Pfarrer Martin Breitling Megan Rice – mit freiem Mut und scharfer Zange Woran erkennt man eigentlich, dass jemand Christ ist? Kann man das jemandem ansehen? Kreuz um den Hals? Dutt auf dem Kopf? Altmodische Klamotten an? Oder, kann man die Christen daran erkennen, was sie machen und was nicht? vor allem an dem, was sie nicht machen? Weil für die Christen ja so viel verboten ist? Vor allem das, was Spaß macht? Küssen verboten? Disco gehen verboten. Rauchen verboten… Da gibt es 1000 Sachen. Und je nach dem, wen man fragt, bekommt man die oder jene Antwort. Und dann kann es sein, dass manche Menschen denken, dass der Glaube darin besteht, einen bestimmten Lebensstil zu pflegen, an dem man sich orientiert. Dass man bestimmte Dinge tut und andere Dinge lässt, weil Gott das so und so will. Ich habe so etwas schon erlebt. Gott will, dass Frauen nur Röcke tragen. Gott will nicht, dass Christen tanzen. Gott will nicht, dass… Oder kann man die Christen gar nicht erkennen? Weil Glauben ja sowieso Privatsache ist. Also, dass ich halt glaub, dass es Gott gibt und andere eben nicht. Aber sonst ist da kein Unterschied. Also, Christen denken, dass es Gott gibt und die anderen vielleicht nicht, aber sonst besteht kein Unterschied. Außer dass 1 die einen im Jenseits fröhlich im Himmel jubilieren und die anderen in der Hölle brutzeln, weil sie halt das falsche geglaubt haben. Dann wäre der Glaube eine rein innerliche Angelegenheit, die mit dem Leben aber gar nichts zu tun hat. Dann gibt der Glaube mir keine Orientierung für mein Leben. Aber was ist nun? Reine Privatsache, so wie es ja in jedem Schüleraufsatz oder in jeder Erörterungsfrage in der Reliklausur am Ende heißt: Am Ende muss jeder selbst entscheiden, ob er sich mit seinem Glauben zu erkennen gibt oder nicht. Oder: Für Christen gibt’s klare Regeln: 1.2.3. erlaubt, 1.2.3. verboten 1.2.3. muss gemacht werden. Und was ist richtig? Ich lese einen Abschnitt aus dem Epheser 5: Predigttext: Epheser 5, 6-11 Doch wie kann so ein Leben konkret aussehen? Die katholische Ordensschwester Megan Rice hat ihren 84. Geburtstag in einem amerikanischen Gefängnis verbracht. In einer Halle, in der 111 Frauen eingepfercht sind. Sie hat es gewagt, in eine Hochsicherheitsanlage einzudringen, in der hochangereichertes Uran zur Herstellung von 2 Atomwaffen gelagert wird. Eine der bestgesicherten Atomanlagen der Vereinigten Staaten. Das sogenannte Fort Nox der Atomwaffenindustrie. Eine fromme katholische Ordensschwester mit 84 Jahren dringt gemeinsam mit zwei ebenfalls betagten Komplizen ins Heiligtum der US-Atomindustrie ein und läuft dort herum, sprüht Bibelverse an die Gebäude: Schwerter zu Pflugscharen. „Bewaffnet“ waren die drei mit Taschenlampen und einem Bolzenschneider, also einer scharfen Zange. Eine Blamage für die Atomwaffen-Industrie. Megan Rice bereut nichts. Außer vielleicht, dass sie diesen Schritt nicht siebzig Jahre früher getan hat. Nun ist sie vom Gericht zur Zahlung von 53 000 Dollar und zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Seit 66 Jahren lebt sie als Ordensschwester. Sie gehört zum Orden „Society of the holy Christ Jesus“. Und sie hat über vierzig Jahre ihres Lebens Kinder in den ärmsten Ländern Afrikas unterrichtet. Aufgrund einer Malariainfektion konnte sie diesen Dienst nicht mehr tun. Vor dem Gerichtsurteil betonte Megan Rice, es wäre ihr eine Ehre, den Rest ihres Lebens hinter Gittern zu verbringen. Ein freies, ein christliches Gewissen. Welch ein Reichtum. Der Glaube kann Mauern überspringen und die Nachfolge Jesu Elektrozäune und Stacheldraht zerschneiden. Mit freiem Mut und scharfer Zange. Schwester Megan Rice ist ein Vorbild. Ich weiß, dass das heikel ist zu sagen. Sie hat gegen geltendes Recht 3 verstoßen. Sie hat keine Bücher geschrieben. Sie wurde nicht berühmt durch ihre Barmherzigkeit. Und doch ist sie mir ein Vorbild, weil sie falsche Gewissheiten in Frage stellt. Weil sie sich nicht einlullen und nicht einschüchtern lässt. Nachdenken, falsche Gewissheiten in Frage stellen, das ist ja eigentlich etwas, was sich durch die Bibel hindurchzieht. Während die Gestirne den Babyloniern als Gottheiten galten, spricht der biblische Schöpfungsbericht von Lichtern, die an der Himmelsfeste aufgehängt sind. Sie dürfen untersucht und erforscht werden. Sie haben keine Macht über uns. Ein aufklärerischer Gedanke in der damaligen Situation, als die israelitische Führungsschicht nach Babylon deportiert worden war. Die Propheten im Alten