Eine kleine Weihnachtsgeschichte von einem Engel, der nach Köln geschickt wurde….. von Ursula Brenger für Max, Jonathan und Felicitas 2015 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. Imprint Eine kleine Weihnachtsgeschichte von einem Engel, der nach Köln geschickt wurde Ursula Brenger Copyright: © 2015 Ursula Brenger All rights reserved ISBN: 978-3-7375-6685-8 Umschlaggestaltung: Fotografie Boris Franz, Köln Bilder: Fotolia: St. Ursula @ borisb17, Little hedgehog @so4in, Trauernde @ sauletas, Little Girl @Myst, Cologne cathedral Tobias Arhelger, Weihnachtsmarkt am Kölner Dom, @bilderstöckchen 1 Inhalt Seite Die Reise 3 In der Dombauhütte 7 Charly in St. Ursula 20 Der Boxclub Lumen Coloniae 35 Tim und die Wirklichkeiten 77 Mecki Zwei 96 Johanna und ihre Angst 108 Ein Abschied 122 Josefine und das Glück 135 Weihnachten 146 2 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. Die Reise „Was? Wirklich?“ Angenies starrte Gott Vater an. „Ich?“ „Ja, du!“, nickte er. „Du gehst jetzt hinunter auf die Erde nach Köln zu deinem ersten Weihnachtsdienst. Es ist dringend.“ Dem kleinen Engel wurde augenblicklich sehr warm. „Aber – ich ….ich habe doch noch nie….ich wollte….ich dachte“, stotterte Angenies, „ich dachte, einer der großen Engel würde mitkommen und mir alles zeigen.“ „Nein, Angenies, keiner der großen Engel kann dich begleiten. Du wirst ganz alleine gehen. Selbstverständlich werden wir mit unseren Herzen immer bei dir sein. Das weißt du doch“, setzte Gott Vater beruhigend hinzu. „Petrus wird auch ein Auge auf dich haben. Versprochen!“ „Aber was genau soll ich denn tun?“, fragte Angenies mit erstickter Stimme. „Du folgst einfach deinem Herzen!“ „Geht es vor mir her?“ „Nein, es geht nicht vor dir her, es wird dich aber führen. Vertrau‘ deinem Herzen einfach. Hörst du mich?“ „Ja“, nickte Angenies, „ich höre, was du sagst.“ „Gut“, sprach Gott Vater, jetzt etwas feierlicher. „Ich gebe dir meinen Segen mit auf deinen Weg.“ „Ja, wie – jetzt gleich? Kann ich mich nicht noch von Abuela verabschieden?“ 3 „Ach, Engelchen, ich bin doch hier“, hörte Angenies eine sanfte Stimme hinter sich. Angenies drehte sich um und sah Abuela, die sie anlächelte. „Komm mit mir, ich bringe dich zu Petrus. Der weiß Bescheid und wartet schon auf dich.“ Angenies verabschiedete sich von Gott Vater und ging an der Hand ihrer Abuela, dem großen Engel, zu Petrus, der mit hochgezogenen Augenbrauen auf sie wartete. Er machte sein wichtiges Gesicht. Das machte er gewöhnlich nur, wenn er Wetterlagen erzeugte, die Meteorologen auf der Erde den Schweiß auf die Stirn trieb, oder wenn es einen besonderen Anlass gab. So wie heute, da er ein Engelchen zu seinem ersten Einsatz auf die Erde bringen sollte. „Sankt Peter“, begrüßte Abuela ihn, „da sind wir“. „Ja, ja, das sehe ich, sehe ich“, nickte Petrus gut gelaunt. „Das wurde auch Zeit, das wurde auch Zeit.“ Abuela drückte Angenies noch einmal an sich. „Mach es gut, mein kleiner Engel. Wenn du wiederkommst, bist du ein großer Engel.“ „So, so“, brummte Petrus, „dann will ich dich einmal auf die Erde bringen, das will ich dich.“ Angenies war viel zu aufgeregt, um etwas zu antworten. Erst nach einer Weile fand sie ihre Stimme wieder: „Jetzt warte ich schon so lange auf diesen Tag – und jetzt - da es soweit ist“, sie schluckte, „bin ich ganz aufgeregt.“ „Ja, ja“, lächelte Petrus. „Das ist normal. Wenn es ernst wird, ist es immer etwas ganz anderes. Das geht den 4 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. Menschen auf der Erde genauso. Weißt du Angenies, meine Kleine“ – Petrus tätschelte liebevoll ihre kleine Hand – „es ist doch so: Wenn Gott Vater dir vertraut, dann kannst du es doch auch: Dir vertrauen, meine ich. Das ist doch wohl klar, oder?“ „Doch, doch“, nickte Angenies ergeben, „so ist das wohl.“ „Ja“, brummte Sankt Peter gut gelaunt. „Das ist es auch, das ist es.“ In Gedanken versunken ging sie neben Petrus her, dass sie gar nicht bemerkte, wie es langsam kühl wurde. Sie hörte noch, wie Petrus ihr so etwas wie „Gutes Gelingen! Und nur Mut!“ zuflüsterte – dann war sie plötzlich allein. Angenies fror schrecklich. Ihre Zähne klapperten aufeinander. Das Gehen fiel ihr das erste Mal in ihrem Engelleben schwer. Alles um sie herum war so seltsam anderes, als sie es gewohnt war. