnungen haben, angemessen? Michael Hauch: Ich jedenfalls schöpfe meines nicht mal zur Hälfte aus. Und ich glaube nicht, dass ich deshalb ein schlechter Arzt bin. Ich weiß von Kollegen in Brennpunktvierteln, die ihr Budget auch bei Weitem nicht aufbrauchen. Ich habe als Arzt die astrid ficinus Werdegang Astrid Ficinus, Jahrgang 1963, arbeitet seit mehr als 24 Jahren als Grundschullehrerin. Seit 15 Jahren ist sie Schulleiterin. Aktuell leitet sie die evangelische Brehm-Schule in Düsseldorf. Dort engagiert sich die Päda gogin für moderne Lernkonzepte und kooperiert bei Bedarf mit Therapeuten, Psychologen und Sozialpädagogen, um die indi viduelle Förderung der Kinder zu gewährleisten. „Wir spüren auch in der Grundschule schon einen Optimierungshype“ astrid ficinus Pflicht im Sinne der Kinder zu handeln. Das heißt, dass ich ein Kind im Zweifel auch vor einer Fehldiagnose schützen muss. Ich habe hier Kinder, die zum Teil schon sechzig bis achtzig Stunden Therapie bekommen haben und es hat sich nichts entwickelt. Versuchen Sie Eltern oft eine Therapie auszureden? Michael Hauch: Ja. Ich versuche, ihnen Vertrauen in ihre eigene Erziehungskompetenz und auch die Gesundheit ihrer Kinder mitzugeben. Und in die Tatsache, dass sich viele Dinge von ganz alleine auswachsen. Ich muss mir nur meine eigenen Kinder ansehen. Alle drei wären unter den heutigen Vorgaben durchs Raster gefallen, weil sie spät zu laufen und zu sprechen anfingen. Eine Tochter hatte massive Probleme in der aben ihren Weg und auch Schule. Alle drei h „Kinder entwickeln sich aber nun mal nicht nach Normen“ michael hauch 63 „Den Eltern wird heute einfach Angst gemacht“ Michael hauch „Lehrer, die ihre Verantwortung ernst nehmen, sollten dafür nicht gescholten werden“ Astrid Ficinus ihren Hochschulabschluss gemacht. Ganz ohne Therapie. Astrid Ficinus: Man sollte Therapien nicht verteufeln. Sie können viel leisten. Sie unterstützen unsere pädagogische Arbeit. Wenn ein Kind dem Unterricht kaum folgen kann, kann das ein Lehrer allein nicht ausgleichen. Und auch das Kind selbst leidet darunter. Wir haben an meiner Schule unter anderem das Ganztagsklassenmodell eingeführt, bei dem sich eine Lehrkraft und eine Erzieherin gemeinsam um die Kinder in einer Klasse kümmern. Darüber haben wir Kooperationen mit Logopäden, Motopäden, Sportpädagogen, Künstlern etc. und vernetzen das mit den Unterrichtsinhalten. Dieses Miteinander für das Kind sehe ich positiv. Sind Eltern heute ängstlicher? Michael Hauch: Ja, das sind sie. Weil alles immer gleich auf die Zukunft bezogen wird. Die Angst, dass das Kind später das Abitur nicht schafft und aus ihm nichts wird, ist groß. Das ist natürlich Quatsch. Aber viele Eltern bewegt das. Ich zitiere dann oft den Satz des berühmten Pädagogen Janusz Korczak, der „das Recht des Kindes auf den heutigen Tag“ formuliert hat. Man darf nicht alles auf die Zukunft beziehen. Astrid Ficinus: Das erfordert ein Zutrauen in das Kind und in sich selbst als Eltern. Ich spüre bei vielen Eltern aber das Gegenteil, eine wachsende Verunsicherung. Lässt sich das Versprechen der frühen Förderung überhaupt einhalten? Astrid Ficinus: Zumindest tun wir alles da64 für, um ein Kind optimal zu fördern. Natürlich spüren wir auch schon in der Grundschule einen gewissen Optimierungshype. Wir stehen unter der Erwartung, alles aus den Kindern rauszuholen, was vermeintlich verpasst wurde oder unentdeckt in ihnen schlummert. Das Kind soll perfekt werden. Und zu dem perfekten Lebensweg zählt für die meisten Eltern eben auch das Gymnasium. Dabei wird oft übersehen, was das Kind wirklich mitbringt. Es soll das Beste aus dem Kind rausgeholt werden. Die Frage ist nur, was ist eigentlich das Beste für das Kind? Michael Hauch: Ich glaube nicht, dass sich dieses Versprechen der frühen Förderung einhalten lässt. Man sollte die Kinder sich mal ganz in Ruhe entwickeln lassen. Kinder entwickeln sich nicht nach Normen. Um den Förderbedarf festzustellen, wird heute viel getestet. Welche Tests machen Sie an Ihrer Schule? Astrid Ficinus: Den Schuleingangstest, den Lese-Rechtschreib-Test, den Hamburger Rechentest und den Heidelberger Lesetest nach Bedarf. Wird zu viel getestet? Astrid Ficinus: Es wäre zu viel, wenn wir keine Konsequenzen zögen. Aber wir leiten daraus ja auch pädagogische Maßnahmen ab. Michael Hauch: Ich finde, die