geist.voll - Erzdiözese Wien

geist.voll
2/2015
ISSN 1815-4859
spirituell | orientierend | praktisch
10 Jahre
ll
geist.vo
Zivilcourage
als moderne Tugend
Herausforderungen heute
Freimut in den Paulusbriefen
Erzdiözese Wien
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Inhalt
„ZIVILCOURAGE“
04 Gerd Meyer
Herausforderung Zivilcourage
09 Norbert Baumert SJ
„Freimütige Rede“ – in den Paulusbriefen
14 Sandra Fiedler
Warum eigentlich immer ich? Zivilcourage, die oft schwer fällt und
doch notwendig ist
18 Weiterführende Hinweise
Spiritualität konkret
19 Franz Troyer
Gott in der Stadt finden
Ignatius verstehen
20 Anton Witwer SJ
Bei achttägigen Exerzitien Ignatius in der Anwendung richtig verstehen –
Teil 2
Gegenargument
22 Ernst Sandriesser
Ist die Bibel schuld an der Umweltzerstörung?
24aufgefunden
Impressum
Titel: „geist.voll spirituell. orientierend. praktisch“; Medieninhaber (Verleger): Erzdiözese Wien,
A-1010 Wien, Wollzeile 2; Herausgeber: Pastoralamt – Erzdiözese Wien, Referat für Spiritualität
Redaktion: Dr. Beate Mayerhofer-Schöpf, P. Anton Aigner SJ, P. Dr. Thomas Neulinger SJ; alle: 1010 Wien,
Stephanspl. 6/1/5/Zi. 554; Tel. (01) 515 52-3309, Fax: -2371; [email protected], Homepage: www.erzdioezese-wien.at/geistvoll
Gestaltung: Peter List; Coverfoto: © robert - Fotolia.com; Druck: Netinsert, 1220 Wien | Erscheint viermal jährlich,
Jahresabo s 12/ Einzelheft s 3; Offenlegung: Die Zeitschrift „geist.voll“ dient sowohl der theologischen und praxisbezogenen Information über die Ignatianischen Exerzitien und über andere Formen der Spiritualität als auch der
Auseinandersetzung damit.
Einzahlungen und Zuwendungen auf das Bankhaus Schelhammer & Schattera: Kto. Nr. 100453, BLZ 19190,
IBAN: AT30 1919 0000 00100453, BIC: BSSWATWW, „Kostenstelle 2091“
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Liebe Leserin, lieber Leser!
Gerade in diesen Tagen, während ich
dieses Editorial schreibe, beginnt in
Darmstadt ein Strafprozess gegen einen
jungen Mann, Sanel M., der sich vor dem
Landgericht wegen Körperverletzung
mit Todesfolge verantworten muss. Er
hatte in den Morgenstunden des 15.
November 2014 vor einem Offenbacher
Restaurant einer 22jährigen Frau einen
heftigen Schlag versetzt, so dass diese
zu Boden stürzte und einige Tage später
auf Grund ihrer schweren Kopfverletzung starb.
Soweit das traurige Faktum. Doch es
gibt eine Vorgeschichte: Die Frau hatte
sich kurz vorher in der Damentoilette
des Lokals schützend vor zwei 14jährige
Mädchen gestellt, die von Sanel und
seinen Freunden bedrängt worden
waren, und konnte die Burschen bewegen, die Toilette zu verlassen. Das dürfte
Sanel so sehr provoziert haben, dass es
später zum tödlichen Schlag gekommen
ist. Am Schicksal der jungen Frau nahmen über Medienberichte Millionen
Menschen Anteil. Viele verehren sie als
Heldin. Bundespräsident Joachim Gauck
lässt prüfen, ob die Studentin posthum
für ihre Zivilcourage geehrt werden soll.
Dass ein junger Mensch auf solche
Weise ums Leben kommt, erschüttert.