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich hart und kalt an. Ihr war, als ginge sie durch eine lange, dunkle Röhre. Manchmal musste sie sich richtig hindurchzwängen. Oh, du meine Güte, wo komme ich nur heraus?, dachte sie, als es plötzlich heller wurde. Der Gang war zu Ende. Sie stand in einem großen Raum, einer Halle mit einer riesigen Gewölbedecke. Durch die glaslosen Fensteröffnungen pfiff ihr der eisige Erdwind, den sie bisher nur aus Erzählungen kannte, um die Ohren. Sie lief zu einem der Fenster und erschrak. Der Himmel war nicht mehr blau, sondern grau. Sie befand sich in luftiger Höhe und sah ringsum schwarz gezackte, reich 5 verzierte Stelen und gotische Türmchen. Als sie hinunter blickte, sahen die Menschen aus wie kleine Püppchen. Die Luft war schwer, feucht und roch fremd. Sie wandte sich um und blieb mit ihrem hellblauen Engelkleid an einem Nagel hängen, der aus dem Gebälk hervorstach. Huch, erschrak sie, riss ihr Kleidchen vom Nagel und merkte nicht, dass sie eine kleine blaue Schleife verloren hatte. Schlagartig wurde sie müde, sehr müde. Sie entdeckte in der Ecke des Gewölbes einen großen Stahlkasten. Hoffentlich ist es dort wärmer, wünschte sie sich frierend und öffnete die Tür zum Container. Sie wickelte sich in eine Fleecejacke, die über einem Stuhl hing und sank schläfrig auf eine schon etwas angestaubte Decke. Die fühlte sich warm und kuschelig an. Was ist nur mit mir los?, konnte sie gerade noch denken, aber darüber schlief sie ein. 6 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. In der Dombauhütte Angenies erwachte, weil es neben ihr bedrohlich krachte. Sie hörte Männer, die sich kurze Befehle zubrüllten. Karl und Clemens, zwei Steinmetze, räumten große Eisenstangen eines alten Gerüsts aus dem Weg und waren bei dieser sehr schweren körperlichen Arbeit nicht zimperlich. Was ist denn hier los? Ach, ich bin ja auf der Erde, fiel es ihr wieder ein. Deswegen bin ich auch direkt so müde geworden, erinnerte sie sich. Wie lange habe ich wohl geschlafen? Wer ist das da draußen? Bin ich in Köln?, überschlugen sich ihre Gedanken. Jetzt krachte es wieder gegen die Stahlwand, diesmal so sehr, dass sie vor Schreck aufschrie. Ihr kleines Engelherz pochte. Die lauten Stimmen verstummten. Langsam öffnete sich die Tür des Containers und Angenies sah in zwei verdutzt drein schauende bärtige Gesichter. Ach, wo bin ich hier – was sind das für seltsame Engel mit grauen Bärten?, dachte sie so bei sich. „Wer, wer seid ihr denn?“, stotterte Angenies zitternd. „Was zum Teufel macht dieses Kind hier? Wie kommt das denn hierher?“, ignorierte der große, bärtige Mann Angenies Stottern. „Mein Gott - das darf doch nicht wahr sein! Nur mit `nem Nachthemd bekleidet! Ja, wo gibt es denn so ´was? Und das bei diesen Temperaturen! Ich fasse es nicht! Mensch Karl, was machen wir denn jetzt? 7 So etwas ist mir in 25 Jahren Dombauhütte noch nicht vorgekommen!“ Clemens war ganz außer sich. „Hallo, Kleine“, säuselte Karl, „was machst du denn hier?“ „Ja, das weiß ich im Moment auch noch nicht so genau“, antwortete Angenies wahrheitsgemäß. „Wer hat dich denn hierher gebracht?“ „Na, Petrus“, stotterte Angenies verlegen und kleinlaut. „Wer?“, fragten die beiden Männer gleichzeitig und reichlich irritiert. Sie sahen sich an und schüttelten ihre Köpfe. „Wie heißt du denn?“, versuchte Clemens es noch einmal. „Angenies.“ „Ah, also Agnes. Sie kommt offensichtlich hier aus der Gegend“, überlegte Karl laut. Clemens nickte. „Und weiter?“ „Wie, weiter?“, stammelte Angenies. „Na, dein Nachname. Wie lautet denn dein Nachname? Wie heißt denn dein Papa?“ „Papa.“ „Wie alt bist du denn?“, fragte der kleinere Steinmetz, jetzt schon etwas ungeduldiger. „Na ja“, überlegte Angenies, „schon ziemlich alt. Und bald bin ich groß“, schob sie eifrig hinterher. Die Steinmetze seufzten. 8 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. „Sie muss so um die acht, neun Jahre sein. Und eigentlich wissen, wer sie ist und wie alt sie ist!“, knurrte Karl. „Bist du jetzt verärgert?“, fragte Angenies vorsichtig. „Hm“, brummte Karl und schüttelte seinen Kopf. „Ach, ich weiß gar nicht so genau, wo ich hier bin! Mir ist auch schrecklich kalt“, jammerte Angenies. Karl schaute das kleine Engelchen entgeistert an. „Sag’ mal, bist du nicht von dieser Welt?“ „Na, von der Welt schon, aber nicht von der Erde. Ich komme direkt aus dem Himmel“, nickte Angenies. Die Männer verdrehten die Augen und wechselten einen vielsagenden Blick. Dann schauten sie Angenies fassungslos an. „Hör mal, Kind, das hier geht wirklich nicht! Clemens, wir müssen jetzt sowieso runter zur Feier, dann nehmen wir sie für’s Erste einmal hinunter zur Chefin“, kommandierte Karl entschlossen. Angenies schaute die beiden Steinmetze irritiert an. „Du willst mich hinunter bringen – ja, wohin denn?“ „Ja, sicher, Kind. Es kann sein, dass du dir in deinem Hemdchen eine satte Erkältung eingefangen hast! Wenn es nicht sogar eine Lungenentzündung wird“, prophezeite Clemens besorgt. „Ihr seid also richtige Menschen?“, konstatierte sie neugierig. Langsam besann sie sich auf ihren Auftrag. Dabei schaute sie die verdattert drein blickenden Handwerker an. 9 „Na ja, das wollen wir doch meinen. Sicher sind wir das, Madämchen, jetzt ist es aber gut!“ „Ich bin nämlich noch nie einem echten Menschen begegnet. Ihr beide seid die Ersten“, erklärte Angenies eifrig. „Ach was!“ Entgeistert und seltsam bewegt blickten die beiden Handwerker Angenies an. „Sehen alle Menschen so aus wie ihr?“, fragte Angenies wie selbstverständlich weiter. „Tja, irgendwie schon“, meinte Karl. „Und du bist demnach kein Mensch?“, schmunzelte er. „Ja, was bist du denn, wenn du kein Menschenkind bist?