© 2016 aok-business.de - PRO Online, 18.04.2016

Tarifvertrag - Tarifflucht
Inhaltsübersicht
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
1
Allgemeines
Die Grundzüge
Die Wirkung der Tarifgebundenheit
Das Günstigkeitsprinzip
Vorteile der Tarifbindung
Nachteile der Tarifflucht
Reaktionen der Arbeitgeberverbände
Rechtsprechungs-ABC
8.1 Ablösung arbeitsvertraglicher Regelungen
8.2 Abweichende Arbeitnehmervertretungsstrukturen
8.3 Arbeitsvertragliche Vereinbarung
8.4 AT-Angestellte
8.5 Auslegung - 1
8.6 Auslegung - 2
8.7 Auslegungsstreit
8.8 BAT-Bezugnahme - 1
8.9 BAT-Bezugnahme - 2
8.10 BAT-Bezugnahme - 3
8.11 BAT-/TV-L-Bezugnahme - 2
8.12 BAT-/TV-L-Bezugnahme - 3
8.13 BAT-/TV-L-Bezugnahme - 4
8.14 Berufserfahrung
8.15 Betriebliche Übung
8.16 Betriebsübergang
8.17 Betriebsvereinbarung
8.18 Beweisantritt "Tarifauskunft"
8.19 Bezugnahmeklausel - 1
8.20 Bezugnahmeklausel - 2
8.21 Bezugnahmeklausel - 3
8.22 Bezugnahmeklausel - 4
8.23 Differenzierungsklausel
8.24 Dissens bei der Auslegung
8.25 Dynamik - 1
8.26 Dynamik - 2
8.27 Elementenfeststellungsklage
8.28 ERA-Strukturtarifvertrag
8.29 Ergänzende Vertragsauslegung - 2
8.30 Erholungshilfen nur für Gewerkschaftsmitglieder
8.31 Fehlende Tarifzuständigkeit
8.32 Feststellungsklage
8.33 Geltungsvereinbarung
8.34 Gestaffelte Bezugnahme auf Tarifverträge
8.35 Gestaltungsspielraum
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8.36
8.37
8.38
8.39
8.40
8.41
8.42
8.43
8.44
8.45
8.46
8.47
8.48
8.49
8.50
8.51
8.52
8.53
8.54
8.55
8.56
8.57
8.58
8.59
8.60
8.61
8.62
8.63
8.64
8.65
8.66
8.67
8.68
8.69
8.70
8.71
8.72
8.73
8.74
8.75
8.76
8.77
8.78
8.79
8.80
8.81
8.82
2
Gewerkschaftlicher Beseitigungsanspruch
Gewerkschaftsbeitritt während Nachbindung
Gleichbehandlung - 1
Gleichbehandlung - 2
Gleichstellungsabrede - 1
Gleichstellungsabrede - 2
Gleichstellungsabrede - 3
Gleichstellungsabrede - 4
Gleichstellungsabrede - 5
Gleichstellungsabrede - 6
Gleichstellungsabrede - 7
Grundrechtsbindung - 1
Grundrechtsbindung - 2
Grundrechtsbindung - 3
Grundrechtsbindung - 4
Günstigkeitsvergleich - 1
Günstigkeitsvergleich - 2
Haustarifvertrag
Inbezugnahme
Inkrafttreten - 1
Inkrafttreten - 2
Jeweiligkeit
Kirchliche Arbeitsvertragsregelungen - 1
Kirchliche Arbeitsvertragsregelung - 2
Kündigungsausschluss
Kündigungsfrist und Koalitionsfreiheit
Leistungen an Gewerkschaftsmitglieder
Mindestlohn - 1
Mindestlohn - 2
Mindesttarife für Dienstleister
Mitbestimmung
Nachbindung
Nachwirkung - Ausschluss
Nachwirkung - Zwingende Arbeitsbedingungen
Nichttarifgebundener Arbeitgeber
Notlagentarifvertrag
Öffnungsklausel
Organisationsbereich
OT-Mitgliedschaft - 1
OT-Mitgliedschaft - 2
OT-Mitgliedschaft - 3
Outsourcing
Rechtsanspruch auf Abschluss?
Rückwirkung - 1
Rückwirkung - 2
Sanierungsbeitrag - Rückforderung
Sonderrechte für Gewerkschaftsmitglieder
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8.83
8.84
8.85
8.86
8.87
8.88
8.89
8.90
8.91
8.92
8.93
8.94
8.95
8.96
8.97
8.98
8.99
8.100
8.101
8.102
8.103
8.104
8.105
8.106
8.107
Sondertarifvertrag für Studenten
Tarifautomatik - EU-Recht
Tarifentgelt
Tarifliche Kündigungsregel (Auslegung)
Tariflicher Spielraum
Tarifkonkurrenz
Tariföffnungsklausel
Tarifpluralität
Tarifsukzession - 1
Tarifsukzession - 2
Tarifvertragliche Verweisungsklausel
Tarifvertrag vs. Betriebsvereinbarung
Tarifvorbehalt
Transparenzkontrolle
Unklare Rechtslage
Unwirksame Verweisung
Urlaubsdauer - Staffelung nach Alter
Verbandsaustritt - 3
Verweisung
Verzicht
Vorenthalten des Organisationsgrads
Wille der Tarifvertragsparteien
Wirtschaftszweig
Zeitdynamische Bezugnahme
Zweckbestimmung
Information
1. Allgemeines
Der Arbeitgeber ist entweder tarifgebunden oder nicht tarifgebunden. Die Rechte seiner Arbeitnehmer
hängen, soweit sie auf einem Tarifvertrag beruhen, vom Status des Arbeitgebers ab. Das heißt, ohne
Tarifgebundenheit gibt es in der Regel keine tariflichen Ansprüche. Und das missfällt vielen Arbeitgebern,
weil Tarifverträge ihnen ein Stück unternehmerische Freiheit und Flexibilität nehmen. Tarifverträge legen
Arbeitsentgelte und Vergütungsgruppen fest und verursachen damit Kosten, die auf die individuelle
Leistungsfähigkeit des Arbeitgebers keine Rücksicht nehmen. Viele Arbeitgeber wollen aus der Enge der
Tarifverträge heraus und die Arbeitsbedingungen in ihren Unternehmen selbst bestimmen. Art. 9 Abs. 3 GG
regelt nicht nur die positive Koalitionsfreiheit, sondern auch die negative. Wer dem Arbeitgeberverband
seiner Branche nicht beitreten will oder nicht mehr angehören möchte, braucht das auch nicht.
Praxistipp:
Ein Vereinsaustritt muss gut überlegt sein. Die Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband hat nämlich
auch Vorteile. Viele Dienstleistungen stehen nur Mitgliedern zu Verfügung und haben auf Grund der
Spezialisierung und Branchennähe der Organisationen eine Qualität, die woanders nicht zur Verfügung
steht. Viele Verbände bieten mittlerweile neben der traditionellen Mitgliedschaft mit Tarifbindung auch
eine so genannte OT-Mitgliedschaft an - eine Verbandszugehörigkeit ohne Tarifbindung. Und das ist für
viele "Tarifflüchtlinge" eine lohnende und vernünftige Alternative.
3
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Die Kündigung einer Verbandsmitgliedschaft führt nicht gleich zum gewünschten Zustand der
Tariflosigkeit. Tarifverträge haben nach TVG Nachwirkung. "Nach Ablauf des Tarifvertrags gelten seine
Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden". Auch ein vielleicht überstürzter
Blitzaustritt oder ein so genannter Blitzwechsel von einer Mitgliedschaft mit Tarifbindung in eine
Mitgliedschaft ohne Tarifbindung bringen keine kurzfristige Lösung. Die Tarifautonomie, immerhin durch
Art. 9 Abs. 3 GG grundgesetzlich abgesichert, ist ein hohes, über Jahrzehnte hinweg erkämpftes Rechtsgut
von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Eine Tarifbindung hat auch nicht bloß Nachteile. Tarifvertragsparteien
können Regelungen treffen, die Arbeitgeber und Mitarbeiter allein nicht treffen können. Zudem bietet die
Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband auch noch handfeste praktische Vorteile: Die Verbände halten in der
Regel ein breit gefächertes Dienstleistungsspektrum bereit, zu dem auch die Vertretung in
Arbeitsrechtsstreitigkeiten gehört.
2. Die Grundzüge
Flächentarifverträge geraten mehr und mehr unter Beschuss. Die Anzahl unzufriedener Arbeitgeber
wächst. Wettbewerbs- und Konkurrenzdruck tragen ihren Teil dazu bei, dass verstärkt nach
Öffnungsmöglichkeiten gesucht wird. Die Kritik trifft dabei nicht nur die Gewerkschaften. Auch
Arbeitgeberverbände sind dem Vorwurf ausgesetzt, zu langsam und zu unflexibel auf globale und nationale
ökonomische Veränderungen zu reagieren. Die wirtschaftliche Entwicklung ist einfach schneller als die
Verbands- und Gewerkschaftspolitik - und so verwundert es nicht, wenn Unternehmen eigene,
unternehmens- und betriebsbezogene Lösungen suchen.
Tarifgebunden sind zunächst die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst
Partei eines Tarifvertrags ist ( § 3 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) ). Rechtsnormen eines Tarifvertrags über
betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen gelten dagegen für alle Betriebe, deren Arbeitgeber
tarifgebunden sind ( § 3 Abs. 2 TVG ).
Beispiel:
(1) V ist Einzelhandelskaufmann und Mitglied der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Sein
Arbeitgeber, die Märkte KG N, ist im Einzelhandelsverband organisiert. Beide Vertragspartner,
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sind Mitglied der einschlägigen Tarifvertragspartei - und damit
wegen § 3 Abs. 1 1. Alt. TVG tarifgebunden.
(2) Die Gewerkschaft schließt mit dem Arbeitgeber einen so genannten Firmen- oder
Haustarifvertrag. Hier ist der Arbeitgeber keinem Verband angeschlossen, er ist selbst Partei
des Tarifvertrags . Er ist Tarifträger - und deswegen nach § 3 Abs. 1 2. Alt. TVG tarifgebunden.
(3) Der Branchentarifvertrag sieht für den Wirtschaftszweig einige Regelungen über die Einrichtung
und die Organisation von Betriebsräten vor. Der Arbeitgeber ist Mitglied des
Arbeitgeberverbands, seine Mitarbeiter sind nur sehr spärlich gewerkschaftlich organisiert.
Trotzdem gelten die Rechtsnormen des Tarifvertrags über betriebsverfassungsrechtliche Fragen
wegen § 3 Abs. 2 TVG auch im Arbeitgeberbetrieb.
Darüber hinaus gibt es nach § 5 TVG die so genannte Allgemeinverbindlichkeit ( allgemeinverbindliche
Tarifverträge ), die den Wirkungsbereich von Tarifverträgen mit staatlicher Erklärung auch auf nicht
organisierte Arbeitgeber und Arbeitnehmer erstreckt (egal ob sie das wollen oder nicht). Schließlich lässt sich
die Anwendbarkeit eines Tarifvertrags - wenn er nicht ohnehin schon nach dem TVG gilt - auch
arbeitsvertraglich vereinbaren.
Beispiel:
Die KG P verweigert seit Jahren erfolgreich die Mitgliedschaft in ihrem Arbeitgeberverband. Stellt sie
einen neuen Mitarbeiter ein, versucht sie, durch geschicktes Ausfragen zu klären, ob der Bewerber
Gewerkschaftsmitglied ist. Ist er es, verzichtet die KG P auf seine Einstellung - und nimmt stattdessen
einen nicht organisierten Bewerber. Ab dem 23.09. des laufenden Jahres werden die
Branchentarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt. Nun ist die KG P wegen § 5 TVG doch
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tarifgebunden - ob sie das will oder nicht.
Ist eine Tarifvertragspartei - hier die Gewerkschaft CGZP - nicht tariffähig, kann sie allenfalls eine
Kollektivvereinbarung schließen - keinen Tarifvertrag i. S. d. 1 Abs. 1 TVG . Kollektivvereinbarung fehlt ein
entscheidendes Merkmal von Tarifverträgen - sie haben (s. § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG ) keine normative Wirkung
( BAG, 13.03.2013 - 5 AZR 146/12 ).
§ 1 AGG hat das Ziel, eine Benachteiligung von Menschen wegen der dort genannten Merkmale zu
verhindern. Das AGG gilt auch für Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen. Die arbeitsrechtlichen
Sonderbestimmungen sind im zweiten AGG -Abschnitt hinterlegt. In § 17 Abs. 1 AGG heißt es:
"Tarifvertragsparteien ... sind aufgefordert, im Rahmen ihrer Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten an der
Verwirklichung des in § 1 genannten Ziels mitzuwirken." Speziell für die Mitgliedschaft oder die Mitwirkung in
einer Tarifvertragspartei gilt § 18 AGG .
3. Die Wirkung der Tarifgebundenheit
Dort, wo Tarifverträge nicht allgemeinverbindlich sind und für Außenseiter, die nicht im
Arbeitgeberverband oder in der Gewerkschaft organisiert sind, keine Geltung besitzen, haben Arbeitgeber es
in der Hand, die einschlägigen Branchentarifverträge mit Eintritt in den Verband anzuwenden.
Beispiel:
Die GmbH & Co. KG S, ein Schwermetall verarbeitendes Unternehmen, hat es bisher abgelehnt, Mitglied
des Arbeitgeberverbands Metall zu werden. Das lief über die Jahre hinweg auch ganz gut, in den letzten
Monaten gab es aber immer wieder nicht erfüllte - wenn auch überzogene - Forderungen von
Mitarbeitern, die zu einer gewissen Unzufriedenheit in der Belegschaft führten. Die GmbH & Co. KG S
überlegt, ob es nicht sinnvoll ist, dem Branchenverband beizutreten. Das bringt ihr zum einen den Vorteil,
dass dadurch in vielen arbeitsrechtlichen Bereichen tarifvertragliche Klarheit geschaffen wird. Außerdem
kann das Unternehmen nach seiner Beitrittserklärung das breit gefächerte Dienstleistungsangebot seines
Arbeitgeberverbands nutzen.
Auch wenn die Parteien des Arbeitsvertrags nicht organisiert und deswegen nicht tarifgebunden sind: Sie
haben die Möglichkeit, in ihrem Arbeitsvertrag auf einen bestimmten Tarifvertrag Bezug zu nehmen und die
Anwendung dieses Tarifvertrags arbeitsvertraglich zu vereinbaren.
