Märtyrer und Magnaten

Reisen
R1
SAMSTAG/SONNTAG, 16./17. JÄNNER 2016
Aserbeidschan. Die Hauptstadt der autoritär regierten Kaukasusrepublik ist eine bezaubernde Mischung von
europäischen und nahöstlichen Einflüssen. In Baku faszinieren die mittelalterliche Altstadt, zahlreiche Ölmagnaten-Paläste
aus dem 19. Jahrhundert, blühende Gärten – und berührende Denkmäler für die jüngsten Märtyrer des Landes.
Auf dem Mäyrtyrerhügel Shahidlar Khiyabani gedenkt Aserbeidschan seiner Toten der jüngsten Vergangenheit (links). Die Stadt blüht und gedeiht, Pferde sind im Straßenverkehr keine Besonderheit.
VON JENS MALLING
D
as Risiko, sich zu verirren,
lauert an jeder Ecke. In
den engen, labyrinthartigen Gassen der Altstadt Bakus findet man hier eine halb versteckte
geheimnisvolle Moschee, da türmt
sich ein Minarett auf. Die jahrhundertealten Häuser schimmern in
verschiedenen Schattierungen von
Ocker, mit frühen Abendschatten,
die sich über die Fassaden heranschleichen. Raue Backsteinmauern
strahlen noch die Hitze des Tages
ab, während die letzten Sonnenstrahlen die Dächer in warmem
Orange erglühen lassen.
Die Dämmerung ist die beste
Zeit für einen Spaziergang. Dafür
sollte man aber einen guten Stadtplan zur Hand haben. Die gepflasterten Straßen sind dafür bekannt,
unerwartete Wendungen zu nehmen. Die ersten Sterne schimmern
am Himmel über dem Kaspischen
Meer, als plötzlich ein merkwürdiger Schattenriss erscheint. Hoch
und fensterlos ragt der Jungfrauenturm 29 Meter in den Himmel. Er
ist eines der wichtigsten nationalen
Symbole. Der Turm gilt als der Big
Ben von Baku, das Wahrzeichen
der Stadt stammt aus dem zwölften
Jahrhundert. Zusammen mit der
Stadtmauer, die den größten Teil
der Altstadt bis heute umgürtet,
war der Turm ein Teil der Befestigungsanlagen von Baku. Im Lauf
der Geschichte versuchten die Ein-
Märtyrer und Magnaten
wohner der Stadt, sich gegen persische, russische und osmanische
Invasionen mit unterschiedlichem
Erfolg zu verteidigen. Die Altstadt
von Baku ist auch die Kulisse für
Kurban Saids berühmten Roman
„Ali und Nino“. Dieses Nationalepos gibt einen ergreifenden Einblick in die Geschichte der aserbaidschanischen Kultur. Es ist ein faszinierender Bericht über Baku am
Vorabend der Russischen Revolution von 1917.
Muslim liebt Christin
Der Plot: Junger aserbaidschanischer Adeliger und Muslim liebt
eine christliche georgische Prinzessin. Im Lauf des Romans nimmt
der Leser Baku als einen Ort wahr,
an dem Ost und West zusammenstoßen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wird die Stadt als
Schmelztiegel von verschiedensten
Traditionen und Lebensweisen
porträtiert, eine Gesellschaft, die
vor großen Veränderungen steht,
als die Bolschewiki 1920 nach Aserbaidschan kommen, um das Land
zu einer sowjetischen sozialistischen Republik zu machen. Die
Jahrzehnte vor diesem Schicksalsjahr waren die Zeit des ersten Ölbooms Aserbaidschans. Im späten
19. Jahrhundert produzierten die
Felder vor den Toren Bakus mehr
als 50 Prozent des weltweiten Angebots – ausländische Magnaten
strömten in Scharen nach Baku,
um vom Ölgeschäft zu profitieren,
darunter Mitglieder des Rothschild-Clans und die schwedischen
Nobel-Brüder.
Direkt neben dem Jungfrauenturm wird genau diese Stadtgeschichte durch die Residenz von
Ölbaron Isa Bey Hajinski aus dem
Jahr 1912 repräsentiert. Seine überreich verzierte Fassade ist eine
merkwürdige Mischung aus Jugendstil und Neugotik, Horden von
Fabelwesen wirbeln auf fünf Stock-
werken über den Köpfen der Passanten herum. Die Ölbarone versuchten, sich gegenseitig zu übertreffen, indem sie immer verschwenderischere Villen errichteten. Neben der Residenz Hajinski
gibt es heute noch zahlreiche Magnatenvillen und stellen attraktive
Sehenswürdigkeiten dar.
Nationale Traumata
Eine Fahrt mit der Standseilbahn
auf den Hügel von Baku offenbart,
was die aserbaidschanische nationale Psyche in den vergangenen
Jahrzehnten geprägt hat. Shahidlar
Khiyabani, die Märtyrerallee, bietet
einen tollen Blick über die Stadt
DURCH DIE ALTSTADT UND AUF DEN MÄRTYRERHÜGEL
Anreise: Wien–Baku–Wien u. a. mit
Ukraine International Air über Kiew ab
286 € (Flüge 2./9. 4. 2016; flyuia.com)
oder mit Turkish Airlines ab 292 € (Flüge
2./9. 4. 2016; turkishairlines.com).
Schlafen: Fairmont Baku Flame Towers,
futuristisches Fünfsternehotel in einem
der drei futuristischen „Flammen“Skyscraper in Baku. DZ ab 250 €,
fairmont.de/baku
Icheri Sheher Hotel: gepflegtes Altstadthotel, DZ ab 100 €, icheri-sheher. az/de
Trinken: Es gibt viele Teehäuser im
Freien, die Tee und Süßigkeiten
servieren.
Essen: Die aserbaidschanische Küche
ist sehr vielfältig. Im Restaurant Mugam
Club kann man das einheimische Essen
probieren. facebook.com/MughamClub-311430205620759/
Panorama:
Beste Aussichten vom Märtyrerhügel,
auf den eine Standseilbahn führt.
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und das Kaspische Meer, doch die
meisten Menschen kommen hierher, um jener Aserbaidschani zu
gedenken, die ihr Leben in den Ereignissen des Schwarzen Januar
verloren – dem brutalen Vorgehen
der Roten Armee gegen Demonstranten im Jahr 1990 – und der
Opfer des Krieges mit Erzfeind Armenien zwischen 1988 und 1994.
Die Märytrerallee ist Gedenkstätte
und Friedhof, 15.000 Menschen
haben hier ihre letzte Ruhestätte
gefunden. Eine lange Reihe von
Grabsteinen in schwarzem Marmor, mit schönen und unschuldig
aussehenden Gesichtern der Toten
beeindruckt nachhaltig.
Die Linie von Gräbern führt zu
einer großen ewigen Flamme. Dahinter zeigen sich die Konturen
einer Schulklasse, ein wenig unscharf durch die wabernde Wärme
der Flamme, eine Lehrerin gestikuliert und erklärt. Unter der kapellenartigen Struktur, die diesen gelben und orangefarbenen Geist beherbergt, werden die Kinder stiller
und aufmerksam. Wie hypnotisiert
starren sie in das mäandernde
Feuer.
Beim Lesen der Gesichtsausdrücke in diesem jungen Publikum
und mit dem Gefühl der Wärme
von der Flamme auf der Haut,
fängt man langsam an, die Tiefe
dieser nationalen Traumata zu begreifen und dass die bitteren
Feindschaften im Kaukasus keineswegs vergessen sind.
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/ p.P. (auch
[ iinwibisono/iStock, Erich Kocina, Corbis]
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