Ein kleiner Engel in Köln

Eine kleine Weihnachtsgeschichte
von einem Engel, der nach Köln
geschickt wurde…..
von
Ursula Brenger
für
Max, Jonathan und Felicitas
2015
EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
Imprint
Eine kleine Weihnachtsgeschichte von einem Engel, der
nach Köln geschickt wurde
Ursula Brenger
Copyright: © 2015 Ursula Brenger
All rights reserved
ISBN: 978-3-7375-6685-8
Umschlaggestaltung: Fotografie Boris Franz, Köln
Bilder: Fotolia: St. Ursula @ borisb17, Little hedgehog @so4in, Trauernde @
sauletas, Little Girl @Myst, Cologne cathedral Tobias Arhelger,
Weihnachtsmarkt am Kölner Dom, @bilderstöckchen
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Inhalt
Seite
Die Reise
3
In der Dombauhütte
7
Charly in St. Ursula
20
Der Boxclub Lumen Coloniae
35
Tim und die Wirklichkeiten
77
Mecki Zwei
96
Johanna und ihre Angst
108
Ein Abschied
122
Josefine und das Glück
135
Weihnachten
146
2
EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
Die Reise
„Was? Wirklich?“ Angenies starrte Gott Vater an. „Ich?“
„Ja, du!“, nickte er. „Du gehst jetzt hinunter auf die Erde
nach Köln zu deinem ersten Weihnachtsdienst. Es ist
dringend.“
Dem kleinen Engel wurde augenblicklich sehr warm.
„Aber – ich ….ich habe doch noch nie….ich wollte….ich
dachte“, stotterte Angenies, „ich dachte, einer der großen
Engel würde mitkommen und mir alles zeigen.“
„Nein, Angenies, keiner der großen Engel kann dich
begleiten.
Du
wirst
ganz
alleine
gehen.
Selbstverständlich werden wir mit unseren Herzen immer
bei dir sein. Das weißt du doch“, setzte Gott Vater
beruhigend hinzu. „Petrus wird auch ein Auge auf dich
haben. Versprochen!“
„Aber was genau soll ich denn tun?“, fragte Angenies mit
erstickter Stimme.
„Du folgst einfach deinem Herzen!“
„Geht es vor mir her?“
„Nein, es geht nicht vor dir her, es wird dich aber führen.
Vertrau‘ deinem Herzen einfach. Hörst du mich?“
„Ja“, nickte Angenies, „ich höre, was du sagst.“
„Gut“, sprach Gott Vater, jetzt etwas feierlicher. „Ich
gebe dir meinen Segen mit auf deinen Weg.“
„Ja, wie – jetzt gleich? Kann ich mich nicht noch von
Abuela verabschieden?“
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„Ach, Engelchen, ich bin doch hier“, hörte Angenies eine
sanfte Stimme hinter sich. Angenies drehte sich um und
sah Abuela, die sie anlächelte.
„Komm mit mir, ich bringe dich zu Petrus. Der weiß
Bescheid und wartet schon auf dich.“
Angenies verabschiedete sich von Gott Vater und ging an
der Hand ihrer Abuela, dem großen Engel, zu Petrus, der
mit hochgezogenen Augenbrauen auf sie wartete. Er
machte sein wichtiges Gesicht. Das machte er
gewöhnlich nur, wenn er Wetterlagen erzeugte, die
Meteorologen auf der Erde den Schweiß auf die Stirn
trieb, oder wenn es einen besonderen Anlass gab. So wie
heute, da er ein Engelchen zu seinem ersten Einsatz auf
die Erde bringen sollte.
„Sankt Peter“, begrüßte Abuela ihn, „da sind wir“.
„Ja, ja, das sehe ich, sehe ich“, nickte Petrus gut gelaunt.
„Das wurde auch Zeit, das wurde auch Zeit.“
Abuela drückte Angenies noch einmal an sich. „Mach es
gut, mein kleiner Engel. Wenn du wiederkommst, bist du
ein großer Engel.“
„So, so“, brummte Petrus, „dann will ich dich einmal auf
die Erde bringen, das will ich dich.“ Angenies war viel
zu aufgeregt, um etwas zu antworten. Erst nach einer
Weile fand sie ihre Stimme wieder: „Jetzt warte ich
schon so lange auf diesen Tag – und jetzt - da es soweit
ist“, sie schluckte, „bin ich ganz aufgeregt.“
„Ja, ja“, lächelte Petrus. „Das ist normal. Wenn es ernst
wird, ist es immer etwas ganz anderes. Das geht den
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
Menschen auf der Erde genauso. Weißt du Angenies,
meine Kleine“ – Petrus tätschelte liebevoll ihre kleine
Hand – „es ist doch so: Wenn Gott Vater dir vertraut,
dann kannst du es doch auch: Dir vertrauen, meine ich.
Das ist doch wohl klar, oder?“
„Doch, doch“, nickte Angenies ergeben, „so ist das
wohl.“
„Ja“, brummte Sankt Peter gut gelaunt. „Das ist es auch,
das ist es.“
In Gedanken versunken ging sie neben Petrus her, dass
sie gar nicht bemerkte, wie es langsam kühl wurde. Sie
hörte noch, wie Petrus ihr so etwas wie „Gutes Gelingen!
Und nur Mut!“ zuflüsterte – dann war sie plötzlich allein.
Angenies fror schrecklich. Ihre Zähne klapperten
aufeinander. Das Gehen fiel ihr das erste Mal in ihrem
Engelleben schwer. Alles um sie herum war so seltsam
anderes, als sie es gewohnt war. Der Boden unter ihren
Füßen fühlte sich hart und kalt an. Ihr war, als ginge sie
durch eine lange, dunkle Röhre. Manchmal musste sie
sich richtig hindurchzwängen. Oh, du meine Güte, wo
komme ich nur heraus?, dachte sie, als es plötzlich heller
wurde.
Der Gang war zu Ende. Sie stand in einem großen Raum,
einer Halle mit einer riesigen Gewölbedecke. Durch die
glaslosen Fensteröffnungen pfiff ihr der eisige Erdwind,
den sie bisher nur aus Erzählungen kannte, um die Ohren.
