Abb.: Bibliothèque nationale de France (3); Zentralbibliothek Zürich (1); Zentralbibliothek Zürich (4); Stadt St. Gallen (5); Schweizerisches Bundesarchiv Bern (6); Forschungsstelle Sotomo (7); watson.ch (2) 10 SCHWEIZ 10. S E P T E M B E R 2015 D I E Z E I T No 3 7 Google nimmt der Schweiz die Form Ein neues Buch zeigt die Geschichte der Schweizer Karten. Der Historiker Daniel Speich über ausgewählte Exemplare, Macht und Identität und das Ende der Landesgrenzen. Ein Gespräch 4 Symbol für Mut, Stärke und Macht: Der Zürcher Löwe, Johann Heinrich Streulin, 1698 2 Gebiete, die zur Schweiz gehören könnten: Watson-Karte, Internetportal »Watson«, 2014 1 Erst die Karte, dann die Nation: Dufourkarte, Ausschnitt, Guillaume-Henri Dufour, 1862 und 1926 6 3 Radikale Verteidigungsstrategie. Die Alpen werden zur Festung, das Mittelland dem Feind überlassen: Reduit-Karte, Schweizer Armee, 1941 5 7 Links-Rechts: Politische Landkarte der Schweiz, Michael Hermann und Heiri Leuthold, 2003 Hier katholisch, dort protestantisch: Grundriss der Stadt St. Gallen, Johannes Zuber, 1828 Die Schweiz, ein Globus: Karte der Eidgenossenschaft, Albrecht von Bonstetten, 1480 DIE ZEIT: Herr Speich, immer wenn ich Zürich liegt im Norden, Uri im Süden. Und in der im Ausland eine Landkarte in die Hände Mitte steht die Rigi. Aber insgesamt ist diese Karte kriege, denke ich: Ach, unsere Schweizer völlig überschätzt. Karten sind einfach viel schöner. ZEIT: Gilt das auch für den Zürcher Löwen von Daniel Speich: Ja, das kenne ich! (lacht) Ende des 1698, gezeichnet von Johann Heinrich Streulin? 19. Jahrhunderts gab es in der Schweiz eine riesige Speich: Kartografie ist Ende des 17. Jahrhunderts Diskussion über die Ästhetik der Landkarten. Leute eine Geheimwissenschaft, und die physische Topowie Fridolin Becker, der an der ETH eine Professur grafie des eigenen Territoriums ein Staatsgeheimnis. für Kartografie hatte, haben sich extrem ins Zeug Die Löwen-Karte hatte keinen Nutzen. Sie ist ein gelegt, um die Schönheit der Landschaft in der Kar- Zeichen der Macht und kein soziotechnisches Orite abzubilden. Sie haben dazu auch Experimente entierungsinstrument. Sie ist kein Kataster, bildet mit physiologischer Optik gemacht. keine Grundlage für Ingenieurbauten oder für die militärische Verteidigung: Sie hat lediglich eine ZEIT: Was heißt das? Speich: Sie fragten sich, wie Farben auf einer Karte symbolisch-repräsentative Kraft, und – sie ist schön! wahrgenommen werden. Deshalb haben sie die ZEIT: Fast 150 Jahre später zeichnet Johannes ZuTalböden eher blau-grünlich gefärbt und die Höhen ber seinen Stadtplan von St. Gallen mithilfe des eher rot-orange. Diese Farbskala sollte die Distanz- modernen Triangulationsverfahrens. Er zeigt eine wahrnehmung verbessern. Und seit den 1840er geteilte Stadt: Hier die säkulare Stadtrepublik, dort Jahren versuchte man mit Schrägschattierungen das der Abteibezirk. Relief möglichst plastisch hervorzuheben. Speich: Wobei die Teilung gar nicht so stark ist wie ZEIT: Die Schweiz kennt also eine eigentliche etwa bei Karten des geteilten Berlins. Interessant ist, dass ein Privater das Bild anfertigte, in der HoffLandkartenkultur? Speich: Ja, im Gegensatz etwa zu Österreich. Das nung, er könnte damit Geld machen. Land hat zwar eine vergleichbare Topografie wie die ZEIT: Was macht diese St. Galler Karte speziell? Schweiz, aber völlig andere Karten. Dort ging es seit Speich: Sie zeigt die Raumstruktur der kapitalistijeher nur um die militärische