Doch in die Trauer mischt sich auch
Hoffnung: Es ist nicht wahr, dass wir
nur von Egoisten umgeben sind, denen das
Wohl und Wehe der
Mitmenschen wurscht
ist. Es gibt auch die
anderen, jene, die nicht
wegschauen, wenn irgendwo jemand
in Not gerät, auch wenn ihnen dieser
„jemand“ völlig unbekannt ist. Wobei
die eingangs erzählte Geschichte nicht
missverstanden werden darf, als wäre
Zivilcourage etwas ganz und gar Außergewöhnliches, wie auch Gerd Meyer in
seinem Artikel bemerkt: „Nicht Heldentaten sind gefragt, sondern die Courage
im Alltäglichen.“
Zivilcourage hat mit Mut zu tun, wie
schon das Wort sagt: Mut, herauszutreten aus der Masse; Mut, Verantwortung
zu übernehmen; Mut, etwas zu riskieren, manchmal sogar das eigene Leben.
Die ersten Christen hatten Zivilcourage,
kein Zweifel; sonst wäre aus ihrem
Glaubenszeugnis nie eine Weltreligion
gewachsen. (Paulus, über den Norbert
Baumert hier schreibt, war einer von
ihnen.) Haben die heutigen Christen
genug Zivilcourage? Diese Frage lässt
sich nicht leicht beantworten. Doch sie
macht nachdenklich.
Ich wünsche Ihnen eine anregende
Lektüre und einen schönen Sommer!
Ihr P. Josef Anton Aigner SJ
Theologischer Berater im Referat
für Spiritualität
Vorschau: Thema der kommenden Ausgabe Erfolg
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Prof. em. Dr. Dr. h. c. Gerd Meyer
war bis zu seiner Emeritierung 2007 Professor für Politikwissenschaften
an der Universität Tübingen.
Herausforderung Zivilcourage
WO UND WANN ZIVILCOURAGE
GEFRAGT IST
Woran denken wir, wenn von Zivilcourage die Rede ist? Wo begegnen uns
Situationen im Alltag der Gesellschaft,
in denen Zivilcourage gefragt ist? Die
meisten denken wohl zunächst an Notund Bedrohungssituationen wie diese:
• In der U-Bahn wird ein Farbiger beschimpft und massiv bedroht.
• Auf dem Schulhof werden jüngere
Schüler von Älteren gestoßen, getreten, weggedrängt.
• Aus einer Wohnung hört man immer
wieder ängstliche Schreie eines Kindes, Gewalt scheint im Spiel.
Doch auch daran dürften viele denken:
offene oder verdeckte Formen von Rassismus und Diskriminierung, Mobbing
und sexuelle Belästigung, provokante
Aktionen von Rechtsextremisten. Zivilcourage ist jedoch nicht nur in diesen
mehr oder weniger gewalthaltigen Situationen gefragt, sondern auch, wenn
es um Regelverletzungen, Fehlverhalten in Institutionen oder Selbstbehauptung gegenüber einer Mehrheit geht
– und man riskiert etwas, wenn man
aktiv eingreift:
• Jemand steckt sich im Rauchverbot
eine Zigarette an, aber niemand sagt
etwas.
• Ein Kollege oder Mitschüler wird schikaniert, gilt als „looser“ oder Außenseiter.
• Jemand wird vom Chef „vor versammelter Mannschaft“ niedergemacht.
• Jemand steht in einer Gruppe mit
seiner Meinung alleine da, niemand
unterstützt ihn.
Im Blick auf diese Alltagssituationen ist
Zivilcourage oder sozialer Mut gefragt:
sich gegen Unrecht wehren und anderen
helfen, gegen den Strom schwimmen,
ein Fehlverhalten offen ansprechen,
„aufrecht gehen“, Verantwortung übernehmen, auch wenn man Nachteile hat.
Als sozialer Mut im Alltag ist Zivilcourage schon in der Familie, im Freundes- und Kollegenkreis gefragt, ebenso
in Schulen, Betrieben und öffentlichen
Verwaltungen, in Kirchen und Vereinen,
in Parteien und Parlamenten. Nicht überall wird von den Mächtigen oder einer
dominanten Mehrheit offener Widerspruch akzeptiert. Viele Konflikte bleiben
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unter der Decke, oder werden nicht fair
und produktiv ausgetragen. Dann ist
oft eine gehörige Portion Zivilcourage
nötig, wenn man kritikwürdige Zustände, regelwidrige oder undemokratische
Verhaltensmuster ändern will.1
ZIVILCOURAGE: WAS HEISST DAS
EIGENTLICH?
Zivilcourage oder gleichbedeutend sozialer Mut ist ein bestimmter Typ sozialen
Handelns, keine dauerhafte Eigenschaft
einer Person.