Sie lief zu einem der Fenster und erschrak. Der Himmel
war nicht mehr blau, sondern grau. Sie befand sich in
luftiger Höhe und sah ringsum schwarz gezackte, reich
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verzierte Stelen und gotische Türmchen. Als sie hinunter
blickte, sahen die Menschen aus wie kleine Püppchen.
Die Luft war schwer, feucht und roch fremd. Sie wandte
sich um und blieb mit ihrem hellblauen Engelkleid an
einem Nagel hängen, der aus dem Gebälk hervorstach.
Huch, erschrak sie, riss ihr Kleidchen vom Nagel und
merkte nicht, dass sie eine kleine blaue Schleife verloren
hatte. Schlagartig wurde sie müde, sehr müde. Sie
entdeckte in der Ecke des Gewölbes einen großen
Stahlkasten. Hoffentlich ist es dort wärmer, wünschte sie
sich frierend und öffnete die Tür zum Container. Sie
wickelte sich in eine Fleecejacke, die über einem Stuhl
hing und sank schläfrig auf eine schon etwas angestaubte
Decke. Die fühlte sich warm und kuschelig an.
Was ist nur mit mir los?, konnte sie gerade noch denken,
aber darüber schlief sie ein.
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
In der Dombauhütte
Angenies erwachte, weil es neben ihr bedrohlich krachte.
Sie hörte Männer, die sich kurze Befehle zubrüllten. Karl
und Clemens, zwei Steinmetze, räumten große
Eisenstangen eines alten Gerüsts aus dem Weg und
waren bei dieser sehr schweren körperlichen Arbeit nicht
zimperlich.
Was ist denn hier los? Ach, ich bin ja auf der Erde, fiel
es ihr wieder ein. Deswegen bin ich auch direkt so müde
geworden, erinnerte sie sich.
Wie lange habe ich wohl geschlafen? Wer ist das da
draußen? Bin ich in Köln?, überschlugen sich ihre
Gedanken.
Jetzt krachte es wieder gegen die Stahlwand, diesmal so
sehr, dass sie vor Schreck aufschrie. Ihr kleines
Engelherz pochte. Die lauten Stimmen verstummten.
Langsam öffnete sich die Tür des Containers und
Angenies sah in zwei verdutzt drein schauende bärtige
Gesichter.
Ach, wo bin ich hier – was sind das für seltsame Engel
mit grauen Bärten?, dachte sie so bei sich. „Wer, wer
seid ihr denn?“, stotterte Angenies zitternd.
„Was zum Teufel macht dieses Kind hier? Wie kommt
das denn hierher?“, ignorierte der große, bärtige Mann
Angenies Stottern. „Mein Gott - das darf doch nicht wahr
sein! Nur mit `nem Nachthemd bekleidet! Ja, wo gibt es
denn so ´was? Und das bei diesen Temperaturen! Ich
fasse es nicht! Mensch Karl, was machen wir denn jetzt?
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So etwas ist mir in 25 Jahren Dombauhütte noch nicht
vorgekommen!“
Clemens war ganz außer sich.
„Hallo, Kleine“, säuselte Karl, „was machst du denn
hier?“
„Ja, das weiß ich im Moment auch noch nicht so genau“,
antwortete Angenies wahrheitsgemäß.
„Wer hat dich denn hierher gebracht?“
„Na, Petrus“, stotterte Angenies verlegen und kleinlaut.
„Wer?“, fragten die beiden Männer gleichzeitig und
reichlich irritiert.
Sie sahen sich an und schüttelten ihre Köpfe.
„Wie heißt du denn?“, versuchte Clemens es noch
einmal.
„Angenies.“
„Ah, also Agnes. Sie kommt offensichtlich hier aus der
Gegend“, überlegte Karl laut. Clemens nickte. „Und
weiter?“
„Wie, weiter?“, stammelte Angenies.
„Na, dein Nachname. Wie lautet denn dein Nachname?
Wie heißt denn dein Papa?“
„Papa.“
„Wie alt bist du denn?“, fragte der kleinere Steinmetz,
jetzt schon etwas ungeduldiger.
„Na ja“, überlegte Angenies, „schon ziemlich alt. Und
bald bin ich groß“, schob sie eifrig hinterher.
Die Steinmetze seufzten.
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
„Sie muss so um die acht, neun Jahre sein. Und
eigentlich wissen, wer sie ist und wie alt sie ist!“, knurrte
Karl.
„Bist du jetzt verärgert?“, fragte Angenies vorsichtig.
„Hm“, brummte Karl und schüttelte seinen Kopf.
„Ach, ich weiß gar nicht so genau, wo ich hier bin! Mir
ist auch schrecklich kalt“, jammerte Angenies.
Karl schaute das kleine Engelchen entgeistert an. „Sag’
mal, bist du nicht von dieser Welt?“
„Na, von der Welt schon, aber nicht von der Erde. Ich
komme direkt aus dem Himmel“, nickte Angenies.
Die Männer verdrehten die Augen und wechselten einen
vielsagenden Blick. Dann schauten sie Angenies
fassungslos an.
„Hör mal, Kind, das hier geht wirklich nicht! Clemens,
wir müssen jetzt sowieso runter zur Feier, dann nehmen
wir sie für’s Erste einmal hinunter zur Chefin“,
kommandierte Karl entschlossen.
Angenies schaute die beiden Steinmetze irritiert an. „Du
willst mich hinunter bringen – ja, wohin denn?“
„Ja, sicher, Kind. Es kann sein, dass du dir in deinem
Hemdchen eine satte Erkältung eingefangen hast! Wenn
es nicht sogar eine Lungenentzündung wird“, prophezeite
Clemens besorgt.
„Ihr seid also richtige Menschen?“, konstatierte sie
neugierig. Langsam besann sie sich auf ihren Auftrag.
Dabei schaute sie die verdattert drein blickenden
Handwerker an.
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„Na ja, das wollen wir doch meinen. Sicher sind wir das,
Madämchen, jetzt ist es aber gut!“
„Ich bin nämlich noch nie einem echten Menschen
begegnet. Ihr beide seid die Ersten“, erklärte Angenies
eifrig.
„Ach was!“ Entgeistert und seltsam bewegt blickten die
beiden Handwerker Angenies an.
„Sehen alle Menschen so aus wie ihr?“, fragte Angenies
wie selbstverständlich weiter.
„Tja, irgendwie schon“, meinte Karl.
