VDI-Pressegespräch: Durchgängiges Engineering ermöglicht die notwendigen Freiräume für kreative Prozesse Dr. Ulrich Löwen Fachausschuss „Durchgängiges Engineering“ der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA); Senior Principal Key Expert Engineer bei Siemens Corporate Technology Statement zur VDI-Tagung Industrie 4.0 28. Januar 2015 Maritim Hotel Düsseldorf Es gilt das gesprochene Wort. 1 Sehr geehrte Damen und Herren, • Unsere Stärke ist die profunde Kenntnis der Wertschöpfungsprozesse! • Digitalisierung bietet die Chance, diese Stärke auszubauen! • Durchgängiges Engineering ist ein wichtiger Hebel, das Potenzial aus der Kenntnis der Prozesse und der Digitalisierung zu heben! Besinnen auf unsere Stärken Alle reden über die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf Unternehmen und Mitarbeiter. Und das ist auch gut so! Es unabdingbar, dass wir aus Deutschland heraus in Leitindustrien wie der produzierenden Industrie die Digitalisierung gestalten. Damit stellt sich die Frage, welche Hebel wir aus Deutschland heraus haben – gerade gegenüber den scheinbar erdrückenden Technologien und Aktivitäten von außerhalb, insbesondere aus den USA. Es ist wichtig, dass wir uns auf unsere Stärken besinnen und mit Hilfe der Möglichkeiten der Digitalisierung genau diese Stärken nachhaltig stärken. Mit den Fragestellungen, wie diese Stärkung und Gestaltung gelingen kann, beschäftigen sich, aus unterschiedlichen Blickwinkeln, verschiedene der 80 Fachausschüsse der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik GMA. Der Fachausschuss „Durchgängiges Engineering“ hat dazu einen Statusreport 2 erstellt: „Durchgängiges Engineering in Industrie 4.0Wertschöpfungsketten“. Ich möchte ihnen den Kontext und die dahinter liegenden Ziele und Überlegungen erläutern, um anhand dieser Technologie zu verdeutlichen, wie in Deutschland ein erfolgreicher Weg mit den Digitalen Technologien beschritten werden kann. Engineering Unter Engineering verstehen wir ganz allgemein die technisch geprägten Tätigkeiten von Ingenieuren und adressieren hier deshalb mit dem Thema „Ingenieurskunst“ eine der bedeutendsten Stärken Deutschlands. Wenn wir uns die Anwendungsbereiche dieser Ingenieurskunst anschauen, in denen unsere Ingenieure ihre Stärke nachhaltig unter Beweis gestellt haben und immer noch tun, dann sind diese geprägt durch die reale, physische Welt: Wir kennen einerseits die Maschinen, die Mechanik, die Elektrotechnik, maschinennahe Programmierung. Andererseits kennen wir die Prozesse: die Fertigungsprozesse und Fertigungsverfahren – oder allgemeiner formuliert – die Wertschöpfungsprozesse im Umfeld der Produktion. Genau diese fundierten Kenntnisse sind unsere „Assets“, mit denen wir wuchern müssen. Und wir müssen die Digitalisierung als Chance begreifen, in Kombination mit diesen Assets, unsere Stärken noch weiter zu stärken! 3 Digitalisierung und Engineering Die Digitalisierung ist ein Hebel, mit dem Wertschöpfungsprozesse anders gestaltet werden können. Das ist unser Verständnis von Industrie 4.0: Industrie 4.0 ist eine neue Stufe der Organisation und Steuerung der gesamten Wertschöpfungskette über den gesamten Lebenszyklus von Produkten. Diese neue Stufe erreichen wir mit den Mitteln der Digitalisierung. Was bedeutet das konkret für den Wertschöpfungsprozess „Engineering“? Engineering wird schon lange nicht mehr am Zeichenbrett durchgeführt, sondern man nutzt stattdessen sogenannte Engineering-Werkzeuge. Aufgrund der stetig steigenden Komplexität der Aufgabenstellungen ist eine Welt ohne Engineering-Werkzeuge schon seit Längerem überhaupt nicht mehr denkbar. Engineering-Werkzeuge sind Software-Tools, die Ingenieure nutzen und mit deren Hilfe Ideen und Gedanken zu Innovationen werden. Typische Beispiele sind CAx-Werkzeuge, Programmier-Werkzeuge, Simulations- und Visualisierungs-Werkzeuge, aber auch Kalkulations- und Optimierungsprogramme. In der Regel sind das viele verschiedene Werkzeuge, die ein Ingenieur