“, ließ sich Clemens jetzt eher amüsiert auf den Dialog ein. „Ja, sieht man das denn nicht? Ich bin ein Engel!“ Jetzt mussten die beiden Steinmetze laut lachen. „Nennt deine Mama dich so?“, fragte Clemens und strich sich nachdenklich durch seinen Bart. „Na ja, schon. Manchmal.“ „Wo ist denn deine Mama?“, versuchte es Karl noch einmal behutsam. „Im Himmel“, erklärte Angenies geduldig. „Ach“, entfuhr es Karl bestürzt. „Und dein Papa?“, fragte Clemens ein wenig vorsichtig. „Ja, der ist sowieso im Himmel“, erwiderte Angenies. „Mein Gott, das arme Kind!“ Jetzt klangen die Stimmen der Steinmetzen recht erschüttert. Sie waren voller Mitleid. „Wir bringen dich jetzt erst einmal ins Warme, dann sehen wir weiter. Komm’ mit.“ 10 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. Karl zog seine dicke Handwerkerjacke aus und hüllte Angenies hinein, nahm sie auf den Arm, weil sie nackte Füße hatte und stapfte mit ihr in Richtung des großen Aufzugs. Clemens brummte etwas, schüttelte seinen Kopf und trottete neben seinem Kollegen her. Mit einem großen Aufzug, der aussah wie ein Käfig, fuhren sie hinunter. Unten angekommen, marschierten sie zielsicher durch ein Gewirr von Gängen in ein Büro. Dort roch es fast so angenehm wie in der Himmelsbäckerei und Angenies hatte einen kurzen Anflug von Heimweh. Schnell besann sie sich auf ihren wichtigen Auftrag und kämpfte die aufsteigenden Tränen hinunter. Was im Büro so gut roch, war der Kuchen, den die Dombaumeisterin ihren Mitarbeitern spendieren wollte. Kaffeeduft erfüllte den Raum, aromatisierte Tees machten das vorweihnachtliche Duftgemisch perfekt. Die Adventsfeier für die Mitarbeiter der Dombauhütte sollte in wenigen Minuten beginnen. Unter den interessierten Blicken der nach und nach eintreffenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Dombauhütte wurde Angenies von Clemens in einen gemütlichen Sessel gesetzt. Fasziniert von der kleinen, blonden Gestalt reichte Susanne, die Sekretärin und gute Seele der Dombauhütte, Angenies eine Tasse heißen Tee. Dann stapften Clemens und Karl ins Büro der Dombaumeisterin, die sich gerade auf den Weg zur Feier 11 machen wollte, fingen sie ab und redeten aufgeregt auf sie ein. „Ein Engel im Domdach! Na, wenn das kein angemessener Auftakt für unsere Adventsfeier ist!“, atmete die Dombaumeisterin tief ein und sah ihre Steinmetze ein wenig ungläubig fragend an. Gewohnt, auch in kritischen Situationen immer die Ruhe zu bewahren, meinte sie dann lächelnd: „Also, wir müssen unbedingt klären, wie die Kleine dort oben hingekommen ist, meine Herren, das ist doch wohl klar, oder? Jetzt wollen wir uns aber unseren Engel erst mal genauer anschauen! Also, das ist ja unglaublich! Hier gibt es doch wirklich nichts, was es nicht gibt!“ Die Dombaumeisterin, die in ihrem Leben schon viel gesehen hatte, wandte sich Angenies zu, lächelte freundlich und fragte: „So – du bist also unser kleiner Weihnachtsengel, habe ich gehört. Von welcher Krippenspiel - Kostümprobe bist du denn ausgebüxt? Und wie bist du unbemerkt dort oben hingekommen?“ Angenies lächelte freundlich zurück. Sie überlegte fieberhaft, was sie jetzt antworten sollte. Jetzt bloß nichts Falsches sagen, dachte sie bei sich. Die Dombaumeisterin setzte sich neben Angenies und meinte dann mütterlich: „Kind, wenn du uns nicht erzählst, wer du bist und wo du wohnst, müssen wir die Polizei rufen. Das ist doch nicht nötig, oder? Ist dir denn etwas geschehen, Kleine? Wie kommst du hierher?“ 12 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. Das wüsste ich auch gerne, dachte Angenies kurz, aber dann horchte sie auf: Ah, die Polizei also! Sie versuchte in sich hineinzuhorchen, ob ihr Herz ihr etwas sagte. Sie war sich nicht so sicher. „Braucht die Polizei einen Engel?“, fragte sie die Dombaumeisterin vorsichtig. „Jeder braucht irgendwann einen Engel, Kind. Bist du wirklich ein Engel, wärst du hier in jedem Fall richtig“, antwortete die Dombaumeisterin überrascht. „Wo bin ich denn?“, fragte Angenies interessiert. „Du weißt das nicht? Die Dombaumeisterin zog ihre Brauen hoch und machte eine kleine Pause. „Im Hohen Dom zu Köln. Und im Moment in meinem Büro in der Dombauhütte. In meinem gemütlichen Sessel“, fügte sie lächelnd hinzu. „Oh“, antwortete Angenies andächtig, „im Dom! Ich habe schon viel vom Dom gehört.“ Sie blickte erleichtert in das warmherzige, kluge Gesicht der Dombaumeisterin. „So?“, fragte diese forschend, „was hast du denn gehört?“ „Dass die Menschen hier in der Stadt ihren Dom sehr lieben und dass der jetzt ein buntes Fenster gegenüber dem Bischofsstuhl hat.“ Amüsiert ließ sich die Dombaumeisterin auf diesen Dialog ein. „Ach, wer erzählt das denn?“ 13 „Na“, erklärte Angenies mit einer ausladenden Geste, „die anderen Engel. Viele waren schon hier und haben den Dom und das neue Fenster gesehen.“ Mit gerunzelter Stirn trommelte die Dombaumeisterin mit den Fingern auf ihre Stuhllehne. „Ach, was? Die anderen Engel….waren schon hier“, wiederholte sie nickend und traute ihren Ohren nicht. „Das ist ja nicht zu fassen!