Artikel Tagesspiegel 10.5.2015

DIE STADT
DER TAGESSPIEGEL
TSP: Warum entscheidet sich jemand dafür, nicht
mehr aus dem Haus zu gehen?
LM: Dahinter stecken oft, wie in dem Film „Hedi
Schneider steckt fest“ [siehe Kasten rechts],
Ängste, in deren Rahmen es auch zu Panikattacken kommen kann. Zum Beispiel Angst vor großen Plätzen oder vor Menschenmengen, Angst,
auf offener Straße verfolgt zu werden. Die Diagnosen hinter Ängsten sind mannigfaltig.
TSP: Wohlstand und Bildung sind wichtige Faktoren für die Gesundheit. Ließe sich danach ein spezifischer Berliner Stadtplan erstellen?
IJJ: In jedem Fall bei Krankheiten, wo Drogen eine
Rolle spielen. Im Osten ist das vorrangig der Alkohol, die Vielfalt der Substanzmittel ist geringer als
S5
Ina Jarchov-Jádi, 54,
Pflegedirektorin
„Ich bin Gott.“
„Unmöglich, ich bin Gott!“
„Nun pass mal auf, du . . .“
Tagesspiegel (TSP): Frau Jarchov-Jádi, Frau Mahler, Ihre Psychiatrie ist zuständig für Patienten aus
Tiergarten und Wedding, beide Stadtteile beschreiben Sie selbst als „schwierig“ mit „besonders vielen
psychisch schwer kranken Menschen“. Mit welchen
Problemen schlagen Sie sich herum?
Lieselotte Mahler (LM): Schwere Krisen, die mit
sozialer Armut zu tun haben, oder suizidale Krisen, bei denen jemand voller Alkohol oder Drogen
ist, die finden Sie in unseren Stadtteilen häufiger.
Wenn Sie dagegen Depressionen oder psychosomatische Erkrankungen nehmen, unterscheidet
sich der Wedding kaum von Zehlendorf oder Pankow.
Ina Jarchov-Jádi (IJJ): Unsere Klinik liegt in Mitte,
zu unserer Versorgungsregion gehört auch der
Hauptbahnhof, und das Zentrum einer Großstadt
wie Berlin zieht andere Menschen an als deren
grüne Ränder.
LM: Berlin wirkt wie ein Magnet, man könnte von
Psychiatrie-Tourismus sprechen. Viele Patienten
sagen uns, dass sie sich hier freier fühlen. Wenn
Sie stundenlang auf einen Busch einschlagen oder
mit einem Mülleimer diskutieren, landen Sie in
Zürich oder Nürnberg schnell in der Psychiatrie.
In Berlin müssen Sie dazu noch den Mülleimer
anzünden und die Polizei beschimpfen. Wenn Sie
sich hier verrückt kleiden oder Stimmen hören,
kein Problem, Sie haben eine größere Narrenfreiheit. Auch das Regierungsviertel zieht kreative
Leute an, die sich irgendwo in den Zug setzen und
sagen, ich muss mal zu dieser Frau Merkel ins
Kanzleramt, ich will endlich wissen, warum
meine Wohnung abgehört wird und wie die NSA
da involviert ist.
IJJ: In der konservativen Ländlichkeit, so wie in
Schwaben, im Emsland, Odenwald oder ähnlichen
Gegenden, gibt es eine starke soziale Kontrolle.
Das ist ein schwieriger Lebensraum für Menschen, die anders ticken. Die fühlen sich in der
Metropole – in Anführungsstrichen – normaler,
weil sie nicht ständig einer moralischen Bewertung ausgesetzt sind. Und irgendwann regeln sie
hier auf einer vielbefahrenen Straße den Verkehr,
rennen in Geschäfte rein und veranstalten wilden
Trubel, sie klettern aufs Dach vom Bahnhof oder
die Gleise. Wenn sie bedrohlich wirken für andere
oder sich selbst, landen sie bei uns.
LM: Mir sagen Patienten oft, ich musste aus meinem alten Umfeld weg, was ja schon mit ihrer Psychose zu tun hatte, weil die mobben und verfolgen
mich, die reden alle über mich. Man nennt das
Beziehungserleben: Ich sehe, wie die Bäckerin
meinen Arbeitskollegen grüßt, ganz klar, die stecken unter einer Decke. Wenn ich dann aus einem
kleinen Kosmos in die große Stadt flüchte, habe
ich erst mal meine Ruhe. Man sollte gar nicht prinzipiell das Landleben verteufeln, ein soziales Netz
hat viel Positives. Denn in Berlin kann sich jemand
wochenlang isolieren und die Wohnung nicht verlassen, ohne dass es auffällt.
