Fehrmann, Auf der Suche nach der verlorenen

Sozialismus
Heft 9-2015 | 42. Jahrgang | EUR 7,00 | C 12232 E
www.Sozialismus.de
Bischoff/Radke/Troost:
Aufschub? Durchbruch?
Michael Wendl:
Das SPD-Impulspapier
Otto König/Richard Detje:
Jugendarbeitslosigkeit
Klaus Wernecke:
Bismarcks Reichsgründung
Eberhard Fehrmann:
Lagerbildung im DGB
Forum
Gewerkschaften
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Heft Nr. 9 | September 2015 | 42. Jahrgang | Heft Nr. 399
Nur im Netz:
Die Redaktion veröffentlicht regelmäßige Beiträge zwischen den
monatlichen Printausgaben auf
Welt in Unordnung
Egon Bahr (1922-2015):
Kooperation statt Konfrontation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
www.sozialismus.de
Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Das Zeitalter der Massenvertreibungen
Hintergründe der aktuellen Flüchtlingsbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Aufklärung soll verhindert
werden
Murat Çakır: Die türkische Vielfachkrise
... und das gefährliche Drehen an der Eskalationsschraube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Uli Cremer: NATO jetzt mit »Supersneller Flitsmacht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Soziale Kämpfe in Griechenland und Europa
Mit der Entlassung des Generalbundesanwalts will die Bundesregierung
Entschlossenheit demonstrieren.
Plötzlich – nachdem die deutsche
Exekutive und Judikative seit zwei
Jahren in der NSA-Affäre – Edward
Snowden hatte deren weltweiten
Überwachungspraktiken aufgedeckt
– abgetaucht war und auch ein damit
befasster Untersuchungsausschuss
das Schattenreich erfolglos blieb. ...
Joachim Bischoff/Björn Radke/Axel Troost: Aufschub oder Durchbruch?
Eine vorläufige Bilanz der griechischen Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Joachim Bischoff: Time for Change?
Yanis Varoufakis’ Versuche, Überschüsse zu recyclen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
Steffen Lehndorff: Nach dem Platzen der Hoffnungen.
Die Debatte über den zweiten Schritt vor dem ersten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Sozialdemokratie – optimistischer Selbstbetrug?
Michael Wendl: Im Rausch der Mythen
Das Impulspapier des SPD-Präsidiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Erdogans Krieg
Forum
Gewerkschaften
In der Türkei hat sich der kurdische
Frühling in einen hasserfüllten nationalistischen Sommer verwandelt. Allen Provokationen zum Trotz überwand die »Demokratische Partei der
Völker« (HDP) die Sperrhürde, errang gar 13,2% und damit 80 Sitze
im Parlament. Die regierende islamisch-konservative AKP verlor die
Mehrheit. ...
Kampf um den 8-Stunden-Tag
Otto König/Richard Detje: Jugendarbeitslosigkeit: Bedrohung der Demokratie
Förderprogramme sind Brücken zur Beschäftigung,
kein Ersatz für die Schaffung neuer Arbeitsplätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Eberhard Fehrmann: Auf der Suche nach der verlorenen Einheit
Hintergründe der Lagerbildung im DGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Militaristen und Internationalisten in der Geschichte
Klaus Wernecke: Moderne deutsche Hegemonialkriege. Ein Rückblick
auf Otto von Bismarck und den Weg zur »Reichsgründung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Mario Keßler: »Für Freiheit, Völkerverbrüderung, Sozialismus«
Zum 100. Jahrestag der Zimmerwalder Konferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
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Klaus Schneider: Taxi Teheran (Filmkritik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Kämpfe um Zeit begleiten die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung
seit ihrer Entstehung. Immer wieder
stand dabei die Dauer des Arbeitstages im Fokus hart geführter Auseinandersetzungen. ...
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Supplement
Thomas Eilt Goes
In Bewegung!
Gewerkschaften zwischen Defensive und Erneuerung
Sozialismus 9/2015
1
Auf der Suche nach der
verlorenen Einheit
Hintergründe der Lagerbildung im DGB
Karikatur: Economist
von Eberhard Fehrmann
Die Gewerkschaftseinheit steht auf dem Prüfstand – nicht in erster Linie durch Spartengewerkschaften,
sondern im DGB selbst. Darüber diskutierten Annelie Buntenbach, Frank Deppe, Hans-Jürgen Urban und
Frank Werneke in den letzten beiden Ausgaben des Forum Gewerkschaften. Eberhard Fehrmann setzt
diese Debatte mit einer Analyse des »industriegewerkschaftlichen Korporatismus« und des »Gegenmodell ver.di« fort.
Hans Böckler – Gott habe ihn selig – wird sich am 15. April
dieses Jahres ins Fäustchen gelacht haben, als sich die Gewerkschaften IG Metall, IG BCE, IG BAU und EVG inklusive des DGB
als zuschauendem Gast zur Besiegelung einer Kooperationsvereinbarung trafen.1 Der Versuch, unterhalb des DGB, den insbesondere die Industriegewerkschaften als einheitsstiftende Institution der deutschen Gewerkschaftsbewegung in den letzten
Jahrzehnten systematisch demontiert haben, mit der neuen Kooperation die Schwächen der einzelgewerkschaftlichen Zersplitterung zu überwinden, hätte er als späte List der Geschichte betrachtet. Er hätte das industriegewerkschaftliche Bündnis als
vernünftig anerkannt, aber auch die programmatische Borniertheit erkannt, in der sich die neue Interessengemeinschaft offizi-
48
Sozialismus 9/2015
ell einrichtet und damit die Gefahr einer höheren und kollektiv
veredelten Form von Lagerbildung, Konkurrenz und Konfrontation im DGB nicht verringert, sondern erhöht.