“ Sie atmete tief ein. Dann schmunzelte sie. Als ob sie das nicht immer gewusst hätte! Ihr kam eine Idee und sie fragte Angenies: „Was sagt denn ER, du weißt schon, dazu?“ „Ach, du meinst den Papa im Himmel?“ „Wie nennst du ihn?“ „Naja, wir kleinen Engel dürfen ihn Papa nennen.“ Die Dombaumeisterin war jetzt ehrlich interessiert. „Und“, fragte sie vorsichtig, „was sagt er denn zu unserem Fenster?“ „Ja, was soll er sagen? Was er immer sagt, wenn die Menschen ihm ein Geschenk machen. Er freut sich! Das Fenster meinte er, sei so bunt wie die Menschen in dieser Stadt. Und warm, wenn die Sonne hindurch scheint.“ „Ach wirklich!“, antwortete die Dombaumeisterin erfreut, „was ist mit den“, jetzt flüsterte sie fast, „den anderen Fenstern?“ „Oh, Gott Vater mag sie alle. Er liebt die wunderbare Vielfalt.“ Gedankenverloren sah die Dombaumeisterin den kleinen Engel lange an. Angenies blickte lächelnd zurück. 14 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. „Du brauchst dringend etwas anderes zum Anziehen. Wo bekommen wir das jetzt her? Sieh mal, du hast dir ja ein Loch in dein schönes blaues Kleidchen gerissen, da fehlt ja ein Stück Schleife“, stellte die Dombaumeisterin fest und fühlte den Stoff fachmännisch zwischen Daumen und Zeigefinger. „Ach, das ist ja ein wunderbares Gewebe“, staunte sie sichtlich beeindruckt, „Kind, wo hast du das her?“ Angenies schaute so souverän wie möglich zurück und meinte nur: „Och…, das Kleid…, das tragen doch alle Engel…, na, ja, die großen Engel nicht, die haben andere….“ Forschend schaute die Dombaumeisterin dem kleinen Engel ins Gesicht und wiederholte, jetzt an ihre Sekretärin Susanne gewandt: „Wo bekommen wir jetzt etwas Angemessenes für sie zum Anziehen her?“ Was die Dombaumeisterin und ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dann organisierten, wusste Angenies nicht. Sie standen inzwischen alle neugierig vor dem Sessel und plauderten mit dem seltsamen kleinen Mädchen, das eingehüllt in eine Decke dankbar Tee schlürfte und Plätzchen aß. Wenig später brachte man ihr eine Jeans, Unterwäsche, ein rosa T-Shirt, eine dicke blaue Fleecejacke, einen hellblauen Anorak mit Fell, Wollsöckchen und ein paar warme braune Stiefel, ebenfalls mit Fell. Sie zog sich die Sachen über, wunderte sich, wie sich die Menschenkleider am Körper anfühlten und verstaute ihr 15 Hemdchen in einer Tasche, die Susanne ihr noch zusteckte. „Hier, tu‘ dein Hemdchen dort hinein.“ Susanne gab noch eine ganze Reihe von mütterlichen Anweisungen, denen Angenies geduldig lauschte. „So meine Kleine – was machen wir denn jetzt mit dir?“, überlegte Susanne. „Hattet ihr nicht eben beschlossen, die Polizei zu verständigen?“ „Ist das nötig, kleine Agnes? Willst du nicht einfach sagen, wo du wohnst? Deiner Aussprache nach kann es ja nicht weit sein.“ „Was ist, wenn die Polizei einen Engel braucht?“, Angenies fragte das mit so einer Ernsthaftigkeit, dass Susanne irritiert war. Sie schürzte ihre Lippen, musterte Angenies noch einmal und gab auf: „Gut, dann rufe ich sie jetzt an.“ Als die Beamten kamen, musterte Angenies sie neugierig. Sie sah einen großen, hageren Mann und eine Frau mit einem blonden Pferdeschwanz, beide waren fast gleich gekleidet. Angenies fand, sie trugen lustige Mützen auf dem Kopf. „Wenn es schneit, sind die Mützen dann nicht zu kalt an den Ohren?“, fragte Angenies die Polizisten statt einer Begrüßung. „Wenn es uns zu kalt ist, ziehen wir andere Mützen an“, antwortete die Polizistin mit der gleichen Selbstverständlichkeit. „Ah, braucht ihr einen Engel?“ 16 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. Die Beamten schauten Angenies mit einer Mischung aus Misstrauen und Mitleid, aber auch ein wenig verunsichert an. „Ja, schon“, antwortete die Frau etwas zögerlich. Angenies freute sich und sprang aus dem Sessel auf. „Ja, wunderbar! Das klappt ja prima“, freute sie sich, „ihr braucht einen Engel! Dann lasst uns direkt gehen und anfangen.“ Irritiert fragte die Frau: „Womit sollen wir denn anfangen?“ „Ja, wisst ihr das denn nicht?“, fragte Angenies enttäuscht. Die Frau biss sich auf die Lippen und schaute Angenies prüfend an. Dann atmete sie einmal tief ein und aus und schaute fragend zu ihrem Kollegen. Der zuckte mit den Schultern. „Wir bringen sie zu unserem Psychologen. Der bekommt vielleicht etwas mehr aus ihr heraus.“ „Du willst etwas aus mir herausbekommen? Was denn?“, wollte Angenies wissen. „Und schauen die Vermissten durch“, fuhr ihr Kollege unbeirrt fort. „Wenn so eine Kleine vermisst würde, müsste doch ´was im System darüber stehen, dann wären schon ganze Einheiten von uns unterwegs. Das wüssten wir doch“, schüttelte der Polizist den Kopf. „Zum Beispiel, wo du herkommst, wie du heißt, wer deine Eltern sind, wie du hierher gekommen bist“, zählte die Polizistin an Angenies gewandt auf. 17 „Ach so, ja, das weiß ich selbst nicht so genau, also, wie ich hierher gekommen bin.“ Sie fügte wichtig hinzu: „Ich werde nicht vermisst, ich bin geschickt worden, in himmlischer Mission.