Tor zum Herzen

Tor zum Herzen
Der Hinterling
W
enn ich heute an meine frühe Kindheit denke,
kommen mir sofort diese weißen Fliesen in den
Sinn. Die blitzblanke Sauberkeit, der sterile Ge-
ruch. Und lauter alte Menschen um mich herum – jedenfalls sind sie mir damals alle so vorgekommen. Ich lag
zwar in der Kinderabteilung, und das oft, doch an andere
Kinder kann ich mich nicht erinnern.
Das Krankenhaus – das war die eine Seite. Als ständig
kränkelndes Kind war es Teil meiner Lebenswelt. Die andere Seite war mein Zuhause, eine kleine Landwirtschaft
in der Weststeiermark, mit wunderbaren Möglichkeiten
für einen kleinen Buben. Da waren meine Eltern, meine
Brüder, unsere Tiere – eine Realität, der ich regelmäßig
entrissen wurde, wenn mich das nächste Kinderleiden
packte.
Es ist bekannt, dass Ungeborene im Bauch ihrer Mutter
bereits sehr vieles wahrnehmen und auch empfinden.
Wie mag es da einem neun Monate alten Säugling gehen, wenn er mit Verdacht auf Blinddarmdurchbruch
zum Arzt gebracht wird? Diesem Arzt, Dr. Kleinsasser,
verdanke ich wohl mein Leben, denn er schickte uns
damals umgehend ins Landeskrankenhaus nach Graz.
Meine Mutter möge dort unbedingt auf seinem Verdacht
bestehen, denn für mein zartes Alter war meine Erkrankung ziemlich ungewöhnlich.
Unser Nachbar bot sich an, uns mit dem Motorrad in die
Stadt zu fahren. Meine Mutter packte mich vor sich auf
den Sozius, und so fuhren wir die knapp dreißig Kilo-
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meter bis nach Graz, im Winter. Tatsächlich konnten die
Ärzte dort nicht glauben, dass ein so kleines Kind einen
Blinddarmdurchbruch haben soll. Meine Mutter beharrte jedoch auf der Diagnose unseres Hausarztes. Und da
meinte der Chefarzt – so wurde mir später von Mama
berichtet: „Na gut, dann kann halt nur noch ein Wunder
passieren, dass der Bub durchkommt.“ Es muss schwer
sein, als Mutter mit so einer Aussage zurechtzukommen.
Damals musste ich also das erste Mal weg von zu Hause,
hinein in diese kleine, weiße, desinfizierte Welt. Und diese Welt sollte in meinen ersten Lebensjahren regelmäßig
die meine werden. Auch als ich eine Gehirnhautentzündung hatte. Meine Mutter hat mir später erzählt, was der
Doktor damals zu ihr sagte:
„Na, entweder stirbt er, wird ein Dodl oder bleibt normal.“ Dieses „Nicht wirklich zu Hause sein können“ hat
mich wohl sehr geprägt. Dieses „Daheim sein wollen,
aber nicht dürfen“ – denn so hab ich es als Kind natürlich
gesehen. Jedes Mal, wenn ich aus dem Krankenhaus kam,
sah ich, was zu Hause alles los war, was ich versäumt
hatte. Ich kehrte endlich zurück ins Leben, doch schon
bald sollte ich wieder herausgerissen werden aus meiner
heilen und zurückkehren in diese weiße, kalte Welt, in
der es zwar immer Eis oder Pudding zum Nachtisch
gab, in der ich mich aber trotzdem nicht wohlfühlte. An
den Krankenhauspudding darf ich heute gar nicht mehr
denken, vor dem graust es mich immer noch. Nichts war
schmutzig im Spital, alles war blitzblank. Ich musste
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Hausschuhe tragen – ganz im Gegensatz zur Freiheit auf
unserem Hof, wo wir immer bloßfüßig herumliefen in
unseren Lederhosen, raus zu den Tieren auf der Weide
und zu den Rehen im Wald. Von all dem war ich wie
abgeschnitten. Alles, was Freude machte, war zu Ende.