NR. 22 396 / SONNTAG, 10. MAI 2015
Fotos: Kai-Uwe Heinrich(2), Rui Calcada Bastos / Komplizen Film
Lieselotte Mahler,
39, Oberärztin
Eine Berliner Klinik
hat die Psychiatrie
revolutioniert.
Die Idee des
„Weddinger Modells“:
Patienten ernst nehmen
und nicht bevormunden;
die Türen sind offen,
die Regeln flexibel.
Ein Gespräch mit den
beiden Erfinderinnen
Interview: Susanne Kippenberger
Und Norbert Thomma
in Kreuzberg oder Mitte, wo alles Mögliche konsumiert wird. In bürgerlichen Gegenden finden Sie
Probleme mit Medikamenten. Das fängt harmlos
an, der Hausarzt verschreibt was zur Beruhigung
oder dass man besser einschläft – das wächst dann
schleichend bis in die Abhängigkeit.
LM: Auch Biografien können wichtig sein, da unterscheiden sich die Bezirke. Einige unserer alten
Patienten, die bis zur Wende im Osten lebten, haben ja auf einen Schlag nicht nur ihren Staat verloren, sondern häufig auch ihre Jobs. Manche haben
noch Bomben und Krieg erlebt, vielleicht eine Vertreibung, die Vergewaltigung der Mutter, dann waren sie berufstätig und haben sich stabilisiert. Mit
dem Mauerfall erlebten sie einen zweiten Zusammenbruch, und irgendwann entwickelten sie eine
schwere Depression oder Angststörung, die können etwa plötzlich nicht mehr in einem geschlossenen Raum sitzen.
TSP: Das Bild der Psychiatrie in unseren Köpfen ist
geprägt durch Filme wie „Einer flog übers Kuckucksnest“ mit Jack Nicholson, wo Patienten mit Elektroschocks und Zwangsjacken gemartert werden. Gibt
es das noch?
IJJ: In dieser Form in Deutschland nicht. Was es
manchmal noch gibt, sind der Anstaltscharakter
und die Trostlosigkeit von Kliniken und immer
wieder mal eine große Distanziertheit zwischen
Personal und Patienten. Viel spielt da natürlich
auch die gelebte Haltung – im Positiven wie im
Negativen – eine Rolle. Ein großes Problem ist
nach wie vor die Stigmatisierung von Menschen
mit psychischen Erkrankungen. Wer mal in der
„Geschlossenen“ war, trägt diesen Makel ein
Leben lang.
TSP: Im oscargekürten „Kuckucksnest“ wie auch in
„Hedi Schneider steckt fest“ muss man trotz aller
Tragik lachen, weil Situationen so komisch sind. Ist
das realistisch?
LM: Oh ja. Ein Patient zum Beispiel, inzwischen
über 60 und hochintelligent, kommt seit Jahren
immer wieder zu uns, weil er in Krisen gerät. Er
hält sich für Gott. Einmal kam er im November
und sagte, ich bin Jesus Christus, und dieses Jahr
bin ich eine Frühgeburt, ihr seid doch die Spezialstation für Frühchen. Das ist schon irre komisch,
was? Dann hatten wir acht Monate lang einen Patienten, der sich auch für Gott hielt und aggressiv
wurde, weil er dachte, er könne Menschen heilen,
indem er ihnen auf den Kopf haut. Nun kam eines
Tages unser Stammgott dazu. Die trafen sich auf
dem Flur, und es kam zu folgender Szene: „Ich bin
Gott.“ „Nein, ich bin Gott.“ „Unmöglich, denn ich
bin Gott!“ „Ich bin Gott.“ So ging das zehn Minuten lang hin und her. Und dann sagte unser Stammgott, der cleverer war als der andere: „Nun pass
mal auf, du, ich bin Gott, und du hast keine Krankheitseinsicht!“
TSP: Was?
LM: Ein Terminus von uns Profis, wir sagen schon
mal in einem Gespräch mit Patienten: Sie sind
nicht krankheitseinsichtig. Aber diese göttliche
Begegnung zeigt, die können noch so „ver-rückt“
sein, es gibt eine doppelte Welt, die wissen oft
auch, was real ist.