“ „Siehst du! Da haben wir es. In himmlischer Mission! Das ist ja mal ganz was Neues!“ „Nö“, widersprach Angenies hartnäckig. „Das ist nicht neu. Wir sind auf der ganzen Erde ständig unterwegs, meine Engelschwestern und –brüder.“ „Oh, Gott, oh Gott, oh Gott“, seufzte der lange dünne Polizist. „Ja, genau der sendet uns aus. Das weißt du also?“, fragte Angenies mit einer Mischung aus Freude und Verunsicherung. „Ich weiß im Moment, dass wir dich wohl erst einmal mitnehmen, Frollein!“, knurrte er ein wenig unfreundlich. Kopfschüttelnd wandte er sich an Clemens und Karl. Die Beamten sprachen eine ganze Weile mit den beiden Steinmetzen, die Angenies gefunden hatten, später noch mit der Dombaumeisterin. Dann wandten sie sich wieder zu ihr und meinten: „Lass uns gehen!“ Angenies verabschiedete sich herzlich von der Dombaumeisterin, den Mitarbeitern der Dombauhütte und ganz besonders herzlich von den beiden Steinmetzen: „Falls ihr mich einmal braucht, dann sagt es mir.“ Seltsam berührt versicherten die Männer: „Machen wir!“ und winkten ihr nach. 18 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. Die Dombaumeisterin bat die Polizisten noch, ihr bitte zu berichten, wenn sie die Herkunft des kleinen Mädchens geklärt hätten. Die Polizisten versprachen es und verließen mit Angenies die Dombauhütte. „Was es nicht alles gibt!“, staunte die Dombaumeisterin und sah den Dreien kopfschüttelnd hinter her. 19 Charly in Sankt Ursula Die beiden Polizisten führten Angenies zu ihrem Dienstwagen und hielten ihr die Türe auf. „Dann steig` mal ein, Kleine!“, forderte der Polizist sie auf und riss Angenies aus ihren Beobachtungen. Angenies hatte wohl von Autos gehört, aber wie man in sie einsteigt, war ihr nicht wirklich klar. So kroch sie vorsichtig auf den Rücksitz. Die beiden Polizisten stellten sich als Stefanie und Rolf vor. Rolf fuhr an und das Auto brummte und vibrierte. Angenies verkroch sich auf der Rücksitzbank. „Anschnallen, bitte!“, dröhnte Rolf. „Das kennst du ja sicher!“ „Ach, Rolf, lass‘ mal gut sein“, mischte sich Steffi versöhnlich ein. „Die Kleine ist doch ganz verstört, das siehst du doch.“ „Hm“, knurrte Rolf ergeben, sagte aber nichts mehr. Mit wenigen geübten Handgriffen schnallte Steffi die interessiert schauende Angenies in den Sitz. „So machst du das also“, nickte Angenies anerkennend. „Ja, so mache ich das“, lächelte Steffi und blickte Angenies liebevoll in ihr Gesicht. Als Steffi neben Rolf auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, fuhr er los. Hin und wieder wurden sie heftig durchgeschüttelt. „Tja, das Geruckel“, meinte Rolf zu Angenies, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen, „kommt von den Schlaglöchern, die sich wie Kochblasen auftun. Es hat 20 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. diesen Dezember schon so gefroren, dass der Straßenbelag keine Chance hatte.“ „Hm“, ergänzte Sabine nickend, „und die Chancen auf Ausbesserung stehen auch nicht wirklich gut, Köln hat kein Geld.“ „Köln hat kein Geld?“, fragte Angenies erschrocken. „Braucht nicht jeder Geld hier auf der Erde?“ „Oh, ja, Kleine, jeder“, seufzte Rolf. „Und einer so großen Stadt wie Köln fehlt das Geld? Das ist ja furchtbar! Was machen wir denn jetzt?“, entfuhr es Angenies. „Immer weiter“, antwortete Stefanie resigniert. „Einfach immer so weiter“ „Ja“, fragte Angenies jetzt schon reichlich verwirrt, „dann ändert sich ja nie etwas!“ „Genau!“, bestätigte Rolf resigniert. „Es ändert sich nie was. So isses!“ Angenies dachte bereits angestrengt nach, was sie tun könnte, um Köln zu Geld zu verhelfen, als der Polizeiwagen in die Stolkgasse einbog, dort durch eine Einfahrt fuhr und auf einem Hof vor einem großen Gebäude anhielt. „Da wären wir!“ Rolf hielt Angenies die Türe auf. „Aussteigen, junge Dame! Angenies blinzelte: „Ach, wo sind wir denn?“ „Wache eins“, stöhnte Rolf. „Los jetzt, raus!“, drängelte er. 21 „Ja doch“, sagte Angenies, und kroch vorsichtig aus dem Auto. „Ich bin noch nie Auto gefahren!“ Rolf atmete aus und rollte mit den Augen. „Bist du jetzt ungehalten?“, fragte Angenies vorsichtig. „So kann man das sagen“, brummte Rolf. Stefanie legte ihrem Kollegen beruhigend ihre Hand auf den Arm. Angenies entging das nicht. „Habe ich etwas getan, was dich ärgert?“, fragte sie Rolf. „Ärger ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber ich finde, du nervst ganz schön. Man könnte wirklich meinen, du bist neu auf dieser Welt. Mit diesem Spielchen kannst du jetzt aufhören. Es reicht!