Holger Schäfer, Christel Rittmeyer (Hrsg.) [2015] Handbuch Inklusive Diagnostik Weinheim und Basel: Beltz 607 S. 49,95€ ISBN 978-3-407-83187-3 Das Handbuch Inklusive Diagnostik (2015), das Holger Schäfer und Christel Rittmeyer herausgegeben haben, trifft auf eine große Bedarfslage, da im Zuge der inklusiven Schulentwicklung viele Lehrkräfte, die für das Regelschulsystem ausgebildet wurden, sich gerade im Bereich Diagnostik nicht hinreichend kompetent fühlen. Ein Buch, dessen Umfang dem einer handelsüblichen Ausgabe der Bibel entspricht, scheint zu versprechen, hier Abhilfe zu schaffen, einen Grundkurs Diagnostik für Novizen auf diesem Gebiet zu vermitteln. Ein Handbuch könnte auch ein Nachschlagewerk für den praktischen Gebrauch sein: von A wie AutismusSpektrum-Störung bis Z wie zentrales Nervensystem oder so ähnlich. Eine solche Form von Handbuch finden wir hier nicht. Schon im Vorwort zeigt Rudolf Kretschmann auf, dass es um die Spannung geht, in die die wissenschaftliche pädagogisch-psychologische Diagnostik durch die Herausforderungen von Inklusion geraten ist. Er spricht von der „heiklen Frage, […] inwieweit im Kontext von Inklusion die Feststellung eines ‚sonderpädagogischen Förderbedarfs‘ legitim, unumgänglich oder (weil möglicherweise stigmatisierend) kontraindiziert ist.“ (S. 9). Schäfer und Rittmeyer definieren in ihrer Einleitung, dass für sie „zeitgemäße pädagogische Diagnostik […] Inklusive Diagnostik“ sei, „weg von einer status- und institutionsbezogenen Zuschreibungsdiagnostik hin zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs“ (S. 12). Die Fragen, wem ein solcher „sonderpädagogischer Förderbedarf“ zugeschrieben wird, wessen Bedarf er ist (des einzelnen Schülers/ der einzelnen Schülerin; der Eltern, der Lehrkräfte, der anderen Schüler_innen?) und wem er nützt und ob er eine grundlegende Defizitorientierung offenbart, werden an dieser Stelle nicht verhandelt. Es wird betont, dass „Diagnostik damit nicht (mehr) nur alleine als Aufgabenfeld der Sonderpädagogik verstanden werden“ könne, sondern auch die Allgemeine Pädagogik einbeziehen müsse (S. 13). Entsprechend arbeitet der Band dann auch interdisziplinär und bezieht neben Autoren mit sonderpädagogischer Expertise in verschiedenen Disziplinen auch einige Autoren mit ein, die in Fachdidaktiken und allgemeiner Pädagogik verortet sind. Im ersten Teil werden in verschiedenen Kapiteln Grundlagen vermittelt. Kersten Reich erläutert, inwiefern die Idee der Inklusion als Gegenprogramm zu einer falsch verstandenen Evolutionsbiologie zu begreifen ist: „Benachteiligungen sind im Regelfall keine biologische, sondern eine soziale Frage.“ (S. 26). Hans-Jürgen Pitsch erläutert den Wandel der schulischen Diagnose-Praxis im Laufe der Zeit. Dabei geht er auf einige Probleme ein, die mit Diagnostik verbunden sind, z. B. die Orientierung an einer altersspezifischen Norm, die immer voraussetze, dass eine Mehrheit eine bestimmte Entwicklung in einem bestimmten Lebensalter durchlaufen hat: „Unklar bleibt, welche Mehrheit genau gemeint ist: 50+1Prozent, 70 Prozent, 75 Prozent, 90 Prozent?