TSP: Sie beide haben vor fünf Jahren im St.-Hedwig-Krankenhaus angeregt, was in Fachkreisen als
„Weddinger Modell“ Furore macht. Was ist hier so
anders?
LM: Wir haben mit klinischen Strukturen gebrochen, die nicht hilfreich sind. Wir entscheiden
nicht über die Patienten hinweg, sondern besprechen die Therapien mit ihnen zusammen. Es gibt
flache Hierarchien bei allen Mitarbeitern, Ärzten,
Pflege, Therapie… Die Angehörigen werden bei
uns mit einbezogen. Wir gehen flexibel auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten ein. Das ist
es in aller Knappheit.
TSP: Das klingt überaus vernünftig und gilt doch als
Revolution. Was hat Sie denn in der traditionellen
Psychiatrie so auf die Palme gebracht?
LM: Nehmen wir einen alten Mann mit einer Depression, der zu uns zur Behandlung kommt.
Dann kann es passieren, dass sich ein Team zusammen setzt und sagt, der hat die und die Diagnose,
also muss er dieses Medikament nehmen, es wird
ein Therapieplan gemacht: Er soll die Antidepressionsgruppe besuchen, die Hauswirtschaftsgruppe… Alle wollen nur das Beste für diesen Menschen, der aber nicht aktiv einbezogen wird. Es ist
doch Hybris zu sagen, Therapien wirken, weil wir
sie so nennen. Wenn der Mann nicht in die Haushaltsgruppe will, heißt es, der ist nicht therapiemotiviert. Ich sagte dann, Leute, wenn ich im Alter depressiv bin und muss bügeln, dann suizidiere ich mich! Ich hasse Bügeln, ich habe noch
nie ein Bügeleisen angefasst. Eine Therapie kann
doch nur wirken, wenn sie die Interessen dieses
alten Mannes berührt, seine Ressourcen berücksichtigt.
TSP: Interviews oder Vorträge machen Sie in der
Regel nie einzeln und ...
IJJ: … auch das gehört zum „Weddinger Modell“,
es ist ein Zeichen für die Multiprofessionalität,
und wir glauben, das wird die Zukunft in Krankenhäusern sein. Es arbeiten ja aus gutem
Grund mehrere Berufsgruppen zusammen, Ergotherapeuten mit einer speziellen Ausbildung,
Ärzte mit einer speziellen Ausbildung, Sozialarbeiter, die Pflegekräfte, alle mit eigenem Fachwissen. Nehmen wir einen Patienten, bei dem
Schulden aufgelaufen sind oder die Wohnung
verwüstet ist, dann sind das drückende existenzielle Probleme für ihn, da kann in dieser Phase
der Sozialarbeiter eine viel wichtigere Rolle spielen als ein Arzt.
TSP: Was sofort auffällt, wenn man bei Ihnen durch
die Stationen läuft, ist das Fehlen von weißen Kitteln oder Statusabzeichen. Das Personal und die Patienten sind auf den ersten Blick nicht voneinander
zu unterscheiden.
LM: Stellen Sie sich mal vor, Sie fühlen sich von
den Nachbarn ausspioniert und schlagen eines Tages ein Loch in die Wand, stecken Ihren Kopf hindurch und schauen nach, was da drüben los ist.
Dann rufen die Nachbarn die Polizei, die bringt
Sie an einen Ort, wo jemand im weißen Kittel auf
Sie zukommt, mit einer Spritze in der Hand. Was
haben Sie da? Todesangst. Sie rasten aus, ist doch
klar.
TSP: Die sind sogar zusammen untergebracht, das
macht es nicht kompliziert?
IJJ: Auch das bedeutet Normalität und macht’s einfacher. Ich kenne noch getrennte Männer- und
Frauenstationen, das war echt problematisch! Natürlich gibt es Frauen, die keine guten Erfahrungen mit Männern haben und umgekehrt, wir haben dafür mit Chipkarten die Möglichkeit geschaffen, dass Patienten ihr Zimmer verschließen und
zur Ruhe kommen können, und nur das Personal
Zugang hat, so ähnlich wie in einem Hotel. Wir
haben ja manchmal Patienten, die distanzgemindert sind und anderen mal zu nahe rücken. Durch
die Chipkarten können sich die Mitpatienten zurückziehen.
TSP: Noch so etwas Auffälliges: Bei Ihnen darf munter geraucht werden.