“ Angenies bemerkte, dass Rolf sich einfach nicht vorstellen konnte, dass es jemanden gab, der mit dem Autofahren nicht vertraut war. Sie betrachtete die Szene einmal mit seinen Augen: Es musste ihm völlig absurd vorkommen, dass jemand hier in Köln noch nie mit einem Auto gefahren sein soll. Und weil er sich das nicht vorstellen konnte, gab es das für ihn auch nicht. Klar war er genervt. Der Arme! Darüber hinaus hält er das für ein Spiel, dachte Angenies. Seltsam, wenn wir im Himmel spielen, macht das doch Spaß. Nervt Spielen hier unten auf der Erde? Na, das ist ja interessant! Sie dachte gerade darüber nach, wie viele Missverständnisse wohl entstanden, weil die Vorstellungskraft der Gesprächspartner für die jeweilige Situation der anderen Menschen einfach nicht ausreichte, 22 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. da wurde sie von Stefanie an der Hand in die Dienststelle gezogen. Im Polizeirevier ging es laut her. Einige Betrunkene wurden von einem älteren Polizeibeamten verhört, der offensichtlich mit den Nerven am Ende war. Er hatte sein Hemd durchgeschwitzt, seine Haare auf Sturm stehen und einen recht verzweifelten Gesichtsausdruck. Ein anderer Polizist drückte einen der Betrunkenen immer wieder auf seinen Stuhl. Die beiden Polizisten wechselten einen Blick. Der Verschwitzte meinte dann zu seinem Kollegen: „Ich geb` es auf. Bring die drei in die Ausnüchterungszelle. Das Spielchen bin ich satt! Wo sind wir denn hier?“ Aha, dachte Angenies so bei sich. Hier wird auch gespielt. Na, mal sehen, wie die das hier so machen. Wer wohl die Regeln vorgibt? Eine ältere Dame stand mit einer Polizistin an einem Tisch. Die alte Dame flüsterte und ein rundlicher Polizeibeamter hörte ihr angestrengt zu. Rolf und Stefanie gingen mit Angenies in einen anderen Raum. „Willst du auch Kaffee?“, fragte Rolf, Stefanie nickte und Rolf verließ den Raum. „So, kleine Madam“, fing Stefanie an. „Also, jetzt noch einmal von vorne: Wie bist du auf das Dach des Domes gelangt?“ Angenies überlegte scharf, was sie jetzt sagen sollte. Ihr fiel partout nichts ein als die Wahrheit. „Durch einen kühlen, dunklen, engen Gang.“ 23 „So, so“, nickte Stefanie und sah Angenies an. „Durch einen kühlen, dunklen, engen Gang“, wiederholte sie und nickte weiter. Oh, mein Gott, sie glaubt mir nicht, dachte Angenies erschrocken und schloss die Augen. Sie dachte ganz fest an ihn. Dann war Gott Vater da. Stefanie ließ ihre Handflächen kurz auf die Tischplatte fallen, erhob sich und verließ den Raum, ohne auf ihn zu achten. Für Angenies sah es so aus, als sähe sie ihn gar nicht. „Schöner Schlamassel, in den ich hier auf der Erde hineingeraten bin“, jammerte Angenies. „Sie glauben mir nicht.“ „Natürlich nicht“, lächelte Gott Vater. „Wie sollten sie auch? Für sie ist das vollkommen unmöglich. Sie glauben, du hast eine Menge Phantasie.“ „Was mache ich denn jetzt?“ „Was würdest du denn gerne tun?“ „Na, meine Arbeit hier.“ „Gut, dann mach das doch.“ Angenies sah Gott Vater verständnislos an. Der zwinkerte ihr zuversichtlich zu: „Hör‘ einfach auf dein Herz“, strich ihr über den Kopf und war im nächsten Moment nicht mehr zu sehen. In diesem Augenblick kam ein junger Mann in den Raum; er wirkte sehr gehetzt, schaute sich nervös um, stürzte auf Angenies zu, nahm sie bei der Hand und zerrte sie in den Flur. Er legte seinen Zeigefinger auf seine Lippen und bedeutete Angenies leise zu sein. 24 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. „Wer bist du?“, fragte Angenies. „Pscht“, zischte der Mann. Er atmete sehr schnell und drückte sich gegen die Wand. „Los, komm mit!“, befahl er Angenies. Er schien sich sehr gut im Polizeigebäude auszukennen. Durch ein Gewirr von Gängen kamen sie in einem Hof heraus. Vorsichtig öffnete der Mann die Tür einen Spalt und blinzelte vorsichtig hindurch, dann zerrte er Angenies durch das Hoftor auf eine Straße. „Wer bist du, was willst du denn?“, wimmerte Angenies. „Nichts will ich und wer ich bin, kann dir egal sein!“, schnauzte der Mann. „Mir ist nichts egal!“, entgegnete ihm Angenies deutlich. „Wenn du nichts willst, was zerrst du mich hinter dir her? Stefanie und Rolf werden mich suchen und glauben, ich sei weggelaufen.“ Der Mann verzog hämisch sein Gesicht. „Mir kommen die Tränen! Du gehst jetzt noch ein Stück mit mir, du bist meine Versicherung. Wenn wir weit genug von der Wache entfernt sind, lasse ich dich laufen. Sollten sie mich erwischen, werden sie mir nichts tun, du bist meine Geisel.“ „Ach so“, meinte Angenies, „sag` das doch gleich. Ja, gut - in Ordnung. Wollte dir denn jemand etwas tun, du Armer?“ Der junge Mann sah Angenies entgeistert an. „Was?“ „Na“, meinte Angenies mit einem Anflug von Stolz, „klar beschütze ich dich, das geht in Ordnung, das ist doch meine Arbeit hier unten auf der Erde!“ 25 „Oh, Mann, an wen bin ich denn jetzt wieder geraten?“, stöhnte der junge Mann. „An mich“, wollte Angenies gerade ansetzen, zu erklären, wer sie ist. Aber der Mann unterbrach sie: „Ach, halt den Mund! Los komm!“ Es gibt also auch unfreundliche Kölner, dachte Angenies verwirrt mit einem klitzekleinen Anflug von Selbstmitleid. „Sag mal, was brauchst du denn, damit du wieder fröhlich bist?“, fragte Angenies und rieb sich verstohlen ihren Arm, der schmerzte. So fest hatte er zugedrückt. Der verschwitzte Mann schaute Angenies nicht an, sondern nervös von einer Richtung in die andere, als er zischte: „Einen Haufen Geld, eine Arbeitsstelle, einen, der meine Schulden übernimmt und mein Konto bei den Brüdern“ – er machte eine Kopfbewegung in Richtung Polizeiwache – „löscht.