Testeritis nimmt überhand – und sie belastet die Kinder. Die sozialpädiatrischen Zentren werden überflutet von Eltern, die ihre Kinder testen lassen wollen. Deren Ergebnisse werden oft über bewertet. Ich erlebe es immer wieder, dass – auch von den behandelnden Medizinern – eine Therapie empfohlen wird, nur weil ein Kind, das insgesamt gut abgeschnitten hat, in irgendeiner Unterkategorie unter dem Durchschnitt lag. Das ist unverantwortlich. Wir brauchen da eine andere Wertung und einen anderen Begriff von Normalität. Viele Tests müssen zudem in ihrer Aussagekraft sehr angezweifelt werden, weil sie nur an 100 oder 200 Kindern normiert wurden. Den Eltern wird heute einfach Angst gemacht. Nach dem Motto: Wenn ihr jetzt nichts macht, versündigt ihr euch an der Zukunft eurer Kinder. Wann machen Therapien wirklich Sinn? Michael Hauch: Vier bis fünf Prozent der Kinder sind behindert oder chronisch krank, die brauchen immer wieder mal Therapien. Maximal weitere sechs bis sieben Prozent der Kinder brauchen irgendwann mal eine Therapie zu ihrer Unterstützung. Wir kommen also insgesamt auf zehn bis maximal zwölf Prozent eines Geburtsjahrganges. Aber wir therapieren oft die gesunden genauso wie die behandlungswürdigen Kinder. Auch fehlen uns aussagekräftige Studien die den unmittelbaren oder den langfristigen Nutzen von Ergotherapie und Logopädie belegen. Eine Therapie ist nun mal keine Waschmaschine. Ich lasse das Kind behandeln und ich bekomme es sauber und gesund wieder zurück – so funktioniert das leider nicht. Haben Sie an Ihrer Schule Kinder mit ADHS, Frau Ficinus? Astrid Ficinus: Pro Klasse ein bis maximal zwei, ja. NEU im Kom bipack Erste Hilfe aus der Natur Arnica 1+1 DHU Kommt es im Alltag mal anders als gedacht, ist Arnica 1+1 DHU schnell zur Stelle: • Globuli zum Einnehmen • Salbe zur äußeren Anwendung • vereint in einem Kombipack Fragen Sie in Ihrer Apotheke nach dem starken Duo: Arnica 1+1 DHU! hom_0515_2_EV_1+1 Wie halten Sie es mit Ritalin? Astrid Ficinus: Ich tue mich als Pädagogin schwer, das zu empfehlen. Aber die Mehrzahl der betroffenen Kinder nimmt Ritalin und für den Unterricht ist das wirklich hilfreich. Trotzdem sieht man auch, dass die Kinder oft schon so ein bisschen gedopt und gebremst wirken. Manchmal sind Eltern sogar schneller mit dabei als wir das sind. Man kann viel über Verhaltensregeln bewirken. Nur ist das sehr zeitaufwendig. Ritalin wirkt schneller. Michael Hauch: Und wird leider ebenfalls viel zu leichtfertig und oft als einzige Therapie verschrieben. Psychotherapie für Kind und Eltern, Unterstützung zu Hause und in der Schule und Konzentrationstraining werden kaum verordnet. Die Untersuchung auf ADHS kostet viel Zeit und erfordert viel Erfahrung. Ärzte, die beides nicht haben, stellen lieber eine schnelle – und oft falsche – Diagnose auf Basis der elterlichen Erzählung. Inzwischen haben wir in Deutschland mehr als 600 000 Kinder, die angeblich ADHS haben sollen. Fast die Hälfte von ihnen wird mit Medikamenten behandelt, die in einem Drittel der Fälle Nebenwirkungen haben. Das kann nicht der richtige Weg sein. Kinder, die in der Schule lediglich etwas unruhiger sind als der brave Durchschnitt, brauchen Geduld, Verständnis und erzieherische Hilfe – von ihren Eltern, aber vor allem auch von den Grundschullehrerinnen. Astrid Ficinus: Wir dürfen natürlich nicht zu vorschnell therapieren. Aber genau hinschauen müssen wir schon. Wir versuchen in der Schule, die Kinder aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Dazu haben wir multiprofessionelle Teams. Psychologen, Erzieher, Sozialpädagogen. Die Schule wird hier mehr und mehr zu einer Art Familienzentrum. Lehrer, die ihre Verantwortung ernst nehmen, sollten dafür nicht gescholten werden. Wir brauchen diese Stärkung von Familien auch mit Kompetenzen, die mit der Schule gar nicht so viel zu tun haben. Michael Hauch: Das stimmt. Niemand kann einem Kind so viel Gutes mitgeben wie seine Eltern. Auch die beste Therapie nicht. www.dhu-globuli.de Anwendungsgebiet: Registriertes homöopathisches Arzneimittel, daher ohne Angabe einer therapeutischen Indikation. Streukügelchen enthalten Sucrose (Saccharose/Zucker), Salbe enthält Cetylstearylalkohol. Packungsbeilage beachten! Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.
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