IJJ: Nicht überall. Aber Rauchen hat einen deeskalierenden Effekt. Wer raucht, will sich entspan-
„Wenn ich im Alter
depressiv bin und muss bügeln,
suizidiere ich mich“
IJJ: Ich würde mich da auch mit Händen und Füßen wehren, drohen und versuchen zu fliehen,
das ist ja ein eher gesunder Impuls, etwas Normales.
LM: Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, in einer
Notsituation – da will jemand aus dem Fenster
springen oder greift mit einem Stuhl an – gegen
seinen Willen ein Medikament zu verabreichen.
Nur würden wir dann bei diesem Menschen bleiben, ihn beruhigen, versuchen zu erklären, was
passiert ist, die Situation möglichst bald aufarbeiten. Wenn Sie jemanden, den die Polizei gebracht
hat, fixieren, ein Medikament verabreichen und
sagen, wenn der sich in ein paar Tagen beruhigt
hat, sprechen wir, dann ist das Kind in den Brunnen gefallen. Das Vertrauen ist weg, und zwar verständlicherweise, denn dieser Mensch fühlt sich
entrechtet. Wäre ich Patient, dann würde ich mir
wünschen, dass ich in meiner Krise Wärme spüre
und Schutz, dass man mich ernst nimmt mit meinen Ängsten.
IJJ: Andere übernehmen die Kontrolle über ihn:
Wir wissen, was gut für Sie ist! Egal, was Sie glauben, was gut für Sie ist.
LM: Dafür hat der bekannte Psychologe Thomas
Bock ein gutes Bild entwickelt, das Tendenzen in
der Psychiatrie ganz schön verdeutlicht, er sagte:
Vor der Psychiatrie sitzen zwei Höllenhunde, die
muss man als Patient füttern, die Krankheitseinsicht und die Therapietreue den Ärzten gegenüber. Dann kriegt man alle Zuwendungen des psychiatrischen Systems.
TSP: Was uns überrascht: Bei Ihnen stehen die Türen meist offen. Und das geht gut?
LM: Sehr wichtig ist für uns, klarzumachen, hier
kommt man auch wieder raus. Das schafft Vertrauen. Wobei wir die Tür schon auch schließen,
wenn konkrete Gefahr besteht.
IJJ: Aber dann verhandeln wir das gemeinsam mit
dem Patienten, wir sagen, wir machen uns Sorgen
um Sie, dass da draußen etwas mit Ihnen passiert,
wir würden die Türe gern offen lassen, aber dann
müssen Sie uns versprechen, jetzt nicht einfach
rauszumarschieren. Es gibt durchaus Patienten,
egal wie verrückt, die verlässlich sagen, das mache ich nicht, und tun es dann auch nicht.
LM: Mir fällt da die Frau ein, die von auswärts nach
Berlin kam, die hat uns nur angeschrien. Sie hatte
TSP: Ist es ein Unterschied, ob Patienten ein Mann
oder eine Frau gegenübertritt?
LM: Im Positiven wie im Negativen. Eine Frau mit
der Erfahrung von Vergewaltigung will vielleicht
nur mit einer Frau sprechen. Es gibt auch Frauen,
die sagen, um Gottes Willen, ich lasse mich doch
von keiner Tussi behandeln. Dazu kommen auch
kulturspezifische Aspekte.
nen, und es wäre nicht hilfreich, jemandem in einem Moment die Zigarette zu verbieten, wo er in
Stress geraten ist, in eine tiefe Krise. Ich denke an
diesen kräftigen alkoholisierten Mann aus der
Hooligan-Szene, der bedrohte einen Arzt massiv,
indem er ihn am Hals packte, in eine Ecke drängte
und ihn umzubringen drohte. Eine Pflegerin sagte
irgendwann, jetzt lass’ uns erst mal eine rauchen –
und bot ihm eine Zigarette an. Er ließ überrascht
den Arzt los und nahm das Angebot an. Das Signal
war, hey, ich bekomme mit, du bist angespannt,
ich bin es ja auch, wir können doch mal…
TSP: Spüren Sie die wachsende Zahl von Flüchtlingen in der Stadt?
IJJ: Klar. Wir haben Menschen aus der Ukraine,
aus Somalia, aus Syrien, das ist schon mal mit der
Sprache schwierig. Wir arbeiten mit vielen Dolmetschern, aber in der akuten Situation sind die
natürlich meist nicht zur Stelle, und so fällt es verbal schwer, beruhigend und verstehend auf die
Menschen einzugehen. Es kommen kulturelle Besonderheiten dazu, die wir erst lernen müssen.