Beispiel:
Der Arbeitgeber lehnt eine Verbandsmitgliedschaft ab, weil er sich ohne strenges "Tarifkorsett" für
flexibler aufgestellt hält. Das läuft auch überwiegend gut. Dann schreibt er eine Stelle aus, für die sich ein
exzellenter Fachmann bewirbt - der allerdings Ansprüche stellt. Der Arbeitgeber möchte nur wegen dieses
einen Mitarbeiters nicht in den Arbeitgeberverband eintreten und tarifgebunden sein. Also kommt er auf
die Idee, mit seiner Neuerwerbung Folgendes zu vereinbaren: "Auf das Arbeitsverhältnis finden die
einschlägigen Branchentarifverträge in ihrer jeweils geltenden Fassung Anwendung". Damit haben die
Parteien des Arbeitsvertrags eine dynamische Bezugnahmeklausel und die Branchentarifverträge in ihrer
jeweils gültigen Fassung vereinbart.
Während der Start in die Tarifgebundenheit mit dem Verbandsbeitritt beginnt, ist der Ausstieg nicht so
einfach. Die Beendigung der Mitgliedschaft führt nicht gleichzeitig zu einer Beendigung der
Tarifgebundenheit. Sie bleibt bestehen, bis der Tarifvertrag endet ( § 3 Abs. 3 TVG ). Und nach Ablauf eines
Tarifvertrags gelten seine Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden ( § 4
Abs. 5 TVG - Nachwirkung).
Beispiel:
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Arbeitgeber A ist seit Urzeiten Mitglied des Arbeitgeberverbandes. Im Laufe der Jahre drückt die
Konkurrenz immer stärker auf sein Betriebsergebnis, und er macht sich Gedanken, wie er aus dieser
Misere herauskommt. "Schuld", denkt er, "sind nur diese hohen Tarife. Wenn die nicht wären, sähe es mit
den Personalkosten schon besser aus." A überlegt, was er tun kann. Der Branchentarifvertrag endet am
31.12.2017. A hat die Chance, seine Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband bereits zum 31.12.2016 zu
beenden. Das wird ihm unterm Strich nur nichts nützen. Die Tarifgebundenheit bleibt nach § 3 Abs. 3 TVG
bis zum 31.12.2017 bestehen. Und wegen der Regelung in § 4 Abs. 5 TVG gelten seine Rechtsnormen
dann sogar noch weiter. Und zwar so lange, bis sie eben durch eine andere Vereinbarung ersetzt werden.
"Andere Abmachung" i. S. d. § 4 Abs. 5 TVG ist zunächst ein neuer Tarifvertrag.
Beispiel:
Gewerkschaft und Arbeitgeberverband schließen einen Tarifvertrag, der zum 31.12.2016 das erste Mal
mit 3-monatiger Frist gekündigt werden kann. Das tut der Arbeitgeberverband am 24.09.2016 - mit dem
Ergebnis, dass der vereinbarte Tarifvertrag am 31.12.2016 um 24:00 Uhr endet und ab dem 01.01.2017,
00:00 Uhr, die Nachwirkung des § 4 Abs. 5 TVG eintritt. Gewerkschaft und Arbeitgeberverband nehmen
Anfang Februar 2017 Tarifverhandlungen auf, die sich wegen der schwierigen finanziellen Lage der
organisierten Unternehmen bis in den August 2017 hinziehen. Der neue Tarifvertrag soll ab dem
01.09.2017 gelten. Er löst seinen Vorgänger als "andere Abmachung" i. S. d. § 4 Abs. 5 TVG mit dem
01.09.2017 ab - wobei die Tarifpartner auch eine Vereinbarung treffen könnten, dass der neue
Tarifvertrag nahtlos ab dem 01.01.2017 an den alten anschließt.
Andere Abmachung i. S. d. § 4 Abs. 5 TVG kann aber auch ein Firmentarifvertrag , eine Betriebsvereinbarung
oder der Einzelarbeitsvertrag sein. Wichtig ist nur, dass sie nach Ablauf des Tarifvertrags getroffen wird.
Beispiel:
Der Entgelttarifvertrag läuft mit dem 30.09. aus. Die Tarif schließende Gewerkschaft verzeichnet einen
erheblichen Mitgliederschwund und die hauptamtlichen Gewerkschafter finden keinen Ansatz, mit dem
Arbeitgeberverband Verhandlungen über einen Anschlusstarifvertrag aufzunehmen. Die bis zum 30.09.
maßgeblichen Tarifentgelte sind wegen § 4 Abs. 5 TVG in der Nachwirkung. Treffen Arbeitgeber und
Arbeitnehmer nach dem 01.10. eine Vereinbarung, wonach der Mitarbeiter bei gleich bleibender
Arbeitszeit 150 EUR weniger verdienen soll, ist auch das eine andere Abmachung i. S. d. § 4 Abs. 5 TVG
.
Andere Abmachungen müssen nicht immer günstiger sein als die bisherige tarifliche. Der Arbeitgeber
kann also nach Ablauf eines Tarifvertrags auch schlechtere Arbeitsbedingungen schaffen - wenn seine
Arbeitnehmer damit einverstanden sind. Die nachwirkenden tariflichen Abmachungen werden statischer
Bestandteil der individuellen Arbeitsverträge. Sie wirken insoweit nicht mehr "unmittelbar und zwingend",
wie § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG es vorsieht. Sie sind nun abweichenden "anderen" individualrechtlichen
"Abmachungen" zugänglich - denen ein Arbeitnehmer, wenn er seinen Besitzstand sichern will - aber nicht
zustimmen muss.
4. Das Günstigkeitsprinzip
Während der Tarifgebundenheit sind abweichende Abmachungen nur zulässig, soweit sie durch den
Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten ( § 4
Abs. 3 TVG ). Nach Ablauf des Tarifvertrags können auch verschlechternde Vereinbarungen getroffen
werden.
Beispiel:
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A versucht im vorausgehenden Beispiel nach dem 31.12.2016 schlechtere Arbeitsbedingungen
durchzusetzen und die Gehälter und Löhne seiner Mitarbeiter zu drücken. Änderungskündigungen und
-vereinbarungen wären in diesem Fall tarifwidrig. A muss noch bis zum 01.01.2018 warten, um nach § 3
Abs. 3 TVG aus der Tarifbindung heraus zu sein. Sie endet mit dem 31.12.2017. Erst danach ist Zeit für
eine "andere Abmachung" i. S. d. § 4 Abs. 5 TVG reif.
Praxistipp:
Was rechtlich möglich ist, ist oft nicht das, was tatsächlich gewünscht wird. Zur Rettung eines Betriebs
werden zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern und/oder Betriebsrat oft Vereinbarungen getroffen, die
dem Wohl von Betrieb und Belegschaft dienen, auf der anderen Seite aber klar tariflichen Bestimmungen
widersprechen. Rechtlich sind tarifwidrige Bestimmungen nicht zu halten. Auf der anderen Seite ist dies
der klassische Fall des Grundsatzes: "Wo kein Kläger, da kein Richter".
Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, § 134 BGB . § 4 Abs. 1 TVG
ordnet die unmittelbare und zwingende Wirkung von Tarifnormen gegenüber den "beiderseits
Tarifgebundenen" an.
Beispiel:
(1) Die AG V ist Mitglied des Arbeitgeberverbands. Ihr Vorstand hält die Tarifentgelte für überzogen
und fordert die Geschäftsführung auf, dafür zu sorgen, dass die Löhne und Gehälter an die
wirtschaftliche Entwicklung und die Lage der AG angepasst werden. Das versucht die
Geschäftsführung - und will mit den Arbeitnehmern O und S statt der tariflich geschuldeten
2.563 EUR brutto nun 2.100 EUR brutto zu vereinbaren. Das verstößt gegen den gültigen
Tarifvertrag. Die Herren O und S haben weiterhin Anspruch auf ihre tariflichen Entgelte.
(2) Die AG J, eine Konkurrentin der AG V, ist wirtschaftlich wesentlich besser aufgestellt als die
Mitbewerberin. Sie beabsichtigt, ihren Mitarbeitern ab dem 01.10. monatlich jeweils 150 EUR
mehr brutto zu zahlen. Das ist zwar auch "tarifwidrig" - stellt aber eine Regelung zu Gunsten der
betroffenen Arbeitnehmer da, die nach § 4 Abs. 3 TVG nicht zu beanstanden ist.
Vereinbarungen, die gegen zwingende Tarifbestimmungen verstoßen, sind nach Maßgabe des § 134 BGB
unwirksam. Sie leben selbst dann nicht wieder auf, wenn der Tarifvertrag, gegen den verstoßen wird, endet.
Es tritt keine nachwirkende Heilung von Tarifverstößen ein.
Beispiel:
Der Branchentarifvertrag sieht vor, dass alle Arbeitnehmer zu Weihnachten ein Weihnachtsgeld von 75 %
ihrer Brutto-Novembervergütung bekommen. Der Arbeitgeber vereinbart mit seinen Leuten ein
Weihnachtsgeld von 50 % des Novemberentgelts. Diese Vereinbarung ist tarifwidrig. Das
individualrechtlich vereinbarte Weihnachtsgeld liegt 25 % unter dem kollektivrechtlich abgemachten. Am
30.06. des laufenden Jahres endet der Tarifvertrag. Der Arbeitgeber will seinen Leuten im November
wieder nur 50 % des Novembergehalts als Weihnachtsgeld zahlen - zu Unrecht. Die ursprüngliche
Vereinbarung war nach § 134 BGB unwirksam. Sie wird nicht dadurch wirksam, dass der Tarifvertrag zum
30.06. endete. Sie ist keine "andere Abmachung" i. S. d. § 4 Abs. 5 TVG - die in der Regel nach Ende des
Tarifvertrags getroffen werden muss.
Aber: Es sieht anders aus, wenn die "andere Abmachung" für die Zeit nach Ablauf des Tarifvertrags
geschlossen wird und diese andere Abmachung konkret und zeitnah vor dem bevorstehenden Ablauf erfolgt
( BAG, 20.05.2009 - 4 AZR 230/08 ). Ansonsten wird eine verschlechternde Vereinbarung während der
Laufzeit eines Tarifvertrags durch die unmittelbar und zwingend geltenden Normen des gültigen Tarifvertrag
verdrängt ( BAG, 01.07.2009 - 4 AZR 250/08 ). Eine "andere Abmachung" muss auf "die Änderung der
nachwirkenden Normen des Tarifvertrages gerichtet" sein ( BAG, 01.07.2009, 4AZR 250/08 ).
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5. Vorteile der Tarifbindung
Wer aus der Tarifbindung aussteigen möchte, sollte sich diesen Schritt gut überlegen. Sicherlich ist die
Kritik, Tarifverträge seien zu starr und hielten mit der wirtschaftlichen Entwicklung nicht mit, in vielen Punkten
berechtigt. Auf der anderen Seite gibt es aber auch handfeste Vorteile einer Tarifbindung.
Beispiel:
(1) Der Tarifvertrag sieht für Arbeitgeber und Betriebsrat ein einfaches Verfahren zur Einführung
und Vergütung von Kurzarbeit vor. In einem Betrieb, auf den kein Tarifvertrag anzuwenden
ist, ist es möglicherweise eine Herausforderung, beim Betriebsrat und den Arbeitnehmern
Kurzarbeit durchzusetzen.
(2) Ein Tarifvertrag sieht für das Weihnachtsgeld beim vorzeitigen Ausscheiden das
Zwölftelungsprinzip und umfangreiche Rückzahlungsbestimmungen für den Fall vor, dass
das Beschäftigungsverhältnis vor Ablauf einer Wartezeit oder aus einem vom Arbeitnehmer zu
vertretenden Grund endet. Diese Regelungen sind weder selbstverständlich noch gelten sie
automatisch. Sie müssen in einem Arbeitsverhältnis erst vereinbart werden.
(3) Ein Tarifvertrag sieht eine Gerichtsstandsklausel vor. Danach ist für Streitigkeiten aus dem
Arbeitsverhältnis das Gericht des Beschäftigungsortes örtlich zuständig. S bricht ihren
Arbeitsvertrag mit der GmbH J in Flensburg und zieht nach München. Ihr Arbeitsvertrag sieht für
diesen Fall eine Vertragsstrafe von einem Brutto-Monatsgehalt vor, das waren zuletzt immerhin
2.800 EUR. Wenn S nicht freiwillig zahlt, muss ihr Arbeitgeber sie verklagen. Mit Tarifvertrag in
Flensburg, ohne Tarifvertrag möglicherweise in München. Eine Gerichtsstandsvereinbarung
lässt sich nicht per Einzelarbeitsvertrag treffen.
(4) S stellt vier Monate nach der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses in München fest, dass sie
für etwa 100 Überstunden noch 2.320 EUR bekommen müsste. Somit schreibt sie die GmbH J
an und fordert sie zur Zahlung auf. 'Nach der Nummer mit dem Vertragsbruch sowieso nicht',
denkt der ältere der Brüder J und beruft sich auf die tarifliche Verfallklausel. Danach sind
Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb von drei Monaten nach seiner Beendigung
schriftlich geltend zu machen und Susys Forderung kam hier ganz offensichtlich zu spät. Ohne
Tarifvertrag hätten die J Bros. ein Problem: Nach § 195 BGB verjährt S's Vergütungsforderung
erst in drei Jahren, wobei die Frist nach § 199 Abs. 1 BGB erst mit dem Ende des Jahres
beginnt, in dem der Anspruch entstanden ist.
So gibt es eine Vielzahl tariflicher Regelungen, die auch Vorteile für Arbeitgeber haben. Er kann seinen
Arbeitgeberverband für sich denken und arbeiten lassen und bekommt von ihm ein fertiges Ergebnis. Oft mit
Regelungen, die er einzelvertraglich gar nicht treffen könnte (z.B. auch kürze Kündigungsfristen nach § 622
Abs. 4 BGB ).
Praxistipp:
Meistens ist die Entscheidung pro oder contra Tarifbindung ein schlichtes Rechenexempel. Der
Arbeitgeber muss überlegen, was ihn die Tarifgebundenheit kostet und was er durch die Tarifflucht spart.
Entscheidet er sich gegen den Tarifvertrag, sollte er auf jeden Fall versuchen, die Vorteile des
Tarifvertrags - soweit möglich - einzelvertraglich im Arbeitsvertrag zu vereinbaren.
Selbst Ansprüche auf Urlaubsabgeltung können nach Tarifverträgen vor Eintritt der Verjährung i. S. d.
§§ 195 , 199 Abs. 1 BGB verfallen, wenn sie nicht rechtzeitig geltend gemacht werden. Diesem Vorteil stehen
auf der anderen Seite tarifliche Urlaubsansprüche entgegen, die den Wert tariflicher Verfallklauseln wieder
schmälern. Während das Bundesurlaubsgesetz für alle Arbeitnehmer einen gesetzlichen Mindesturlaub von
24 Werktagen vorsieht, gewähren Tarifverträge oft 36 Werktage oder gar mehr. Auch hier lässt sich
errechnen, was die Flucht aus der Tarifbindung bringt.