Präzision. Und nicht schen Expansion und die Raumstruktur des religiöwie in der Schweiz darum, der Bevölkerung ein Bild sen Heils. Dahinter stecken unterschiedliche Logider Landschaft zu vermitteln. Die k. u. k. Offiziere ken. Im 19. Jahrhundert konnte man diese plötzlich sollten ihre Kompanien einfach möglichst effizient auf einer Karte zeigen. Vorher hatten die Menschen verschieben können. eine völlig andere Raumwahrnehmung; etwas, das ZEIT: Es war aber auch in der Schweiz ein Militär, für uns heute so schwer verständlich ist. Der Raum der von 1832 bis 1864 die erste Landeskarte zeich- war eine Aneinanderreihung von Punkten auf einer nete: Guillaume-Henri Dufour, General der Bun- Linie. Man wusste, wie lang es dauert, um von A nach B zu gehen, man wusste, wen man fragen destruppen im Sonderbundskrieg. Speich: Ohne Militär gäbe es keine moderne Karto- musste, um den Weg zu finden. Aber den Vogelgrafie, auch in der Schweiz nicht. Es gab hier aber blick hatten die Leute nicht. Die neuen Karten erlaubten es, aus der effizienten Organisatiein Problem: Bis 1848 existierte kein Bunon des Raums einen Gewinn zu erzielen. desstaat. Also keine zentrale Autorität, die sagte: Wir zeichnen eine Karte des ganzen ZEIT: Springen wir nochmals ein JahrLandes! Doch seit dem Bundesvertrag von hundert vorwärts: in die Zeit des Zweiten 1815 gab es einen Generalstab. Diese fünf Weltkriegs, zur Reduit-Karte. Männer waren dafür verantwortlich, dass Speich: Die ganze Reduit-Strategie wurde die kantonalen Armeen möglichst gut zubis heute nicht richtig aufgearbeitet. Es sammenarbeiteten. Das schafften sie zwar gibt Militärhistoriker, die sich fragen: nicht, aber es gelang ihnen, ein kartografiKonnte die Strategie tatsächlich funktiosches Büro zu organisieren. Sie suchten einieren? Also der Rückzug ins Gebirge, nen geeigneten Mann – und fanden den Diccon Bewes: wenn die Nazideutschen einmarschieren. Mit 80 Karten Ingenieur Dufour. Aber die Konzeption des Reduits ist eine Art von Landesverrat: an der Ideologie der ZEIT: Zuerst waren also die Karten, dann durch die Schweiz. Eine Landschaft und an den industriellen und die Nation? ökonomischen Werten der Schweiz. Das Speich: Absolut. In der zweiten Hälfte des Zeitreise Verlag zeigt diese Karte schön: Das Land sieht aus 19. Jahrhunderts konsolidierte sich die Hier und Jetzt, wie ein Blinddarm oder eine Milz. junge Nation langsam, die Identifikation Baden 2015; der Bürger mit den Kantonen schwächte 224 S., Fr. 74,–. ZEIT: Die Karte ist ein Affront? sich ab. Dabei spielte die Karte eine ganz Speich: Ganz klar. wichtige Rolle. Die bisherige Ikonografie ZEIT: Heute streiten wir in der Schweiz der Eidgenossenschaft war ein Kreis mit aber noch um die korrekte Angabe von den Wappen der Kantone in einer beOrts- und Flurnamen auf den Landeskarstimmten Reihenfolge. Oder Bilder der Tagsatzung, ten. Haben diese ihre politische Bedeutung verloalso ein Raum mit Männern drin. Aber auf der ren? Schweizer Landesausstellung von 1883 in Zürich Speich: Ja, der Raum ist in der Schweiz heute völlig zeigte man die Dufourkarte im Maßstab 1 : 50 000. unpolitisch. Er ist durch und durch homogenisiert. Vier Meter breit und drei Meter hoch. Das war nun Ein Beispiel nur: Mit dem Aufkommen der Eisendas Bild der Schweiz – und ist es bis heute. bahn begann man die Bahnhöfe anzuschreiben. Das ZEIT: Karten zeigen immer etwas. Manches zeigen war dann der offizielle Name eines Orts. So kam es auch zu Neukreationen wie Arth-Goldau; diese sie aber auch