„Und du bist demnach kein Mensch?“, schmunzelte er.
„Ja, was bist du denn, wenn du kein Menschenkind
bist?“, ließ sich Clemens jetzt eher amüsiert auf den
Dialog ein.
„Ja, sieht man das denn nicht? Ich bin ein Engel!“
Jetzt mussten die beiden Steinmetze laut lachen. „Nennt
deine Mama dich so?“, fragte Clemens und strich sich
nachdenklich durch seinen Bart.
„Na ja, schon. Manchmal.“
„Wo ist denn deine Mama?“, versuchte es Karl noch
einmal behutsam.
„Im Himmel“, erklärte Angenies geduldig.
„Ach“, entfuhr es Karl bestürzt.
„Und dein Papa?“, fragte Clemens ein wenig vorsichtig.
„Ja, der ist sowieso im Himmel“, erwiderte Angenies.
„Mein Gott, das arme Kind!“ Jetzt klangen die Stimmen
der Steinmetzen recht erschüttert. Sie waren voller
Mitleid. „Wir bringen dich jetzt erst einmal ins Warme,
dann sehen wir weiter. Komm’ mit.“
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
Karl zog seine dicke Handwerkerjacke aus und hüllte
Angenies hinein, nahm sie auf den Arm, weil sie nackte
Füße hatte und stapfte mit ihr in Richtung des großen
Aufzugs.
Clemens brummte etwas, schüttelte seinen Kopf und
trottete neben seinem Kollegen her.
Mit einem großen Aufzug, der aussah wie ein Käfig,
fuhren sie hinunter. Unten angekommen, marschierten
sie zielsicher durch ein Gewirr von Gängen in ein Büro.
Dort roch es fast so angenehm wie in der
Himmelsbäckerei und Angenies hatte einen kurzen
Anflug von Heimweh. Schnell besann sie sich auf ihren
wichtigen Auftrag und kämpfte die aufsteigenden Tränen
hinunter.
Was im Büro so gut roch, war der Kuchen, den die
Dombaumeisterin ihren Mitarbeitern spendieren wollte.
Kaffeeduft erfüllte den Raum, aromatisierte Tees
machten das vorweihnachtliche Duftgemisch perfekt. Die
Adventsfeier für die Mitarbeiter der Dombauhütte sollte
in wenigen Minuten beginnen.
Unter den interessierten Blicken der nach und nach
eintreffenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Dombauhütte wurde Angenies von Clemens in einen
gemütlichen Sessel gesetzt. Fasziniert von der kleinen,
blonden Gestalt reichte Susanne, die Sekretärin und gute
Seele der Dombauhütte, Angenies eine Tasse heißen Tee.
Dann stapften Clemens und Karl ins Büro der
Dombaumeisterin, die sich gerade auf den Weg zur Feier
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machen wollte, fingen sie ab und redeten aufgeregt auf
sie ein.
„Ein Engel im Domdach! Na, wenn das kein
angemessener Auftakt für unsere Adventsfeier ist!“,
atmete die Dombaumeisterin tief ein und sah ihre
Steinmetze ein wenig ungläubig fragend an. Gewohnt,
auch in kritischen Situationen immer die Ruhe zu
bewahren, meinte sie dann lächelnd: „Also, wir müssen
unbedingt klären, wie die Kleine dort oben hingekommen
ist, meine Herren, das ist doch wohl klar, oder? Jetzt
wollen wir uns aber unseren Engel erst mal genauer
anschauen! Also, das ist ja unglaublich! Hier gibt es doch
wirklich nichts, was es nicht gibt!“
Die Dombaumeisterin, die in ihrem Leben schon viel
gesehen hatte, wandte sich Angenies zu, lächelte
freundlich und fragte: „So – du bist also unser kleiner
Weihnachtsengel, habe ich gehört. Von welcher
Krippenspiel - Kostümprobe bist du denn ausgebüxt?
Und wie bist du unbemerkt dort oben hingekommen?“
Angenies lächelte freundlich zurück. Sie überlegte
fieberhaft, was sie jetzt antworten sollte. Jetzt bloß nichts
Falsches sagen, dachte sie bei sich.
Die Dombaumeisterin setzte sich neben Angenies und
meinte dann mütterlich:
„Kind, wenn du uns nicht erzählst, wer du bist und wo du
wohnst, müssen wir die Polizei rufen. Das ist doch nicht
nötig, oder? Ist dir denn etwas geschehen, Kleine? Wie
kommst du hierher?“
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
Das wüsste ich auch gerne, dachte Angenies kurz, aber
dann horchte sie auf:
Ah, die Polizei also! Sie versuchte in sich
hineinzuhorchen, ob ihr Herz ihr etwas sagte. Sie war
sich nicht so sicher.
„Braucht die Polizei einen Engel?“, fragte sie die
Dombaumeisterin vorsichtig.
„Jeder braucht irgendwann einen Engel, Kind. Bist du
wirklich ein Engel, wärst du hier in jedem Fall richtig“,
antwortete die Dombaumeisterin überrascht.
„Wo bin ich denn?“, fragte Angenies interessiert.
„Du weißt das nicht? Die Dombaumeisterin zog ihre
Brauen hoch und machte eine kleine Pause.
„Im Hohen Dom zu Köln. Und im Moment in meinem
Büro in der Dombauhütte. In meinem gemütlichen
Sessel“, fügte sie lächelnd hinzu.
„Oh“, antwortete Angenies andächtig, „im Dom! Ich
habe schon viel vom Dom gehört.“
Sie blickte erleichtert in das warmherzige, kluge Gesicht
der Dombaumeisterin.
„So?“, fragte diese forschend, „was hast du denn
gehört?“
„Dass die Menschen hier in der Stadt ihren Dom sehr
lieben und dass der jetzt ein buntes Fenster gegenüber
dem Bischofsstuhl hat.“
Amüsiert ließ sich die Dombaumeisterin auf diesen
Dialog ein. „Ach, wer erzählt das denn?“
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„Na“, erklärte Angenies mit einer ausladenden Geste,
„die anderen Engel. Viele waren schon hier und haben
den Dom und das neue Fenster gesehen.“
Mit gerunzelter Stirn trommelte die Dombaumeisterin
mit den Fingern auf ihre Stuhllehne. „Ach, was? Die
anderen Engel….waren schon hier“, wiederholte sie
nickend und traute ihren Ohren nicht. „Das ist ja nicht zu
fassen!“ Sie atmete tief ein. Dann schmunzelte sie. Als
ob sie das nicht immer gewusst hätte!