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6. Nachteile der Tarifflucht
Tarifgebundenheit bedeutet in der Praxis zunächst, dass man andere für sich denken und handeln lassen
kann. Das Ergebnis befriedigt zwar nicht immer, befreit organisierte Arbeitgeber jedoch davon, selbst etwas
zu tun.
Beispiel:
Der Tarifvertrag enthält folgende Ausschlussfrist: "Alle finanziellen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis
verfallen innerhalb von zwei Monaten nach Fälligkeit, wenn sie bis dahin von der begünstigten
Vertragspartei nicht schriftlich gegenüber der anderen geltend gemacht werden. Lehnt eine Partei den
geltend gemachten Anspruch ab, ist innerhalb eines weiteren Monats nach der Ablehnung Klage beim
Arbeitsgericht zu erheben."
Nach der Tarifflucht muss der Arbeitgeber alles selbst machen. Er muss seine Arbeitsverträge sorgfältig
aushandeln, gar eigene Vergütungsgruppen entwickeln und sehen, dass alles das, was ihm der Tarifvertrag
bisher abnahm, nun einzelvertraglich geregelt wird. Dass der "normale Arbeitgeber" ohne Rechtsabteilung
und Personalbüro damit überfordert ist, liegt auf der Hand.
Beispiel:
Soweit Arbeitsverhältnisse im Zeitpunkt des Verbandsaustritts schon bestehen, gelten die
Tarifbestimmungen individualrechtlich weiter. Mit Arbeitnehmern, die nach dem Verbandsaustritt
eingestellt werden, kann der Arbeitgeber eigene Regelungen abmachen. Eine arbeitsvertragliche
Ausschlussfrist mit dem gleichen Regelungsinhalt wie die tarifvertragliche im vorausgehenden
Beispielfall wäre nach der BAG-Rechtsprechung jedoch zu kurz und damit unwirksam. Sie benachteiligt
Arbeitnehmer unangemessen. Eine 3-monatige Verfallklausel wäre dagegen auch nach BAG-Auffassung
zulässig.
Die §§ 305 ff. BGB , die AGB-Bestimmungen des Bürgerlichen Rechts, gelten nach § 310 Abs. 4
Satz 1 BGB nicht für "Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen". Und in diesen Kollektivverträgen
sind Regelungen möglich, die individualrechtlich nicht durch die AGB-Kontrolle des BGB kommen und daher
unwirksam sind.
Und was kommt nach dem Ausstieg? Dann läuft der tarifunwillige Arbeitgeber Gefahr, selbst Partei eines
Tarifvertrages zu werden. Ab einer bestimmten Größe und Mitarbeiterzahl ist er schon für die
Gewerkschaften interessant, die ihm einen Haustarifvertrag aufzwingen können. Und wer bis dahin noch
keinen Betriebsrat hatte, muss sich darauf gefasst machen, bald nicht mehr allein das Sagen im
Unternehmen zu haben. Und ein Betriebsrat kann Entscheidungen blockieren.
Beispiel:
(1) Die GmbH & Co. KG T ist ein großes Unternehmen der Automobil-Zulieferer-Industrie. Sie
kündigt die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband zum 31.12.2016. Die maßgeblichen
Entgelttarifverträge laufen zum 31.12.2017 aus, der Manteltarifvertrag zum 30.06.2018. Die
Geschäftsführung der GmbH & Co. KG beabsichtigt, nach Ablauf der Tarifverträge schlechtere
Arbeitsbedingungen einzuführen. Was sie dabei nicht bedacht hat: Viele ihrer mehr als 1 500
Arbeitnehmer sind gewerkschaftlich organisiert - und die verlangen von ihrer
Interessenvertretung nun, mit der GmbH & Co. KG T einen Firmentarifvertrag zu schließen.
(2) Der Arbeitgeber hat während der Zeit seiner Verbandsmitgliedschaft das tarifliche
Vergütungsgruppensystem angewendet. Dann tritt er aus und möchte ab dem 01.01. des
Folgejahres ein eigenes, betriebliches Vergütungsgruppensystem einführen. Sein Betriebsrat
lehnt Verhandlungen ab - unter anderem mit der Begründung, "Arbeitsentgelte und sonstige
Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden,
können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein". Das steht so schon in § 77 Abs. 4
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Satz 1 BetrVG ...
"Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG hängt nicht davon ab, dass der Arbeitgeber tarifgebunden
ist. Die Vorschrift soll die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisten. Dazu
räumt sie den Tarifvertragsparteien den Vorrang bei der Regelung von Arbeitsbedingungen ein. Zum Schutz
der ausgeübten und aktualisierten Tarifautonomie ist jede Normsetzung durch die Betriebsparteien
ausgeschlossen, die inhaltlich zu derjenigen der Tarifvertragsparteien in Konkurrenz treten würde" ( BAG,
22.03.2005 - 1 ABR 64/03 ).
Und überhaupt: Tarifverträge legen Mindestarbeitsbedingungen fest. Sie geben die Mindestgehälter vor
und regeln das, was in einem Arbeitsverhältnis sonst noch als Basis dient. Wer diese Standards unterläuft,
darf sich nicht wundern, wenn er für seine Arbeit keine qualifizierten Mitarbeiter mehr bekommt. Die werden
dann alle zur tariftreuen Konkurrenz abwandern und die Arbeitsbedingungen suchen, die sie gewohnt sind
und branchenüblich erwarten können. Tarifflucht schafft auf beiden Seiten Unsicherheit. Und ob das
möglicherweise gesparte Geld die mit der Tarifflucht verbundenen Nachteile immer ausgleicht, ist auch eine
Frage.
7. Reaktionen der Arbeitgeberverbände
Tarifflucht ist keine Lösung der vorhandenen Probleme. Die Gewerkschaften sehen dieses Phänomen,
reagieren aber falsch - oder gar nicht. Arbeitgeberverbände trifft der gleiche Vorwurf. Auch sie arbeiten häufig
mit überalterten und starren Strukturen und sind nicht anpassungsbereit.
Wer als Arbeitgeberverband die Zeichen der Zeit erkannt hat, muss sich Gedanken über die Tarifflucht
machen. Sonst droht auch den Arbeitgeberverbänden ein Mitgliederschwund. Zuerst bietet es sich an,
neben dem Tarifträgerverband einen Dienstleistungsverband ohne Tariffunktion zu gründen, in dem
tarifunwillige Mitglieder eine Heimat finden und aufgefangen werden.
Praxistipp:
Ein wichtiger Schritt nach vorne in Richtung betrieblicher Lösungen wäre beispielsweise eine tarifliche
Öffnungsklausel. Die Tarifpartner legen darin einen Mindeststandard oder einen Rahmen fest. Die nähere
Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen überlassen sie dann den Betriebspartnern vor Ort.
Daneben besteht die Möglichkeit, satzungsrechtlich eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, d.h. eine
"OT-Mitgliedschaft" zu ermöglichen. Nichts tun und abwarten ist aus Verbandssicht gefährlich. Wenn
unzufriedene Mitglieder ihre Mitgliedschaft einfach beenden, wird das Kräfteverhältnis der Sozialpartner in
unserer Wirtschaftsordnung empfindlich gestört. Eine alle zufriedenstellende Lösung des Problems ist noch
nicht gefunden.
In der BAG-Rechtsprechung ist anerkannt, dass nicht jedes vereinsrechtliche Mitglied eines
Arbeitgeberverbands gleichzeitig auch tarifgebunden i. S. d. § 3 Abs. 1 TVG sein muss ( BAG, 15.12.2010 4 AZR 256/09 - mit Hinweis auf BAG, 04.06.2008 - 4 AZR 419/07 ). Art. 9 Abs. 3 GG verleiht
Arbeitgeberverbänden die Satzungsautonomie, auch Mitgliedschaften ohne Tarifbindung - so genannte
OT-Mitgliedschaften - vorzusehen ( BAG, 15.12.2010 - 4 AZR 256/09 ). So eine Regelung widerspricht
• weder Verfassungs• noch einfachem Recht ( BAG, 15.12.2010 - 4 AZR 256/09 - mit Hinweis auf BAG, 18.07.2006 - 1 ABR
36/05 ).
§ 3 Abs. 1 TVG knüpft die Tarifbindung des Arbeitgebers an dessen Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband.
Um die Tarifbindung eintreten zu lassen, müssen sich die Verbandsmitglieder nicht über eine gesonderte
Unterwerfungserklärung verpflichten. Der Verbandsbeitritt allein genügt, die Tarifbindung eintreten zu
lassen. "Darin kommt der Wille zum Ausdruck, an die vom Verband geschlossenen Tarifverträge als dessen
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Mitglied gebunden zu sein. Tarifautonomie als kollektive Privatautonomie gründet sich entscheidend auf
diese mitgliedschaftliche Legitimation" ( BAG, 26.08.2009 - 4 AZR 294/08 ).
Die Begründung einer OT-Mitgliedschaft verlangt,
• dass es für diese Form der Mitgliedschaft
• in dem Zeitpunkt,
• in dem ein Neumitglied oder bisheriges Vollmitglied
• eine OT-Mitgliedschaft begründen will,
• dafür eine wirksame satzungsrechtliche Grundlage gibt ( BAG, 15.12.2010 - 4 AZR 256/09 - mit
Hinweis auf BAG, 26.08.2009 - 4 AZR 294/08 ).
"Die Satzung des Verbandes kann selbst definieren, auf welche Weise eine Mitgliedschaft i.S.v. § 3
Abs. 1 TVG begründet und beendet werden kann. Das gilt auch für das sog. Stufenmodell, bei der ein
prinzipiell tarifwilliger Verband nachträglich einen Sonderstatus für OT-Mitglieder mit eingeschränkten
Beteiligungsrechten geschaffen hat. Wegen der an die Tarifgebundenheit anknüpfenden und ggf.
weitreichenden Rechtswirkungen auch auf Dritte ist es jedoch erforderlich, dass die Verbandsmitgliedschaft
mit Tarifbindung i.S.v. § 3 Abs. 1 TVG von einer Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung eindeutig
abgrenzbar ist" ( BAG, 15.12.2010 - 4 AZR 256/09 - mit Hinweis auf BAG, 22.04.2009 - 4 AZR 111/08 ).
Ein sogenannter "Blitzwechsel" von der T- in die OT-Mitgliedschaft ist nur eingeschränkt zulässig. Zum
einen muss die Satzung des Arbeitgeberverbands diesen Wechsel ohne Einhaltung einer bestimmten Frist
möglich machen. Zum anderen muss der Statuswechsel, wenn er im Lauf einer Tarifverhandlung erfolgt,
transparent sein - das heißt: es reicht nicht aus, wenn der Gewerkschaft nur die Möglichkeit bekannt ist, dass
so ein Blitzwechsel satzungsrechtlich zulässig ist. Die Gewerkschaft muss über die eingetretene
Statusänderung informiert werden. Sie ist vom Arbeitgeberverband in die Lage zu versetzen, "auf den
Statuswechsel des Verbandsmitglieds mit Wirkung für den vor dem Abschluss stehenden Tarifvertrag zu
reagieren" ( BAG, 04.06.2008 - 4 AZR 316/07 ).
8. Rechtsprechungs-ABC
An dieser Stelle werden einige der interessantesten Entscheidungen zum Thema Tarifvertrag und Tarifflucht
in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet hinterlegt:
8.1 Ablösung arbeitsvertraglicher Regelungen
Sagt ein Tarifvertrag zur Regelung der Arbeitsbedingungen bestimmter Arbeitnehmer in seinen
"Schlussvorschriften", dass die "Tarifvertragsparteien .. sich einig [sind], dass die aufgrund der örtlichen
Tarifverträge ... abgeschlossenen arbeitsvertragliche Nebenabreden - ... - mit [der tariflichen Neuregelung] ..
gegenstandslos sind", führt das dazu, dass auch bisherige arbeitsvertragliche Abmachungen über die
Pauschalvergütung von Mehrarbeit hinfällig sind. Die Tarifautonomie der Sozialpartner beinhaltet auch das
Recht, Tarifnormen zu Lasten von Arbeitnehmern zu ändern. Tarifnormen stehen immer unter dem
Vorbehalt, dass sie möglicherweise durch nachfolgende Tarifregelungen abgelöst und damit verschlechtert
oder gar aufgehoben werden ( BAG, 14.12.2011 - 10 AZR 447/10 ).
8.2 Abweichende Arbeitnehmervertretungsstrukturen
§ 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG lässt andere Arbeitnehmervertretungsstrukturen durch Tarifvertrag zu, "soweit dies
insbesondere aufgrund der Betriebs-, Unternehmens- oder Konzernorganisation oder aufgrund anderer
Formen der Zusammenarbeit von Unternehmen einer wirksamen und zweckmäßigen Interessenvertretung
der Arbeitnehmer dient". Aber: "Die mit § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eröffnete Möglichkeit, durch Tarifvertrag vom
Gesetz abweichende Arbeitnehmervertretungsstrukturen zu bestimmen, setzt einen Zusammenhang
zwischen vornehmlich organisatorischen oder kooperativen Rahmenbedingungen auf Arbeitgeberseite und
der wirksamen sowie zweckmäßigen Interessenvertretung der Arbeitnehmer voraus. Fehlt es hieran, ist der
Tarifvertrag unwirksam" ( BAG, 13.03.2013 - 7 ABR 70/11 ).
8.3 Arbeitsvertragliche Vereinbarung
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Nicht tarifgebunden Arbeitgeber sind nicht verpflichtet, arbeitsvertraglich nur die Anwendung solcher
Tarifverträge mit ihren Arbeitnehmern zu vereinbaren, die von der für den Betrieb tarifzuständigen
Gewerkschaft geschlossen wurden. Für diese - angebliche - Verpflichtung gibt es keine Rechtsgrundlage.
"Arbeitgeber und Arbeitnehmer steht es im Rahmen ihrer privatautonomen Gestaltungsmacht frei, für ihr
Arbeitsverhältnis die Geltung jedes beliebigen Tarifvertrags zu vereinbaren" ( BAG, 21.09.2011 - 5 AZR
520/10 ).
8.4 AT-Angestellte
Sollen AT-Angestellte dauerhaft AT-Angestellte bleiben, muss zwischen ihrer und der tariflichen Vergütung
ein deutlicher Abstand liegen. Tarifliche Abstandsregelungen haben den Zweck, "durch das Anknüpfen an
einen Mindestabstand des dem außertarifllichen Angestellten zugesagten Entgelts zum höchsten tariflichen
Entgelt eine Kompensation für die mit dem AT-Status verbundene Preisgabe tariflicher Rechte zu schaffen.