nicht. Wie war das bei Dufour? Speich: Eine der Karten, die Diccon Bewes in sei- Ortschaft hatte vorher nie existiert. All das basiert nem Buch zeigt, ist die Watson-Karte , die die auf einer kartografischen Raumordnung. Großmachtgelüste der Schweiz zeigt. Wir sehen ZEIT: Überraschen können Karten aber noch imdarauf Mulhouse oder Rottweil als Teil der Eidge- mer: Vor über einem Jahrzehnt sorgte der Atlas der nossenschaft. Aber damals gab es diese kartografi- politischen Landschaften für einiges Aufsehen. sche Logik noch gar nicht. Speich: Diese Karten sind sensationell! Michael Hermann und Heiri Leuthold zeichneten eine poliZEIT: Was hat das nun mit Dufour zu tun? Speich: Dufour zeigt nicht, dass früher auch andere tisch-soziale Topografie des Landes. Und sie zeigten: Gebiete auf die eine oder andere Art und Weise mit Was konstruiert ist, kann auch ganz anders sein. der Eidgenossenschaft verbunden waren. Anfang Gleichzeitig liegt diesen Karten eine radikale Quandes 20. Jahrhunderts werden dann die ersten Schul- tifizierung der Politik zugrunde. Das muss man hinatlanten gedruckt. Sie zeigen, wie das Territorium in terfragen und kritisieren. einem historischen Prozess gefüllt wird. So lange, ZEIT: Wieso? bis die Schweiz die Form hat, die wir aus jedem Speich: Links und Rechts bilden hier eine GrundWetterbericht kennen. Das ist die beste Symbolik achse, was ich völlig absurd finde. Das sind Kategofür die Erfüllung des nationalen Gedankens, die rien aus der Zeit der Klassenkämpfe, nicht aus dem man sich vorstellen kann. 21. Jahrhundert. ZEIT: Diese Form prägt unser Bild der Schweiz so ZEIT: Womit wir beim großen Abwesenden in Dicstark, dass wir noch heute leicht verblüfft sind, dass con Bewes’ Buch wären: Google Maps. die Landschaft auf der anderen Seite der Landes- Speich: Google bedroht die Form der Schweiz. grenze weitergeht. ZEIT: Wie das? Speich: Die Schweizer identifizieren sich unglaub- Speich: Bei allen Kartendiensten im Internet sind lich stark über ihre Landschaft. Mehr als andere die Landesgrenzen kaum sichtbar. Auf der DufourLänder. Im Rückblick unterschätzen wir völlig, wie karte bricht an der Schweizer Grenze das Relief ab. prekär der innere Zusammenhalt der Schweiz im Wenn man sich in die Karte versetzt, dann geht 19. Jahrhundert war. Von 1848 bis in die Belle man aus einer Landschaft mit Hügeln und Bächen Époque ist der Bund eigentlich irrelevant. Der Fö- in eine weiße Ebene. deralismus wird in der historischen Imagination der ZEIT: Bei Google Maps scrollt man sich munter Schweiz total unterschätzt. weiter nach Italien, Deutschland oder Frankreich ... ZEIT: Die erste Schweiz-Karte, die Diccon Bewes in Speich: ... und man merkt, wie fest die Schweiz zu seinem Buch zeigt, ist jene von Albrecht von Bons- Europa und zur Welt gehört – das ist doch eine gute tetten, erschienen 1480. Message! Speich: Dass man solche Karten für derart wichtig hält, ist eine Folge der Kartografiebegeisterung im Das Gespräch führte: MATTHIAS DAUM 19. Jahrhundert. Diese Karte hat nie jemand geseDaniel Speich ist Professor für Geschichte an hen – wenn es denn überhaupt eine Karte ist. Das der Universität Luzern. Zusammen mit David Einzige, was man sagen kann, wenn man sie an- Gugerli: Topografien der Nation. Politik, schaut: Es gibt eine territoriale Zuordnung von kartografische Ordnung und Landschaft im Namen, und die sind im Raum richtig orientiert. 19. Jahrhundert; Chronos, Zürich 2002
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