“ „Aha“, Angenies hatte verstanden. Sie schaute ihn sich einmal genauer an. Er trug eine Jeans, ein schwarzes T-Shirt, das ihm labberig aus der Hose hing. Er war nicht groß, aber größer als Angenies, sie schätzte ihn auf ungefähr dreißig Menschenjahre. Er war unrasiert und seine dunklen Haare sahen strähnig und zottelig aus. Er wirkte ungewaschen. Angenies rümpfte heimlich die Nase - er roch ein wenig streng. Wenigstens für Angenies, die ja nur himmlische Düfte gewohnt war. Seine schwarzen Turnschuhe hatten auch 26 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. schon bessere Tage gesehen. Er atmete schwer und schwitzte. Seine Hand, die Angenies immer noch sehr fest am Arm packte, fühlte sich kalt und dennoch sehr feucht an. „Du tust mir weh“, jammerte Angenies. „Lass` mich doch los! Ich bleibe bei dir – ich glaube nämlich, du brauchst in jedem Fall einen Engel.“ Bei diesen Worten ließ er sie überrascht los. Er sprang sogar einen kleinen Schritt zurück. „Waaas?“ „Na, du brauchst einen Engel.“ Das kann ich riechen, hätte sie beinah gesagt, dachte aber, dass es sehr unhöflich wäre und meinte stattdessen: „Das sieht doch ganz so aus. Sag mal, bist du der Polizei ausgebüxt?“ Er zog die Luft ein und riss seine Augen so weit auf, dass es Angenies fast unheimlich wurde. „Lass mich doch einmal überlegen“, fuhr Angenies rasch fort, „also, womit fangen wir an? Du brauchst eine Arbeit? Dann hättest du auch Geld. Wo wohnst du?“ „Eine Arbeit? Was weißt du schon davon, kleines Mädchen?“ „Mehr als du denkst“, antwortete Angenies ganz selbstverständlich. „Wie heißt du eigentlich?“ „Nenn mich Charly, wenn du willst“, brummte der Mann. „Ich kann nicht arbeiten, jedenfalls nix Richtiges, ich werde von der Polizei gesucht“, begann Charly zu erzählen, während sie in die Ursulagartenstraße einbogen. „Weswegen?“, fragte Angenies. 27 „In Marienburg bin ich eingestiegen“, hörte Charly sich sagen und dachte: ‚Ich erzähle einem kleinen Mädchen, dass ich in Marienburg in eine Villa eingebrochen bin. Was ist nur mit mir los? Was zum Teufel mache ich hier?‘ Er blickte zu Angenies hinunter, die aufmerksam zuhörend neben ihm herlief. „Ich verstehe“, nickte sie. Dabei überlegte sie fieberhaft, in was er wohl eingestiegen und warum das offenbar ein großer Fehler war. Sie wollte aber nicht nachfragen. „Du kannst gar nichts tun, bevor du nicht dein Leben in Ordnung gebracht hast.“ „Jau“, knurrte Charly. Angenies deutete das als Zustimmung. Gerade kam ein Streifenwagen um die Ecke gefahren. Charly packte sie am Arm und zog sie in einen Eingang - wobei er das Polizeiauto nicht aus den Augen ließ. Es fuhr vorbei. Sie merkte, wie Charly durchatmete. „Willst du dich immer verstecken?“, fragte sie ihn. „Ist das denn ein Leben?“ „Nee, Kleine. Ein Leben ist das schon lange nicht mehr.“ Charly machte ein resigniertes Gesicht, schaute in Richtung des vorbeigefahrenen Polizeiautos eine Weile ins Leere und dann zu Angenies hinunter. „Wann hattest du denn ein Leben?“, bohrte Angenies weiter. Sie gingen beide weiter, bis sie sich auf einer Mauer im Schatten von Sankt Ursula niederließen. „Komm, wir 28 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. gehen vorsichtshalber in die Kirche. Dort wird man uns bestimmt nicht suchen“, schlug Angenies vor. Sie betraten die ehrwürdige Kirche und blieben zunächst im hinteren Teil der Kirche vor dem großen Gitter stehen. Dann pirschten sie vorsichtig durch einen Seitengang und ließen sich erschöpft in eine Bank fallen. „Sternenstaub und Wolkenglanz! Knochen, soweit das Auge reicht!“, bestaunte Angenies die Wände der Kirche, die mit Reliquien übersät waren. „Wohl eher Staubwolken, bei dem Alter der Tapeten“, frotzelte Charly freud- und respektlos. Angenies überhörte die freche Bemerkung und knuffte Charly mit dem Arm in die Seite. „Dann erzähl’ doch mal“, forderte sie ihn auf. Charly schüttelte den Kopf, und sie sah an seinem Blick, dass er in Gedanken weit weg war. Sie schaute ihn ruhig an. Charly sieht müde und traurig aus, dachte sie. Er atmete schwer. Angenies rührte sein Anblick, seine Verzweiflung und Resignation, die sie spüren konnte. „Eigentlich müssten wir uns sputen, hier wegzukommen. Die suchen mich bestimmt schon überall. Das kann nicht mehr ewig dauern.“ „Wohin willst du denn?“, erkundigte sich Angenies. „Wenn ich das wüsste!“, seufzte 29 Charly. Er sah Angenies an. „Als ich so alt war wie du, war meine Welt noch in Ordnung. Ich saß abends mit meinem Opa auf der Gartenbank und habe zu Abend gegessen. Die Bank stand vor einem großen Kirschbaum, in dem ein Meisenkasten hing. Wir haben unsere Brote gegessen und den Meisen zugeschaut, die eifrig ihre Jungen fütterten.