Für die sachliche Rechtfertigung eines Verzichts auf tarifliche Ansprüche ist jedoch die Höhe des dem
außertariflichen Angestellten als Ausgleich zugesagten Entgelts entscheidend und nicht, ob die
Arbeitsvertragsparteien ein Monatsentgelt oder ein Jahreseinkommen vereinbart haben" ( BAG, 03.09.2014 5 AZR 1020/12 ).
8.5 Auslegung - 1
Es gibt bei der Auslegung tariflicher Regelungen nicht den Grundsatz, dass Tarifverträge bei sonst nicht
behebbaren Zweifeln immer zugunsten der betroffenen Arbeitnehmer zu interpretieren sind. Diese Art
Auslegung würde die Tarifautonomie der Tarifpartner, "deren gelebter Ausdruck Tarifverträge sind", verletzen.
Würden die staatlichen Gerichte diesen "Auslegungsgrundsatz" anwenden, würden sie "Unzulänglichkeiten
der Verhandlungsführung einer oder beider Koalitionen ausgleichen und einer Seite Vertragshilfe leisten (...).
Darüber hinaus griffen die staatlichen Gerichte mit der Anwendung der Unklarheitenregel in den
Kompromisscharakter des Tarifvertrags ein und verschöben mit der Behebung der bei der Auslegung einer
einzelnen Tarifnorm verbliebenen Zweifel zugunsten der Arbeitnehmerseite das Wertgefüge des gesamten
Tarifvertrags" ( BAG, 07.07.2011 - 6 AZR 241/10 ).
8.6 Auslegung - 2
Die Auslegung von Tarifverträgen geschieht unter Anwendung des Gebots der gesetzeskonformen
Auslegung tariflicher Normen. Das heißt, Tarifbestimmungen sind grundsätzlich so auszulegen, dass sie
nicht in Widerspruch zu höherrangigem Recht geraten. Die Sozialpartner wollen nämlich "im Zweifel
Regelungen treffen, die mit zwingendem höherrangigem Recht in Einklang stehen und damit auch Bestand
haben. Lässt eine Tarifnorm eine Auslegung zu, die zu einem mit höherrangigem Recht vereinbaren Ergebnis
führt, ist sie in diesem Sinne anzuwenden" ( BAG, 21.02.2013 - 6 AZR 524/11 ).
8.7 Auslegungsstreit
Zwischen Tarifvertragsparteien gibt es immer wieder mal Streit um die Auslegung ihrer Tarifverträge. § 9 TVG
sagt dazu, dass rechtskräftige Entscheidungen der Arbeitsgerichte, die in Rechtsstreitigkeiten zwischen
Tarifvertragsparteien aus dem Tarifvertrag oder über das Bestehen oder Nichtbestehen des Tarifvertrags
ergangen sind, in Rechtsstreitigkeiten zwischen tarifgebundenen Parteien sowie zwischen diesen und Dritten
für die Gerichte und Schiedsgerichte bindend sind. Für eine Nichtzulassungsbeschwerde heißt das trotzdem:
"Die Beantwortung einer die Auslegung einer Tarifnorm betreffenden Rechtsfrage hat nicht schon deshalb
grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG , weil eine rechtskräftige Entscheidung im
Ausgangsverfahren die Bindungswirkung nach § 9 TVG auslöst" ( BAG, 10.07.2014 - 10 AZN 307/14 ).
8.8 BAT-Bezugnahme - 1
Steht im Arbeitsvertrag die Klausel "Es handelt sich um eine Vollzeitstelle mit zur Zeit 38,5 Wochenstunden
gem. BAT ", hat dieser Vertrag mit Wegfall des BAT und seiner Ablösung durch den TVöD eine
Regelungslücke. Diese Regelungslücke ist im Wege ergänzender Vertragsauslegung zu schließen. "Dabei
muss die Vertragsergänzung für den betroffenen Vertragstyp eine allgemeine Lösung zur Verfügung stellen,
die die Parteien bei einer angemessenen Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche
Vertragsparteien vereinbart hätten, wenn ihnen die Unvollständigkeit ihrer Regelung bekannt gewesen wäre".
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Hier mit dem Ergebnis, dass die zeitdynamische Bezugnahme auf die BAT -Regelungen auch nach Ablösung
des BAT dynamisch weitergilt und die Parteien keine Arbeitszeit festschreiben wollten ( BAG, 23.03.2011 10 AZR 832/09 ).
8.9 BAT-Bezugnahme - 2
"1. Verweist eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel auf den jeweiligen Bundes-Angestelltentarifvertrag
und die ihn ergänzenden Tarifverträge, werden infolge der Tarifsukzession im öffentlichen Dienst im Wege
der ergänzenden Vertragsauslegung regelmäßig die an dessen Stelle tretenden Nachfolgetrarifverträge
erfasst. 2. Bei der ergänzenden Vertragsauslegung des Arbeitsvertrages eines Arztes kann, wenn die
Tarifregelungen im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände vereinbart worden sind,
der TVöD /VKA dann Vertragsinhalt sein, wenn ein tarifungebundener Arbeitgeber die Tarifverträge des
öffentlichen Dienstes deshalb in Bezug genommen hat, um eine einheitliche, an einem Tarifwerk orientierte
Regelung der Arbeitsbedingungen herbeizuführen" ( BAG, 18.04.2012 - 4 AZR 392/10 - Leitsätze).
8.10 BAT-Bezugnahme - 3
Sieht der Arbeitsvertrag eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers die Klausel "Der Arbeitnehmer erhält eine
Vergütung nach der Vergütungsgruppe IIa des Bundesangestelltentarifvertrags (Fassung Land Hessen) " vor,
ist das eine Allgemeine Geschäftsbedingung. Diese Allgemeine Geschäftsbedingung ist nach ihrem Wortlaut
unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck arbeitsvertraglicher Bezugnahmen auf tarifliche Regelwerke so
auszulegen, "dass sich die Parteien auf die jeweiligen tariflichen Regelungen der Vergütung für den
öffentlichen Dienst des Landes Hessen - abstellend auf die Vergütungsstruktur im Anwendungsbereich des
BAT - einigten." Die durch den Wegfall des BAT entstandene Regelungslücke ist dadurch zu schließen, dass
sich die Parteien - hätten sie die Regelungslücke gesehen - "den Vergütungsregelungen des TV-H
unterworfen hätten" ( BAG, 21.08.2013 - 5 AZR 581/11 ).
8.11 BAT-/TV-L-Bezugnahme - 2
Sagt der Arbeitsvertrag, der Mitarbeiter "erhält eine monatliche Vergütung in Anlehnung an die
Vergütungsgruppe IVb des Bundesangestelltentarifvertrages für den Bereich des Bundes/Tarifgemeinschaft
der Länder ( BAT ) auf der Basis der regelmäßigen Arbeitszeit nach § 15 BAT . (...). Im Übrigen findet der
BAT auf das Arbeitsverhältnis der Parteien keine Anwendung", ist wegen des Wegfalls des BAT eine
Regelungslücke entstanden. Diese Regelungslücke ist durch eine ergänzende Vertragsauslegung und
Anwendung der dem BAT nachfolgenden Tarifverträge des öffentlichen Dienstes zu schließen. Insoweit
besteht auch ein Anspruch auf die im TV EZ-L, dem Tarifvertrag über Einmalzahlungen vom 08.06.2006,
vereinbarten Sonderleistungen ( BAG, 18.05.2011 - 5 AZR 213/09 - mit dem Hinweis, dass die tariflichen
Ausschlussfristen hier wegen der beschränkten Inbezugnahme des BAT nicht greifen).
8.12 BAT-/TV-L-Bezugnahme - 3
Enthält ein Arbeitsvertrag die Regelung "Für das Arbeitsverhältnis gelten die Bestimmungen des BAT für den
Bund und die Länder mit Anlagen und Sonderregelungen in der Fassung vom 01. Juli 1994 sowie die
zugehörigen Vergütungs- und Sonderzahlungs-Tariverträge in ihrer jeweils gültigen Fassung...", ist mit
Ablösung des BAT durch den TVöD eine Regelungslücke entstanden. Diese nachträglich entstandene
Regelungslücke ist im Weg ergänzender Vertragsauslegung so zu schließen, dass "für das Arbeitsverhältnis
der Parteien die dynamische Anbindung an die Vergütungsregelungen des öffentlichen Dienstes der Länder
auf die entsprechenden Folgeregelungen erstreckt werden, auch wenn diese sich nicht mehr auf den BAT ,
sondern auf den TV-L beziehen" ( BAG, 15.06.2011 - 4 AZR 665/09 ).
8.13 BAT-/TV-L-Bezugnahme - 4
Haben die Parteien einen vor der Schuldrechtsreform geschlossenen Arbeitsvertrag nach dem
31.12.2001 geändert, kommt es für die Beantwortung der Frage Alt- oder Neuvertrag darauf an, ob die im
Vertrag enthaltene Verweisungsklausel zum Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung
gemacht wurde. Dabei wird der TV-L jedenfalls dann von der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel
erfasst, wenn nur seine Anwendbarkeit als ein den BAT ersetzender Tarifvertrag in Frage steht. Ohne
besondere Regelung erfasst die Klausel keinen Haustarifvertrag, der von einem Arbeitgeber geschlossen
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wurde, der zuvor nicht an Verbandstarifverträge gebunden war ( BAG, 16.05.2012 - 4 AZR 290/10 ).
8.14 Berufserfahrung
"Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines
allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin
auszulegen, dass er einer Bestimmung eines Kollektivvertrags nicht entgegensteht, nach der bei der
Einstufung in die kollektivvertraglichen Verwendungsgruppen und damit für die Höhe des Entgelts nur die als
Flugbegleiter bei einer bestimmten Luftlinie erworbene Berufserfahrung berücksichtigt wird, nicht aber die
inhaltlich identische Erfahrung, die bei einer anderen konzerninternen Luftlinie erworben wurde" ( EuGH,
07.06.2012 - C-132/11 - Leitsatz - Österreich).
8.15 Betriebliche Übung
Bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber kann eine zu einem Rechtsanspruch auf Entgelterhöhung
entsprechend der Tarifentwicklung in einem bestimmten Tarifgebiet führende betriebliche Übung nur
angenommen werden, "wenn deutliche Anhaltspunkte im Verhalten des Arbeitgebers dafür erkennbar sind,
dass er auf Dauer die von den Tarifvertragsparteien jeweils ausgehandelten Tariflohnerhöhungen
übernehmen will". Erfolgt eine freiwillige Lohnerhöhung in Anlehnung an die Tariflohnerhöhung, entsteht
regelmäßig bloß ein Anspruch auf Fortzahlung dieses erhöhten Lohns, aber keine Verpflichtung des
Arbeitgebers, auch zukünftige Tariflohnerhöhungen mitzumachen ( BAG, 23.03.2011 - 4 AZR 268/09 ).
8.16 Betriebsübergang
Tarifliche Regelungen werden nach Maßgabe des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Inhalt der Arbeitsverhältnisse.
Spätere Änderungen der Tarifbestimmungen haben für die weitere Anwendbarkeit des nach § 613a Abs. 1
Satz 2 BGB transformierten Normenbestands auf die auf den Erwerber übergegangenen Arbeitsverhältnisse
keinen Einfluss. "Verweist ein Anerkennungshaustarifvertrag, der nach seinem Geltungsbereich für alle
Arbeitnehmer und Auszubildenden des Arbeitgebers gilt, auf Verbandstarifverträge mit einem anderen
räumlichen Geltungsbereich, gelten deren Normen grundsätzlich unabhängig davon, ob der räumliche
Geltungsbereich des Verweisungstarifvertrags auch für die vom Haustarifvertrag erfassten Arbeitnehmer und
Auszubildenden gegeben ist" ( BAG, 03.07.2013 - 4 AZR 961/11 - Leitsatz).
8.17 Betriebsvereinbarung
Soweit Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen durch Tarifvertrag geregelt sind, dürfen sie nicht
Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Daher kann eine tarifschließende Gewerkschaft von einem
tarifgebundenen Arbeitgeber die Unterlassung der Anwendung einer gegen den Tarifvertrag verstoßenden
Betriebsvereinbarung verlangen. Die Gewerkschaft hat aber keinen eigenen Anspruch darauf, dass der
Arbeitgeber bei seinen Mitarbeitern Entgeltnachteile ausgleicht, die ihnen durch die tarifwidrige
Betriebsvereinbarung entstanden sind ( BAG, 17.05.2011 - 1 AZR 473/09 ).
8.18 Beweisantritt "Tarifauskunft"
Tarifverträge entwickeln im Lauf der Zeit ein Eigenleben. Dabei werden Tarifverträge von seiten der
beteiligten Gewerkschaft oft anders ausgelegt als vom vertragschließenden Arbeitgeberverband. Kommt es
dann zwischen Arbeitsvertragsparteien zu einem Rechtstreit, wird zur Unterstützung der eigenen
Rechtsauffassung oder mit "Tarifauskunft" Beweis angetreten - mit geringem Erfolg. Zum einen darf eine
Tarifauskunft "nicht auf die Beantwortung der prozessentscheidenden Rechtsfrage gerichtet sein." Zum
anderen ist die Auslegung von Tarifverträgen und tariflichen Tatbestandsmerkmalen Sache des
Arbeitsgerichts. Schließlich "kann der Wille der Tarifvertragsparteien wegen der weitreichenden Wirkung
von Tarifnormen auf die Rechtsverhältnisse von Dritten, die an den Tarifvertragsverhandlungen unbeteiligt
waren, im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit nur dann berücksichtigt werden, wenn er in den
tariflichen Normen unmittelbar seinen Niederschlag gefunden hat" ( BAG, 12.12.2012 - 4 AZR 267/11 ).
8.19 Bezugnahmeklausel - 1
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Arbeitgeber und Arbeitnehmer nehmen oft Tarifbestimmungen - und das auch noch "in der jeweils gültigen
Fassung" - Bezug, die sie weder ausdrücklich kennen noch rechtzeitig vor Vertragsschluss zur Kenntnis
nehmen. "Auf die fehlende Möglichkeit ... [des Arbeitnehmers], bei Vertragsschluss von den für ihn (künftig)
geltenden Tarifverträgen inhaltlich Kenntnis zu nehmen, kommt es für die Einbeziehung der Tarifverträge
durch eine arbeitsvertragliche Verweisungsklausel nicht an. § 305 Abs. 2 BGB findet bei der Kontrolle
vorformulierter Vertragsbedingungen im Arbeitsrecht keine Anwendung ( § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB ). Eine
analoge Anwendung der Regelungen scheidet aufgrund der klaren gesetzgeberischen Entscheidung ... aus" (
BAG, 14.11.2012 - 5 AZR 107/11 ).