Zur Erinnerung: die Allgemeine Gewerkschaft
Böckler wollte das Schicksal der gewerkschaftlichen Einheit
nach 1945 niemals in die Hände autonomer Einzelgewerkschaften legen. Der Solipsismus der Einzelgewerkschaften, ihr
einkapselndes Autonomieverständnis und das in branchenförmigen Grenzziehungen genetisch eingelagerte Element der
Verselbständigung und des Einzelgängertums waren ihm die
größten Feinde der Einheitsgewerkschaft. Der Goldschläger aus
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Fürth hatte in der Weimarer Republik die Exzesse der politisch
und betrieblich aufeinander einprügelnden Konkurrenzgewerkschaften und ihre in die Selbstvernichtung treibende, jedes Maß
aus den Augen verlierende Abgrenzungs- und Expansionswütigkeit zu hautnah erlebt, um noch Vertrauen in die einheitsgarantierende Vernunftfähigkeit voneinander verselbständigter
gewerkschaftlicher Solitärverbände zu hegen. Sein Ziel war eine
einzige gewerkschaftliche Organisation, die »Allgemeine Gewerkschaft«, als offenes »Sammelbecken« (Marx) von Lohnabhängigen unterschiedlichster Konfessionen und politischer
Anschauungen und als ein die Vielfalt garantierender und schützender Raum für alle beruflichen, geschlechtlichen, kulturellen
und branchenfundierten Differenzierungsentwicklungen nach
innen. Sein Plan scheiterte am Veto der britischen und amerikanischen Besatzungsmächte, denen diese Konzentration der
organisierten Arbeit eine zu große Affinität zur Deutschen Arbeitsfront der Nazis aufzuweisen schien und den Gewerkschaftsstrukturen ihrer Länder (AFL/CIO und TUC) fremd, weil scheinbar zu wenig pluralistisch, gegenüberstand.
Den Rest kennen wir. Die mitgliederstarken Industriegewerkschaften, allen voran die IG Metall mit ihrem erdrückenden EinDrittel-Mitgliederanteil, dominierten die Gewerkschaftspolitik
des DGB und verweigerten systematisch die von den kleinen
Gewerkschaften in der Nachkriegszeit geforderte Stärkung der
Koordinationsfunktion des DGB. Zudem gab die Dynamik der
hegemonialen und kämpferischen Tarifpolitik der IG Metall in
den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit für die kleinen Verbände ein Tempo vor, mit dem diese nicht Schritt halten konnten. Anders und in heute aktuellen Kategorien ausgedrückt: Die
kleinen Organisationen waren der Überbietungskonkurrenz im
DGB nicht gewachsen. Ein zwischengewerkschaftlicher Interessenausgleich zwischen den starken und schwachen Verbänden
hat im DGB nie wirklich stattgefunden.2
Eine denkwürdige Kooperation
Kehren wir zu der denkwürdigen Kooperationsvereinbarung unseres industriegewerkschaftlichen Quartetts zurück. Die 25-seitige Kooperationsvereinbarung, das ist der generelle Eindruck
ihrer Lektüre, erweckt in einer merkwürdig unterschwelligen,
zwischenzeiligen Weise den Eindruck eines defensiven Argumentationsduktus, obwohl sie doch Aufbruch und Entschlossenheit mitteilen soll und ermutigende Zeichen der Zukunft
setzen will. Die in dem Papier erkennbare Überzeichnung der
Industrie als dem volkswirtschaftlichen Leitsektor in Deutschland und die Erhebung der Entwicklung der Industriebeschäftigung in den Stand der Zukunftsfrage abhängiger Erwerbsarbeit
überhaupt befremden angesichts einer realwirtschaftlichen Gegenwartsstruktur, in der inzwischen fast 75% der Lohnabhängigen als DienstleistungsarbeitnehmerInnen tätig sind und die
faktischen volkswirtschaftlichen Wertschöpfungsanteile der Industrie den hegemonialen Anspruch einer wirtschaftlichen Erstrangigkeit nicht im Ansatz zu stützen vermögen.3 Angesichts
der unumkehrbaren Expansion des Dienstleistungssektors4 und
der ebenso unweigerlich schrumpfenden Industriebasis als historischer Tendenz hochentwickelter, kapitalistisch organisierter Gesellschaften trägt die Aufbruchstimmung des Papiers et-
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was Unzeitgemäßes in sich, eine stille
Nostalgie, eine uneingestandene hiForum
storische Sehnsucht nach hinten. Es
Gewerkschaften
erscheint wie eine paradoxe Modernisierungsanstrengung, die Altes und Erodierendes wieder in
Kraft setzen will gegen die alles verdampfende Gewalt der kapitalistischen Zerstörungsdynamik.
Mit den strukturellen Umbrüchen haben wir die Kulisse für
die sich verschärfenden Konfliktlagen und Kontroversen innerhalb des DGB, der selbst nur noch als organisatorischer Torso
eine repräsentative Denkmalfunktion einnimmt. Die nach wie
vor bestehende Mächtigkeit und Stabilität zumindest der beiden
großen Industriegewerkschaften IG Metall und IG BCE haben
lange die Erkenntnis verstellt, dass beide Organisationen über
kurz oder lang mit einem strukturellen Marginalisierungsprozess konfrontiert sein werden. Der Zusammenschluss kleinerer
Dienstleistungsgewerkschaften zu einer Zwei-Sektoren-Gewerkschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat diesen Erkenntnisprozess beschleunigt und das im Autonomieprinzip der Einzelgewerkschaften angelegte Überlebens-Gen sowie ein massives
Konkurrenzdenken aktiviert.
In der Absicht, ihren Organisationsbestand zu sichern und
ihre dominante Stellung im DGB nicht kampflos zu räumen,
haben IG Metall und IG BCE zwei strategische Antworten gefunden: Die erste besteht darin, ihren Organisationsanspruch
auszuweiten, der sich mit dem Kooperationspapier auch ganz
offiziell auf das neue Organisationsparadigma »Wertschöpfungskette« beruft. Ein von den Industriegewerkschaften im
Kooperationspapier offiziell verkündeter Paradigmenwechsel,
der durch das Tarifeinheitsgesetz – ein Schelm, der Böses dabei
denkt – ganz nebenbei festgeschrieben wird.5 Die zweite straEberhard Fehrmann war von 1977 bis 1986 als Referats- und Abteilungsleiter beim DGB-Bundesvorstand und von 1986 bis 1990 als Abteilungsleiter für
Angestelltenpolitik in der Vorstandsverwaltung der IG Metall tätig. Danach
war er Geschäftsführer der Angestelltenkammer Bremen und Geschäftsführer einer Beschäftigungsgesellschaft in Nürnberg. Er ist Mitglied der Partei
Die Linke und lebt seit 2013 als Ruheständler in der Nähe von Bremen.