An einen Tag erinnere ich mich besonders genau: Mein
Vater hatte mich wieder mal ins Krankenhaus gebracht,
und ich weinte bitterlich. Durch die Glasscheibe des
Krankenzimmers schrie ich ihn an, dass ich ihn nicht
mehr lieb haben würde, wenn er mich wieder hier ließe.
Ich konnte nicht begreifen, dass er mich dem aussetzte
– und er hätte bestimmt nichts lieber getan, als mich
gleich wieder mit nach Hause zu nehmen.
Es war auch nicht verwunderlich, dass ich keine Freunde
hatte, obwohl es im Dorf genug Kinder gab. Mit mir war
nichts zu erleben, ich war ständig krank und verschwand
außerdem immer wieder. Zudem war ich angeblich ein
recht zwideres, schlimmes Kind – was angesichts meiner
ständigen Zerrissenheit nicht verwundern mochte.
Als ich dann schon etwas älter war, hab ich immer wieder darüber nachgedacht, was das Ganze denn bedeuten
sollte. Gab es einen tieferen Sinn in meiner Krankheitsgeschichte? Hatte ich vielleicht gar kein wirkliches Recht
darauf, zu leben? Solche Fragen beschäftigten mich.
Und irgendwann muss ich angefangen haben, meiner
Umwelt beweisen zu wollen, dass ich dieses Recht sehr
wohl hatte. Das ist wohl auch ein Urgrund dafür, dass
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ich Schauspieler geworden bin. Und noch etwas ist mir
geblieben: Bis zum heutigen Tag ist mein Freundeskreis
ein recht kleiner.
Eigentlich sollten wir fünf Kinder sein. Zwei meiner Geschwister, Maria und Franz, starben im Alter von einem
Jahr. An den Franzi hab ich kaum Erinnerungen, da
war ich noch zu klein. Aber Maria hab ich schon sehr
bewusst wahrgenommen. Immer wieder hab ich sie im
Arm gehalten, und ihr Lächeln kann ich bis heute nicht
vergessen. Ich war damals etwa acht, neun Jahre alt und
hatte längst realisiert, dass ich eine kleine Schwester
hatte. Ich weiß noch gut, wie ich eines Tages von der
Schule nach Hause kam und Maria nicht da war. Sie war
im Spital, und ich ahnte, dass es etwas Schlimmes sein
musste. Ich schlief schlecht in dieser Nacht. In der Früh
kam dann der Wirt, der Einzige in der Gegend, der ein
Telefon hatte. Das Krankenhaus hatte angerufen und die
schlimme Botschaft überbracht.
Maria war ein Geschenk für uns alle gewesen, nach drei
Buben. Und nun war sie weg. Meine Eltern taten mir
fürchterlich leid, sie nahmen es sich sehr zu Herzen. Es
hat lange gedauert, bis es ihnen gelang, wieder neuen
Mut zu fassen, und ich werde nie vergessen, wie ich sie
das erste Mal wieder lachen hörte. Heute denke ich mir,
dass der Mensch wohl etwas in sich haben muss, das ihn
im letzten Moment vor dem Abgrund rettet. Etwas, das
eine neue Basis dafür schafft, mit dem Leben weitermachen zu wollen.
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Ich habe mich im Religionsunterricht in der Volksschule
oft gefragt, warum der liebe Gott mit dem weißen Bart,
der von seiner Wolke aus auf uns herunterschaut und
angeblich so gütig ist, so etwas macht: ein Geschenk
bringen wie Maria, allen eine riesige Freude damit machen und es dann wieder fortnehmen. Und alle sind so
unsagbar traurig, dass es einfach nicht zu verstehen ist,
welchen Sinn das haben soll. Auch heute verstehe ich
es nicht.
Heute kenne ich nur die Lehre der römisch-katholischen
Kirche die dahinter steht und kann es von einer gewissen
Distanz aus betrachten. Die Erklärung, die ich für mich
gefunden habe, liegt nicht in Religionen, denn ich persönlich finde dort keinen Rat. Es ist einfach der Glaube
an die Natur, die unheimlich verschwenderisch mit dem
Leben umgeht. Die jeden Frühling tausende Schattierungen von Grün hervorbringt, nur um im Herbst die ganze
Pracht welk werden zu lassen. Es ist weder Zufall noch
Bestimmung. Solche Dinge passieren einfach. Ich glaube
nicht an den Gott, den sie mir in der Schule beigebracht
haben. Ich glaube vielmehr an den Menschen und alles,
was ihn umgibt. Das alles ist so fantastisch, das kann
sich niemand einfallen haben lassen.