Ihr kam eine Idee und sie fragte Angenies: „Was sagt
denn ER, du weißt schon, dazu?“
„Ach, du meinst den Papa im Himmel?“
„Wie nennst du ihn?“
„Naja, wir kleinen Engel dürfen ihn Papa nennen.“
Die Dombaumeisterin war jetzt ehrlich interessiert.
„Und“, fragte sie vorsichtig, „was sagt er denn zu
unserem Fenster?“
„Ja, was soll er sagen? Was er immer sagt, wenn die
Menschen ihm ein Geschenk machen. Er freut sich! Das
Fenster meinte er, sei so bunt wie die Menschen in dieser
Stadt. Und warm, wenn die Sonne hindurch scheint.“
„Ach wirklich!“, antwortete die Dombaumeisterin
erfreut, „was ist mit den“, jetzt flüsterte sie fast, „den
anderen Fenstern?“
„Oh, Gott Vater mag sie alle. Er liebt die wunderbare
Vielfalt.“
Gedankenverloren sah die Dombaumeisterin den kleinen
Engel lange an. Angenies blickte lächelnd zurück.
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
„Du brauchst dringend etwas anderes zum Anziehen. Wo
bekommen wir das jetzt her? Sieh mal, du hast dir ja ein
Loch in dein schönes blaues Kleidchen gerissen, da fehlt
ja ein Stück Schleife“, stellte die Dombaumeisterin fest
und fühlte den Stoff fachmännisch zwischen Daumen
und Zeigefinger. „Ach, das ist ja ein wunderbares
Gewebe“, staunte sie sichtlich beeindruckt, „Kind, wo
hast du das her?“
Angenies schaute so souverän wie möglich zurück und
meinte nur: „Och…, das Kleid…, das tragen doch alle
Engel…, na, ja, die großen Engel nicht, die haben
andere….“
Forschend schaute die Dombaumeisterin dem kleinen
Engel ins Gesicht und wiederholte, jetzt an ihre
Sekretärin Susanne gewandt: „Wo bekommen wir jetzt
etwas Angemessenes für sie zum Anziehen her?“
Was die Dombaumeisterin und ihre Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen dann organisierten, wusste Angenies
nicht. Sie standen inzwischen alle neugierig vor dem
Sessel und plauderten mit dem seltsamen kleinen
Mädchen, das eingehüllt in eine Decke dankbar Tee
schlürfte und Plätzchen aß.
Wenig später brachte man ihr eine Jeans, Unterwäsche,
ein rosa T-Shirt, eine dicke blaue Fleecejacke, einen
hellblauen Anorak mit Fell, Wollsöckchen und ein paar
warme braune Stiefel, ebenfalls mit Fell.
Sie zog sich die Sachen über, wunderte sich, wie sich die
Menschenkleider am Körper anfühlten und verstaute ihr
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Hemdchen in einer Tasche, die Susanne ihr noch
zusteckte. „Hier, tu‘ dein Hemdchen dort hinein.“
Susanne gab noch eine ganze Reihe von mütterlichen
Anweisungen, denen Angenies geduldig lauschte.
„So meine Kleine – was machen wir denn jetzt mit dir?“,
überlegte Susanne.
„Hattet ihr nicht eben beschlossen, die Polizei zu
verständigen?“
„Ist das nötig, kleine Agnes? Willst du nicht einfach
sagen, wo du wohnst? Deiner Aussprache nach kann es ja
nicht weit sein.“
„Was ist, wenn die Polizei einen Engel braucht?“,
Angenies fragte das mit so einer Ernsthaftigkeit, dass
Susanne irritiert war.
Sie schürzte ihre Lippen, musterte Angenies noch einmal
und gab auf: „Gut, dann rufe ich sie jetzt an.“
Als die Beamten kamen, musterte Angenies sie
neugierig. Sie sah einen großen, hageren Mann und eine
Frau mit einem blonden Pferdeschwanz, beide waren fast
gleich gekleidet. Angenies fand, sie trugen lustige
Mützen auf dem Kopf.
„Wenn es schneit, sind die Mützen dann nicht zu kalt an
den Ohren?“, fragte Angenies die Polizisten statt einer
Begrüßung.
„Wenn es uns zu kalt ist, ziehen wir andere Mützen an“,
antwortete
die
Polizistin
mit
der
gleichen
Selbstverständlichkeit.
„Ah, braucht ihr einen Engel?“
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
Die Beamten schauten Angenies mit einer Mischung aus
Misstrauen und Mitleid, aber auch ein wenig verunsichert
an.
„Ja, schon“, antwortete die Frau etwas zögerlich.
Angenies freute sich und sprang aus dem Sessel auf. „Ja,
wunderbar! Das klappt ja prima“, freute sie sich, „ihr
braucht einen Engel! Dann lasst uns direkt gehen und
anfangen.“
Irritiert fragte die Frau: „Womit sollen wir denn
anfangen?“
„Ja, wisst ihr das denn nicht?“, fragte Angenies
enttäuscht.
Die Frau biss sich auf die Lippen und schaute Angenies
prüfend an. Dann atmete sie einmal tief ein und aus und
schaute fragend zu ihrem Kollegen. Der zuckte mit den
Schultern.
„Wir bringen sie zu unserem Psychologen. Der bekommt
vielleicht etwas mehr aus ihr heraus.“
„Du willst etwas aus mir herausbekommen? Was denn?“,
wollte Angenies wissen.
„Und schauen die Vermissten durch“, fuhr ihr Kollege
unbeirrt fort. „Wenn so eine Kleine vermisst würde,
müsste doch ´was im System darüber stehen, dann wären
schon ganze Einheiten von uns unterwegs. Das wüssten
wir doch“, schüttelte der Polizist den Kopf.
„Zum Beispiel, wo du herkommst, wie du heißt, wer
deine Eltern sind, wie du hierher gekommen bist“, zählte
die Polizistin an Angenies gewandt auf.