• Zivilcouragiertes Handeln geschieht
in Situationen, die charakterisiert sind
durch ein Geschehen, das zentrale
Wertüberzeugungen und Normen oder
die Integrität einer Person verletzt. Daraus resultiert ein Konflikt mit anderen
und Handlungsdruck. Es müssen Handlungsspielraum und Einflusschancen
gegeben sein.
• Eine Person (seltener eine Gruppe)
tritt ein für die Wahrung humaner und
demokratischer Werte, für die Integrität
und die legitimen, kollektiven, primär
nicht-materiellen Interessen vor allem
anderer Personen.
Vier zentrale Merkmale unterscheiden
Zivilcourage von Hilfe, Altruismus oder
Solidarität, von Mut oder Tapferkeit
allgemein:
• Es gibt einen latenten oder manifesten
Konflikt zwischen denen, die diese Werte und Normen verletzen und denen,
die sich für ihre Bewahrung einsetzen.
• Es gibt nicht immer leicht bestimmbare
Risiken, das heißt der Erfolg zivilcou-
ragierten Handelns ist meist unsicher,
und der Handelnde ist bereit, Nachteile
in Kauf zu nehmen.
Risiken reichen von körperlichen und
psychischen Schäden über soziale Ausgrenzung bis hin zu Arbeitsplatzverlust.
• Zivilcouragiertes Handeln ist öffentlich,
d.h. es sind mehr als zwei Personen
anwesend.
• Es gibt ein reales oder subjektiv
wahrgenommenes Machtungleichgewicht zuungunsten dessen, der mutig
handeln will, etwa weil er sich in einer
Minderheits-/Mehrheitssituation in
Gruppen oder in einem Verhältnis
der Über-/Unterordnung bzw. einer
Abhängigkeit befindet (die oft mit
Anpassungsdruck verbunden sind).
Und: nicht immer ist eine Täter-OpferSituation gegeben wie in den meisten
gewalthaltigen Situationen.
Zivilcourage ist mehr als individuelle Hilfe: in Zivilcourage ist oft Hilfe enthalten,
aber nicht notwendig umgekehrt. Man
kann helfen mit persönlichen Risiken
(z.B. einen Ertrinkenden retten; bei
einem Unfall helfen). Viele Menschen
und die Medien verstehen das bereits
als Zivilcourage. Doch fehlen hier die
genannten anderen Merkmale. Öffentlich gezeigte Zivilcourage hat daher
stärker als Hilfe oder Tapferkeit oft auch
eine gesellschaftspolitische Dimension, z.B. wenn Bürger offen mit Risiko
gegen Rassismus und Rechtspopulismus
protestieren. Darauf hebt die wörtliche
Eindeutschung von Zivilcourage als
„Bürgermut“ ab. – Gleichbedeutend mit
Zivilcourage spreche ich auch von sozia-
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lem Mut. Er macht stärker den Alltagsbezug deutlich und öffnet den Blick für die
Vielfalt sozialer Kontexte. Zivilcourage
dient also nicht nur der unmittelbaren
Gefahrenabwehr gegenüber Tätern, sondern es geht ebenso sehr um das mutige
Handeln im gewaltfreien Alltag.
ZIVILCOURAGE KONKRET: DREI ARTEN
DES HANDELNS
Wir können drei Arten des Handelns mit
Zivilcourage oder sozialem Mut unterscheiden (denken Sie noch einmal an die
eingangs genannten Situationen!):
Eingreifen zugunsten anderer, meist in
unvorhergesehenen Situationen, in denen man schnell und spontan entscheiden muss, was man tut.
Sich-Einsetzen – meist ohne akuten
Handlungsdruck – für allgemeine Werte,
für das Recht oder legitime kollektive
Anliegen (nur sekundär des Handelnden
selbst), vor allem in organisierten Kontexten und Institutionen, wie z.B. in der
Schule oder am Arbeitsplatz.
Sich-Wehren z.B. gegen körperliche Angriffe, Mobbing oder Ungerechtigkeit; zu
sich und seinen Überzeugungen stehen,
standhalten, sich behaupten; widerstehen, nein sagen, „aus guten Gründen“
den Gehorsam verweigern.