8.20 Bezugnahmeklausel - 2
Sieht der Arbeitsvertrag in einer Klausel vor, dass bestimmte "BAT-Bestimmungen" und "zusätzliche
Tarifverträge" auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden, erfasst diese Klausel vom Wortlaut her nicht die
Tarifverträge, die den BAT und die anderen Tarifverträge abgelöst haben. Hier ist im Lauf der Zeit eine
nachträgliche Regelungslücke entstanden, die im Weg der ergänzenden Vertragsauslegung zu
schließen ist. Die ergänzende Vertragsauslegung kann zu dem Ergebnis führen, dass nun der TVöD und ihn
ergänzende Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden sind ( BAG, 03.07.2013 - 4 AZR 41/12 - mit
dem Ergebnis, dass die TVöD -Entgelttarifverträge anzuwenden sind, weil die "Parteien redlicherweise für
den Fall der hier vorliegenden Tarifsukzession des im Arbeitsvertrag benannten tariflichen Regelungswerks
zur Bestimmung der Vergütung des .. [Arbeitnehmers] die nachfolgenden Tarifregelungen des öffentlichen
Dienstes vereinbart hätten, weil eine statische Regelung der Arbeitsbedingungen auf den Zeitpunkt der
Tarifsukzession nicht ihren Interessen beim Vertragsschluss entsprach").
8.21 Bezugnahmeklausel - 3
Sieht der Arbeitsvertrag u.a. die Klausel vor "Auf das Arbeitsverhältnis finden die für den Arbeitgeber fachlich
einschlägigen Tarifverträge in ihrer jeweils geltenden Fassung Anwendung. Dies sind zur Zeit die zwischen
der Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit und PSA und dem Arbeitgeberverband
Mittelständischer Personaldienstleister e. V. abgeschlossenen Tariftverträge [es folgt eine Aufzählung
einzelner Tarifverträge]", dann ist das keine gültige Bezugnahmeklausel, weil die in Bezug genommenen
CGZP-Tarifverträge (s. dazu die Stichworte Gewerkschaft - Allgemeines und Gewerkschaft - Tarifträger )
arbeitsrechtlich keine Wirkung haben. Das wiederum hat zur Folge, dass eine zusätzlich in den Vertrag
aufgenommene Ausschlussfrist greift. Die Bezugnahme auf den Tarifvertrag ist unwirksam, die Kollisionsfrage
tarifliche contra arbeitsvertragliche Regelung stellt sich hier nicht ( BAG, 25.09.2013 - 5 AZR 778/12 - mit dem
Ergebnis, dass der Arbeitnehmer zwar Anspruch auf eine Vergütung nach equal-pay-Grundsätzen hat, mit
diesen Ansprüche aber nach der arbeitsvertraglichen Verfallklausel schon ausgeschlossen war).
8.22 Bezugnahmeklausel - 4
"Der Auslegung einer vor dem 1. Januar 2002 arbeitsvertraglich vereinbarten Bezugnahmeklausel als sog.
Gleichstellungsabrede i. S. d. früheren Rechtsprechung des Senats steht nicht entgegen, dass die
Bezugnahme nicht ein ganzes Tarifwerk umfasst, sondern lediglich einen einzelnen Tarifvertrag oder Teile
hiervon" ( BAG, 11.12.2013 - 4 AZR 473/12 - Leitsatz).
8.23 Differenzierungsklausel
Da sich die Normsetzungsmacht der Tarifpartner von Verfassung und Gesetzes wegen ausschließlich auf
ihre Mitglieder beschränkt, ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Tarifpartner die
Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft zur tatbestandlichen Voraussetzung für einen tariflichen
Anspruch machen. Maßstab der Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln ist die negative Koalitionsfreiheit.
Aber: "Eine tarifvertragliche Inhaltsnorm, die eine den Gewerkschaftsmitgliedern vorbehaltene Leistung
dadurch absichert, dass sie für den Fall einer Kompensationsleistung des Arbeitgebers an nicht oder anders
organisierte Arbeitnehmer das Entstehen eines entsprechend erhöhten Anspruchs für die
Gewerkschaftsmitglieder vorsieht (sog. Spannenklausel), ist wegen Überschreitung der Tarifmacht
unwirksam" ( BAG, 23.03.2011 - 4 AZR 366/09 ).
8.24 Dissens bei der Auslegung
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"Ein Dissens der Tarifvertragsparteien vermag an der tarifrechtlichen Wirksamkeit einer ... gültig zustande
gekommenen Norm wegen ihres Normcharakters nichts zu ändern. Das gilt auch dann, wenn die
abweichenden Vorstellungen zur Auslegung des Tarifvertrags bereits zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses
bestanden haben. Maßgeblich ist der nach außen zum Ausdruck gekommene Normbefehl." Wenn sich der
nach außen zum Ausdruck gekommene Normbefehl nicht mit den üblichen Auslegungsmethoden hinreichend
sicher bestimmen lässt, "ist im Interesse des Normerhalts (...) auf das Verständnis des durchschnittlichen
Normanwenders zurückzugreifen" ( BAG, 18.10.2012 - 6 AZR 261/11 ).
8.25 Dynamik - 1
Vereinbaren die Vertragspartner 2002 im nordrhein-westfälischen Einzelhandel ein Monatsgehalt von
1.671,30 EUR mit einem Verdienst von 11,39 EUR für jede volle Arbeitsstunde und zusätzlich die Klausel "In
dem Bruttogehalt/Bruttoverdienst sind einbegriffen das für Sie maßgebliche Tarifgehalt nach Tarifgruppe GI,
Stufe BJ 6 in Höhe von z.Zt. EUR 1.671,30 monatlich. Mit dem übertariflichen Gehaltsanteil können etwaige
durch Tarifvertrag festgelegte Gehaltserhöhungen oder Zulagen abgegolten werden, bis das tarifliche
Gesamt-Bruttogehalt/der tarifliche Gesamt-Bruttoverdienst den frei vereinbarten Betrag überschreitet", ist das
keine dynamische Bezugnahme auf den Gehaltstarifvertrag des Einzelhandels. Das angegebene
Bezugsgehalt aus dem Tarif ist lediglich eine Bezugsgröße, im Übrigen ist das vereinbarte Gehalt frei
verhandelt. Da hilft auch die Verwendung der Abkürzung "z.Zt." nicht weiter ( BAG, 16.05.2012 - 4 AZR
224/10 ).
8.26 Dynamik - 2
Sieht ein Haustarifvertrag unter "Anhebung der Löhne und Gehälter" die Regelung "Die Löhne und Gehälter
betragen ab dem 01.01.2002 98,75 %, ab dem 01.07.20002 99,25 % und ab dem 01.01.2003 100 % der
Ortsklasse I nach den für das jeweilige Datum gültigen Tarifverträgen für den bayerischen Einzelhandel", vor,
ist das eine dynamische Verweisungsklausel. Der Wechsel des Arbeitgebers von der tarifgebundenen
Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband in die OT-Mitgliedschaft hat auf diese Dynamik keinen Einfluss. Die
Tarifgebundenheit des Arbeitgebers auf Grund des von ihm mit der Gewerkschaft geschlossenen
Haustarifvertrags ist nicht an den Status seiner Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband gebunden ( BAG,
23.10.2013 - 4 AZR 703/11 - mit dem Ergebnis, dass der Arbeitgeber die auf Verbandsebene vereinbarten
Tariferhöhungen für seine (haus)tarifgebundenen Mitarbeiter übernehmen muss).
8.27 Elementenfeststellungsklage
Hat ein Arbeitnehmer ein berechtigtes Interesse daran, gerichtlich feststellen zu lassen, dass auf sein
Arbeitsverhältnis ein bestimmter Tarifvertrag Anwendung findet, kann er das mit einer
"Elementenfeststellungsklage" tun. So eine Feststellung ist nämlich geeignet, dazu beizutragen, dass eine
Vielzahl von Einzelfragen geklärt wird, die sich an die Anwendung des Tarifvertrags knüpfen. Dabei ist es
nicht ausschlaggebend, dass mit einem bloßen Feststellungsurteil noch keine Aussage darüber getroffen
werden kann, welche Rechte dem Arbeitnehmer nun tatsächlich zustehen und welcher Tarifvertrag bei einem
Sachgruppenvergleich für den Arbeitnehmer günstiger ausfällt. Ein Günstigkeitsvergleich ist erst
vorzunehmen, wenn der Arbeitnehmer aus dem Tarifvertrag konkrete Ansprüche geltend macht (BAG,
26.08.2015 - 4 AZR 719/13) .
8.28 ERA-Strukturtarifvertrag
Die Tarifpartner der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs haben im Jahr 2003 einen
Entgelt-Rahmentarifvertrag (ERA-TV) vereinbart. Dieser Tarifvertrag sah - mit weiteren, ihn begleitenden
Tarifverträgen - vor, dass in den Betrieben bis spätestens 29.02.2008 ein neues Entgeltsystem einzuführen
ist. Nun gilt ein Tarifvertrag grundsätzlich nur zwischen den Tarifgebundenen. Über eine arbeitsvertragliche
Bezugnahmeklausel kann allerdings auch ein nicht tarifgebundener Arbeitgeber verpflichtet sein, die in den
Tarifverträgen der Metall- und Elektroindustrie vereinbarten "ERA-Strukturkomponenten" - z.B. eine
Einmalzahlung - zu zahlen. Wegen der arbeitsvertraglichen Inbezugnahme der Metalltarifverträge ist nämlich
auch der sonst nicht tarifgebundene Arbeitgeber verpflichtet, bis zum 29.02.2008 ein neues Entgeltsystem
einzuführen ( BAG, 12.06.2013 - 4 AZR 969/11 ).
8.29 Ergänzende Vertragsauslegung - 2
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Eine ergänzende Tarifvertragsauslegung kommt nicht in Betracht, wenn eine regelungsbedürftige Frage
von den Tarifpartnern bewusst nicht geregelt wurde und diese Entscheidung mit höherrangigem Recht
konform ist. Bei einer ergänzenden Auslegung wird nämlich vorausgesetzt, dass a) von Anfang an eine
unbewusste Regelungslücke vorliegt oder b) eine Regelung im Nachhinein lückenhaft geworden ist. Erst
dann haben die Arbeitsgerichte "die Möglichkeit und die Pflicht, eine Tariflücke zu schließen, wenn sich unter
Berücksichtigung von Treu und Glauben ausreichende Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen der
Tarifvertragsparteien ergeben." Die Tarifpartner haben allerdings in eigener Verantwortung darüber zu
entscheiden, "ob sie eine von ihnen geschaffene Ordnung beibehalten oder ändern." Halten sie an der von
ihnen geschaffenen Ordnung fest, muss sich die "ergänzende Auslegung an dem bestehenden System und
dessen Konzeption zu orientieren." Die ergänzende Auslegung "scheidet aus, wenn den Tarifvertragsparteien
ein Spielraum zur Lückenschließung bleibt und es ihnen wegen der verfassungsrechtlich geschützten
Tarifautonomie überlassen bleiben muss, die von ihnen für angemessen gehaltene Regelung selbst zu finden
( BAG, 03.07.2014 6 AZR 753/12 mit Hinweis auf BAG, 12.09.2013 - 6 AZR 512/12 und BVerfG, 29.03.2010 1 BvR 1373/08 )."
8.30 Erholungshilfen nur für Gewerkschaftsmitglieder
Der vereinfachte Fall: Die IG Metall hatte mit dem Arbeitgeber eine Reihe von Sanierungspaketen vereinbart.
Unter anderem auch einen Tarifvertrag zur Entgeltsenkung. Für ihr Entgegenkommen hat die IG Metall für
ihre Mitglieder eine Besserstellung vereinbart. Der Arbeitgeber sollte einem Verein beitreten, der
satzungsgemäß Erholungshilfen von 200,00 EUR an IG Metall-Mitglieder leistet - an Nichtmitglieder nicht. Ein
Nichtmitglied verklagte den Arbeitgeber auf Zahlung der Erholungsbeihilfe, scheiterte jedoch damit. Der
arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz lässt sich für den behaupteten Anspruch nicht aktivieren.
Für die Angemessenheit der Verträge tariffähiger Vereinigungen besteht eine Angemessenheitsvermutung,
die eine Überprüfung ihrer Verträge nach dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz ausschließt.
Und das unabhängig davon, ob die Leistung für Gewerkschaftsmitglieder in einem Tarifvertrag oder einer
anderen schuldrechtlichen Koalitionsvereinbarung geregelt wird ( BAG, 21.05.2014 - 4 AZR 50/13 ).
8.31 Fehlende Tarifzuständigkeit
§ 97 ArbGG regelt das Beschlussverfahren "über die Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer Vereinigung" i.
S. d. § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG . Dabei muss die Feststellung weder gegenwarts- noch zukunfstbezogen sein.
"1. § 97 Abs. 1 ArbGG lässt auch eine vergangenheitsbezogene Feststellung der Tarifzuständigkeit einer
Gewerkschaft [hier: ver.di vs. "DHV - Die Berufsgewerkschaft e.V."] zu. 2. In dem Verfahren um die
Tarifzuständigkeit einer Vereinigung sind weder die Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer- und
Arbeitgeberseite noch die obersten Arbeitsbehörden des Bundes und der Länder beteiligt" ( BAG, 11.06.2013
- 1 ABR 32/12 - mit dem Ergebnis, dass der DHV bis zum 09.01.2013 die satzungsgemäße Tarifzuständigkeit
für die Arbeitnehmer der DRK-Blutspendienst West gGmbH, soweit sie weder kaufmännisch noch verwaltend
tätig waren, fehlte).
8.32 Feststellungsklage
Nach § 9 TVG sind rechtskräftige Entscheidungen der Gerichte für Arbeitssachen, die in
Rechtsstreitigkeiten zwischen Tarifvertragsparteien aus dem Tarifvertrag oder über das Bestehen oder
Nichtbestehen des Tarifvertrags ergangen sind, "in Rechtsstreitigkeiten zwischen tarifgebundenen Parteien
sowie zwischen diesen und Dritten für die Gerichte und Schiedsgerichte bindend". § 9 TVG spricht nicht nur
sog. Bestandsstreitigkeiten an, sondern auch Auslegungsfragen. Anträge der Tarifvertragsparteien
müssen sich daher auf die "abstrakte und fallübergreifende Auslegung einer Tarifnorm beziehen". Das
konkrete Verhalten eines Arbeitnehmers ist kein Gegenstand einer Feststellungsklage nach § 9 TVG ( BAG,
18.04.2012 - 4 AZR 371/10 ).
8.33 Geltungsvereinbarung
Abweichende tarifliche Bestimmungen haben im Bereich tariflicher Altersvorsorge nach § 17 Abs. 3
Satz 2 BetrAVG Geltung, wenn zwischen den Vertragspartnern "die Anwendung der einschlägigen tariflichen
Regelungen vereinbart ist". Einschlägig i. S. d. § 17 Abs. 3 Satz 2 BetrAVG ist eine Regelung aber nur dann,
wenn sie nach § 4 Abs. 1 TVG gelten würde, "wenn die Parteien des Arbeitsvertrags tarifgebunden wären.