Wir haben drei Frauen, die auf Grund fürchterlicher Erlebnisse in kurzer Zeit in Ausnahmezustände geraten, mit dem Kopf gegen die Wand
springen, weil die totale Verzweiflung nicht mehr
aushaltbar ist, weil da überhaupt keine Zukunft
gesehen wird. De facto können wir ihnen auch
keine Zukunft bieten.
LM: Wenn man nicht aufpasst, kann es zu einer
Psychiatrisierung vorrangig sozialer Probleme
TSP: Ein Glas Rotwein oder Whiskey entspannt ja
auch. Eine Bar ist nicht zu sehen.
IJJ: Das passt mit den Medikamenten nicht gut zusammen. Und es wäre nicht eben hilfreich, in einem Moment, in dem das psychische System am
Wanken ist, etwas Enthemmendes anzubieten.
DAS KRANKENHAUS
D
Im touristischen Teil von Berlin-Mitte liegt das
St. Hedwig-Krankenhaus, Große Hamburger
Straße 5–11, eine der traditionsreichsten Kliniken der Stadt, von einer katholischen Gemeinde
1846 gegründet. Seit 2001 wird auf dem Gebiet der Psychiatrie mit der Charité kooperiert,
seit 2010 arbeitet man nach dem „Weddinger
Modell“, dessen Initiatorinnen auf diesen Seiten interviewt werden: Oberärztin Lieselotte Mahler und Pflegedirektorin Ina Jarchov-Jádi – beide
sind dort bis heute tätig.
Voll Psycho:
Hedi Schneider beim
Therapeuten.
TSP: Haben Sie eigentlich mehr Männer oder mehr
Frauen als Patienten hier?
IJJ: Das hält sich die Waage.
Erfahrung mit der Psychiatrie und dachte, jetzt
geht das wieder los. Sie wollte nicht reden, brüllte
nur rum. Wir sagten, nun kommen Sie mal an, wir
geben Ihnen was zu essen, Sie können eine rauchen, und wenn Sie Lust haben zu berichten, was
Ihnen widerfahren ist, dann sagen Sie es uns. Wir
haben sie in Ruhe gelassen. Sie hat geduscht, gegessen, sie merkte, wir meinen es ernst und halten
unser Versprechen. Es gab keinen Grund, die Türe
zuzumachen, das hätte das Gegenteil bewirkt.
DER NEUE FILM
Fotos: Kai-Uwe Heinrich, Keystone, Komplizen Film/Pandora Film 2015
S4
D
Seit einigen Tagen läuft im Kino„Hedi Schneider
steckt fest“ von Regisseurin Sonja Heiss,
Hauptdarstellerin ist Laura Tonke; sie spielt
eine junge Frau, die plötzlich Panikattacken
bekommt, Ärzte und Therapeuten aufsucht. Auf
dem Foto weigert sie sich, eingenommene Tabletten herauszugeben. Heiss und Tonke waren
vor den Dreharbeiten zu Recherchen im
Hedwig-Krankenhaus, um Einblicke in die Psychiatrie und den Umgang mit Patienten zu bekommen und den Film realistisch zu gestalten.
kommen. Diese Gefahr besteht immer und gilt
auch für Flüchtlinge.
TSP: Hier rennen schon mal Leute tobend durch den
Flur oder klettern auf einen Schrank und kommen
nicht mehr runter. Sie brauchen starke Nerven und
viel Optimismus.
LM: Beides, das muss man aushalten können. Und
viel Humor mitbringen. Ohne ihn hat man in der
Psychiatrie verloren. So kann man manchmal Sachen ausdrücken, die anders nicht ausdrückbar
wären. Für Depression etwa ist Anhedonie ein
Kennzeichen: dass man sich über nichts mehr
freuen kann. Da helfen schon mal Ironie oder richtig schwarzer Humor.
glaubte, sie sei im Hotel Adlon, und es handele sich
um minimalistische Innenarchitektur. Hat die Frau
uns veralbert oder war sie verwirrt?
IJJ: Sie war psychotisch, sie hat die Welt so wahrgenommen, war ein wenig fröhlich-verrückt unterwegs.