1
IG BAU, IG BCE, EVG, IGM, Kooperationsvereinbarung (www.labournet.de/wp-content/uploads/2015/04/dgb_koop.pdf)
2
Heinz Vietheer, bis in die 1970er Jahre Vorsitzender der Gewerkschaft
HBV, hat den Prozess der zwischengewerkschaftlichen Entsolidarisierung
zu Beginn der 1970er Jahre aus der Sicht einer kleinen Gewerkschaft detailliert beschrieben. Vgl. Heinz Vietheer (1971): Zur Diskussion um die DGBReform: groß oder klein – ist das ein Problem? In: Gewerkschaftliche Monatshefte 22, H. 4, S. 202-205.
3
Bischoff et al. haben eine ausgezeichnete Analyse der Entwicklung der
industriellen Wertschöpfungsstrukturen in Deutschland vorgelegt. Ihr Urteil scheint mir nachvollziehbar zu sein: »Es ist unstrittig, dass sich in den
hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften der Absolutheitsanspruch
der industriellen Wertschöpfung und damit der von der Industrie geprägten
Lohnarbeit auflöst.« Joachim Bischoff/Björn Radke/Axel Troost (2015): Industrie der Zukunft? Wertschöpfung zwischen De-Industrialisierung und
vierter industrieller Revolution, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus,
H. 6, S. 32.
4
Jean Fourastié (1969): Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts. Köln
5
Wer meint, es ginge in diesem Gesetz nur um die Spartengewerkschaften,
irrt. Im § 4a Abs. 2, Satz 5 wird ausdrücklich geregelt, dass es einer Tarifvertragspartei untersagt ist, eine Betriebseinheit über unterschiedliche Wirtschaftszweige hinweg oder in andere Wertschöpfungsketten hinein zu bilden,
um eine Mitgliedermehrheit darzustellen. Däubler kommentiert diesen Passus als Lex ver.di: »Damit soll vermutlich einer Dienstleistungsgewerkschaft
die Möglichkeit genommen werden, Industriedienstleistungsunternehmen
mit sonstigen Dienstleistungsunternehmen zusammenzufassen, um sich so
eine Mehrheit zu verschaffen«. Wolfgang Däubler (2015): Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz. Berlin, S. 7.
Sozialismus 9/2015
49
tegische Antwort äußert sich in dem
Bestreben, auch die außerindustriellen Wirtschaftsbereiche in das Korsett der Bedingungen und Ordnungsvorstellungen einer korporatistisch strukturierten, d.h. in eine
an der Standortsicherung orientierte gewerkschaftliche Interessenvertretung einzubinden, um die Beschäftigung insbesondere in den Exportindustrien zu stabilisieren. Auch diese Strategie wird durch das Tarifeinheitsgesetz gestützt, das IG Metall
und IG BCE – trotz des Scheiterns der DGB/BDA-Initiative von
2010 – nie von ihrer Agenda genommen hatten. Beide Antworten sind für ver.di aufgrund ihrer spezifischen Situation und ihrer Mitgliederinteressen kaum zu akzeptieren.
Es macht Sinn, um politisch-ideologische Überinterpretationen zu vermeiden, zunächst einmal die unterschiedlichen
Ausgangslagen der beiden gewerkschaftlichen Großlager im verzwergten DGB etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Forum
Gewerkschaften
Industriegewerkschaftlicher Korporatismus –
der Buddenbrooks-Effekt
Die IG Metall ist nach wie vor eine der mächtigsten und mitgliederstärksten Arbeitnehmerorganisationen der Welt. Ihre Erfolge
sind Legende und ihr tarif- und industriepolitischer Einfluss ist
nach wie vor respektheischend. Doch auch ihre Schwächen wurden in den vergangenen Jahrzehnten offenkundiger. Die Guillotine der Standortdrohung und die gnadenlose Produktivitätspeitsche der Shareholder üben einen dauerhaften Druck auf den
Bestand der Industriebeschäftigten aus.6 Die frostigen Schatten,
die diese Bedrohung seit Beginn der 1990er Jahre auf die Exportindustrien als die industriellen Kernbereiche wirft, haben die
emanzipatorischen Offensiven im Sinne wachsender Arbeitnehmereinkommen, höherer Arbeitsqualität und partizipatorischer
Landgewinne einfrieren lassen. Bertold Huber hatte die für den
zukünftigen Organisationsbestand existenzielle Gefahr der Erosion industrieller Beschäftigung erkannt und zur Vermeidung
einer weiter unkontrolliert verlaufenden Organisationssklerose
die IG Metall konsequent in den Defensivmodus einer »concession bargaining«-Strategie geschaltet. Bei aller berechtigten kritischen Bewertung einer daraus folgenden sinkenden Lohnquote
spricht der Erfolg der IG Metall-, aber auch der IG BCE-Politik
für sich: Kein Land in Europa weist einen so hohen Industrieanteil seiner Volkswirtschaft und eine vergleichsweise hohe Industriebeschäftigung aus wie Deutschland.7
Ein solch immenser gesamtwirtschaftlicher Kraftakt zur Verteidigung und Sicherung von Industriearbeitsplätzen war mit
den politisch begrenzten gewerkschaftlichen Beteiligungs- und
Gestaltungsmitteln schlechterdings nicht stemmbar. Er war
überhaupt nur möglich in einem tripartistischen Bündnis, d.h.