Zivilcourage oder sozialer Mut wird hier
als wertgebundenes Konzept verstanden:
als Einsatz für humane und demokratische Werte, für moralisch und rechtlich
legitime kollektive Anliegen. Wann
eine Schwelle, die persönliche Toleranzgrenze eines Menschen, einer Gruppe
oder Gesellschaft überschritten wird,
wenn bestimmte Werte oder Normen
verletzt werden, kann auch in Demokratien individuell, gruppenspezifisch
und historisch-kulturell unterschiedlich
sein. Zivilcourage ist in der Regel legal
und gewaltfrei und meint auch nicht
soldatische Tapferkeit. Ausnahmen sind
ziviler Ungehorsam und öffentliches
Whistleblowing.
WELCHE ROLLE SPIELEN PERSÖNLICHE
FÄHIGKEITEN UND EIGENSCHAFTEN?
Es gibt ein ganzes Bündel von personalen Faktoren, die besonders förderlich
für zivilcouragiertes Handeln sind:
Motivation und Wertorientierungen,
Kompetenzen und Ressourcen sowie
biografische Erfahrungen. Hier die
wichtigsten:
• aufmerksam sein und sich mitverantwortlich fühlen für das, was in der
eigenen Umgebung geschieht, und
die grundsätzliche Bereitschaft für das
Wohl anderer einzutreten
• verinnerlichte, das eigene Handeln
bestimmende humane und demokratische Wertüberzeugungen: Sensibilität
für Recht und Gerechtigkeit, für die
Verletzung der eigenen Integrität, persönlicher und sozialethischer Toleranzgrenzen, emotionale Empörung
• Selbstvertrauen/Selbstbewusstsein/
Ich-Stärke/Autonomie, Entscheidungssicherheit
• das Gefühl persönlicher Kompetenz; wissen, was man tun kann: die
Überzeugung, allein oder mit anderen,
etwas bewirken zu können (Selbst-
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wirksamkeit)
• Mitgefühl (Empathie) und die Fähigkeit, die Welt aus der Sicht des anderen zu sehen
• die eigene Angst annehmen und
überwinden
• Risiken richtig einschätzen und die
Bereitschaft, Nachteile oder Misserfolg
hinzunehmen
• bereit und fähig sein, einen Konflikt
auszutragen, zu deeskalieren und
friedlich zu regeln
• für Unterstützung sorgen, zur Solidarität ermutigen
• in organisierten Kontexten: über
Sachwissen verfügen, gut argumentieren können, überzeugend in Medien
auftreten; Rechte, Pflichten und
Verfahren kennen; Handlungsspielräume und Einflusschancen realistisch
einschätzen, kritischer Umgang mit
Autoritäten.
Persönliche Eigenschaften etc. sind nicht
hinreichend für erfolgreiches zivilcouragiertes Handeln, begünstigen und
fördern es aber wesentlich. Nicht alle
müssen in gleichem Maß vorhanden
sein. Und je nach Situation reagieren
Menschen unterschiedlich, je nachdem
was in einer Person angesprochen und
als Ressource eingebracht wird. Die
meisten Forscher schätzen den Einfluss
situativer Faktoren als wichtiger ein.
Dies sind vor allem angedrohte oder
ausgeübte Gewalt, soziale Nachteile wie
Ausgrenzung; und wohl am wichtigsten: das Verhalten anderer Personen:
schauen sie weg, schweigen sie oder
unterstützen sie den Mutigen?
Kennzeichnend für Zivilcourage ist
eine pro-soziale Motivation: Altruismus, Solidarität und Gemeinsinn
sollten Hauptmotive sozial couragierten Handelns sein, nicht aber äußere
Belohnungen und persönlicher Gewinn
(z.B. berufliche Vorteile, Ansehen, Macht
oder Publizität). Solche ich-zentrierten
Motive dürfen keinesfalls dominieren.
Wer sozialen Mut zeigt, empfindet meist
eine besondere Art persönlicher Befriedigung: man hat das Nötige getan, anderen geholfen und Mut bewiesen. Das
könnte man auch als eine Art „moralpsychologisches Eigeninteresse“ verstehen,
die Menschen eher unbewusst motiviert
und darin bestärkt, Risiken für das Wohl
anderer auf sich zu nehmen.