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„Ach so, ja, das weiß ich selbst nicht so genau, also, wie
ich hierher gekommen bin.“ Sie fügte wichtig hinzu: „Ich
werde nicht vermisst, ich bin geschickt worden, in
himmlischer Mission.“
„Siehst du! Da haben wir es. In himmlischer Mission!
Das ist ja mal ganz was Neues!“
„Nö“, widersprach Angenies hartnäckig. „Das ist nicht
neu. Wir sind auf der ganzen Erde ständig unterwegs,
meine Engelschwestern und –brüder.“
„Oh, Gott, oh Gott, oh Gott“, seufzte der lange dünne
Polizist.
„Ja, genau der sendet uns aus. Das weißt du also?“, fragte
Angenies mit einer Mischung aus Freude und
Verunsicherung.
„Ich weiß im Moment, dass wir dich wohl erst einmal
mitnehmen, Frollein!“, knurrte er ein wenig unfreundlich.
Kopfschüttelnd wandte er sich an Clemens und Karl.
Die Beamten sprachen eine ganze Weile mit den beiden
Steinmetzen, die Angenies gefunden hatten, später noch
mit der Dombaumeisterin. Dann wandten sie sich wieder
zu ihr und meinten: „Lass uns gehen!“
Angenies verabschiedete sich herzlich von der
Dombaumeisterin, den Mitarbeitern der Dombauhütte
und ganz besonders herzlich von den beiden
Steinmetzen: „Falls ihr mich einmal braucht, dann sagt es
mir.“
Seltsam berührt versicherten die Männer: „Machen wir!“
und winkten ihr nach.
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
Die Dombaumeisterin bat die Polizisten noch, ihr bitte zu
berichten, wenn sie die Herkunft des kleinen Mädchens
geklärt hätten. Die Polizisten versprachen es und
verließen mit Angenies die Dombauhütte.
„Was es nicht alles gibt!“, staunte die Dombaumeisterin
und sah den Dreien kopfschüttelnd hinter her.
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Charly in Sankt Ursula
Die beiden Polizisten führten Angenies zu ihrem
Dienstwagen und hielten ihr die Türe auf.
„Dann steig` mal ein, Kleine!“, forderte der Polizist sie
auf und riss Angenies aus ihren Beobachtungen.
Angenies hatte wohl von Autos gehört, aber wie man in
sie einsteigt, war ihr nicht wirklich klar. So kroch sie
vorsichtig auf den Rücksitz.
Die beiden Polizisten stellten sich als Stefanie und Rolf
vor. Rolf fuhr an und das Auto brummte und vibrierte.
Angenies verkroch sich auf der Rücksitzbank.
„Anschnallen, bitte!“, dröhnte Rolf. „Das kennst du ja
sicher!“
„Ach, Rolf, lass‘ mal gut sein“, mischte sich Steffi
versöhnlich ein. „Die Kleine ist doch ganz verstört, das
siehst du doch.“
„Hm“, knurrte Rolf ergeben, sagte aber nichts mehr.
Mit wenigen geübten Handgriffen schnallte Steffi die
interessiert schauende Angenies in den Sitz. „So machst
du das also“, nickte Angenies anerkennend.
„Ja, so mache ich das“, lächelte Steffi und blickte
Angenies liebevoll in ihr Gesicht.
Als Steffi neben Rolf auf dem Beifahrersitz Platz
genommen hatte, fuhr er los. Hin und wieder wurden sie
heftig durchgeschüttelt.
„Tja, das Geruckel“, meinte Rolf zu Angenies, ohne den
Blick von der Fahrbahn zu nehmen, „kommt von den
Schlaglöchern, die sich wie Kochblasen auftun. Es hat
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
diesen Dezember schon so gefroren, dass der
Straßenbelag keine Chance hatte.“
„Hm“, ergänzte Sabine nickend, „und die Chancen auf
Ausbesserung stehen auch nicht wirklich gut, Köln hat
kein Geld.“
„Köln hat kein Geld?“, fragte Angenies erschrocken.
„Braucht nicht jeder Geld hier auf der Erde?“
„Oh, ja, Kleine, jeder“, seufzte Rolf.
„Und einer so großen Stadt wie Köln fehlt das Geld? Das
ist ja furchtbar! Was machen wir denn jetzt?“, entfuhr es
Angenies.
„Immer weiter“, antwortete Stefanie resigniert. „Einfach
immer so weiter“
„Ja“, fragte Angenies jetzt schon reichlich verwirrt,
„dann ändert sich ja nie etwas!“
„Genau!“, bestätigte Rolf resigniert. „Es ändert sich nie
was. So isses!“
Angenies dachte bereits angestrengt nach, was sie tun
könnte, um Köln zu Geld zu verhelfen, als der
Polizeiwagen in die Stolkgasse einbog, dort durch eine
Einfahrt fuhr und auf einem Hof vor einem großen
Gebäude anhielt.
„Da wären wir!“
Rolf hielt Angenies die Türe auf.
„Aussteigen, junge Dame!
Angenies blinzelte: „Ach, wo sind wir denn?“
„Wache eins“, stöhnte Rolf.
„Los jetzt, raus!“, drängelte er.
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„Ja doch“, sagte Angenies, und kroch vorsichtig aus dem
Auto. „Ich bin noch nie Auto gefahren!“
Rolf atmete aus und rollte mit den Augen.
„Bist du jetzt ungehalten?“, fragte Angenies vorsichtig.
„So kann man das sagen“, brummte Rolf.
Stefanie legte ihrem Kollegen beruhigend ihre Hand auf
den Arm. Angenies entging das nicht.
„Habe ich etwas getan, was dich ärgert?“, fragte sie Rolf.
„Ärger ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber ich
finde, du nervst ganz schön. Man könnte wirklich
meinen, du bist neu auf dieser Welt. Mit diesem
Spielchen kannst du jetzt aufhören. Es reicht!“
Angenies bemerkte, dass Rolf sich einfach nicht
vorstellen konnte, dass es jemanden gab, der mit dem
Autofahren nicht vertraut war. Sie betrachtete die Szene
einmal mit seinen Augen: Es musste ihm völlig absurd
vorkommen, dass jemand hier in Köln noch nie mit
einem Auto gefahren sein soll. Und weil er sich das nicht
vorstellen konnte, gab es das für ihn auch nicht. Klar war
er genervt. Der Arme!
