A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 Psychische Belastungen und Rückenschmerz Entstehung und Handlungsmöglichkeiten aus psychologischer Sicht Prof. Dr. Anne Flothow Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 Spezifische und unspezifische Rückenschmerzen Rückenschmerzen (engl.: low back pain): Schmerzen im Rückenbereich unterhalb des Rippenbogens und oberhalb der Gesäßfalten mit oder ohne Ausstrahlung 80 % unspezifische Rückenschmerzen 20 % spezifische Rückenschmerzen keine begründete Diagnose kein zentraler Pathomechanismus keine irritierende Struktur Hildebrandt J (2004): Gibt es einen unspezifischen Rückenschmerz? Z Orthop 142:139-145 A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow Arbeitsunfähigkeit Bildquelle: Knieps & Pfaff (2014) BKK-Gesundheitsreport 30. Oktober 2015 A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 Arbeitsunfähigkeit und Tätigkeit (BKK, 2014) Durchschnitt = 15,5 AU-Tage KrankenpflegehelferIn = 24,1 AU-Tage Krankenschwester /pfleger = 17,4 AU-Tage Bürokräfte im Ges.wesen = 13,1 AU-Tage Ärzte = 6,5 AU-Tage Bildquelle: Knieps & Pfaff (2014) BKK-Gesundheitsreport A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow Er/Sie ist mir in den Rücken gefallen Das bricht mir das Kreuz Ich fühle mich kreuzlahm Rückengesundheit und Sprache 30. Oktober 2015 Du stärkst mir den Rücken Ich musste Nackenschläge einstecken Ich zeige Rückgrat A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 Risikofaktoren von Rückenschmerzen Individuelle Faktoren Alter, Geschlecht, Gewicht Rückenschmerzepisoden in der Biografie Rauchen Es gibt nicht eine Ursache, sondern … Psychologische Faktoren YellowFlags Angst-Vermeidungsdenken Depressivität, Resignation Passives Schmerz-/Bewältigungsverhalten Fehlende Selbstwirksamkeit Physiologische Faktoren Arbeitsplatzbezogene Faktoren Mangelnde körperliche Fitness Bewegungsmangel Mangelnde Erholung Ganzkörpervibrationen Zwangshaltungen (Bücken, Drehen) Schweres Heben und Tragen Soziale Faktoren Bildungsniveau Schichtzugehörigkeit … es gibt viele mögliche Risikofaktoren für Rückenschmerzen! Psychosoziale Arbeitsplatzfaktoren Unzufriedenheit am Arbeitsplatz Gratifikationskrisen Mangelnder Handlungsspielraum Fehlende soziale Unterstützung Quellen: Waddell G (2004) The Back Pain Revolution. 2nd ed.n. Edinburgh: Churchill Livingstone Burton AK et al (2006) Chapter 2 European guidelines for prevention in low back pain: European Spine Journal (Suppl 2): 136-168 Lühmann D et al (2006) Prävention rezidivierender Rückenschmerzen. HTA-Gutachten. Köln: DIMDI A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 „Pain is not the problem, but chronicity“ (Nachemson, 1998) 14 % aller Rückenschmerzpatienten leiden unter chronischen bzw. chronisch rezidivierenden Rückenschmerzen. Der Prozess der Chronifizierung von Rückenschmerzen wird im wesentlichen durch psychosoziale Faktoren bestimmt „Yellow flags“ Quellen: Kendall NA Linton SJ & Main CJ (1997) Guide to assessing psychosocial yellow flags in acute low back pain. Accident Rehabilitation and Comensation Insurance Corporation of New Zealand and the National Health Comitee Hasenbring, 1997 M Hallner D & Klasen B (2001) Psychologische Mechanismen im Prozess der Schmerzchronifizierung. Schmerz 15 (6):442-447 A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 Welche Erklärungsmodelle liegen für den Zusammenhang von psychosozialen Beanspruchungen/ Stress und Rückenschmerzen vor? 1. „Cinderella“-Modell Psychosoziale 2. Anforderungs-Kontroll-Modell Beanspruchung / 3. Effort-Reward-Imbalance- (ERI-) Modell „Stress“ Rückenschmerzen A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 1. „Cinderella“-Modell Arbeitsbelastung Physische Stressoren Psychische Stressoren Erhöhter Muskeltonus Physiologische Veränderungen während der Arbeit Physische (Hausarbeit) bzw. psychische (Konflikte, Sorgen) Stressoren nach der Arbeit Erhöhte Cortisol- und Katecholamin-Sekretion Verzögerte Rückstellung des hohen Muskeltonus Quelle: Melin, B. and Lundberg, U. (1997). A psychobiological approach to work-stress and musculoskeletal disorders. Journal of Psychophysiology. A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 2. Anforderungs-Kontroll-Modell Hohe physische und psychische Gesundheit Gefahr für Krankheit/Arbeitsunfähigkeit Ergebnis: Je höher eine Person die Arbeitsintensität einschätzt und je