Ich glaube, dass die Kirche ein gewaltiges Problem hat,
uns die Sinnhaftigkeit der vielen Grauslichkeiten auf
dieser Welt zu erklären. Das ist wohl gar nicht so einfach. Was hätte der Pfarrer meinen Eltern damals schon
erklären sollen, als ihre einzige Tochter starb?
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Ich hatte eine Angewohnheit, die meine Eltern regelmäßig zur Verzweiflung trieb. Wenn es wieder einmal
Ohrfeigen setzte, begann ich laut zu schreien, bis ich
blau anlief und mein Atem aussetzte. Da war man dann
stets sehr besorgt um den armen Gustl. Schnell fiel mir
jedoch der nächste Blödsinn ein, und so kehrten auch
jedes Mal die Ohrfeigen wieder. Eines Tages erwischte
mich mein Vater mit zwei Drähten in der Hand, von
denen einer bereits in der Starkstromdose steckte. Den
zweiten wollte ich gerade dazustecken, als er um die Ecke
kam. Vor lauter Schreck kam meinem Vater wieder mal
die Hand aus, aber ich wurde zumindest nicht gegrillt.
Wir bekamen auch richtig Schläge. Ich kann dazu heute
nur sagen, dass ich meine Eltern im Nachhinein verstehen kann, auch wenn ich jede Art von Gewalt zutiefst
ablehne. Ich habe sie in der Tat einiges anschauen lassen, es war bestimmt nicht einfach mit mir. Und die
Prügel haben sie im Endeffekt wohl selbst am meisten
geschmerzt. Das soll keine Entschuldigung für ihr Verhalten sein, aber der Versuch einer Erklärung. Auch habe
ich Ihnen vergeben. Damit habe ich dieses Kapitel für
mich auch schon lange abgeschlossen.
Meine Mutter erzählt mir heute noch von meinen kindlichen Untaten. Ich war ein guter Anstifter, hatte zwar
keine wirklichen Freunde, aber doch ein paar Spezln,
die sich gut anstacheln ließen. Einmal starteten wir
heimlich das Motorrad von unserem Nachbarn. Das teure
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Gefährt schrammte fahrerlos die Hausmauer entlang, bis
es schließlich umfiel.
Wir zündelten auch gerne. Schnell waren die Streichhölzer zur Hand, wenn wir wissen wollten, ob die eine
oder andere Hausecke wohl auch anbrennen würde. Mein
Onkel hatte solche Heuwender, lange Stangen, auf denen
das gemähte Gras trocknet. Diese Stangen haben wir
samt dem Heu zusammengetragen, eine Art Haus gebaut
und das Ganze dann in Flammen aufgehen lassen. Die
Watschen kamen diesmal vom Onkel.
Ein anderes Mal spielte ich jemandem einen üblen
Streich, den ich eigentlich sehr mochte. Der alte Dortzapfl-Bauer war ein sehr netter Mann, der in der Nähe
unseres Hofes einen großen Acker mit Kürbissen hatte.
Im Herbst, wenn die Früchte abgeerntet waren, trug er
das welke Kraut mit seiner Kraxn aus Haselnussruten
zusammen, um es anzuzünden. Die Kraxn war nagelneu,
sie blinkte richtig herüber zu mir auf den Hügel, von
dem aus ich ihm zusah. Irgendwann, als das Feuer schon
etwas heruntergebrannt war, drehte sich der Mann um
und ging seiner Wege.
Die Kraxn ließ er neben dem glühenden Haufen stehen.
Nun, ich vergaß in dem Moment wohl, dass der Dortzapfl-Bauer eigentlich kein übler Bursche war, als ich
seinen Tragebehelf auf die Glut stellte. Jedenfalls war, als
er zurückkehrte, nur noch das verkohlte Gerippe übrig.
Die Folge war, wie üblich, schmerzhaft für mich.
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