mit tatkräftiger Unterstützung der Politik, die das Interesse der
IG Metall und der IG BCE an der Aufrechterhaltung einer bedeutsamen industriellen Beschäftigung teilte, und im engen Zusammenwirken mit den Arbeitgebern, die ihr Interesse an einem
Industrie- und Exportstandort Deutschland auch unter der Bedingung der globalen Standortflexibilität aufrechterhielten.8
Dieses Interessenvertretungsmodell ist in seiner Funktionsweise erläuterungsbedürftig. Korporatismus ist eine politisch
50
Sozialismus 9/2015
hochsensible, fragile und informelle Kooperationskonstruktion,
der das schwache Prinzip des Einverständnishandelns zugrunde
liegt. Jeder Partner ist jederzeit in der Lage, die einvernehmliche
Zusammenarbeit einzustellen. Korporatistische Strukturen kommen zudem nur zustande, wenn die beteiligten Akteure wechselseitig anerkannte, monopolförmige Organisationsmacht9 in
sie einbringen, die eine Beziehung auf anerkannter, d.h. Ungleichheit ignorierender Augenhöhe konstituiert und sich als
verbindlich, handlungs- und durchsetzungsfähig beweist.10 Verliert einer der Partner signifikant an ordnungssetzender und
-garantierender Macht, z.B. in der Politik durch die politische
Unberechenbarkeit einer von Gegensätzen und Konflikten beherrschten Regierungskoalition, auf der Kapitalseite etwa durch
massive Tarifflucht von Mitgliedsfirmen und durch Zersplitterung der Arbeitgeberverbände aufgrund von Neugründungen,11
oder – auf Gewerkschaftsseite – durch gravierende Mitgliederverluste und erstarkende Konkurrenzorganisationen, verliert
die korporatistische Struktur ihre exklusive Regelungskraft. Berechenbarkeit, Verlässlichkeit, Stetigkeit und persönliche Vertrauensverhältnisse sind unerlässliche Funktionsvariablen des
korporatistischen Systems. Spontaneität, Unentschiedenheit,
partikulare Interessen, Zweideutigkeiten, latente Disharmonien oder unkontrollierte Konfliktsituationen erzeugen hingegen dysfunktionale Risikofaktoren, und Unwägbarkeiten provozieren eine Störanfälligkeit, die dem Bündnis über kurz oder
lang das Wasser abgräbt.
Die Welt der Metall- und Elektroindustrie ist die Welt großer gewerkschaftlicher Kämpfe und Erfolge, akkumulierter und
bewahrter Konflikterfahrung, selbstbewusst gepflegter Traditionen, beeindruckender Mitgliederloyalität, kollektiver Normen,
durchgeregelter, auf Flächendeckung und Standardisierung zielender Arbeitsbedingungen, straffer und disziplinierter Willensbildungs- und Handlungsstrukturen und handlungsfördernder
Routinen in einer Organisation mit einer durchgängig zentralistischen Architektur. Eine Welt, in der die eigene Geschichte
der kollektiv errungenen Erfolge und das sich daraus ableitende
Charisma auch die hegemonialen Ansprüche in der Gesamtbewegung der Gewerkschaften begründet haben. Dennoch – bei
aller wiedergewonnenen Stabilität und einer bemerkenswert
konkurrenzfähigen deutschen M+E-Industrie seit der globalen Finanzkrise – zeigt diese Welt Risse. Etwas Buddenbrook
liegt angesichts der unentrinnbaren Strukturverlagerungen der
Beschäftigung in der Luft. Die internationale Gewerkschaftsforschung bezeichnet diese traditionelle industrielle Gewerkschaftswelt auch als »die Welt der 3 Ms«.12
Das historische Erbe der IG Metall, immer Industriearbeitergewerkschaft gewesen zu sein, macht den substanziellen Kern
ihrer beispiellosen historischen Gestaltungskraft aus und liegt
gleichzeitig tonnenschwer auf der Organisation.13 Dieses Erbe
hat sich tief eingeschrieben in eine geschlossene und wandlungsresistente Organisationskultur, die ihre Attraktivität und Überzeugungskraft dort verliert, wo sie sich von der Produktionsarbeit räumlich entfernt. Im Angestelltenbereich, der auch in der
Metallindustrie inzwischen gleich viele Beschäftigte wie der Arbeiterbereich aufweist,14 ist die IG Metall mit einem Nettoorganisationsgrad von weit unter 15%15 zur Bedeutungslosigkeit
degradiert. Ihre zeitweiligen Erfolge in angestelltenintensiven
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und industrienahen Dienstleistungsbereichen sind selten nachhaltig.16 So sehen sich vor allem die Industriegewerkschaften
angesichts des entschlossenen gewerkschaftlichen Auftretens
qualifizierter und hochqualifizierter Angestelltengruppen in
Spartengewerkschaften – so klein ihre Mitgliederzahlen auch
sein mögen – unversehens mit dem Zusammenbruch der so
sorgfältig gehegten Erzählung von der gewerkschaftsablehnenden Angestelltenmentalität, den Angestellten als der 5. Kolonne
des Kapitals, den »Trittbrettfahrern« und solidaritätsabweisenden »Karriereristen« konfrontiert. Die mit den Spartengewerkschaften offenkundig gewordene Wiederkehr der »gewerkschaftlichen Angestelltenfrage«, die von den Industrieverbänden
in den 1990er Jahren abgehakt wurde und spätestens durch die
Abschlüsse einheitlicher Entgeltverträge (IG BCE, IGM, ver.di),
d.h. mit dem Verschwinden des Angestelltengehalts ihren letzten ideologischen Anker verloren zu haben schien, erlebt ihre
unerwartete Wiedergeburt. Vornehmlich die IG Metall muss
sich die hochnotpeinliche Frage nach der Mitgliederstärke qualifizierter und hochqualifizierter Angestelltengruppen in ihrem
Organisationsbereich nach fast 70 Jahren der Geschichte des
Industrieverbandsprinzips in aktueller Dringlichkeit gefallen
lassen.17
Gegenentwurf ver.di
Mit ver.di betreten wir eine Welt, die sich in atemberaubender
Weise als Gegenentwurf, geradezu als Bruch mit der Welt der Industriegewerkschaften darstellt.18 Hier ist wenig Tradition, alles
atmet Anfang, trägt den Charakter des Neuen, scheint noch im
Geburtskanal zu stecken. Routine und Erfahrung sind jung, die
Organisation lebt noch wesentlich von dem Wissen ihrer Gründungsverbände, die sich in ein anderes Ganzes hineinentwickeln
und beginnen, ein neues Kapitel der Gewerkschaftsgeschichte
zu schreiben. Experimente, Suchbewegungen, partikularistische
Offenheit, eine leichte und unvermeidliche Prise Chaos charakterisieren die Organisation und lassen – mit Blick auf die
Buntheit und Spontaneität sozialer Bewegungen – Spötter und
Skeptiker von der »Bewegungsgewerkschaft« sprechen.