geringer sie ihre Gestaltungsmöglichkeiten erlebt, desto mehr Stress empfindet sie und umso größer ist die Wahrscheinlichkeit für Rückenschmerzen. Fazit: Die Erhöhung des Handlungs- und Entscheidungsspielraumes scheint an Arbeitsplätzen mit geringer physischer Belastung eine erfolgreiche Präventionsstrategie zu sein. Hoogendoorn W et al (2000) Systematic review of psychological factors at work and private life as risc factors for back pain. Spine 16: 2144-2125 A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 3. Efford-Reward-Imbalance-(ERI) Modell Efford Anstrengung Verausgabung „input“ Belohnung „Gratifikation“ „output“ Reward Entlohnung Status, gesellschaftliche Anerkennung Wertschätzung, Lob Erleben von Gemeinschaft und „Sinn“ Ergebnis: Quelle: Bei Gratifikationskrisen ist die Wahrscheinlichkeit für Rückenschmerzen erhöht Dragano N et al. (2003) Psychosoziale Arbeitsbelastungen und muskulo-skeletale Beschwerden. Z Gesundwiss 11: 19-27 A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 Arbeitsplatzbezogene psychosoziale Risikofaktoren; Starke Evidenz für: Mangelnde Erholung aufgrund von Dauerstressoren im beruflichen und privaten Bereich (Cinderella-Modell) „Job strain“: hohe Arbeitsanforderung und geringe Kontrolle (Anforderungs-Kontroll-Modell) Gratifikationskrisen: Ungleichgewicht zwischen beruflicher Verausgabung und Belohnung (ERI-Modell) Hohe emotionale Beanspruchung Arbeitsunzufriedenheit Mangelnde soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und/oder Kollegen Konflikte, negatives Sozialklima Monotonie, geringe Abwechslung Hoogendoorn W et al (2000) Systematic review of psychological factors at work and private life as risc factors for back pain. Spine 16: 2144-2125 Linton SJ (2001) Occupational psychological factors increase the risc for back pain. J Occup Rehab 11: 53-66 Dragano N et al. (2003) Psychosoziale Arbeitsbelastungen mit muskulo-skeletale Beschwerden. Z Gesundwiss 11: 19-27 A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 Konsequenzen für Prävention und Therapie Individuelle Faktoren Gewichtsmanagement Nichtrauchen Überzeugung „Bewegung tut gut!“ Es gibt nicht eine Strategie, sondern … Psychologische Faktoren Aktives Stress- und Schmerzbewältigungsverhalten aufbauen (Coping) Selbstwirksamkeit steigern Physiologische Faktoren Arbeitsplatzbezogene Faktoren Steigerung der körperliche Fitness Steigerung der Bewegung im Alltag Risikofaktoren (Ganzkörpervibrationen, Zwangshaltungen, schweres Heben und Tragen) reduzieren bzw. managen Qualifizierung Soziale Faktoren Qualifizierung … es gibt viele mögliche Interventionsmöglichkeiten! Psychosoziale Arbeitsplatzfaktoren Zufriedenheit am Arbeitsplatz steigern Gratifikationskrisen vermeiden Handlungsspielraum erhöhen Soziale Unterstützung erhöhen Quellen: Waddell G (2004) The Back Pain Revolution. 2nd ed.n. Edinburgh: Churchill Livingstone Burton AK et al (2006) Chapter 2 European guidelines for prevention in low back pain: European Spine Journal (Suppl 2): 136-168 Lühmann D et al (2006) Prävention rezidivierender Rückenschmerzen. HTA-Gutachten. Köln: DIMDI A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow Was können wir tun? (1) Integration von psychischen Faktoren in die Behandlungsleitlinien 30. Oktober 2015 A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 (1) Integration von psychosozialen Faktoren in die Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz (2011) Unspezifische akute Rückenschmerzen • Diagnostik: Erfassung von psychosozialen Risikofaktoren für die Chronifizierung von akuten (nichtspez.) Rückenschmerzen • Prävention: Körperliche Bewegung Maßnahmen am Arbeitsplatz (ergonomische Gestaltung, Verhaltensprävention, Förderung der Arbeitsplatzzufriedenheit) • Therapie: Aufrechterhaltung körperlicher (Alltags-)Aktivitäten Bei erhöhtem Chronifizierungsrisiko: Entspannungsverfahren (PMR) Rückenschulmaßnahmen auf einem biopsychosozialen Ansatz Kognitive Verhaltenstherapie A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow Was können wir tun? (1) Integration von psychischen Faktoren in die Behandlungsleitlinien (2) Berücksichtigung von psychischen Faktoren im Arbeitsschutzgesetz 30. Oktober 2015 A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 ArbSchG § 4 Allgemeine Grundsätze Die Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird. ArbSchG § 5 Beurteilung der Arbeitsbedingungen Der