Darüber hinaus hält er das für ein Spiel, dachte
Angenies. Seltsam, wenn wir im Himmel spielen, macht
das doch Spaß. Nervt Spielen hier unten auf der Erde?
Na, das ist ja interessant!
Sie dachte gerade darüber nach, wie viele
Missverständnisse
wohl
entstanden,
weil
die
Vorstellungskraft der Gesprächspartner für die jeweilige
Situation der anderen Menschen einfach nicht ausreichte,
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
da wurde sie von Stefanie an der Hand in die Dienststelle
gezogen.
Im Polizeirevier ging es laut her. Einige Betrunkene
wurden von einem älteren Polizeibeamten verhört, der
offensichtlich mit den Nerven am Ende war. Er hatte sein
Hemd durchgeschwitzt, seine Haare auf Sturm stehen
und einen recht verzweifelten Gesichtsausdruck. Ein
anderer Polizist drückte einen der Betrunkenen immer
wieder auf seinen Stuhl. Die beiden Polizisten
wechselten einen Blick.
Der Verschwitzte meinte dann zu seinem Kollegen: „Ich
geb` es auf. Bring die drei in die Ausnüchterungszelle.
Das Spielchen bin ich satt! Wo sind wir denn hier?“
Aha, dachte Angenies so bei sich. Hier wird auch
gespielt. Na, mal sehen, wie die das hier so machen. Wer
wohl die Regeln vorgibt?
Eine ältere Dame stand mit einer Polizistin an einem
Tisch. Die alte Dame flüsterte und ein rundlicher
Polizeibeamter hörte ihr angestrengt zu.
Rolf und Stefanie gingen mit Angenies in einen anderen
Raum.
„Willst du auch Kaffee?“, fragte Rolf, Stefanie nickte
und Rolf verließ den Raum.
„So, kleine Madam“, fing Stefanie an. „Also, jetzt noch
einmal von vorne: Wie bist du auf das Dach des Domes
gelangt?“
Angenies überlegte scharf, was sie jetzt sagen sollte. Ihr
fiel partout nichts ein als die Wahrheit.
„Durch einen kühlen, dunklen, engen Gang.“
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„So, so“, nickte Stefanie und sah Angenies an. „Durch
einen kühlen, dunklen, engen Gang“, wiederholte sie und
nickte weiter.
Oh, mein Gott, sie glaubt mir nicht, dachte Angenies
erschrocken und schloss die Augen. Sie dachte ganz fest
an ihn. Dann war Gott Vater da.
Stefanie ließ ihre Handflächen kurz auf die Tischplatte
fallen, erhob sich und verließ den Raum, ohne auf ihn zu
achten. Für Angenies sah es so aus, als sähe sie ihn gar
nicht.
„Schöner Schlamassel, in den ich hier auf der Erde
hineingeraten bin“, jammerte Angenies. „Sie glauben mir
nicht.“
„Natürlich nicht“, lächelte Gott Vater. „Wie sollten sie
auch? Für sie ist das vollkommen unmöglich. Sie
glauben, du hast eine Menge Phantasie.“
„Was mache ich denn jetzt?“
„Was würdest du denn gerne tun?“
„Na, meine Arbeit hier.“
„Gut, dann mach das doch.“
Angenies sah Gott Vater verständnislos an. Der
zwinkerte ihr zuversichtlich zu: „Hör‘ einfach auf dein
Herz“, strich ihr über den Kopf und war im nächsten
Moment nicht mehr zu sehen.
In diesem Augenblick kam ein junger Mann in den
Raum; er wirkte sehr gehetzt, schaute sich nervös um,
stürzte auf Angenies zu, nahm sie bei der Hand und
zerrte sie in den Flur. Er legte seinen Zeigefinger auf
seine Lippen und bedeutete Angenies leise zu sein.
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
„Wer bist du?“, fragte Angenies.
„Pscht“, zischte der Mann. Er atmete sehr schnell und
drückte sich gegen die Wand.
„Los, komm mit!“, befahl er Angenies.
Er schien sich sehr gut im Polizeigebäude auszukennen.
Durch ein Gewirr von Gängen kamen sie in einem Hof
heraus. Vorsichtig öffnete der Mann die Tür einen Spalt
und blinzelte vorsichtig hindurch, dann zerrte er
Angenies durch das Hoftor auf eine Straße.
„Wer bist du, was willst du denn?“, wimmerte Angenies.
„Nichts will ich und wer ich bin, kann dir egal sein!“,
schnauzte der Mann.
„Mir ist nichts egal!“, entgegnete ihm Angenies deutlich.
„Wenn du nichts willst, was zerrst du mich hinter dir her?
Stefanie und Rolf werden mich suchen und glauben, ich
sei weggelaufen.“
Der Mann verzog hämisch sein Gesicht. „Mir kommen
die Tränen! Du gehst jetzt noch ein Stück mit mir, du bist
meine Versicherung. Wenn wir weit genug von der
Wache entfernt sind, lasse ich dich laufen. Sollten sie
mich erwischen, werden sie mir nichts tun, du bist meine
Geisel.“
„Ach so“, meinte Angenies, „sag` das doch gleich. Ja, gut
- in Ordnung. Wollte dir denn jemand etwas tun, du
Armer?“
Der junge Mann sah Angenies entgeistert an. „Was?“
„Na“, meinte Angenies mit einem Anflug von Stolz,
„klar beschütze ich dich, das geht in Ordnung, das ist
doch meine Arbeit hier unten auf der Erde!“
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„Oh, Mann, an wen bin ich denn jetzt wieder geraten?“,
stöhnte der junge Mann.
„An mich“, wollte Angenies gerade ansetzen, zu
erklären, wer sie ist.
Aber der Mann unterbrach sie: „Ach, halt den Mund! Los
komm!“
Es gibt also auch unfreundliche Kölner, dachte Angenies
verwirrt mit einem klitzekleinen Anflug von
Selbstmitleid.
„Sag mal, was brauchst du denn, damit du wieder
fröhlich bist?“, fragte Angenies und rieb sich verstohlen
ihren Arm, der schmerzte. So fest hatte er zugedrückt.