Die Zwei-Sektoren-Gewerkschaft
ver.di ist trotz beachtlicher Mitglie-
6
Heiner Dribbusch/Peter Birke (2014): Die DGB-Gewerkschaften seit der
Krise. Entwicklungen, Herausforderungen, Strategien. Hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, S. 14.
7
Siehe Bischoff et al. (2015), a.a.O.
8
Diese Position der Arbeitgeber war umkämpft zwischen den Marktradikalisten um den BDI-Vorsitzenden Henkel und den Korporatisten um den
Gesamtmetallchef Hundt. Vgl. Wolfgang Streeck (2001): Kontinuität und
Wandel im deutschen System der industriellen Beziehungen, in: Arbeit, Heft
4, Jg. 10, S. 305
9
Klaus Dörre (2012): Gewerkschaftliche Erneuerung. Aus der Krise zu
neuer Stärke, in: Emanzipation Jg. 2, Nr. 2, S. 9f.
10
Streeck (2001), a.a.O., S. 299.
11
Wie es ja im Bereich der Zeitarbeit und der Zustelldienste geschehen
ist.
12
Jelle Visser (2007): Trade Union Decline and What Next? Is Germany
a special case?, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 14, Heft 2, S. 105: Male =
männlich, Manufacturing = Herstellung, Produktion, Manual = Hand- bzw.
körperliche Arbeit.
13
»Selbst in den später entstandenen Industriegewerkschaften bildeten die
Facharbeiter das Rückgrat und die Speerspitze der Organisation. Solange die
Industriegewerkschaften die ›Sonderstellung‹ der Facharbeiter mit innerorganisatorischem Status, Einfluss und materiellen Begünstigungen in der
Lohnskala respektierten, zollten diese der ihnen abgeforderten Klassensolidarität ihren Tribut«. Walther Müller-Jentsch (2011): Gewerkschaften und
Soziale Marktwirtschaft seit 1945. Stuttgart, S. 166.
14
Thomas Haipeter/Christine Slomka (2014): Industriebeschäftigung im
Wandel. Arbeiter, Angestellte und ihre Arbeitsbedingungen, in: IAQ-Report 06, S. 4f.
15
Berthold Huber bezifferte im Jahr 2003 den Organisationsgrad der Angestellten, der seitdem aufgrund der damals voll wirkenden Mitgliederkrise
mit größter Wahrscheinlichkeit nicht angestiegen ist, in Baden-Württemberg, einem der besser organisierten Bezirke der IG Metall, auf 15,8%. Dies
entspricht einem Netto-Organisationsgrad (ohne Rentner, Arbeitslose, Studierende und Karteileichen), der bei 10% bis 12% liegt. Siehe Berthold Huber (2003): Vielfalt und Einheit, Differenzierung und Solidarität, in: Joachim Beerhorst/Jens-Jean Berger (Hrsg.): Die IG Metall auf dem Weg zur
Mitte? Hamburg, S. 135.
16
Ulrich Brinkmann/Oliver Nachtwey (2010): Krise und strategische
Neuorientierung der Gewerkschaften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte
(www.bpb.de/apuz/32848/krise-und-strategische-neuorientierung-dergewerkschaften?p=all), S. 2.
17
Wir werden diese Problematik an anderer Stelle vertiefen.
18
Jelle Visser (2007): »The new world: young, female, white collar«; Peter Renneberg (2005): Die Arbeitskämpfe von morgen? Arbeitsbedingungen
und Konflikte im Dienstleistungsbereich, Hamburg.
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Forum
Gewerkschaften
beide Bücher
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Sozialismus 9/2015
51
derzahlen schwach, ein Koloss auf
tönernen Füßen, weitab von der
Durchsetzungsmacht und der Gestaltungsdominanz der Industriegewerkschaften in der Exportindustrie. Und doch strahlt sie die Aura
von Zukunft und Perspektive aus. Mit einem Anteil von 75%
der Gesamtbeschäftigung in Deutschland als potenzieller Organisationsreserve stellt sich für sie nicht das strukturelle Problem schrumpfender Basis und damit schwindender Machtressourcen, sondern die gewaltige und bis heute nicht im Ansatz
eingelöste Herausforderung der Erschließung dieser in vielfältige Tätigkeitsbereiche zersplitterten, teilweise prekarisierten
Mitgliederpotenziale.19 ver.di hat mehr Frauen als Männer und
mehr Angestellte als Arbeiter organisiert und bildet damit die
Sozialstruktur der modernen Lohnarbeit sehr viel repräsentativer ab als die Industriegewerkschaften.20
Die Zusammensetzung der Beschäftigten im Dienstleistungsbereich birgt noch einen weiteren wesentlichen Unterschied zum
Organisationsbereich der Industriegewerkschaften in sich. Die
Problematik systematisch diskriminierter weiblicher Erwerbsarbeit konzentriert sich im Dienstleistungsbereich in Form des
stummen Diktats der Unterbewertung weiblicher Tätigkeiten,
in Gestalt von nicht existenzsichernden Armutslöhnen und von
extrem flexibilisierten Arbeitsverhältnissen. Die Geschichte des
gewerkschaftlichen Kampfes um die Zukunft weiblicher Erwerbstätigkeit und damit um die Inhalte und Formen gesamtgesellschaftlicher Arbeit überhaupt hat sich ihr Schlachtfeld schon
ausgesucht: Der Kampf wird im Dienstleistungssektor und nirgendwo anders ausgefochten.