Arbeitgeber hat durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind. … (3) Eine Gefährdung kann sich insbesondere ergeben … 6. psychische Belastungen bei der Arbeit Novelle im Arbeitsschutzgesetz (Beschluss des Bundesrates vom 20.09.2013): Verpflichtung zu Systematische Gefährdungsbeurteilung unter Einbeziehung von psychosozialen Faktoren A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow Was können wir tun? (1) Integration von psychischen Faktoren in die Behandlungsleitlinien (2) Berücksichtigung von psychischen Faktoren im Arbeitsschutzgesetz (3) Maßnahmen zur Steigerung der Gesundheitskompetenz des Betriebes 30. Oktober 2015 A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 (3) Maßnahmen zur Steigerung der Gesundheitskompetenz des Betriebes • Aufbau von gesundheitsförderlichen Strukturen und Prozessen (Betriebliche Gesundheitsförderung und –management) Arbeitskreis Gesundheit z. B. Gefährdungsbeurteilung Bildquelle: GKV-Leitfaden Prävention, 2014 Verhaltens- und Verhältnisprävention, gesundheitsförderliche Personal- und Organisationsentwicklung ? A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow Was können wir tun? (1) Integration von psychischen Faktoren in die Behandlungsleitlinien (2) Berücksichtigung von psychischen Faktoren im Arbeitsschutzgesetz (3) Maßnahmen zur Steigerung der Gesundheitskompetenz des Betriebes (4) Maßnahmen zur Steigerung der Gesundheitskompetenz der Beschäftigten 30. Oktober 2015 A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 (4) Maßnahmen zur Steigerung der Gesundheitskompetenz der Beschäftigten Stärkung der Ressourcen und der Bewältigungsfähigkeiten • Stressbewältigung, Entspannungsverfahren • Stärkung der Achtsamkeit und der emotionalen Stabilität • Bewegungsorientierter Lebensstil; aktive Erholung in der Freizeit • Rückengerechtes Arbeiten / Rückenschule; basierend auf dem bio-psycho-sozialen Ansatz • Gesundheitsförderlicher Führungsstil A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 Tun Sie sich etwas Gutes - es wird Ihnen gut tun! Kontakt: Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Hamburg [email protected] A+A Düsseldorf Prof. Dr. Anne Flothow 30. Oktober 2015 Literatur Burton AK et al (2006) Chapter 2 European guidelines for prevention in low back pain: European Spine Journal (Suppl 2): 136-168 Dragano N et al. (2003) Psychosoziale Arbeitsbelastungen und muskulo-skeletale Beschwerden. Z Gesundwiss 11: 19-27 GKV-Spitzenverband (2014) Leitfaden Prävention erhältlich unter: https://www.gkvspitzenverband.de/media/dokumente/presse/publikationen/Leitfaden_Praevention-2014_barrierefrei.pdf (Zugriff am 20.10.2015) Flothow A, Zeh A & Nienhaus A (2009) Unspezifische Rückenschmerzen – Grundlagen und Interventionsmöglichkeiten aus psychologischer Sicht. Gesundheitswesen, 71: 845-856 Hasenbring, 1997 M Hallner D & Klasen B (2001) Psychologische Mechanismen im Prozess der Schmerzchronifizierung. Schmerz 15 (6):442-447 Hildebrandt J (2004): Gibt es einen unspezifischen Rückenschmerz? Z Orthop 142:139-145 Hoogendoorn W et al (2000) Systematic review of psychological factors at work and private life as risc factors for back pain. Spine 16: 2144-2125 Kendall NA Linton SJ & Main CJ (1997) Guide to assessing psychosocial yellow flags in acute low back pain. Accident Rehabilitation and Comensation Insurance Corporation of New Zealand and the National Health Comitee Knieps F & Pfaff H (2014) BKK-Gesundheitsreport 2014 erhältlich unter: http://www.bkkdachverband.de/fileadmin/publikationen/gesundheitsreport_2014/BKK_Gesundheitsreport.pdf (Zugriff am 20.10.2015) Linton SJ (2001) Occupational psychological factors increase the risc for back pain. J Occup Rehab 11: 53-66 Lühmann D et al (2006) Prävention rezidivierender Rückenschmerzen. HTA-Gutachten. Köln: DIMDI Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz (2011) erhältlich unter: http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/kreuzschmerz/pdf/nvl_kreuzschmerz_lang.pdf (Zugriff am 01.03.2014) Melin, B. and Lundberg, U. (1997). A psychobiological approach to work-stress and musculoskeletal disorders. Journal of Psychophysiology. Stadler P & Spiess E (2009) Arbeit – Psyche- Rückenschmerz. Arbeitsmed – Sozialmed – Umweltmed, 44, 2: 68-76 Waddell G (2004) The Back Pain Revolution. 2nd ed.n. Edinburgh: Churchill Livingstone
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