“ (S. 48). Er kritisiert auch Phasentests, Schulleistungstests, Intelligenztests und spricht sich für „Die ökosystemische KindUmfeld-Analyse nach Sander (2000)“ (S. 57) aus, da sie nicht nur das einzelne Kind, sondern auch Kontextfaktoren mit in den Blick nehme. In seinem Abschnitt über Förderdiagnostik differenziert er zwischen einer auf Förderung ausgerichteten Diagnostik und den Zielen und Maßnahmen einer Förderung. Dabei hebt er hervor, dass Förderung ein sehr schwammiger Begriff sei, der von Unterricht, Beratung, Nachhilfe bis zu Therapie alle möglichen Maßnahmen enthalten könne. Er empfiehlt eine auf Beobachtung und Kind-Umfeld-Analyse basierende Diagnose, die den ICF als Richtlinie verwendet und als nächsten Schritt die Festlegung von dringlichen und in einem absehbaren Zeitraum erreichbaren Förderzielen, die dann gemeinsam mit allen Fachlehrer_innen in geeignete Fördermaßnahmen festgelegt, in einem Förderplan festgehalten und durch verschiedene Interventionen umgesetzt werden sollten, die dann wieder auf ihren Erfolg hin geprüft werden sollten, was eine erneute Diagnose und somit einen Förderkreislauf ergibt. „Eine inklusive Schule kann auf eine Vielzahl dieser [von ihm dargestellten] diagnostischen Verfahren verzichten. Nicht verzichten kann sie auf curriculum- und kriterienorientierte Verfahren, wenn sie weiterhin Lernergebnisse frei von Verzerrungen des Lehrerurteils feststellen will.“ (S. 64). Franz Schott befasst sich aus dem Blickwinkel der pädagogischen Psychologie mit dem Verhältnis von Qualitätssicherung, kompetenzorientiertem Unterricht und Diagnostik zueinander. Er geht dabei zunächst von den Entwicklungen an allgemeinbildenden Schulen nach PISA in Richtung Kompetenzorientierung und Kompetenzdiagnostik aus und beschreibt eingehend unterschiedliche Verfahren zur Messung von Kompetenzen. Am Ende stellt er die Frage, welche Konsequenzen sich aus einer zunehmenden Heterogenisierung der Lerngruppen ergeben können. Allerdings ist seine Schlussfolgerung einfach: „Ganz gleich, wie heterogen die Lerngruppe ist, der wichtigste Faktor für die Schulqualität besteht in der Expertise der Lehrkräfte, insbesondere in Bezug auf ihre Kenntnisse hinsichtlich der Kompetenzorientierung von Unterricht und Diagnostik.“ (S. 84). Arthur Limbach-Reich und Hans-Jürgen Pitsch stellen die Medizinischen Klassifikationssysteme ICD-10, ICIDH, ICF und DSM-IV vor, sie warnen allerdings davor, deren Nützlichkeit für pädagogische Interventionsmöglichkeiten zu überschätzen (S. 86). Sie kritisieren auch die Gefahr solcher Klassifikationen, schulische Lernleistungsdefizite „ungebremst“ zu pathologisieren und „pädagogische Förderung durch medizinische und psychopharmakologische Behandlung“ zu ersetzen (S. 89f.). Den Vorzug der Arbeit mit der ICF sehen sie darin, dass eine „gemeinsame Sprache“ angeboten werde und dass sie eine „erweiterte Sichtweise auf das Kind und seine Verhaltensweisen“ (S. 94) zulasse. Individuelle Förderziele aber müssten von den Lehrpersonen und einem multidisziplinären Förderteam jeweils konkretisiert werden, dazu liefere die ICF keine Hinweise (S. 95f.). Sie verweisen darauf, dass die Definition von geistiger Behinderung des DSM-IV, obwohl dieses Manual keine „pädagogische Zielsetzung“ verfolge (S. 97), sondern dem medizinischen Modell von Behinderung folge und „ausschließlich psychiatrische Kategorien“ aufführe (S. 98), in der deutschen Sonderpädagogik aufgegriffen werde (S. 99). Sie sehen das kritisch, weil diese Klassifikation zu „inflationären psychiatrischen Diagnosen“ (S. 99) geführt habe und weil in diesem Zusammenhang auch mangelnde Lernleistung „zu einer Schädigung erklärt und damit pädagogischen Ansätzen eher entzogen als zugänglich gemacht [werde].