LM: Wir sind in der Psychiatrie in einer sehr bunten Welt des ehrlichen Menschseins, die Patienten
sind keine Aliens aus einem anderen Kosmos. Es
sind einfach Menschen mit vielen Facetten, wie
wir auch. Manche sind unglaublich cool und stecken einen auch mal in die Tasche, sie sind überaus kreativ, das berührt mich immer wieder. Ich
denke an diesen jungen Mann, der bezeichnete
„Die Psychiatrie ist
eine bunte Welt
des ehrlichen Menschseins“
IJJ: Auslachen hingegen ist schlecht, das ist herabwürdigend. Man muss zusammen mit jemandem
lachen, Humor muss von beiden Seiten getragen
sein. Wenn mich einer auslacht, vertrage ich das ja
auch nicht.
TSP: Ein Beispiel?
LM: Wir hatten eine alte Frau, 84, mit einer Demenz. Die wollte unbedingt weggehen, ich muss
zu den Eltern, die erwarten mich, ich muss zur
Arbeit, ich muss, ich muss, ich muss… Da sagte
ich, Frau Soundso, Sie sind doch schon 84. Dann
lachte sie sich schlapp und meinte: Was, und in
dem Alter muss ich noch arbeiten! Es gibt Inseln,
da sind selbst demente Patienten durch Humor
erreichbar.
TSP: Als wir Sie vergangene Woche besuchten und
Sie führten uns durchs Krankenhaus, sahen wir eine
Patientin, die hockte in einem leeren Zimmer und
DER KLASSIKER
D
Das Bild von einer grausamen Psychiatrie prägte
„Einer flog übers Kuckucksnest“ von 1975.
Jack Nicholson (im Foto vorn Mitte) wird darin
mit Elektroschocks malträtiert und am Gehirn
operiert, den hilflos Dämmernden erstickt sein
Freund, der Indianer Chief Bromden (hinten mit
Besen), am Ende mit einem Kissen. Der Film
von Milos Forman gewann die fünf wichtigsten
Oscars („Big Five“), Nicholson wurde als bester
Hauptdarsteller ausgezeichnet. „Cuckoo“ meint
in der Umgangssprache „verrückt“.
seine Mutter als Talent-Runterreguliererin. Was
für eine Wortschöpfung!
TSP: Was bleibt, was verschwindet? Gibt es in der
Psychiatrie die Formulierung „geheilt entlassen“?
IJJ: Es gibt Menschen, die haben einmal im Leben
eine schwere Psychose und dann nie wieder. Und
wir hatten für Jahrzehnte eine Lehrerin, mit der
konnte man sich prima unterhalten, sie wirkte total normal. Sie hatte ihre andere Welt abgespalten, in dieser Welt wurde sie gefoltert, weil sie
interessante Dinge wusste, sie war in permanentem Kontakt zum BND, dem Außenminister, zu
wem auch immer, damit war sie der wichtigste
Mensch des Planeten. Hätte sie diese wahnhaft-schillernde Ecke verlassen, wäre sie in die
triste Bedeutungslosigkeit gerutscht. Wir haben
alles versucht, nichts hat geholfen, sie war beeindruckend resistent. Mein Gefühl war, die
brauchte das. Mit 75 sagte sie auf einmal, ich bin
jetzt für die Geheimdienste zu alt, die haben kein
Interesse mehr an mir. Wir haben sie von da an
nie wieder in der Klinik gesehen, sie zog zu ihren
Kindern.
TSP: In „Einer flog übers Kuckucksnest“ spielten
echte Patienten einer Psychiatrie das Pflegepersonal. Bei Ihnen ist das Realität. Zwei Menschen, die
selbst Patienten waren, sind nun bei Ihnen fest angestellt. Die Jobbezeichnung ist „Experten aus Erfahrung“. Was tun die?
IJJ: Diese zwei Mitarbeiter kennen die Psychiatrie
aus langjährigem eigenen Erleben, mit allen
Schwierigkeiten, und durchliefen später eine einjährige Ausbildung, das nennt sich Genesungsbegleiter. Die beiden haben eine Mittlerfunktion, die
können zwischen uns Profis und den Patienten
übersetzen. Sie arbeiten auf der Akut-Station und
können sagen, hallo, ich war selbst hier drin, wir
haben da etwas Gemeinsames, die und die Angebote kann ich machen.