Die Bezugnahme muss sich daher auf den räumlich, zeitlich, fachlich und persönlich anwendbaren
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Tarifvertrag beziehen". § 17 Abs. 3 Satz 2 BetrAVG schränkt die Vereinbarung nicht allein auf den bloß
fachlich geltenden Tarifvertrag ein ( BAG, 19.04.2011 - 3 AZR 154/09 - zum tariflichen Ausschluss der
Entgeltumwandlung).
8.34 Gestaffelte Bezugnahme auf Tarifverträge
Der vereinfachte Fall: Der Arbeitsvertrag eines Leiharbeitnehmers enthielt in § 2 einen Verweis auf
"Anwendbare Tarifverträge". In der Vertragsklausel waren u.a. Tarifverträge mit der CGZP, der CGM, der
DHV und der medsonet aufgeführt. Im Zuge der gerichtlichen Prüfung der Tariffähigkeit der CGZP schlossen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag. Darin hieß es u.a.: "Für den Fall,
dass durch eine gerichtliche Entscheidung rechtskräftig festgestellt wird, dass die ... [CGZP-Tarifverträge u.a.]
unwirksam sind, bestimmen sich die Rechte und Pflichten [von Arbeitgeber und Arbeitnehmer] ... nach den
zwischen dem Bundesverband Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen e.V. (BZA) und der Tarifgemeinschaft der
Mitgliedsgewerkschaften des DGB geschlossenen Tarifverträge ..." Der Arbeitnehmer klagte irgendwann
Ansprüche nach § 10 Abs. 4 AÜG ein - der verklagte Arbeitgeber berief sich auf eine arbeitsvertragliche
Verfallklausel. Das BAG ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Ansprüche nicht verfallen waren. Die
Inbezugnahmeklausel war "mangels Kollisionsregel intransparent", § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB . "Die
Bezugnahme auf die in der Zusatzvereinbarung genannten 'zwischen dem Bundesverband Zeitarbeit
Personal-Dienstleistungen e. V. (BZA) und der Tarifgemeinschaft der Mitgliedswerkschaften des DGB
geschlossenen Tarifverträge' ist bereits deshalb nicht zum Tragen gekommen, weil ihre tatbestandlichen
Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Auch nach dem Behaupten der Beklagten ist nicht 'durch gerichtliche
Entscheidung rechtskräftig festgestellt' worden, dass die in § 2 Abs. 1 Arbeitsvertrag genannten 'Tarifverträge
... unwirksam sind'" ( BAG, 19.02.2014 - 5 AZR 700/12 - mit dem Hinweis, dass auch die arbeitsvertragliche
Ausschlussregelung intransparent und damit unwirksam war).
8.35 Gestaltungsspielraum
"Die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie gewährt .. [Tarifvertragsparteien] einen weiten
Gestaltungsspielraum. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen
Gegebenheiten und betroffenen Interessen zu (...). Sie sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste,
vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich
vertretbarer Grund vorliegt (...). Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz ist erst dann anzunehmen, wenn die
Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu
ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am
Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen" ( BAG, 11.12.2013
- 10 AZR 736/12 - zu den unterschiedlichen Nachtarbeitszuschlägen im MTV Einzelhandel Berlin).
8.36 Gewerkschaftlicher Beseitigungsanspruch
Schließen Arbeitgeber und Betriebsrat eine tarifwidrige Betriebsvereinbarung, wird die als Partei am
Tarifvertrag beteiligte Gewerkschaft dadurch in ihrer Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt. Das
bedeutet: "Aus § 1004 Abs. 1 , § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 9 Abs. 3 GG ergibt sich bei tarifwidrigen
betrieblichen Regelungen ein gegen den Arbeitgeber gerichteter Anspruch der Gewerkschaften auf
Beseitigung und Unterlassung weiterer Beeinträchtigungen. Der Beseitigungsanspruch umfasst jedoch nicht
die Wiederherstellung des tarifkonformen Zustands durch Nachzahlung der tariflichen Leistungen an die
Arbeitnehmer" ( BAG, 17.05.2011 - 1 AZR 473/09 - Leitsatz).
8.37 Gewerkschaftsbeitritt während Nachbindung
Tritt der Arbeitgeber aus seinem Verband aus, ist er an die von diesem Verband geschlossenen Tarifverträge
nach § 3 Abs. 3 TVG solange gebunden, bis die Tarifverträge enden - und das unmittelbar und zwingend. Tritt
ein Arbeitnehmer während der Zeit der Nachbindung in die tarifvertragschließende Gewerkschaft ein, wirken
diese Tarifverträge wegen § 4 Abs. 1 TVG nach - und das ebenso unmittelbar und zwingend. Damit wird
eine frühere arbeitsvertragliche Abmachung, die Vereinbarungen unterhalb des Tarifvertragsniveaus
enthält, verdrängt. Die Tarifgebundenheit hält solange an, bis die Tarifverträge enden ( BAG, 06.07.2011 4 AZR 424/09 ).
8.38 Gleichbehandlung - 1
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"Das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts ist auch von den
Tarifvertragsparteien zu beachten. Ihnen gebührt allerdings auf Grund der Tarifautonomie eine
Einschätzungsprärogative in Bezug auf die sachlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die
Rechtsfolgen sowie ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der
von ihnen getroffenen Regelungen. Dies ist bei der Prüfung, ob eine Benachteiligung wegen des
Geschlechts sachlich gerechtfertigt ist, zu berücksichtigen" ( BAG, 19.01.2011 - 3 AZR 29/09 - Leitsätze - mit
dem Ergebnis, dass es bei der fiktiven rückwirkenden Berechnung der so genannten Lufthansa-Betriebsrente
einer Flugbegleiterin durchaus gerechtfertigt ist, Zeiten eines früheren Arbeitsverhältnisses nicht zu
berücksichtigen).
8.39 Gleichbehandlung - 2
"Ein vermeintlicher Normenvollzug, der die Anwendung des arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatzes ausschließen könnte, liegt dann nicht vor, wenn der Arbeitgeber tarifliche
Regelungen, bei denen er selber davon ausgeht, dass sie nach ihrem Anwendungsbereich auf mit ihm
bestehende Arbeitsverhältnisse nicht einschlägig sind und auch keine tarifvertragliche Lücke vorliegt, die
von Rechts wegen deren Anwendung gebietet, gleichwohl auf diese Arbeitsverhältnisse anwendet" ( BAG,
06.07.2011 - 4 AZR 596/09 - Leitsatz - mit dem Hinweis, dass der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz
aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes nur die Gestaltungsmacht des Arbeitgebers beschränkt, also
dann greift, wenn der Arbeitgeber ein eigenes Regelwerk oder eine eigene Ordnung schaffen will und nicht
eben bloß die Normen eines Tarifvertrags vollzieht).
8.40 Gleichstellungsabrede - 1
Bei einer arbeitsvertraglichen Gleichstellungsabrede wird der in Bezug genommene Tarifvertrag in der jeweils
gültigen Fassung auf das Arbeitsverhältnis angewendet, solange der Arbeitgeber an diesen Tarifvertrag
gebunden ist. Tarifverträge, die erst nach Ende der Tarifbindung des Arbeitgebers geschlossen werden,
sind dagegen ohne Einfluss auf das Arbeitsverhältnis. Die Annahme einer Gleichstellungsabrede setzt
voraus, dass der Arbeitgeber selbst an die Tarifverträge, die in Bezug genommen werden, gebunden ist.
Denn eine Gleichstellungsabrede soll lediglich die möglicherweise fehlende Tarifgebundenheit des
Arbeitnehmers ersetzen und ihn mit den tarifgebundenen Arbeitnehmern gleichstellen ( BAG, 18.04.2007 4 AZR 253/06 - mit dem Hinweis, dass die arbeitsvertragliche Inbezugnahme der DRK-Arbeitsbedingungen
keine Gleichstellungsabrede i. S. d. BAG-Rechtsprechung ist, weil die DRK-Arbeitsbedingungen keine
Tarifvertragsqualität haben).
8.41 Gleichstellungsabrede - 2
Nach der früheren BAG-Rechtsprechung waren arbeitsvertragliche Verweisungsklauseln in aller Regel als
so genannte Gleichstellungsabreden auszulegen, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden war. Seit Inkrafttreten
der Schuldrechtsreform zum 01.01.2002 wird diese Auslegungsregel nur noch für so genannte "Altfälle"
angewendet, also für Arbeitsverträge, die vor dem 31.12.2001 geschlossen wurden. Dabei ist die Auslegung
einer Vertragsklausel als Gleichstellungsabrede auch dann nicht ausgeschlossen, wenn darin auf einen
allgemeinverbindlichen Tarifvertrag verwiesen wurde und der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Bezugnahme
Mitglied des tarifschließenden Arbeitgeberverbands war ( BAG, 27.01.2010 - 4 AZR 570/08 ).
8.42 Gleichstellungsabrede - 3
Kommt es in einem Arbeitsverhältnis, das eine vor dem 01.01.2002 vereinbarte Bezugnahmeklausel
enthält ("Altvertrag"), nach dem 31.12.2001 zu einer Änderung des Arbeitsvertrags, hängt die Beurteilung der
Frage, ob es sich bei dieser Bezugnahmeklausel dann um einen Alt- oder Neuvertrag handelt, davon ab, ob
die Klausel zum Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung der Vertragsparteien des
Änderungsvertrags gemacht wurde. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich bei dem
Altvertrag um einen Formulararbeitsvertrag handelt. Zudem entscheidet "der von den Vertragsparteien
verfolgte Regelungszweck sowie die der jeweils anderen Seite erkennbare Interessenlage der Beteiligten."
Maßgeblich für die Beurteilung ist, ob die Klausel im Änderungsvertrag "zum Gegenstand der
rechtsgeschäftlichen Willensbildung der hieran beteiligten Vertragsparteien gemacht worden ist" ( BAG,
19.10.2011 - 4 AZR 811/09 - mit dem Ergebnis, dass eine Änderung des Entgelts und ein Verzicht auf
Urlaubs- und Weihnachtsgeld allein nicht zur Annahme eines Neuvertrags führen).
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8.43 Gleichstellungsabrede - 4
Verweist eine vor dem 01.01.2002 im Arbeitsvertrag vereinbarte dynamische Verweisung ("Altfall") auf
einen Tarifvertrag, ist sie unter normalen Umständen als Gleichstellungsabrede auszulegen - weiter
vorausgesetzt, sie verweist auf den einschlägigen Tarifvertrag, an den der Arbeitgeber gebunden ist. Endet
seine Tarifgebundenheit später, endet damit auch die Dynamik der Gleichstellungsabrede. In diesem Fall gilt
dann der Tarifvertrag in der zur Zeit des Wegfalls der Tarifbindung geltenden Fassung statisch weiter und
wird Bestandteil des zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Arbeitsvertrags ( BAG, 14.12.2011
- 4 AZR 79/10 ).
8.44 Gleichstellungsabrede - 5
Die Klausel "Für das Arbeitsverhältnis gelten die für das in Art. 3 des Einigungsvertrages genannte Gebiet
vereinbarten Bestimmungen des Tarifvertrages für die Angestellten/Arbeiter der Deutschen Bundespost
TELEKOM (TV Ang (Ost) bzw. TV Arb (Ost) und der sonstigen für das gesamte Gebiet vereinbarten
Tarifverträge für die Angestellten/Arbeiter der Deutschen Bundespost TELEKOM in ihrer jeweiligen Fassung
als unmittelbar zwischen den Parteien vereinbart." im Arbeitsvertrag, ist das eine Gleichstellungsabrede. Sie
erfasst weder Haustarifverträge eines Folgearbeitgebers noch die die in Bezug genommenen Tarifverträge
ersetzende "der DT AG [Deutsche Telekom AG] im Zuge der Vereinbarung der Tarifverträge des NBBS
[Neues Bewertungs- und Bezahlungssystem]" ( BAG, 21.11.2012 - 4 AZR 231/10 - mit dem Hinweis, dass die
Anwendbarkeit der DT AG-Tarifverträge hier aus einer ergänzenden Auslegung der Bezugnahmeklausel folgt)
.
8.45 Gleichstellungsabrede - 6
Haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einem vor dem 01.01.2002 geschlossenen Arbeitsvertrag vereinbart,
dass ein bestimmter Tarifvertrag - an den der Arbeitgeber seinerseits normativ gebunden ist - in seiner
jeweils geltenden Fassung in Bezug genommen wird, wird die vereinbarte Dynamik regelmäßig beendet,
wenn die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers wegfällt. Das gilt sowohl in den Fällen, in denen der Arbeitgeber
dem tarifschließenden Arbeitgeberverband angehört als auch dann, wenn die Tarifbindung über einen von
ihm als Tarifvertragspartei mit der Gewerkschaft geschlossenen Anerkennungstarifvertrag vermittelt ist ( BAG,
11.12.2013 - 4 AZR 473/12 ).
8.46 Gleichstellungsabrede - 7
Der im Jahr 1990 geschlossene Arbeitsvertrag einer Arbeitnehmerin hatte bei den Vergütungsabsprachen
einen tariflichen Bezug und sah zudem in § 14 vor: "Soweit sich aus diesem Vertrag nichts anderes ergibt,
findet der Mantel- und Gehaltstarifvertrag Hess. Einzelhandel in der zuletzt gültigen Fassung sowie die
Betriebsordnung Anwendung. ..." In einem Vergütungsrechtsstreit meinte die Arbeitnehmerin, sie habe einen
Entgeltanspruch nach den jeweils gültigen tariflichen Bestimmungen (= dynamische Verweisung). Das BAG
war anderer Ansicht: Früher wurden vertragliche Regelungen wie die hier in Rede stehende als bloße
Gleichstellungsabrede gewertet. "Die Verweisung auf einen Tarifvertrag oder ein Tarifwerk in der jeweils
geltenden Fassung wurde deshalb einschränkend dahin ausgelegt, dass die auf diese Weise zum Ausdruck
gebrachte Dynamik nur so weit gereicht hat, wie sie bei einem tarifgebundenen Arbeitnehmer reicht, also
dann endet, wenn der Arbeitgeber wegen Wegfalls der eigenen Tarifgebundenheit nicht mehr normativ an
künftige Tarifentwicklungen gebunden ist. Ab diesem Zeitpunkt sind die in Bezug genommenen Tarifverträge
nur noch statisch anzuwenden. Diese Rechtsprechung hat der Senat für vertragliche
Bezugnahmeregelungen, die nach dem Inkrafttreten der Schuldrechtsreform am 1. Januar 2002 vereinbart
worden sind, aufgegeben. Er wendet die Auslegungsregel aus Gründen des Vertrauensschutzes jedoch
weiterhin auf Bezugnahmeklauseln an, die vor dem Inkrafttreten der Schuldrechtsreform am 1. Januar 2002
vereinbart worden sind" ( BAG, 13.05.2015 - 4 AZR 246/14 - mit dem Ergebnis, dass der Arbeitnehmerin der
eingeklagte Differenzlohn nicht zustand und die arbeitsvertraglich Regelung als Gleichstellungsabrede ohne
Dynamik zu sehen war - s. dazu auch BAG, 11.12.2013 - 4 AZR 473/12 ).