Der verschwitzte Mann schaute Angenies nicht an,
sondern nervös von einer Richtung in die andere, als er
zischte:
„Einen Haufen Geld, eine Arbeitsstelle, einen, der meine
Schulden übernimmt und mein Konto bei den Brüdern“ –
er machte eine Kopfbewegung in Richtung Polizeiwache
– „löscht.“
„Aha“, Angenies hatte verstanden.
Sie schaute ihn sich einmal genauer an. Er trug eine
Jeans, ein schwarzes T-Shirt, das ihm labberig aus der
Hose hing. Er war nicht groß, aber größer als Angenies,
sie schätzte ihn auf ungefähr dreißig Menschenjahre. Er
war unrasiert und seine dunklen Haare sahen strähnig
und zottelig aus. Er wirkte ungewaschen. Angenies
rümpfte heimlich die Nase - er roch ein wenig streng.
Wenigstens für Angenies, die ja nur himmlische Düfte
gewohnt war. Seine schwarzen Turnschuhe hatten auch
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
schon bessere Tage gesehen. Er atmete schwer und
schwitzte. Seine Hand, die Angenies immer noch sehr
fest am Arm packte, fühlte sich kalt und dennoch sehr
feucht an.
„Du tust mir weh“, jammerte Angenies. „Lass` mich
doch los! Ich bleibe bei dir – ich glaube nämlich, du
brauchst in jedem Fall einen Engel.“
Bei diesen Worten ließ er sie überrascht los. Er sprang
sogar einen kleinen Schritt zurück. „Waaas?“
„Na, du brauchst einen Engel.“ Das kann ich riechen,
hätte sie beinah gesagt, dachte aber, dass es sehr
unhöflich wäre und meinte stattdessen: „Das sieht doch
ganz so aus. Sag mal, bist du der Polizei ausgebüxt?“
Er zog die Luft ein und riss seine Augen so weit auf, dass
es Angenies fast unheimlich wurde.
„Lass mich doch einmal überlegen“, fuhr Angenies rasch
fort, „also, womit fangen wir an? Du brauchst eine
Arbeit? Dann hättest du auch Geld. Wo wohnst du?“
„Eine Arbeit? Was weißt du schon davon, kleines
Mädchen?“
„Mehr als du denkst“, antwortete Angenies ganz
selbstverständlich. „Wie heißt du eigentlich?“
„Nenn mich Charly, wenn du willst“, brummte der Mann.
„Ich kann nicht arbeiten, jedenfalls nix Richtiges, ich
werde von der Polizei gesucht“, begann Charly zu
erzählen, während sie in die Ursulagartenstraße
einbogen.
„Weswegen?“, fragte Angenies.
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„In Marienburg bin ich eingestiegen“, hörte Charly sich
sagen und dachte: ‚Ich erzähle einem kleinen Mädchen,
dass ich in Marienburg in eine Villa eingebrochen bin.
Was ist nur mit mir los? Was zum Teufel mache ich
hier?‘
Er blickte zu Angenies hinunter, die aufmerksam
zuhörend neben ihm herlief.
„Ich verstehe“, nickte sie. Dabei überlegte sie fieberhaft,
in was er wohl eingestiegen und warum das offenbar ein
großer Fehler war. Sie wollte aber nicht nachfragen. „Du
kannst gar nichts tun, bevor du nicht dein Leben in
Ordnung gebracht hast.“
„Jau“, knurrte Charly.
Angenies deutete das als Zustimmung. Gerade kam ein
Streifenwagen um die Ecke gefahren. Charly packte sie
am Arm und zog sie in einen Eingang - wobei er das
Polizeiauto nicht aus den Augen ließ. Es fuhr vorbei. Sie
merkte, wie Charly durchatmete.
„Willst du dich immer verstecken?“, fragte sie ihn. „Ist
das denn ein Leben?“
„Nee, Kleine. Ein Leben ist das schon lange nicht mehr.“
Charly machte ein resigniertes Gesicht, schaute in
Richtung des vorbeigefahrenen Polizeiautos eine Weile
ins Leere und dann zu Angenies hinunter.
„Wann hattest du denn ein Leben?“, bohrte Angenies
weiter.
Sie gingen beide weiter, bis sie sich auf einer Mauer im
Schatten von Sankt Ursula niederließen. „Komm, wir
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
gehen vorsichtshalber in die Kirche. Dort wird man uns
bestimmt nicht suchen“, schlug Angenies vor.
Sie betraten die ehrwürdige Kirche und blieben zunächst
im hinteren Teil der Kirche vor dem großen Gitter
stehen. Dann pirschten sie vorsichtig durch einen
Seitengang und ließen sich erschöpft in eine Bank fallen.
„Sternenstaub und Wolkenglanz! Knochen, soweit das
Auge reicht!“, bestaunte Angenies die Wände der Kirche,
die mit Reliquien übersät waren.
„Wohl eher Staubwolken, bei dem Alter der Tapeten“,
frotzelte Charly freud- und respektlos.
Angenies überhörte die freche Bemerkung und knuffte
Charly mit dem Arm in die Seite. „Dann erzähl’ doch
mal“, forderte sie ihn auf.
Charly schüttelte den Kopf, und sie sah an seinem Blick,
dass er in Gedanken weit weg war. Sie schaute ihn ruhig
an. Charly sieht müde und traurig aus, dachte sie.
Er atmete schwer. Angenies rührte sein Anblick, seine
Verzweiflung und Resignation,
die sie spüren konnte.
„Eigentlich müssten wir uns
sputen, hier wegzukommen. Die
suchen mich bestimmt schon
überall. Das kann nicht mehr ewig
dauern.“
„Wohin willst du denn?“,
erkundigte sich Angenies.
„Wenn ich das wüsste!“, seufzte
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Charly. Er sah Angenies an. „Als ich so alt war wie du,
war meine Welt noch in Ordnung. Ich saß abends mit
meinem Opa auf der Gartenbank und habe zu Abend
gegessen. Die Bank stand vor einem großen Kirschbaum,
in dem ein Meisenkasten hing. Wir haben unsere Brote
gegessen und den Meisen zugeschaut, die eifrig ihre
Jungen fütterten.“
Angenies hörte zu. Ab und zu stellte sie eine Frage, dabei
legte sie ihre kleine Hand auf Charlys Arm. So konnte sie
spüren, dass die Anspannung von ihm wich und er
langsam ruhiger wurde.