“ Angenies hörte zu. Ab und zu stellte sie eine Frage, dabei legte sie ihre kleine Hand auf Charlys Arm. So konnte sie spüren, dass die Anspannung von ihm wich und er langsam ruhiger wurde. Die Beiden vergaßen die irdische Zeit. Charly erzählte von seiner Kindheit, die er bei seinen Großeltern in der Eifel verbracht hatte. Von einem alten Fachwerkhaus, einem gemütlichen Wohnzimmer, in dem es wunderbar nach Ofenfeuer und Holz roch, von seinem Opa, der ihn immer mit auf das Feld nahm. Von den Apfelpfannkuchen seiner Oma, von seinem Baumhaus im Garten, in dem er hin und wieder sogar übernachtete. Er erzählte Angenies, wie er und sein Opa am Kartoffelfeuer auf dem Acker saßen und sie beide über und über mit Lehm bedeckt nach Hause kamen. Und von seiner Oma, die dann sehr geschimpft hat und schließlich völlig erschöpft in ihrem großen Ohrensessel eingeschlafen ist. Seine Eltern waren mit dem Auto verunglückt, als er noch sehr klein war. Charly erzählte und erzählte, während Angenies ihm aufmerksam zuhörte. „Ich verstehe“, nickte sie nach einer ganzen Weile. „Du hast deinen Papa und deine Mama sicher sehr vermisst!“ 30 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. „Nein, nicht bewusst - ich kann mich doch gar nicht an sie erinnern – und meine Großeltern waren sehr gut zu mir. Als sie starben, war ich erst Anfang zwanzig. Plötzlich gehörte mir das Häuschen und das bisschen Geld, das sie mir hinterlassen hatten. Alles hätte gut werden können, wenn ich meine Ausbildung zum Schreiner abgeschlossen hätte. Eigentlich hat mir die Arbeit mit Holz immer großen Spaß gemacht. Aber ich habe mich mit Leuten herumgetrieben, die mit mir gezockt, ähm, um Geld gespielt haben. Erst nur um wenig – dann um immer mehr und irgendwann war kein Geld mehr da. Dann musste ich das Häuschen verkaufen.“ Seine Stimme bekam einen traurigen Unterton. „Damit hatte ich meine Welt verkauft. Seitdem ging es nur bergab mit mir. Jetzt werde ich gesucht – wegen Einbruch, Diebstahl.“ Enttäuscht ließ Charly den Kopf hängen. „Soweit ist es mit mir gekommen - ich habe nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf. Letzte Nacht hat mich die Polizei am Ring geschnappt und in eine Zelle gesperrt. Heute Morgen haben sie mich aus meiner Zelle herausgeholt, um mich zu verhören. Auf dem Weg zur Toilette habe ich dich gesehen. Den Rest kennst du ja.“ Sie schwiegen eine Weile. Angenies legte ihre kleine Hand auf Charlys Arm. Charly zuckte zusammen und blickte auf das kleine Engelchen neben sich. Für einen winzigen Augenblick dachte er: Das ist alles nicht wahr! Ich sitze neben einem kleinen 31 Mädchen und erzähle ihm aus meinem Leben. Das kann doch nicht sein! „Was willst du jetzt als Erstes tun, damit du dein Leben zurückbekommst?“ Charly blickte Angenies lange, lange in ihr Engelsgesichtchen. Sie hielt seinen Blick aus. Charly spürte ihre Hand auf seiner Schulter. Sie verstanden sich ohne Worte. „Lass‘ uns gehen“, hörte er sich wieder sagen. Angenies stand auf, nahm ihn an der Hand und schlug unbeirrt den Weg zurück in die Stolkgasse ein. Wie selbstverständlich ging Charly an ihrer Hand neben ihr her. „Ich glaube nicht, was meine Augen da sehen - die Kleine und Karl. Karl Roppenbroich!“ Rolf stand am Fenster der Polizeiwache I und blickte entgeistert in den Hof. Er verschluckte sich, hustete, schaute wieder und stammelte: „Das, das musst du sehen. Gesehen haben! Dir ansehen! Steffiiiii, guck mal!“, rief Rolf. „Tach!“, grüßte Charly in die fassungslos blickenden Gesichter der Polizisten, als Charly mit Angenies an der Hand die Dienststelle betrat. „Ich hab`s mir überlegt – ich stelle mich!“ Augenblicklich war Ruhe im Raum – die Zeit schien für einen kurzen Moment still zu stehen. Keiner sagte ein Wort. Alle schwiegen und schauten sich das ungleiche Duo an. Die Kleine wirkte wohlbehalten und äußerst zufrieden. 32 EIN KLEINER ENGEL IN KÖLN…. „Wie jetzt? Was? Das jibbt et doch gar nich…!“, fand Rolf als erster die Sprache wieder. „Mann, mach jetz nich die Welle!“, schnautzte Charly eher verlegen in Rolfs Richtung. Der alte Polizeibeamte Knut Derrenbach wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Kopfschütteln zustande. „Erst hauste ab, jetzt biste wieder da? Mensch, Charly – du willst dich stellen?“, fragte Rolf vorsichtshalber noch einmal nach. „Ja, wonach sieht et denn aus? Hab‘ ich doch gesagt! Frag doch nit so blöd!“, knurrte Charly ein wenig barsch, um seine Verlegenheit zu überspielen. Und ernst setzte er hinzu, dass Rolf ein Schauer überlief: „Ich will mein Leben zurück!“ Wieder schwiegen alle. Stille. Nur noch die Straßengeräusche waren zu hören. In der Wache schien alles den Atem angehalten zu haben. Es war so leise, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. „Ja“, fand endlich Steffi als erste ihre Sprache wieder „es geschehen noch Zeichen und Wunder!“ Sie atmete tief aus. „Na, klar“, pflichtete Angenies Steffi bei. „Jeden Tag.“ Aber keiner der Anwesenden beachtete sie. Alle schauten in Charlys Gesicht. „Blas die Fahndung ab“, rief Rolf in Richtung eines jungen Beamten, der gedankenverloren in das Szenario blickte. „Sicher doch“, meinte Angenies mit sehr wichtigem Gesicht. 33 Ende der Leseprobe von: Ein kleiner Engel in Köln Ursula Brenger Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1WoHOQi
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