Mit der Herausbildung korporatistisch organisierter Interessenvertretungsstrukturen ist im Dienstleistungssektor nicht zu
rechnen. Die gewerkschaftliche Schwäche im privaten Dienstleistungsbereich und die vom politischen Konzept des Neoliberalismus mit seiner von Deregulierungszynismen, Privatisierungsexzessen und Austeritätsblockaden durchsättigten Haltungen
der privaten und öffentlichen Arbeitgeber ersticken übergreifende Initiativen und Bündnisse im Keim. Einer solchen Entwicklung steht auch die organisatorische Zersplitterung des
Arbeitgeberlagers entgegen. Es ist vor allem die stärker binnenwirtschaftlich akzentuierte Struktur des Dienstleistungsbereichs, die gewerkschaftliche Beobachter hoffen lässt, dass die
alles dominierenden Zwänge des globalen Wettbewerbs und
das Erpressungspotenzial der Standortverlagerung, das die Exportindustrien als Geiseln ins Feld führt und Gewerkschaftsansprüche zähmt, im Dienstleistungsbereich eine signifikant
schwächere Rolle spielen werden. Damit könnten weniger domestizierte Konfliktaustragungen, nachfrageorientiertere Tarifziele und mitgliedernähere Formen gewerkschaftlicher Interessenvertretung revitalisiert werden.21
Forum
Gewerkschaften
Spaltung und Konflikt im DGB: Götterdämmerung
industrialistischer Gewerkschaftspolitik?
So beunruhigend und teilweise verwirrend die Kontroversen um
die Tarifeinheit, die Zuständigkeitsstreitigkeiten in den tertiarisierten und privatisierten Wirtschaftsbereichen zwischen Industrie- und Dienstleistungsgewerkschaft und die sich jetzt bil-
52
Sozialismus 9/2015
dende Interessengemeinschaft von vier Gewerkschaften im DGB
auch sein mögen, sind sie doch Teil eines klärenden Prozesses, in
dem sich die in der Nachkriegszeit organisatorisch zersplitterte
Dienstleistungsarbeit mit ver.di als vergleichsweise einheitlicher
gewerkschaftlicher Formation neu aufgestellt hat, und die dem
Autonomieprinzip und Einzelgängertum in besonderer Weise
verpflichteten Industriegewerkschaften22 ihrerseits jetzt eine
qualitativ neue Zusammenarbeit anstreben. Die organisierte
Dienstleistungsarbeit tritt mit einem neuen Selbstbewusstsein
auf, das sich nicht mehr umstandslos als Schattengewächs und
kollaterales Anhängsel der Interessenvertretungsmodelle, der
Gestaltungsnormen und des organisationskulturellen Selbstverständnisses einer industriell, technisch-handwerklich und
produktionistisch dominierten Gewerkschaftspolitik definiert.
Ein großer Teil lohnabhängiger Arbeit im Dienstleistungsbereich emanzipiert sich von den alten Gewissheiten und Traditionen der Industriearbeit. Dienstleistungsarbeit tritt als alternative, auf Authentizität und Eigenständigkeit pochende Kraft
im DGB auf.
Die Schärfe, die sich inzwischen besonders auf der Seite der
Industriegewerkschaften in die Tonlage eingeschlichen hat,23
ist ein untrügliches Zeichen für die aufkeimende Ahnung, dass
es in den Grenzstreitigkeiten mit ver.di schon lange nicht mehr
um alltägliche Scharmützel über Zuständigkeiten in einzelnen
Betrieben und Unternehmensteilen geht, sondern dass sich im
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lichen Großlagern noch unbefangen
Forum
über eine zukunftsfähige politische
Gewerkschaften
Arbeitsteilung zwischen DGB und
Mitgliedsgewerkschaften verhandeln, scheint mir realitätsfern. Die dem DGB für die Zukunft
zugedachte kapitalismuskritische Vorreiterrolle (Urban) oder
eine avantgardistische Initiativfunktion (Werneke) entspringen
einem nostalgischen Wunschdenken. Sie setzen eine eigenständige Autorität beim DGB voraus, die ihm doch schon im letzten
Jahrhundert irreversibel entzogen wurde. Wahrscheinlicher ist,
dass der DGB noch mehr an Einfluss verlieren und im ungünstigsten Fall als »Sündenbock« zwischen beiden Blöcken zerrieben wird. Das Bemühen der Diskutanten, die aufgewühlten
Wogen zu glätten, gemeinsame Herausforderungen herauszuarbeiten und sachbetont zu argumentieren, ist anerkennenswert.
Dennoch wäre eine offenere Benennung der Konflikte und Kontroversen im DGB hilfreicher gewesen. Denn nur einer schonungslosen Analyse erschließt sich die Notwendigkeit, die Wagenburgen zu verlassen und über radikal neue inhaltliche und
organisatorische Voraussetzungen gewerkschaftlicher Einheit
nachzudenken.
Karikatur: Economist
Die Tarifeinheitskontroverse –
Interessen und Motive
Hintergrund ein historischer Prozess der Verlagerung des soziokulturellen und politischen Schwerpunkts in der gewerkschaftlichen Gesamtstatik vollzieht, dessen Logik zwangsläufig den
sich verändernden Sozialstrukturen und modernen Beschäftigungstrends folgt. Obwohl sich die Industriegewerkschaften
gegenwärtig stabiler, durchsetzungs- und politikfähiger als die
Dienstleistungsgewerkschaft präsentieren, wird das Gewicht
der traditionell arbeiterverpflichteten Milieus, das auf ihnen lastet und seit Jahrzehnten die Anstrengungen innovativer Öffnungsprozesse gegenüber neuen Beschäftigtengruppen unter
sich begräbt,24 zu einem bedrohlichen Hemmnis.25 Die engen
Grenzen, die einer offeneren Interessenvertretung im Angestelltenbereich dadurch gesetzt sind, könnten sich als historisches
Dilemma erweisen. Die Dienstleistungsgewerkschaft, die im Bereich hochqualifizierter Angestellter auch nicht sehr erfolgreich
agiert, wie das Auftreten der Spartengewerkschaften belegt, ist
zumindest frei von Bindungen an eine übermächtige Arbeitertradition und kann sich organisatorisch und politisch offensiver
auf diese zukünftig immer bedeutender werdenden Arbeitnehmergruppen zubewegen.