nutzt und jedes Werkzeug ist für genau einen Zweck bestimmt. Diese Vielzahl an Werkzeugen hat zur Folge, dass Ergebnisse, die Ingenieure mithilfe eines Werkzeugs erzeugen, anderen Werkzeugen heute noch nicht direkt zur Verfügung gestellt werden können. Inkompatible 4 Datensätze müssen nicht nur in stupider und repetitiver Tätigkeit von Hand von einem Werkzeug in ein anderes übertragen werden – die Komplexität der Datensätze ist auch eine Quelle für Fehler. Sie können sich das anhand einer einfachen Analogie klarmachen: Kopieren Sie einmal eine PowerPoint-Präsentation von Siemens in die PowerPoint-Formatvorlage der GMA. Sie werden lange Herum-formatieren müssen, bis der Foliensatz halbwegs akzeptabel aussieht. Nun hinkt dieses Beispiel insofern, als Sie die Formatierung einer Präsentation durchführen können, ohne den Inhalt der Präsentation verstanden zu haben. Beim Übertragen von Engineering-Daten ist ein inhaltliches Verständnis allerdings unabdingbar, obwohl die Tätigkeit an sich nicht wertschöpfend ist! Vielleicht antworten Sie: Das mache ich bei PowerPoint anders, ich kopiere einfach den Inhalt der Folien im jpgFormat. Übertragen auf das Beispiel der EngineeringWerkzeuge wäre das aber nichts anderes, als wenn Sie Pläne, die ein Engineering-Werkzeug erzeugt, im pdfFormat zur Verfügung stellen. Die logischen Informationen sind dann für ein Zielwerkzeug einfach nicht mehr zugänglich. Ein zweites, nicht unerhebliches Problem taucht auf, wenn Sie sich die Verfolgung eines Produktes über seinen Lebensweg vorstellen und dieses Produkt komplex ist – wie ein Auto oder eine Werkzeugmaschine. Niemand wird sich die Zeit nehmen, Änderungen, die Sie in der physischen Welt vornehmen, mit viel Aufwand über alle 5 Werkzeuge zurück zu dokumentieren. So kann es sein, dass Produkte in der realen Welt optimiert werden, die Konstruktionsabteilung davon aber nie etwas erfährt. Und auch Instandhalter stehen im Verlaufe des Lebenszyklus des Produkts zunehmend vor einem Problem, wenn die „as-is“ Information nicht mit der „as-maintained“ Information übereinstimmt, also Änderungen in der physischen Welt nicht in die Dokumentation aufgenommen wurden. Ingenieure müssen in ihrem Alltag zahlreiche stupide und repetitive Routineaufgaben durchführen, die außerdem noch – bedingt durch die zunehmende Komplexität der Daten – fehleranfällig sind. Durchgängiges Engineering Genau hier setzt die „Durchgängigkeit“ an. Durchgängiges Engineering bedeutet, dass Informationen zwischen den Engineering-Werkzeugen automatisiert und verlustfrei ausgetauscht werden und so der Ingenieur von stupiden, fehleranfälligen Routineaufgaben befreit wird. Doch jetzt kommt der springende Punkt: Wie können wir den gewonnenen Freiraum nutzen? Eine Möglichkeit wäre, aufgrund der geringeren Engineering-Aufwände, das Produkt oder die Dienstleistung, die entwickelt werden, billiger zu verkaufen. Aber das ist sicherlich nicht die intelligenteste Möglichkeit. Nachhaltiger wäre es, den gewonnenen Freiraum zu nutzen, um zusätzlichen Wert für den Kunden zu generieren. Die an der Wertschöpfungskette des Engineering Beteiligten könnten 6 den Freiraum doch nutzen, sich mit mehr Aufwand und Kreativität in die frühen Phasen der Produktentwicklung oder Projektabwicklung einzubringen. Auf diese Weise könnten neue Features, neue Produkte, neue Dienstleistungen zusätzlichen und vor allem wahrgenommenen Kundenutzen generieren und dadurch eine neuartige Differenzierung vom Wettbewerb erzeugen. Ebenso könnten neue Geschäftsmodelle, die mit der Digitalen Transformation einhergehen, berücksichtigt werden. Dadurch wird die „Top-Line“ höher geschoben. Fazit 1: Durchgängiges Engineering lässt Freiräume entstehen, die zur Schaffung von neuen Alleinstellungsmerkmalen genutzt werden können! Aber die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende! Durchgängiges Engineering ermöglicht zusätzlich auch die Simulation von Produkten, Produktionssystemen und Wertschöpfungsnetzen. Dies kann