8.47 Grundrechtsbindung - 1
"Es kann dahinstehen, ob die Tarifvertragsparteien als Normgeber bei der tariflichen Normsetzung unmittelbar
grundrechtsgebunden sind. Aufgrund der Schutzpflichten der Grundrechte haben sie aber den allgemeinen
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Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und
Abs. 3 GG zu beachten (...). Die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie gewährt ihnen einen
weiten Gestaltungsspielraum. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen
Gegebenheiten und betroffenen Interessen zu (...). Die Tarifvertragsparteien können deshalb auch
Tarifnormen zu Lasten von Arbeitnehmern ändern und Zulagen abschaffen" ( BAG, 23.03.2011 - 10 AZR
701/09 ).
8.48 Grundrechtsbindung - 2
Bei der tariflichen Normsetzung sind die Parteien des Tarifvertrags nicht unmittelbar an die Grundrecht
gebunden. Die Durchsetzung von Tarifregelungen, die zu einer gleichheits- und sachwidrigen
Differenzierung führen und damit dem Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG zuwiderlaufen, muss von
den Arbeitsgerichten jedoch verweigert werden. Mit Blick auf den durch die Koalitionsfreiheit geschützten
Gestaltungsspielraum dürfen die Sozialpartner die "tarifliche Berücksichtigung von Beschäftigungs- und
Tätigkeitszeiten .. in Tarifverträgen in sehr unterschiedlicher Weise" regeln. "Den Tarifvertragsparteien ist es
dabei grundsätzlich freigestellt zu bestimmen, welche Zeiten welcher Tätigkeiten sie tariflich in welcher Form
berücksichtigen wollen" ( BAG, 12.09.2013 - 6 AZR 512/12 ).
8.49 Grundrechtsbindung - 3
Auch wenn die Tarifvertragsparteien bei der tariflichen Normsetzung nicht unmittelbar an die Grundrechte
gebunden sind: Ihre Schutzfunktion gebietet es den Arbeitsgerichten, "Tarifregelungen die Durchsetzung zu
verweigern, die zu gleichheits- und sachwidrigen Differenzierungen führen und deshalb Art. 3 GG verletzen."
Mit Blick auf die in Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Tarifautonomie kommt den Tarifpartnern, die immerhin
selbst Träger von Grundrechten sind, ein weiter Gestaltungsspielraum zu. "Wie weit dieser reicht, hängt von
den im Einzelfall vorliegenden Differenzierungsmerkmalen ab, wobei den Tarifvertragsparteien in Bezug auf
die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen eine Einschätzungsprärogative zusteht" ( BAG,
20.09.2012 - 6 AZR 211/11 ).
8.50 Grundrechtsbindung - 4
Welche Zeiten welcher Tätigkeit Tarifvertragsparteien in welcher Form berücksichtigen wollen, ist ihnen
grundsätzlich freigestellt. Ihnen wird durch Art. 3 Abs.. 1 GG allerdings ein gleichheitswidriger
Begünstigungsausschluss untersagt, mit sie einen Personenkreis begünstigen und einen anderen nicht.
Dabei ist immer zu berücksichtigen: "Verfassungsrechtlich erheblich ist aber nur die Ungleichbehandlung
von wesentlich Gleichem bzw. die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem." Wobei es allerdings
wiederum den Tarifvertragsparteien überlassen ist, die Merkmale festzulegen, "nach denen Sachverhalte als
hinreichend gleich anzusehen sind, um sie gleich zu regeln" ( BAG 03.07.2014 - 6 AZR 1067/12 ).
8.51 Günstigkeitsvergleich - 1
Ansprüche eines Arbeitnehmers auf bestimmte Zahlungen - in diesem Fall ging es um eine
Jubiläumszuwendung - können sich aus einem Tarifvertrag oder aus einer anderen Anspruchsgrundlage z.B. dem Arbeitsvertrag - ergeben. In der Regel greift der Tarifvertrag - es sei denn, die arbeitsvertragliche
Abmachung ist für den Arbeitnehmer günstiger. Um das herauszufinden, muss die tarifliche Regelung mit
der arbeitsvertraglichen verglichen werden - wobei es unerheblich ist, ob die Vertragspartner ihre Absprache
vor oder nach Inkrafttreten des Tarifvertrags getroffen haben. Bleibt dabei etwas unklar, gilt: "Führt ein
Günstigkeitsvergleich nicht zweifelsfrei zu dem Ergebnis, dass die vom normativ geltenden Tarifvertrag
abweichende arbeitsvertragliche Regelung für den Arbeitnehmer günstiger ist, bleibt es bei der zwingenden,
normativen Geltung des Tarifvertrags" (BAG, 10.12.2014 - 4 AZR 503/12) .
8.52 Günstigkeitsvergleich - 2
Von einem Tarifvertrag abweichende Abmachungen sind nach § 4 Abs. 3 TVG nur zulässig, "soweit sie
durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers
enthalten." Ist ein Tarifvertrag auf ein Arbeitsverhältnis wegen vertraglicher Inbezugnahme anzuwenden, greift
das Günstigkeitsprinzip aus § 4 Abs. 3 TVG nur dann, wenn die vertraglichen Regelungen gegenüber dem
kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit geltenden Tarifvertrag für den Mitarbeiter günstiger sind. Ob die
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vertragliche Abmachung günstiger i. S. d. § 4 Abs. 3 TVG ist, muss über einen so genannten
"Sachgruppenvergleich" ermittelt werden. Ist danach nicht ohne Zweifel festzustellen, dass die zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbarte Regelung für den Mitarbeiter günstiger ist, bleibt es bei der
zwingenden Geltung der tariflichen Bestimmungen ( BAG, 15.04.2015 - 4 AZR 587/13 ).
8.53 Haustarifvertrag
Abweichende einzelvertragliche Abmachungen sind zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nach § 4
Abs. 3 TVG nur zulässig, wenn der Tarifvertrag sie zulässt oder sie "eine Änderung zugunsten des
Arbeitnehmers enthalten". Auf der anderen Seite kann ein Tarifvertrag eine arbeitsvertragliche Abmachung
auch dann nicht ablösen, wenn beide Vertragspartner tarifgebunden sind. Dieser Grundsatz gilt auch bei der
einzelvertraglichen Inbezugnahme der AVR Caritas - der Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen
des Deutschen Caritasverbandes. Das Verhältnis tariflicher zu arbeitsvertraglichen Ansprüchen wird von § 4
Abs. 3 TVG nach dem Günstigkeitsprinzip geklärt ( BAG, 22.02.2012 - 4 AZR 24/10 ).
8.54 Inbezugnahme
In der Regel ist es so, dass nicht tarifgebundene Vertgragspartner Tarifverträge in ihre Arbeitsverträge
einbeziehen, die aktuell gültig oder in der Phase der Nachwirkung sind. Es geht aber auch anders:
"Arbeitsvertragsparteien sind grundsätzlich frei, ein kollektives Regelwerk in Bezug zu nehmen. Das gilt auch
dann, wenn der in Bezug genommene Tarifvertrag keine normative Wirkung mehr entfaltet oder bei
beiderseitiger Tarifbindung das Arbeitsverhältnis nicht erfassen würde [es folgt ein Hinweis auf BAG,
14.12.2011 - 4 AZR 26/10 ], es sei denn, es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Parteien nur einen noch
wirksamen oder bei Tarifbindung auf ihr Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrag vereinbaren wollten" (
BAG, 20.06.2013 - 6 AZR 842/11 ).
8.55 Inkrafttreten - 1
Ein Tarifvertrag ist ein zivilrechtlicher Vertrag zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaft.
Grundsätzlich wird er mit seinem Abschluss wirksam. Soll er nach dem Willen der Tarifpartner erst zu einem
späteren Zeitpunkt in Kraft treten, ist dieser spätere Zeitpunkt für das Inkrafttreten des Tarifvertrags
maßgeblich. Bevor der Tarifvertrag nicht in Kraft getreten ist, gehört ein tariflicher Regelungstatbestand nicht
zu den Rechten und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Betriebsübergangs nach § 613a Abs. 1 Sätze 1 und
2 BGB bestehenden Arbeitsverhältnissen. "Nach Betriebsübergang kommt bei einem zuvor noch nicht in Kraft
getretenen Haustarifvertrag des Veräußerers eine Verbindlichkeit der Tarifnorm auch ncht über eine
arbeitsvertragliche Bezugnahme auf die 'Vorschriften der jeweils gültigen Tarifverträge' in Betracht, weil diese
nicht Haustarifverträge eines anderen Unternehmens erfasst" ( BAG, 16.05.2012 - 4 AZR 320/10 ).
8.56 Inkrafttreten - 2
Sind Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen durch
Rechtsnormen eines Tarifvertrags geregelt, werden sie nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB "Inhalt des
Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen und dem Arbeitnehmer". Nun ist in der Regel so, dass die
Tarifpartner für ihre Verträge einen bestimmten zeitlichen Geltungsbereich festlegen und der Tarifvertrag,
der auf das Arbeitsverhältnis von einem Betriebsübergang betroffener Arbeitnehmer anzuwenden ist, im
Zeitpunkt des Betriebsübergangs schon gelten. Aber: "Tritt ein Tarifvertrag nicht mit seinem Abschluss,
sondern erst später in Kraft, beginnt die für die Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB maßgebende
Tarifgeltung mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens" ( BAG, 16.05.2012 - 4 AZR 321/10 ).
8.57 Jeweiligkeit
Das BAG vertritt in ständiger Rechtsprechung (s. dazu u.a. BAG, 23.03.2011 - 10 AZR 831/09 - und BAG,
10.11.2010 - 5 AZR 633/09 ) die Auffassung, dass "bei Bezugnahme in einem Arbeitsvertrag auf
Tarifverträge einer bestimmten Branche, einen bestimmt benannten Tarifvertrag oder einen Teil davon und
bei Fehlen anderer eindeutiger Hinweise, die für eine statische Bezugnahme sprechen, regelmäßig
anzunehmen" ist, "die jeweilige Fassung solle Anwendung finden." So ist beispielsweise die fehlende Angabe
einer konkret nach Datum festgelegten Fassung des in Bezug genommenen Tarifvertrags als dynamische
Verweisung zu verstehen: "Einer ausdrücklichen 'Jeweiligkeits-Klausel' bedarf es nicht" mal ( BAG,
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12.06.2013 - 4 AZR 970/11 ).
8.58 Kirchliche Arbeitsvertragsregelungen - 1
"1. Das Mitarbeitergesetz der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen lässt keine auf dem
dritten Weg beschlossene Vergütungsregelungen außerhalb der Dienstvertragsordnung zu. Trifft die Arbeitsund Dienstrechtliche Kommission gestützt auf das Mitarbeitergersetz eine entsprechende
Arbeitsrechtsregelung, ändert diese materiellrechtlich die Dienstverordnung auch dann, wenn sie nicht als
eine solche Änderung bezeichnet und scheinbar als eigenständige Regelung konzipiert ist. 2.
Bezugnahmeklauseln auf die Bestimmungen des kirchlichen Arbeitsrechts sind grundsätzlich dahin
auszulegen, dass sie dem kirchlichen Arbeitsrecht im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis umfassend Geltung
verschaffen" ( BAG, 16.02.2012 - 6 AZR 573/10 ).
8.59 Kirchliche Arbeitsvertragsregelung - 2
Enthält der Arbeitsvertrag eines kirchlichen Arbeitnehmers die Verweisungsklausel "Die AVR sind Bestandteil
des Dienstvertrages und haben dem Mitarbeiter zur Kenntnisnahme zur Verfügung gestanden. (...). Bei
Änderungen der AVR gilt jeweils die in der 'Caritas-Korrespondenz' veröffentlichte und im Amtsblatt des
Ortsbistums in Kraft gesetzte Fassung, ohne dass es einer weiteren Vereinbarung bedarf.", ist diese
dynamische Verweisungsklausel in aller Regel dahin auszulegen, dass sie das gesamte kirchenrechtliche
System der Arbeitsrechtssetzung erfassen soll. "Zu ihm gehören auch alle Verfahrensordnungen und die
daraus hervorgegangenen Beschlüsse Arbeitsrechtlicher Kommissionen, Unter- oder Regionalkommission,
die auf dem sog. Dritten Weg zustande gekommen sind" ( BAG, 28.06.2012 - 6 AZR 217/11 ).
8.60 Kündigungsausschluss
Ein Sanierungstarifvertrag darf durchaus die Regelung enthalten: "Kann diese Vereinbarung " Entgeltkürzung gegen Beschäftigungssicherung - "im Einzelfall nicht eingehalten werden, kann .... nur mit
Zustimmung des Betriebsrats und der ver.di Landesbezirk NRW (Fachbereich Medien, Kunst und Industrie)
gekündigt werden". Dabei dient das tarifliche Zustimmungserfordernis dem Zweck, der Gewerkschaft eine
ernst zu nehmende Einflussnahme auf Kündigungen zu sichern, "die eine Veränderung des von den
Tarifvertragsparteien als vertretbar angesehenen Verhältnisses von Lohnverzicht und von Entlassungen
einerseits und Beschäftigungssicherung andererseits mit sich bringen". Das Recht des Arbeitgebers, wegen
dringender betrieblicher Gründe zu kündigen, kann durchaus im Wege normativer tariflicher Regelungen von
der Zustimmung einer Gewerkschaft abhängig gemacht werden ( BAG, 24.02.2011 - 2 AZR 830/09 ).
8.61 Kündigungsfrist und Koalitionsfreiheit
Die Satzung eines Arbeitgeberverbandes sah in § 5 unter der Überschrift "Beginn und Ende der
Mitgliedschaft" folgende Regelung vor: "Die Mitgliedschaft beginnt mit der Aufnahme. Sie endet mit dem
Austritt oder Ausschluss. Der Austritt eines Mitgliedes aus dem Verband kann nur durch Kündigung erfolgen,
und zwar mittels eingeschriebenen Briefes an die Geschäftsstelle bis zum 31.12. eines Jahres zum 31.12.
des nächsten Jahres." Dazu der Bundesgerichtshof in einer Leitsatzentscheidung: "a) Eine Kündigungsfrist in
der Satzung eines in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins organisierten Arbeitgeberverbandes, die
sechs Monate überschreitet, ist auch unter Berücksichtigung der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten
berechtigten Belange des Verbandes regelmäßig nicht mit der in Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten
individuellen Koalitionsfreiheit seiner Mitglieder vereinbar. b) Überschreitet die in der Satzung eines
Arbeitgeberverbandes bestimmte Kündigungsfrist die im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG zulässige Dauer, bleibt
die Regelung in dem mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbaren Umfang aufrechterhalten" ( BGH, 29.07.2014 - II ZR
243/13 - Leitsätze).