“ (S. 100). Sie plädieren für einen Gebrauch dieser Instrumente, um ein Bewusstsein bei Lehrkräften zu schaffen für Zusammenhänge zwischen kognitiven und körperlichen Schwierigkeiten und Umweltfaktoren. Sie würden zudem den interdisziplinären und internationalen Dialog erleichtern. Für pädagogische Diagnostik und Unterrichtsplanung seien sie allerdings wenig hilfreich. Schäfer und Rittmeyer beschreiben die Komplexität inklusiver Diagnostik, die sich aus unterschiedlichen Dimensionen von sonderpädagogischer und regelpädagogischer Blickrichtung, quantitativer und qualitativer Diagnostik zusammensetze, viel Kommunikation und Kooperation zwischen den Wissenschaften und Professionen erfordere und Aus- und Weiterbildung für alle Beteiligten anbieten müsse. Der zweite Teil des Bandes „Fachorientierung“ befasst sich entsprechend exemplarisch mit konkreten quantitativen und qualitativen Diagnoseverfahren in unterschiedlichen Fächern. Andreas Mayer stellt das quantitative Instrument TEPHOBE vor zur Früherkennung von Schriftspracherwerbsstörungen: „ein standardisierter und normierter Test zur Überprüfung der phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit.“ (S. 141).Elke Hohnstein und Katja Bieritz erläutern demgegenüber die Funktion einer qualitativen Analyse von Schreibprodukten für eine unterrichtsimmanente Förderung und Diagnostik (S. 151ff.). Carin de Vries stellt „DIFMaB“ vor, „Diagnostisches Inventar zur Förderung Mathematischer Basiskompetenzen“, das auch „fachfremd unterrichtenden Lehrkräften eine effektive Lernförderung“ ermögliche (S. 166). Wilhelm Schipper beschäftigt sich mit der „Diagnostik und Förderung arithmetischer Kompetenzen in heterogenen Lerngruppen (BIRTE 2)“, Erich Ch. Wittmann stellt das systemische Konzept von Mathe 2000+ zur Förderung rechenschwacher Kinder vor. Hartmut Giest zeigt in „Diagnostik und Inklusion im Sachunterricht“, wie wichtig das Zusammenspiel von Diagnostik und Entwicklungs- und Lernförderung für die Planung inklusiven (Sach-)Unterrichts ist, dass dabei „die der im Unterricht anzueignenden Kompetenz zugrunde liegende (objektive) Lernanforderung (Kompetenzstruktur) und die darauf bezogenen subjektiven Lernvoraussetzungen (Kompetenz- und Handlungsdiagnostik) zu analysieren und im Unterricht die Passung zwischen beiden im Sinne der Entwicklungsförderung konkret herzustellen“ sei (S. 227). Silke Schönrade erklärt, wie über das Diagnoseinstrument „Die Abenteuer der kleinen Hexe“ die Leistungsfähigkeit im Bereich Wahrnehmung und Bewegung bei drei- bis siebenjährigen Kindern erfasst und als Prognose für den Erwerb der Kulturtechniken eingesetzt werden kann. Barbara Wichelhaus zeigt, dass in der ästhetischen Erziehung Diagnostik auf unterschiedlichen Ebenen greifen kann. Sie sei „ganzheitlich ausgerichtet“ und könne „zahlreiche Verfahren einer bildnerischen Werk-, Prozess- und Beziehungsdiagnostik als Instrumente einbeziehen“ (S. 262). Sie schlägt dabei vor, dass die Ausdrucksweisen nicht defizitorientiert als „Krisen, Konflikte und Pathologien diagnostiziert“, sondern als „ästhetische Mitteilungen oder besondere Ressourcen betrachtet“ werden (S. 262). Dabei erkennt sie, dass „gängige Rezeptions- und Beurteilungsformen […] häufig nicht aus[reichen], um die Vielfalt und Pluralität ästhetischer Ausdrucksweisen, wie sie in inklusiven Lerngruppen auftreten, zu erfassen und angemessen zu würdigen.“ (S. 262). Diesem Ansatz – so scheint es der Leserin – ist insofern hochgradig inklusiv in seiner Struktur, als hier wirklich die Defizitorientierung in den Hintergrund tritt und die Vielfalt angenommen und als bereichernd erfahrbar wird. Es ist sicherlich dem Kunstunterricht auch inhaltlich nicht so fern wie anderen Fächern, die Orientierung an der Norm zugunsten einer Wertschätzung von Vielfalt aufzugeben. Aber es wäre wünschenswert, wenn ein solcher Ansatz auch in anderen Fächer Beachtung fände. Der dritte Teil des Bandes widmet sich der „Förderplanung“. Konrad Bundschuh stellt Grundlagen der Föderplanung vor, Kerstin Popp und