LM: Es ist nicht immer alles krank in einem Menschen und auch nicht alles gesund, dazwischen
gibt es ein Kontinuum. Die Recovery-Bewegung
definiert Gesundheit nicht durch das Abhandensein von Symptomen, sonst gälte ja: 100 Prozent
gesund gleich symptomfrei, und wer kann das
schon von sich behaupten.
TSP: Was uns wundert: Es gibt bei Ihnen Besteck,
Glas – sogar ein Aquarium. Die Leute hier drehen
doch auch mal durch und gefährden möglicherweise andere.
LM: Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit,
auch wenn man Messer, Gabeln und Teller aus
Plastik verteilt oder alles mit Gummi auskleidet.
Und so ein Aquarium hat ja etwas durchaus Beruhigendes. Eine hat es mal zu gut gemeint und die
Fische mit Milch und Brot gefüttert, das ist denen
nicht gut bekommen. Nun ist ein Deckel drauf,
und den schließen wir ab, das Aquarium ist immer
noch da. Natürlich gibt es Situationen, da muss
man sehr aufpassen, wir haben die Sorgfaltspflicht allen gegenüber. Im Notfall gibt es ein Krisenzimmer, da ist nichts drin, womit man sich verletzen könnte, es ist reizarm eingerichtet, optisch
wie akustisch, in einer Psychose ist man extrem
dünnhäutig. Doch auch da ist wichtig, dass nicht
nur wir in das Zimmer hineingucken können, sondern der Betroffene herausschauen kann, er fühlt
sich nicht noch mehr eingeschlossen, das kann
sonst wahnsinnige Angst machen. Da ist auch eine
Tafel drin und Kreide, damit sie schreiben oder
malen können, in der Manie zum Beispiel hat man
viele bunte Bilder im Kopf, die sollen ruhig raus.
Einmal schrieb jemand an die Tafel: Frau Dr. Mahler kommt zu spät zu ihrer eigenen Beerdigung.
Das fand ich lustig, ich bin nämlich total pünktlich.
IJJ: Eigentlich passiert unglaublich wenig an Zerstörungswut, wenn man bedenkt, was für ein Gewusel in einer 28-Betten-Station ist, Personal
dazu, da sind auf einem begrenzten Raum leicht
mal 40 Menschen unterwegs – das alleine verursacht einen wahnsinnigen Stress. Deshalb versuchen wir, alles liebevoll einzurichten, auch das ist
Normalisierung. Wo die Wände verschmiert sind,
das Mobiliar schlimm aussieht oder ein Tisch zur
Saftpfütze wird, neigt jeder dazu, nicht groß achtzugeben. Je angenehmer das Umfeld, desto weniger wird zertrümmert.
TSP: Die Räume sehen zum Teil aus wie ein modernes Design-Hostel, Wände mit gedeckten Farben.
Gibt es dazu neuere Forschung?
LM: Verzeihung, ich muss nur so lachen, weil es
da ein sogenanntes Cooling-Down-Pink gibt. Wir
haben uns das angeguckt, und ich habe gesagt,
wenn ich den ganzen Tag dieses Pink anschauen
muss, werde ich psychotisch. Das nimmt jeder unterschiedlich wahr, wir haben entschieden, nicht
zu dunkel, nicht zu grell …
TSP: Ihr Modell benötigt doch sicherlich mehr Personal und ist damit auch teurer?
LM: Nein. Unser Ziel ist es, die Strukturen unter
den Bedingungen zu optimieren, die wir haben.
TSP: Bei allen gut gemeinten Bemühungen, Sie werden gelegentlich an Grenzen stoßen.
LM: Sicher geht mal was schief, doch das gehört
zur Natur der Psychiatrie. Diese Menschen sind in
Ausnahmesituationen, die greifen auch mal das
Personal an, pures Laissez-faire wäre verantwortungslos. Auch im „Weddinger Modell“ haben wir
Regeln, nur keine unsinnigen Restriktionen. Einige Vorschriften in Krankenhäusern dienen mehr
dem Personal als dem Patienten. Feste Besuchszeiten für Angehörige. Ausgang nur bis 23 Uhr. Und
wenn jemand nach 23 Uhr sagt, ich habe schreckliche Angst, ich muss mal kurz raus, sagen wir
dann: sorry, die Regel!? Ich finde ja, wir sind sorgfältiger geworden, indem wir näher an den Menschen dran sind.