Die Beiden vergaßen die irdische Zeit. Charly erzählte
von seiner Kindheit, die er bei seinen Großeltern in der
Eifel verbracht hatte. Von einem alten Fachwerkhaus,
einem gemütlichen Wohnzimmer, in dem es wunderbar
nach Ofenfeuer und Holz roch, von seinem Opa, der ihn
immer mit auf das Feld nahm. Von den
Apfelpfannkuchen seiner Oma, von seinem Baumhaus im
Garten, in dem er hin und wieder sogar übernachtete. Er
erzählte Angenies, wie er und sein Opa am Kartoffelfeuer
auf dem Acker saßen und sie beide über und über mit
Lehm bedeckt nach Hause kamen. Und von seiner Oma,
die dann sehr geschimpft hat und schließlich völlig
erschöpft in ihrem großen Ohrensessel eingeschlafen ist.
Seine Eltern waren mit dem Auto verunglückt, als er
noch sehr klein war. Charly erzählte und erzählte,
während Angenies ihm aufmerksam zuhörte.
„Ich verstehe“, nickte sie nach einer ganzen Weile. „Du
hast deinen Papa und deine Mama sicher sehr vermisst!“
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
„Nein, nicht bewusst - ich kann mich doch gar nicht an
sie erinnern – und meine Großeltern waren sehr gut zu
mir. Als sie starben, war ich erst Anfang zwanzig.
Plötzlich gehörte mir das Häuschen und das bisschen
Geld, das sie mir hinterlassen hatten. Alles hätte gut
werden können, wenn ich meine Ausbildung zum
Schreiner abgeschlossen hätte. Eigentlich hat mir die
Arbeit mit Holz immer großen Spaß gemacht. Aber ich
habe mich mit Leuten herumgetrieben, die mit mir
gezockt, ähm, um Geld gespielt haben. Erst nur um
wenig – dann um immer mehr und irgendwann war kein
Geld mehr da. Dann musste ich das Häuschen
verkaufen.“
Seine Stimme bekam einen traurigen Unterton. „Damit
hatte ich meine Welt verkauft. Seitdem ging es nur
bergab mit mir. Jetzt werde ich gesucht – wegen
Einbruch, Diebstahl.“
Enttäuscht ließ Charly den Kopf hängen. „Soweit ist es
mit mir gekommen - ich habe nicht einmal mehr ein
Dach über dem Kopf. Letzte Nacht hat mich die Polizei
am Ring geschnappt und in eine Zelle gesperrt. Heute
Morgen haben sie mich aus meiner Zelle herausgeholt,
um mich zu verhören. Auf dem Weg zur Toilette habe
ich dich gesehen. Den Rest kennst du ja.“
Sie schwiegen eine Weile.
Angenies legte ihre kleine Hand auf Charlys Arm. Charly
zuckte zusammen und blickte auf das kleine Engelchen
neben sich. Für einen winzigen Augenblick dachte er:
Das ist alles nicht wahr! Ich sitze neben einem kleinen
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Mädchen und erzähle ihm aus meinem Leben. Das kann
doch nicht sein!
„Was willst du jetzt als Erstes tun, damit du dein Leben
zurückbekommst?“
Charly blickte Angenies lange, lange in ihr
Engelsgesichtchen. Sie hielt seinen Blick aus. Charly
spürte ihre Hand auf seiner Schulter. Sie verstanden sich
ohne Worte.
„Lass‘ uns gehen“, hörte er sich wieder sagen.
Angenies stand auf, nahm ihn an der Hand und schlug
unbeirrt den Weg zurück in die Stolkgasse ein. Wie
selbstverständlich ging Charly an ihrer Hand neben ihr
her.
„Ich glaube nicht, was meine Augen da sehen - die
Kleine und Karl. Karl Roppenbroich!“ Rolf stand am
Fenster der Polizeiwache I und blickte entgeistert in den
Hof.
Er verschluckte sich, hustete, schaute wieder und
stammelte: „Das, das musst du sehen. Gesehen haben!
Dir ansehen! Steffiiiii, guck mal!“, rief Rolf.
„Tach!“, grüßte Charly in die fassungslos blickenden
Gesichter der Polizisten, als Charly mit Angenies an der
Hand die Dienststelle betrat.
„Ich hab`s mir überlegt – ich stelle mich!“
Augenblicklich war Ruhe im Raum – die Zeit schien für
einen kurzen Moment still zu stehen. Keiner sagte ein
Wort. Alle schwiegen und schauten sich das ungleiche
Duo an. Die Kleine wirkte wohlbehalten und äußerst
zufrieden.
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EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN….
„Wie jetzt? Was? Das jibbt et doch gar nich…!“, fand
Rolf als erster die Sprache wieder.
„Mann, mach jetz nich die Welle!“, schnautzte Charly
eher verlegen in Rolfs Richtung.
Der alte Polizeibeamte Knut Derrenbach wollte etwas
sagen, brachte aber nur ein Kopfschütteln zustande.
„Erst hauste ab, jetzt biste wieder da? Mensch, Charly –
du willst dich stellen?“, fragte Rolf vorsichtshalber noch
einmal nach.
„Ja, wonach sieht et denn aus? Hab‘ ich doch gesagt!
Frag doch nit so blöd!“, knurrte Charly ein wenig barsch,
um seine Verlegenheit zu überspielen. Und ernst setzte er
hinzu, dass Rolf ein Schauer überlief: „Ich will mein
Leben zurück!“
Wieder schwiegen alle. Stille. Nur noch die
Straßengeräusche waren zu hören. In der Wache schien
alles den Atem angehalten zu haben. Es war so leise, dass
man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
„Ja“, fand endlich Steffi als erste ihre Sprache wieder „es
geschehen noch Zeichen und Wunder!“ Sie atmete tief
aus.
„Na, klar“, pflichtete Angenies Steffi bei. „Jeden Tag.“
Aber keiner der Anwesenden beachtete sie.
Alle schauten in Charlys Gesicht.
„Blas die Fahndung ab“, rief Rolf in Richtung eines
jungen Beamten, der gedankenverloren in das Szenario
blickte.
„Sicher doch“, meinte Angenies mit sehr wichtigem
Gesicht.
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Ende der Leseprobe von:
Ein kleiner Engel in Köln
Ursula Brenger
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