Andreas Methner befassen sich in zwei Beiträgen mit Förderplänen in inklusiven Settings: mit deren Entwicklung und deren Evaluation. Liane Paradies setzt sich in „Förderdiagnostik und Schulentwicklung“ mit den Chancen des selbstverantwortlichen Lernens und der Rolle unterschiedlicher Steuerungsinstrumente darin (Feedbackbögen, Selbsteinschätzungsbögen, Lernportfolios etc.) auseinander. Reto Luder zeigt am Beispiel einer Onlineplattform, wie neue Informationsund Kommunikationstechnologien (ICT) bei der sonderpädagogischen Förderplanung bei multiprofessioneller Kooperation eingesetzt werden können. Teil IV ist überschrieben mit „Spezifische Fragestellungen“. Hier finden sich Beiträge zur Diagnostik in Kombination mit unterschiedlichen förderpädagogischen Themen: Frühförderung (Sarimski), Sprachförderung (Knebel), Unterstützte Kommunikation (Erdélyi und Mischo), Autismus (Häußler), emotional-soziale Schwierigkeiten (Willmann), Schwerste Behinderungen (Fröhlich), Übergang Schule – Beruf (ÜSB) (Fischer), Lerntherapie (LRS und Rechenschwäche) (Altenrichter). Dann setzt sich Arthur Limbach-Reich kritisch mit dem amerikanischen Response-toIntervention-Ansatz (RTI) im Zusammenhang mit Inklusion auseinander. In seiner jetzigen Form sieht er, dass das defizitorientierte diagnostische Verfahren „in zentralen Kernannahmen im Widerspruch zu einer Inklusiven Diagnostik“ stehe, weil „hier Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozessen ihren Ausgang nehmen“ (S. 491). Teil V „Perspektiven“ umfasst drei Beiträge: Hans Jürgen Pitsch befasst sich mit Konstruktivismus und Diagnostik, Konrad Bundschuh mit den Grenzen einer Pädagogischen (inklusiven) Diagnostik und Rudi Krawitz führt den Dialog als Methode individualpädagogischer Diagnostik ins Feld. In Teil VI, dem „Ausblick“ widmen sich die Herausgeber des Bandes dem wichtigen Bereich der personellen, institutionellen und administrativen Voraussetzungen Inklusiver Diagnostik. Sie betonen darin die Bedeutung des Dialogs zwischen den verschiedenen an der inklusiven Diagnostik beteiligten Personengruppen: 1) zwischen Lehrer und Schüler, 2) den Professionen und 3) den Systemebenen, um gemeinsam nach Lösungen und Perspektiven für die individuellen Lern- und Entwicklungswege aller Schüler_innen zu suchen. Es erstaunt ein wenig, dass die Eltern hier nicht explizit als Dialogpartner erwähnt werden. Insgesamt stellt dieses Handbuch eine sehr umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema „Diagnostik“ im Zusammenhang mit inklusiven Settings dar. Es informiert nicht einfach, sondern lädt ein zu einer kritischen Reflexion der bisherigen Diagnose-Praktiken vor dem Hintergrund eines Anspruchs auf inklusive Beschulung. Dass die Autoren dabei bisweilen eher eine Abgrenzung von gängigen Instrumenten und Praktiken vornehmen als Musterlösungen anzubieten, ist der Prozesshaftigkeit des Inklusionsgedankens geschuldet. Die Grundidee, dass sonderpädagogisches und allgemeinpädagogisches Wissen miteinander vernetzt werden müssen, um dem Anspruch auf Inklusivität gerecht zu werden, ist dabei sehr einleuchtend. Ob Regelschullehrer_innen, die auf der Suche nach geeigneten Diagnoseinstrumenten sind, mit dem Buch geholfen ist, ist fraglich. Aber genau das ist ja auch nicht der Anspruch des Bandes. Stattdessen werden die Lehrkräfte aufgefordert, nach der Lektüre des Handbuchs – um das Wissen über verschiedene Verfahren und deren Chancen und Grenzen bereichert – sich selbst auf die Suche nach für die jeweilige Situation angemessenen Diagnosemethoden zu machen. Catrin Siedenbiedel
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