Diese Gesamteinschätzung steht nicht im Einklang mit einem
Gespräch über Voraussetzungen und Inhalte gewerkschaftlicher
Einheit, das in der Juli/August-Ausgabe von Sozialismus geführt wurde.26 Die Annahme, man könne angesichts der vorgängigen organisatorischen Verfestigung von zwei gewerkschaft-
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Bei aller Sympathie für die verfassungsrechtlich scharfen Argumente der Gegner der gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit
darf nicht übersehen werden, dass die Befürworter nur beiläufig
auf rechtliche Aspekte eingehen und stattdessen die in der Tat
19
Dabei ist nicht zu übersehen, dass in weiten Organisationsbereichen
die »kritische Masse« (Streeck) der Mitglieder unterschritten (10-20%) und
eine sich selbst tragende Mitgliederrekrutierung mehr als unwahrscheinlich
ist. Wolfgang Streeck (2001), a.a.O., S. 308.; Jelle Visser (2007), a.a.O., S.
113: »There is a minimum level of union density (10%?, 20%?) below which
union reputation does not work«.
20
Gerhard Bosch (2001): Leitbilder für die Dienstleistungsgewerkschaften,
in: WSI-Mitteilungen, Heft 9, S. 542.
21
Frank Deppe (2012): Gewerkschaften in der Großen Transformation.
Von den 1970er Jahren bis heute. Eine Einführung. Köln, S. 100f.; Klaus
Dörre (2012), a.a.O., S. 19f.
22
Otto Brenner (IGM-Vorsitzender von 1956-1972) und Hermann Rappe
(IG CPK-Vorsitzender 1982-1995) waren die profiliertesten Vertreter des industriegewerkschaftlichen Autonomiegedankens im DGB und damit Protagonisten einer Eingrenzung der Handlungsspielräume des DGB. Die Wiederholung des Arguments im Kooperationspapier der Industriegewerkschaften,
dass der DGB durch die neue Kooperation stärker werden würde, hat Hermann Rappe schon in den 1990er Jahren zur realitätsverfälschenden Legitimierung der Gewerkschaftsfusionen in die Welt gesetzt. Die scheinbar
unüberwindlichen Gräben zwischen der »linken« IG Metall und der »konservativen« IG Chemie, Papier, Keramik (heute IG BCE) bilden heute angesichts der gemeinsamen Interessenlage als Gewerkschaften der Exportindustrie eine von beiden Seiten vergessene Episode.
23
Die öffentlichen bzw. öffentlich gemachten Äußerungen der Vorsitzenden Michael Vassiliadis und Detlef Wetzel gegen ver.di nach dem Scheitern
einer gemeinsamen DGB-Stellungsnahme zum Tarifeinheitsgesetz kommen
schon Grenzüberschreitungen nahe.
24
Die IG Metall und, noch professioneller, die IG BCE (IG CPK) haben in
den letzten Jahrzehnten mit anspruchsvollen Initiativen, Projekten, Kampagnen und methodisch anspruchsvollen Mitgliederoffensiven im Angestelltenbereich keine signifikanten Erfolge erzielen können. Die produktionistisch
und zentralistisch geprägte Organisationskultur erweist sich als nicht attraktiv für angestellte Lohnarbeiter.
25
Wolfgang Schröder (2005): Gewerkschaften auf der Suche nach Stabilität im Wandel, in: Vorgänge, Heft 3-4, S. 120.
26
Annelie Buntenbach/Hans-Jürgen Urban/Frank Werneke (2015): Gewerkschaftseinheit – auf dem Prüfstand. Eine Diskussion, in: Sozialismus,
Heft 7/8, S. 32ff., bes. S. 37f.
Sozialismus 9/2015
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problematischen einheitspolitischen
Folgen der Tarifpluralität und Tarifkonkurrenz als Kernprobleme hervorgehoben werden. Die Verhinderung von Belegschaftsspaltungen, die Solidaritätsverpflichtung
der Starken gegenüber den Schwachen und die politische Bedeutung einer die wirtschaftliche Gesamtverantwortung berücksichtigenden Interessenvertretung27 sind hier in den Vordergrund
gerückt. Man könnte das Motiv der Gesetzesbefürworter als »Sicherung der gewerkschaftlichen Einheit auch um den Preis einer möglichen Beschädigung der Koalitionsfreiheit« und die
Haltung der Gesetzesgegner als »Verteidigung der Koalitionsfreiheit auch unter Inkaufnahme der partiellen Schwächung der
Gewerkschaftseinheit« beschreiben.
Es stehen sich also zwei Konzeptionen von gewerkschaftlicher Einheit gegenüber. Die industriegewerkschaftliche Variante spiegelt in ihrer Rigidität und Ausschließlichkeit das Anliegen der bedingungslosen Verteidigung des korporatistischen
Interessenvertretungsmodells mit der darin eingeschweißten
Notwendigkeit der Aufrechterhaltung eines tarifpolitischen
Monopols wider, während die größere Offenheit der Dienstleistungsgewerkschaft gegenüber konkurrierenden Interessenvertretungen die binnenwirtschaftlichen Spielräume und pluraleren Strukturen der Tarifpolitik im Dienstleistungsbereich
zum Ausdruck bringt. So erklärt sich auch das Paradox in der Position der großen Industriegewerkschaften, dass nicht die wirtschaftsfriedlichen und arbeitgeberhörigen Dumping-Gewerkschaften, die in der Vergangenheit wesentlich folgenreicher zur
Zersplitterung der Tariflandschaft und zur Beseitigung existenzsichernder Löhne vornehmlich in der Zeitarbeitsbranche und in
den Zustelldiensten beigetragen haben, Anlass und Gegenstand
der Tarifeinheitsdebatte gewesen sind. Es sind die streikfähigen
Spartengewerkschaften, die in die Rolle der »Achse des Bösen«
geschoben wurden. Sie bilden eine fundamentale Gefahr für
das korporatistische System, da die aggressive Tarifpolitik der
Funktionseliten mittelfristig – ganz im Gegensatz zu den Unterbietungsgewerkschaften – eine maßvolle, weil auf Arbeitsplatz- und Standortsicherung zielende Tarifpolitik auf Dauer
unterminiert. Die Spartengewerkschaften zwingen indirekt –
quasi als Fernwirkung – auch die Industriegewerkschaften zu
einer radikaleren Gangart in der Lohnpolitik, wollen diese nicht
Neideffekte wie Benachteiligungsproteste und Austritte ihrer
vergleichenden Mitglieder oder gar die Gründung von berufsbasierten Konkurrenzorganisationen in ihrem eigenen Organisationsbereich riskieren.28 Damit würden die korporatistisch
orientierten Gewerkschaften aber ihre Rolle als Garanten stabiler und kalkulierbarer Verhältnisse in der Tariflandschaft für
die Arbeitgeber verlieren und Gefahr laufen, als Partner überflüssig zu werden.
