Najem Wali - Fondation Jan Michalski

JAN MICHALSKI LITERATURPREIS
Auswahl 2015
Najem Wali
Bagdad Marlboro: Ein Roman für Bradley Manning.
Najem Wali, im Irak geboren und vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet, wo er heute lebt,
schreitet erzählend (und immer intensiver erzählend) die beiden Welten ab, die westliche und die
arabische, die einander so viel geschenkt haben oder schenken könnten, einander aber nicht (mehr)
verstehen, die einander bräuchten, aber gegeneinander Kriege führen, die einander Wunden
schlagen, aber nicht einmal jeweils die eigenen verarzten können. Najem Wali ist in der
Gegenwartsliteratur, vor allem in der zeitgenössischen europäischen Literatur, ein faszinierender
Sonderfall, man kann fast sagen, er ist „the number one in a field of one“ - sein
Alleinstellungsmerkmal ist deshalb höchst eigentümlich, weil seine Themen von größtem allgemeinen
Interesse und höchster Aktualität sind, und man glauben könnte, dass es viele Autoren geben müsste,
die sich mit den buchstäblich weltbewegenden Fragen auseinandersetzen, an denen sich Najem Wali
literarisch abarbeitet. Aber das ist nicht der Fall - Najem Wali steht in der Weltliteratur alleine da wie
der einsame Rufer in der Wüste, zugleich wie das unscheinbare Genie in der Anonymität der
Metropole, er verbindet die Kunst des Erzählend von „Tausendundeiner Nacht“ mit den großen
Erzähltraditionen des Abendlandes, das ja auch bereits in die Nacht sinkt, und er schafft dabei mehr
als eine literarische Synthese: es gelingt ihm eine Synthese der zerrissenen Welt selbst, die sich in
jedem konkreten Individuum herstellen kann und muss, oder sonst zwischen den großen Mühlsteinen
der Ideologien zerrieben wird.
Najem Walis singuläre Stellung in der zeitgenössischen Literatur würde schon alleine rechtfertigen,
dass er diesen Preis bekommt - aber selbst wenn es hunderte Bücher gäbe, die das versuchen, was
Najem Wali tut, er würde immer noch herausragen. Denn er beherrscht das Schönste und Wichtigste,
was Romanliteratur kann oder können muss : nämlich sich in alle seine Figuren auf eine Weise
einzufühlen, und Einblicke in Leben und Schicksale zu geben, so dass der Leser nach der Lektüre ein
anderer - besser gesagt : jetzt erst wirklich er selbst ist: ein besonderer Mensch in Anerkennung der
Besonderheit jedes anderen Menschen, der Opfer einer nicht frei gewählten Geschichte ist, und von
Interessen, die nicht die seinen sind, und in die keiner gestaltend eingreifen kann, ausser: er erzählt
und findet Gehör.
Robert Menasse
Mitglied der Jury
Najem Wali
Bagdad Marlboro
Carl Hanser Verlag, 2014