KONTEXTE: ZIVILCOURAGE ALS
„MODERNE BÜRGERTUGEND“
„Zivilcourage ist die eigentliche Anfangs- und Entstehungstugend unserer
Zivilgesellschaft. Demokratie ist aus der
Zivilcourage entstanden (…) und aus ihr
lebt die Demokratie. Zivilcourage ist die
demokratische Tugend par excellence.
Was für eine Diktatur als Bedrohung
empfunden wird, ist für die Demokratie
das Lebenselixier: Courage, Wachsamkeit, Kritik, Widerspruch, Abweichung,
Unbequemlichkeit.“ (Autor unbekannt)
Zivilcourage wird hier verstanden als öffentliches Handeln im Alltag, als sozialer
Mut in der Lebenswelt der Bürger, als
Element einer sozial verantwortlichen,
einer aufmerksam-fürsorglichen Zivilgesellschaft. Zivilcourage als eine Form
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bürgerschaftlichen Handelns ist ein
wichtiges Element einer demokratischen
politischen Kultur.
Der mündige Bürger, der selbstbewusst
und risikobereit für andere, für das
Wohl der Gesellschaft eintritt, mit oder
gegen den Staat und seine Institutionen,
ist eine Vorstellung, die erst im Zuge
der Aufklärung, des Aufkommens des
Naturrechts und der Menschenrechte
entstand. Dies ging einher mit dem Erstarken einer bürgerlichen Gesellschaft
und demokratischer, nationaler Freiheitsbewegungen in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts. Erst dann findet
man den Begriff „courage civil“ (1835)
oder „Zivilcourage“ (Bismarck 1847) als
Ausdruck mutiger Selbstbehauptung,
des Rechts und der Pflicht zu eigener
Verantwortung und Mitsprache der
Bürger in der Öffentlichkeit.
Es war ein langer Weg bis zu den
stabilen Demokratien der Gegenwart,
in denen Verfassungen und Rechtsstaatlichkeit die Wahrnehmung von
Grundrechten erlauben. Damit sich
Zivilcourage entwickeln kann, bedarf
es aber gleichermaßen gesellschaftlicher Strukturen und Verhaltensmuster,
sozialmoralischer Leitbilder, die den
unbequemen, mutigen Bürger nicht
nur tolerieren, sondern bewusst wollen
und praktisch fördern. Doch wollen das
die Mächtigen, aber auch die – zu Recht
oder Unrecht – oft eher ängstlichen Bürger wirklich? Gerade auch am Arbeitsplatz, in Parteien und Parlamenten, in
Schulen und Kirchen?
8
Praktizierte Zivilcourage ist Gefahrensignal und Hoffnungszeichen zugleich.
Wer aufrecht geht, setzt ein Zeichen
und ermutigt andere, es gleich zu tun.
Wir könnten sozialen Mut im Alltag
stärken, indem wir zum einen durch
Erziehung und Bildung in Familie und
Schule Handlungskompetenzen vermitteln und durch Erfahrung dazu motivieren; zum anderen, indem wir z.B. als
Lehrende oder Vorgesetzte günstigere
Bedingungen dafür schaffen und jene,
die aufrechten Gang zeigen, unterstützen und anerkennen. Aufrechter Gang
heißt: Rückgrat zeigen, eigenständig
und geradlinig seinen Weg gehen, seinem Gewissen folgen, Würde bewahren
und sich nicht verbiegen, zu sich und
seiner Wahrheit stehen. Gefragt sind
jedoch nicht Heldentaten, sondern die
Courage im Alltäglichen, in der eigenen
Umgebung.
Wer Mut oder Zivilcourage zeigt,
gewinnt nicht immer das, was er sich
erhofft. Aber er hat womöglich etwas
ganz anderes gewonnen: dass er seinem
Gewissen gefolgt ist, mit sich im Reinen
bleibt, dass er andere ermutigt und sich
nicht aus der Verantwortung gestohlen
hat, dass er daran erinnert hat, was rechtens ist. Mut nimmt das Risiko auf sich
und wagt den ersten Schritt. Zivilcourage tritt ein für humane und demokratische Werte, ist Mut für andere, vor
anderen und – das ist die Hoffnung – mit
anderen zusammen.
Weitere Informationen zum Autor:
www.uni-tuebingen.de/pol/meyer.htm
1
Vgl. dazu die jüngste systematische Studie des Autors: Mut und Zivilcourage. Grundlagen und
gesellschaftliche Praxis. Opladen 2014.
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