Nora Gomringer: Morbus. Verlag Voland & Quist 2015 Arznei oder MORBUS: Nora Gomringer Ist Off-Literatur ein Auffangbecken oder Sprungbrett für junge Poetinnen und Poeten? Liest man die Gedichte der jungen Poetry-Slammerin Nora Gomringer, so befallen diese einen leise wie eine Krankheit. Man will jedoch nicht heilen – nicht sofort. Denn neben der Neugierde auf Sprache wächst die Neugierde, was folgt. Losgelöst von Metrik, Versmaß und Strophenform, aber ganz in einem eigenen Rhythmus. Gomringer klopft leise an unsere grauen Gehirnzellen – Selbstheilung? In „Morbus“ gleicht ihr Stift einem Seziermesser. Ihre Gedichte sind Stimme, Sprachrohr und Megaphon für die Worte der Krankheiten. Das Grausame: Sie sind so nahe am Leben wie wir selbst. Das macht betroffen, erweckt Angst, mehr als ihre Ungeheuer, die sie in den „Monster Poems“, dem ersten Band dieser Lyrik-Trilogie, zum Leben erweckte. Diesmal sind unsere Körper der Schauplatz des Geschehens, die Bühne für den großen und manchmal auch letzten Auftritt. Es empfiehlt sich also mit Humor zu lesen, um Distanz zu wahren. Begleitet von Collagen des Grafikers Reimar Limmer avanciert ihre Poesie zu einem intermedialen Rätsel, das es zu lösen gilt. Scheinbare Unterbrechungen von Logik animieren zum Weiterforschen, als müsse man die Krankheiten erst selbst entdecken. Wer während der Lektüre keine Diagnose stellen kann, darf getrost im Inhaltsverzeichnis den medizinischen „Titel“ nachlesen. Eine neue Anatomie ersetzt die alte Form, und nicht Wortgewalt, sondern die bittersüße Nähe zu uns selbst ist ihre gedankenanregende Kraft. Die Kluft zwischen Underground und Literaturbetrieb schließt sich allmählich. Nora Gomringer ist ein Beweis dafür, denn mit „Morbus“ gelingt ihr erneut der Sprung vom „Spoken Word“ zur geschriebenen Gegenwartslyrik. Dem Gedichtband ist dennoch, ganz in Poetry-Slammer-Manier, eine Audio-CD beigelegt: 25 Gedichte lang – Vortragskunst à la Nora Gomringer – höchstpersönlich. Ein lesens- und hörwertes Lyrikerlebnis. Bettina Pichler
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