der Ingenieur nutzen, um seine Entwurfsentscheidungen abzusichern und damit frühzeitig feststellen, ob ein Weg zum Ziel führt. Somit kann durchgängiges Engineering auch zur Risikoreduktion genutzt werden, so dass dadurch nicht nur die „Top-Line“ erhöht, sondern auch die „Bottom-Line“ weiter reduziert werden kann. Und noch eine Bemerkung am Rande: Sie wissen doch selbst, wenn Sie einmal etwas in der realen Welt gebaut haben, das nicht so ganz ihren Ansprüchen gerecht wird, dann „basteln“ und „flicken“ sie so lange, bis sie halbwegs damit leben können. Sie würden doch nicht das bereits 7 aufwändig Realisierte beiseiteschieben und neu anfangen? Aber in der digitalen Welt ist das anders. Da sind sie viel freier im Handeln, da ändern sie mal eben eine Konstruktion. Damit will ich verdeutlichen, dass bei konsequenter Nutzung der Digitalisierung die Ergebnisse einfach robuster sind. Fazit 2: Durchgängiges Engineering wird durch die Digitalisierung ermöglicht und schafft Freiräume, die zur Reduktion von Fehlentwicklungen genutzt werden können. Durchgängiges Engineering stärkt also unsere Stärken! Durchgängiges Engineering und Werkschöpfungsnetze Wenn allen durchgängiges Engineering zur Verfügung steht – wo bleibt dann die Differenzierung und Alleinstellung am Markt? Diese Frage ist zunächst berechtigt, denn das Potenzial des Durchgängigen Engineering steht allen offen. Doch der nutzenstiftende Punkt ist die richtige Anwendung der zur Verfügung stehenden Mittel. Genau hier kommt eine weitere Stärke Deutschlands ins Spiel: Durchgängiges Engineering an sich ist kein neues technologisches oder methodisches Thema. Seit mehr als 10 Jahren setzt man sich weltweit intensiv mit den Technologien und Methoden für durchgängiges Engineering auseinander. In dieser Zeit haben wir in Deutschland eins gelernt: Wenn wir eine echte Durchgängigkeit im Engineering erreichen wollen, müssen 8 wir ein sehr großes Rad bewegen, da gibt es keinen „onesize-fits-all“ Ansatz. Das heißt, wir müssen die zugrunde liegenden Prozesse zuerst verstehen und dann durchgängiges Engineering spezifisch an diesen ausrichten. Was heißt das? Die Potenziale von durchgängigem Engineering kann nur derjenige heben, der die geschäftstreibenden Wertschöpfungsprozesse richtig versteht. Genau dies wird in dem VDI-Statusreport „Durchgängiges Engineering in Industrie 4.0-Wertschöpfungsketten“ erläutert. „Durchgängiges Engineering“ wird für verschiedene Geschäftsarten ausgeprägt, beispielsweise für das Verkaufen von Massenprodukten wie Unterlegscheiben oder Ammoniak, oder für das Herstellen von Individualprodukten nach Kundenanforderungen wie Schiffe, Großantriebe oder Spezialmaschinen, oder für Lohnfertiger wie bei der Elektronikbestückung oder Blechfertigung, oder für Hersteller individualisierbarer Massenprodukte wie Autos oder Kleidungsstücke. Zusätzlich können auf Basis eines durchgängigen Engineerings auch noch Wertschöpfungsprozesse außerhalb des Engineering – wie die Produktion oder der Service – optimiert werden. Und wie ich am Anfang ausgeführt habe: Gerade wir in Deutschland verstehen diese geschäftstreibenden Wertschöpfungsprozesse! 9 Fazit Mit durchgängigem Engineering können wir eine Effizienzsteigerung erreichen. Durch diese werden Freiräume geschaffen, um neue Ideen zu generieren. Diese Ideen sind notwendig für neue Differenzierung vom Wettbewerb. Das Know-how um die unterschiedlichen Engineeringprozesse für die verschiedenen Produktionsstrategieen oder Produktionsorganisationen, wie beispielsweise Auftragsfertigung, individualisierte Massenfertigung, Standard-Produkte oder ChargenHerstellung, befähigt uns mit den Möglichkeiten der Digitalisierung, ganz neue Wege zu gehen. Diese sind so individuell wie die Produkte, die hergestellt werden. Wegen des dazu notwendigen tiefen Prozessverständnisses ist dieser Weg nicht einfach kopierbar und bietet uns daher die Möglichkeit zu nachhaltigem Erfolg! 10
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