TSP: In dem Film „Hedi Schneider steckt fest“ bekommt die Frau nach Panikattacken Beruhigungsmittel mit nach Hause. Sie sagt: „Wirkt wie kiffen,
nur besser.“ Psychopharmaka machen Ihnen die Arbeit leichter.
LM: Tabletten wie die im Film verabreichten, also
Tavor, Valium, Diazepam, nehmen die Ängste, in
Notsituationen ist das super und gut verträglich.
Doch es ist nur eine Scheinsicherheit, wenn das
Medikament nicht mehr wirkt, kehren die Ängste
zurück, oft verstärkt. Das sind Benzodiazepine,
und die führen schnurstracks zur Abhängigkeit,
wie bei Alkohol, sie docken an die gleichen Rezeptoren an. Tavor wirkt zwei Stunden, dann müssen
Sie nachlegen, Sie bekommen Entzugserscheinungen, zittern, schwitzen – und brauchen immer
mehr. Als Nebenwirkungen kennen wir eine Art
Demenz, man denkt nicht mehr klar, der Gang
wird unsicher, man baut körperlich ab. Langfristig
sind gerade Angststörungen psychotherapeutisch
sehr gut zu behandeln. Bei anderen Krankheiten
können Medikamente durchaus helfen, aber nur
in Verbindung mit psychotherapeutischer und psychosozialer Unterstützung.
TSP: Die große Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, umgangssprachlich „Bonnies Ranch“, lag in Wittenau
in einer parkähnlichen Anlage. Sie residieren mitten
in der Stadt, im Touristenrummel. Reizarm sieht anders aus.
IJJ: Es gab viele Bedenken gegen diesen Standort,
als wir 2007 hierher sind. Drumherum ist Tumult,
das ist richtig, aber wir haben die Ruhe innerhalb
des Hauses geschaffen. Der Vorteil ist, die Patienten verlieren nicht ganz den Kontakt zum normalen Leben, sie sind in Begleitung von uns schnell
mal in der Realität unterwegs. Die Leute müssen
irgendwann wieder in den Wedding, die Käseglocke ist auch nicht nur gut.
TSP: Bekommen Sie zu spüren, was gern mit Gentrifizierung beschrieben wird?
LM: Die Sozialarbeit hat viel zu tun. Es geht billiger Wohnraum verloren. Mietrückstände, die früher schon mal toleriert wurden, sind jetzt eine
willkommene Gelegenheit, den Vertrag zu kündigen und dann teurer zu vermieten. Ich kann es
nicht in Zahlen ausdrücken, aber es gab eine
Menge Patienten, die nach ihrem Aufenthalt in
der Psychiatrie wohnungslos waren.
TSP: Sprache ist ja in Ihrem Job sehr wichtig, Sie
selbst sagen auch mal verrückt, wahnsinnig. Wir verwenden im Alltag oft irre, geisteskrank und …
LM:… geisteskrank benutzen wir nicht. Wenn jemand selbst sagt, ich bin bekloppt oder ich habe
einen Sockenschuss, dann lässt man das stehen.
Ich habe mal zu einem Patienten gesagt, als der
eine Aids-Reinigungsmaschine bauen wollte, das
ist selbst für Sie komplett verrückt, da musste der
herzlich lachen. Zu einer Patientin, die mich mit
ihren Verfolgern in der Heimat unter eine Decke
steckte, meinte ich: Nun tun Sie doch nicht so psychotisch! Das fand die großartig und schrieb später einen Aufsatz mit dem Titel „Wie eine schwangere Ärztin eine Mutter daran hinderte, an ihrer
Situation zu verzweifeln“. Sie hat mir den dann
zugeschickt. Sprache ist ein sensibles Feld, sie
kann einen Weg bieten oder versperren. Wenn ich
bei der Aufnahme sage, da kommt der chronisch
Schizophrene, dann ist das Ding quasi gelaufen.
Wenn ich hingegen sage, da kommt Herr Müller,
der ist in einer Krise, Vordiagnose ist Schizophrenie, zeigt das eine andere innere Haltung.
TSP: Verraten Sie doch bitte mal Ihren liebsten Psychiatrie-Witz.
LM: Ein Mann, der sich verfolgt fühlte, soll nach
acht Monaten Psychiatrie entlassen werden. Der
Arzt fragt ihn in der letzten Visite: „Sie wissen
inzwischen schon, dass sie kein Huhn sind?“ – „Na
klar“, antwortet der Patient erfreut, „aber wissen
das auch die Füchse?“