Testament, Amos, Elia, Jeremia, stellten die sozialen Verhältnisse im Land radikal in Frage und riefen zum Umdenken auf. Sie haben Herrscher und Führungsschichten schonungslos mit den Missständen konfrontiert, die niemand bereit war zu hinterfragen. Und natürlich Jesus, der einem unreflektierten Folgen religiöser Überzeugungen das eigene Denken und das eigene Gewissen entgegensetzt. Ganz deutlich mit Sätzen wie: der Sabbat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Sabbats willen. Er hätte auch sagen können: Denkt selber nach, was am Sabbat oder am Sonntag gut ist und was schadet. Und damit wertet Jesus den Sabbat nicht ab. Im Gegenteil, er gibt ihm 4 ein viel größeres Gewicht. Er sagt nicht: Am Sabbat ist alles egal. Sondern: denkt nach! Prüft, deckt auf! Macht es euch nicht zu einfach. Denken, hinterfragen und in Frage stellen. Das gehört zum christlichen Glauben dazu. Umso erstaunlicher ist es, dass dem Glauben häufig die Gegenteilige Haltung unterstellt wird: nicht fragen, nicht nachdenken, einfach glauben. Als besonders fromm gilt, wer auf eigenes Denken verzichtet, oder sich gar dem Denken entgegenstellt. In meiner Jugend habe ich das noch von manchen gehört: Theologie zu studieren, das ist gefährlich für den Glauben. Das bringt dich vom Glauben ab. Es gab eine große Angst, dass einem das Glaubensgebäude wie ein Kartenhaus zusammenfällt, wenn man anfängt, wirklich über den Glauben und die Bibel nachzudenken. Wie oft habe ich das schon gehört: Ja, wenn man die Bibel an einer Stelle nicht wörtlich nimmt, dann stellt man doch die ganze Wahrheit der Bibel in Frage! Dann kann man ja alles anzweifeln. Also: besser nicht fragen, besser nicht nachdenken. Nachdenken, fragen, ja, mein Glaube hat sich dadurch tatsächlich verändert. Ich sehe heute manche Dinge anders als noch mit 16 Jahren. Aber das hat meinen Glauben am Leben erhalten. Alles was lebt, verändert sich. Nur was versteinert bleibt immer gleich. 5 Seine Sprengkraft entfaltet der christliche Glaube da, wo Menschen die Bibel ernst nehmen, nicht da, wo man versucht, sie wörtlich zu nehmen. Darin sind mir Menschen wie Megan Rice ein Vorbild: Eine 84 Jährige, die in ein Atomwaffenlager mit einer scharfen Zange eindringt. Das steht so nicht in der Bibel. Die Bibel weiß nichts von Atomwaffen. Aber könnte das nicht inspiriert sein vom Geist der Propheten? Ist es nicht eine christliche Zeichenhandlung? Ist das nicht biblisch im eigentlichen Sinne? Die Bibel weiß nichts von Globalisierung. Ja, es ist sogar so, dass Sklaven ganz selbstverständlich zum damaligen Weltbild gehörten. Und trotzdem wehren wir uns gegen die moderne Sklavenhaltung in den Textilfabriken Bangladeschs. Aus gutem, aus biblischem Grund! Klar könnte man sagen: steht doch nix drüber in der Bibel. Was geht mich das an. Aber Licht ins dunkel bringen, was könnte das in diesem Falle heißen? Darüber nachzudenken, was könnte das für Konsequenzen haben? Auch in einer Gemeinde: gibt es da denn Themen wo wir sagen: da gibt es etwas, wo wir gemeinsam Licht reinbringen können zu den Leuten? Ich habe es in meiner eigenen Biographie als große Befreiung erlebt, dass mein Glaube mir keine Denkverbote auferlegt. Gerade was die Bibel angeht! Und ich erlebe es heute als große Ermutigung, wenn Menschen wie Megan Rice aus ihrem christlichen 6 Glauben heraus den Mut haben, Missstände aufzudecken und den leeren Worten zu misstrauen. Selber denken, Licht ins dunkel bringen. In vielen Ländern ist das nicht erwünscht und gefährlich. Es ist eine große Freiheit dass uns das möglich ist und es ist die Schönheit unseres christlichen Glaubens, die uns da begegnet, wo das geschieht. Klar, die anderen Lösungen sind da vielleicht einfacher: entweder zu sagen: ja ich glaub schon an Gott, aber mit dem, wie ich mich verhalte hat das doch nichts zu tun. Oder aber: einfach alles wörtlich nehmen und dann das machen, was in der Bibel gesagt wird. Das sind beides ganz bequeme Lösungen. Da muss man nämlich nicht selber denken. Aber jetzt mal ehrlich: hat nicht Megan Rice mit 84 Jahren mehr Mumm als ganz viele die sagen: ja, da kann man halt nix machen? Wenn man mich fragen würde: Wenn mein Leben mit 84 Jahren auch noch so spannend sein kann, dann möchte ich diesen Glauben haben, der mich anstiftet aufzudecken, Licht ins dunkel zu bringen. Und der mir die Freiheit gibt, selber zu denken. So wie Schwester Megan Rice, mit freiem Mut und scharfer Zange. Amen. 7
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