Hier deutet sich zudem noch ein sehr viel grundsätzlicheres,
DGB-internes Problem an, da auch eine stärker nachfrageorientiert akzentuierte Lohnpolitik der Dienstleistungsgewerkschaft
zu einer Spannung im Verhältnis zu den exportorientierten Industriegewerkschaften und den Voraussetzungen ihrer standortsichernden Politik führen müsste. Die politische Diskussion
über die Beschneidung des Streikrechts im öffentlichen Dienst
unter dem Vorwand der »Sicherstellung der Daseinsvorsorge«
Forum
Gewerkschaften
54
Sozialismus 9/2015
signalisiert ja, dass die Arbeitgeber die Rahmenbedingungen
des Industriestandorts Deutschland, zu dem die infrastruktursichernden Dienstleistungsbereiche zweifellos als gewichtiger
Faktor gehören, den Bedingungen des korporatistischen Modells anpassen und ihn so befrieden wollen.29 Die stringente
Abwehrhaltung von ver.di gegenüber gesetzlichen Manipulationen an der Tarifautonomie und am Streikrecht, wie mit dem
Tarifeinheitsgesetz geschehen, ist also nur zu verständlich. Ihre
Weigerung, sich in das Korsett einer korporatistischen Befriedungspolitik einzwängen zu lassen, die den Dienstleistungsbereich zu einer Variablen exportindustrieller Wettbewerbsfähigkeit degradieren will, liegt der Kontroverse über die Tarifeinheit
im DGB unausgesprochen zugrunde.30
Schlussgedanke
Seit der Gründung des DGB im Jahr 1949 hat sich die Zusammensetzung der lohnabhängigen Beschäftigung radikal verändert. Der numerische Bedeutungsverlust der Industriearbeit,
die Feminisierung der Erwerbstätigkeit, die Entstehung neuer
Berufe und die Entwertung alter Qualifikationen, die Zunahme
der Migration und hoher Bildungsabschlüsse, die Auflösung
alter Milieus, Wertewandel und Individualisierung haben eine
damals nicht vorstellbare Heterogenität der Beschäftigung hervorgerufen. Die alte Konstruktion gewerkschaftlicher Einheit
hat, das ist meine These, keine mobilisierende und integrierende Antwort mehr auf diese neue Arbeitswelt. Sie hat sich erschöpft. Es ist Zeit, sich auf die gemeinsame Suche nach einer
integrationsfähigeren Form solidarischen Gewerkschaftshandelns zu machen. Das schließt eine neue und solidarisierende
Sinnproduktion der Gewerkschaftsbewegung zwingend ein. Die
Möglichkeit, dass Gewerkschaften Aktionen von Regierungen
und Arbeitgeberverbänden hinnehmen, die zum Schaden von
Schwestergewerkschaften gereichen können oder sich sogar gegen diese richten, muss für immer ausgeschlossen sein. Das sind
wir unserer Geschichte schuldig.
27
So beispielsweise Michael Vassiliadis (28.10.2014): Gutes Signal: Koalition stärkt das Mehrheitsprinzip, in: IG BCE (Hrsg.), Medieninformation
XVIII/48, oder der EVG-Vorsitzende Alexander Kirchner (2014): »Wenn
wir links gehen, gehen sie rechts«, in: WSI-Mitteilungen 12, S. 32ff., oder
der ehemalige IG BAU-Vorsitzende Klaus Wiesehügel (2012): Welche Folgen hat das Nebeneinander mehrerer Tarifverträge in einem Unternehmen?,
in: ifo-Schnelldienst, 11, 65. Jahrgang.
28
Dies wird von Experten zwar für unwahrscheinlich gehalten, aber nicht
ausgeschlossen. Vgl. Wolfgang Schröder/Viktoria Kalass/Samuel Greef
(2011): Berufsgewerkschaften in der Offensive. Vom Wandel des deutschen
Gewerkschaftsmodells, Wiesbaden S. 272; Walther Müller-Jentsch (2008):
Rückkehr der Berufsgewerkschaften?, in: WSI-Mitteilungen, Heft 2, S. 62.
29
In diesem Sinn: Martin Franzen/Gregor Thüsing/Christian Waldhoff
(2012): Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge. Vorschläge zur gesetzlichen
Regelung von Streik und Aussperrung in Unternehmen der Daseinsvorsorge,
hrsg. v.d. Carl Friedrich von Weizsäcker Stiftung, Berlin/Bonn/München.
30
Hier handelt es sich nicht nur um ein deutsches Problem. In Schweden hatte es sich in einem Konflikt zwischen der mächtigen Gewerkschaft
der Gemeindearbeiter und der Metallarbeitergewerkschaft im schwedischen
Arbeitergewerkschaftsbund (LO) über die Frage, ob die Industrielöhne die
Leitlöhne für die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes sein sollen, entzündet. Auch der Konflikt über die Frage der »solidarischen Lohnpolitik«
(Abbau der Einkommensspreizung) zwischen der LO und dem Angestelltengewerkschaftsbund TCO, der sich gegen die solidarische Tarifpolitik wendete,
spiegelt sich in der deutschen Tarifeinheitsdiskussion wider. S. Håkan/A.
Bengtsson (2008): Nordische Erfahrungen. Das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Politik in Schweden, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale
Politikanalyse, S. 10ff. (http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/05862.pdf)
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