8.62 Leistungen an Gewerkschaftsmitglieder
"Die Tarifvertragsparteien können in einem Tarifvertrag mit sozialplanähnlichem Inhalt für Leistungen mit
einer Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion zwischen verschiedenen Gruppen von
Gewerkschaftsmitgliedern - solchen, die vor einem Stichtag Gewerkschaftsmitglied waren und später
eingetretenen - grundsätzlich differenzieren, wenn der Stichtag nicht willkürlich gewählt wird, sondern für ihn
ein sachlicher Grund besteht (hier: Datum des Abschlusses der Tarifverhandlungen über eine
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Teilbetriebsstilllegung)" ( BAG, 15.04.2015 - 4 AZR 796/13 - Leitsätze).
8.63 Mindestlohn - 1
"Ist die Höhe der Vergütung" in einem Arbeitsvertrag "nicht bestimmt, so ist beim Bestehen einer Taxe die
taxmäßige Vergütung, in Ermangelung einer Taxe die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen", sagt
§ 612 Abs. 2 BGB . "Wird das übliche Entgelt i.S.v. § 612 Abs. 2 BGB durch einen Mindestentgelttarifvertrag
bestimmt, findet eine in demselben Tarifvertrag geregelte Ausschlussfrist Anwendung" ( BAG, 20.04.2011 5 AZR 171/10 - Leitsatz - zum TV Mindestlohn Bau). Hier kommt zum Ausdruck, dass die
Tarifvertragsparteien einen engen Zusammenhang zwischen dem Mindestlohn und der tariflichen
Ausschlussklausel hergestellt haben. Sie sind von allgemeinen, an sich branchenüblichen Regelungen
abgewichen und haben gerade für den Mindestlohn eine Sonderregelung getroffen - was bei Feststellung der
üblichen Vergütung zu berücksichtigen ist.
8.64 Mindestlohn - 2
"1. Art. 26 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über
die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und
Dienstleistungsaufträge in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1251/2011 der Kommission vom 30. November
2011 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er Rechtsvorschriften einer regionalen Einheit eines
Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, nach denen sich Bieter und
deren Nachunternehmer in einer schriftlichen, ihrem Angebot beizufügenden Erklärung verpflichten
müssen, den Beschäftigten, die zur Ausführung von Leistungen, die Gegenstand eines öffentlichen Auftrags
sind, eingesetzt werden sollen, einen in den betreffenden Rechtsvorschriften festgelegten Mindestlohn zu
zahlen."
"2. Art. 26 der Richtlinie 2004/18 in der durch die Verordnung Nr. 1251/2011 geänderten Fassung ist dahin
auszulegen, dass er Rechtsvorschriften einer regionalen Einheit eines Mitgliedstaats wie den im
Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die vorsehen, dass Bieter und deren Nachunternehmer
von der Beteiligung an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ausgeschlossen werden,
wenn sie sich weigern, sich durch eine schriftliche, ihrem Angebot beizufügende Erklärung zu verpflichten,
den Beschäftigten, die zur Ausführung von Leistungen, die Gegenstand des öffentlichen Auftrags sind,
eingesetzt werden sollen, einen in den betreffenden Rechtsvorschriften festgelegten Mindestlohn zu zahlen"
(EuGH, 17.12.2015 - C-115/14 - Leitsätze - Deutschland).
8.65 Mindesttarife für Dienstleister
"Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass eine tarifvertragliche Bestimmung wie die im
Ausgangsverfahren fragliche, die Mindesttarife für selbstständige Dienstleistungserbringer vorsieht, die einer
der angeschlossenen Arbeitnehmervereinigungen angehören und für einen Arbeitgeber auf der Grundlage
eines Dienstleistungsvertrags die gleiche Tätigkeit ausüben wie die bei diesem Arbeitgeber angestellten
Arbeitnehmer, nur dann vom Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen ist, wenn die
Leistungserbringer 'Scheinselbstständige' sind, d. h. sich in einer vergleichbaren Situation wie die
Arbeitnehmer befinden. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen" ( EuGH, 04.12.2014 C-413/13 - Leitsatz - Niederlande).
8.66 Mitbestimmung
Will der nicht tarifgebundene Arbeitgeber einen neuen Vergütungsbestandteil als Bestandteil der
Gesamtvergütung einführen, hat sein Betriebsrat dabei nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitzubestimmen.
Will der Arbeitgeber diesen Vergütungsbestandteil später auf einen Personenkreis, der nach abstrakten
Merkmalen bestimmt wird, beschränken, ist auch diese Maßnahme mitbestimmungspflichtig. Aber: "Der
Betriebsrat kann vom Arbeitgeber im Wege des betriebsverfassungsrechtlichen Duchführungsanspruchs nicht
die Weitergewährung eines mitbestimmungswidrig eingeführten Vergütungsbestandteils verlangen" ( BAG,
18.03.2014 - 1 ABR 75/12 - Leitsatz).
8.67 Nachbindung
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"Ein Arbeitgeber im räumlichen Geltungsbereich der ERA-Tarifverträge Nord, der vor Ende der freiwilligen
Einführungsphase des ERA durch Austritt aus dem Arbeitgeberverband" zum 31.07.2006 "seine
Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 1 TVG beendet hat, ist nicht verpflichtet, zu einem späteren Termin das ERA
betrieblich einzuführen. Die nach § 3 Abs. 3 TVG weiter bestehende Nachbindung erfasst nicht den nach
§ 16 TV-ERA Nord zum 1. Januar 2008 vorgesehenen Übergang auf das neue tarifliche System des ERA" (
BAG, 19.10.2011 - 4 ABR 116/09 - Pressemitteilung). Die Tarifvertragsparteien haben in § 16 Nr. 1 TV-ERA
Nord ausdrücklich vereinbart, dass dieser Tarifvertrag erst ab dem 01.01.2008 für alle
verbandsangehörigen Betriebe unmittelbar und zwingend gelten soll. Das schließt die Nachbindung eines
schon vor dem 01.01.2008 nicht mehr mitgliedschaftlich tarifgebundenen Arbeitgebers an den TV-ERA Nord
aus.
8.68 Nachwirkung - Ausschluss
§ 4 Abs. 5 TVG sagt, dass die Rechtsnormen eines Tarifvertrags solange weitergelten, "bis sie durch eine
andere Abmachung ersetzt werden." Die Tarifvertragsparteien haben die Möglichkeit, die Nachwirkung ausdrücklich oder stillschweigend - auszuschließen. Das kann beispielsweise dadurch geschehen, dass sie
eine Regelung treffen, nach der die Wochenarbeitszeit ohne Entgeltausgleich nur für einen begrenzten
Zeitraum angehoben und während dieses Zeitraums zur Sicherung der Beschäftigung zeitlich begrenzt auf
betriebsbedingte Kündigungen verzichtet werden soll. Bei so einer Regelung folgt aus den "in der
Vereinbarung miteinander in Ausgleich gebrachten wechselseitigen Interessen", dass nur eine zeitlich
befristete Regelung ohne Nachwirkung gewollt ist ( BAG, 16.05.2012 - 4 AZR 366/10 ).
8.69 Nachwirkung - Zwingende Arbeitsbedingungen
Die Nachwirkung eines Tarifvertrags reicht nach § 4 Abs. 5 TVG so weit, bis seine Rechtsnormen "durch eine
andere Abmachung ersetzt werden". Nach § 1 Abs. 3a Satz 1 AEntG a.F. (1998) konnte das
Bundeministerium für Arbeit und Soziales durch Rechtsverordnung bestimmen, "dass die Rechtsnormen"
eines Tarifvertrags , für den ein Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung gestellt worden ist, "auf alle unter
den Geltungsbereich dieses Tarifvertrages fallenden und nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Anwendung findet". Diese Rechtsnormen sind allerdings nach dem Ende der Gesamtdauer der Verordnung
für die betreffenden Arbeitsverhältnisse nicht mehr maßgebend. " § 4 Abs. 5 TVG über die Nachwirkung von
Tarifverträgen ist" hier "weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar" ( BAG, 20.04.2011 - 4 AZR 467/09
- Leitsatz).
8.70 Nichttarifgebundener Arbeitgeber
Der Betriebsrat hat nach Maßgabe des § 87 Abs. 1 BetrVG zwingend mitzubestimmen, "soweit" keine
"gesetzliche oder tarifliche Regelung" besteht. Der nicht tarifgebundene Arbeitgeber wird in Fragen der
betrieblichen Lohngestaltung i. S. d. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG durch die Tarifsperre des Eingangssatzes
von § 87 Abs. 1 BetrVG nicht beschränkt. Insoweit kann der nichttarifgebundene Arbeitgeber das ganze
Volumen der von ihm für die Vergütung seiner Arbeitnehmer bereitgestellten Mittel mitbestimmungsfrei
festlegen. Er leistet seine Vergütungsbestandteile gewissermaßen "freiwillig" - es besteht ja keine
Tarifbindung. Nur: Bei der Ausfüllung des ihm von § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG überlassenen
Gestaltungsspielraums hat der Betriebsrat mitzubestimmen ( BAG, 10.12.2013 - 1 ABR 39/12 ).
8.71 Notlagentarifvertrag
Der vereinfachte Fall: Der CeBeeF - ein gemeinnütziger Verein - hatte mit der Gewerkschaft ver.di einen
Tarifvertrag geschlossen. In der Folgezeit zahlte der CeBeef seinen Mitarbeitern den Tariflohn trotzdem
nicht. Er behauptete eine existenzgefährdende Notlage und forderte ver.di auf, mit ihm einen
Nottarifvertrag zu schließen. Etliche Arbeitnehmer klagten ihre tarifliche Vergütung ein - und bekamen Recht.
Auch wenn sich die Gewerkschaft bereits 2012 verpflichtet habe, mit dem CeBeeF über einen
Notlagentarifvertrag zu verhandeln, darf der Arbeitgeber seine Mitarbeiter nicht so behandeln, als gäbe es
diesen Notlagentarifvertrag bereits. Er muss weiterhin den vereinbarten Tariflohn zahlen ( LAG Hessen,
28.08.2015 - 3 Sa 295/14 ).
8.72 Öffnungsklausel
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§ 18 Abs. 6 TVöD (VKA) sieht vor, dass die in § 18 TVöD (VKA) angesprochenen Leistungsentgelte
"betrieblich vereinbart" werden. Die Protokollerklärung der Tarifpartner zu § 18 Abs. 4 TVöD (VKA) zusätzliches Leistungsentgelt - sieht vor, dass für Fälle, in denen bis zum 30.09.2007 keine betriebliche
Regelung zu Stande kommt, "die Beschäftigten mit dem Tabellenentgelt des Monats Dezember 2008 6 % des
für den Monat September jeweils zustehenden Tabellenentgelts" erhalten. Sollen aller Mitarbeiter nach einer
Dienstvereinbarung undifferenziert 12 % des Tabellenentgelts als Leistungsentgelt für 2012 erhalten, wird so
eine Regelung nicht von der tariflichen Öffnungsklausel gedeckt. Die Protokollerklärung Nr. 1 zu Absatz 4
des § 18 TVlöD (VKA) lässt nur einen 6-prozentigen Anspruch zu ( ArbG Brandenburg, 29.10.2013 - 2 Ca
565/13 ).
8.73 Organisationsbereich
Gewerkschaften können ihren Organisationsbereich wegen der in Art. 9 Abs. 3 GG verankerten
Tarifautonomie über ihre Satzung festlegen. Nur: Der satzungsmäßig festgelegte Organisationsbereich muss
transparent und "hinreichend bestimmt sein". Die Grenzen ihrer Zuständigkeit müssen für "handelnde Organe
der Vereinigung selbst, für den sozialen Gegenspieler und für Dritte zuverlässig zu ermitteln sein, weil sie die
Grenze wirksamen Handelns der Vereinigung bilden". Außerhalb der Satzung liegende Umstände sind nicht
berücksichtigungsfähig. "Durch ein bloßes Tätigwerden außerhalb des satzungsgemäßen
Organisationsbereichs kann dieser nicht erweitert und eine nach der Satzung fehlende Tarifzuständigkeit
nicht begründet werden" ( BAG, 17.04.2012 - 1 ABR 5/11 ).
8.74 OT-Mitgliedschaft - 1
Der Wechsel eines Arbeitgebers von der normalen, tarifgebundenen Mitgliedschaft in eine OT-Mitgliedschaft
seines Arbeitgeberverbands während laufender Tarifverhandlungen führt dazu, dass gegen diesen
Arbeitgeber gerichtete gewerkschaftliche Arbeitskampfmaßnahmen unzulässig sind. Weiter vorausgesetzt,
der Arbeitgeber hat die Gewerkschaft über den Statuswechsel informiert. Ein trotzdem durchgeführter Streik
ist rechtswidrig und verpflichtet die durchführende Gewerkschaft nach § 823 Abs.1 BGB zu Schadensersatz (
BAG, 19.06.2012 - 1 AZR 775/10 ).
8.75 OT-Mitgliedschaft - 2
Sieht die Satzung eines Verbands vor, dass es bei ihm sowohl eine "Mitgliedschaft mit Tarifbindung" als
auch eine "Mitgliedschaft ohne Tarifbindung" gibt, regelt sie zudem noch die Voraussetzungen, unter
denen ein Mitglied von einer normalen in eine "OT-Mitgliedschaft" wechseln kann, und sieht sie dafür die
Einhaltung einer Kündigungs-/Erklärungsfrist von einem Monat zum Monatsende vor, ist dagegen
grundsätzlich nichts zu sagen. Weiter vorausgesetzt, dass auch sonst in der Satzung sauber zwischen "T"und "OT"-Mitgliedern getrennt wird und Mitglieder ohne Tarifbindung in tariflichen Angelegenheiten kein
Stimmrecht haben. Dann wird aus "dem Gesamtgefüge der Satzungsregelungen des Verbandes ... vor allem
durch die Regelung ... der Satzung die erforderliche Kongruenz von Mitentscheidungsrecht und Bindung an
die Tarifabschlüsse hinreichend klar und deutlich hergestellt" ( BAG, 21.11.2012 - 4 AZR 28/11 ).
8.76 OT-Mitgliedschaft - 3
"1. Für die Entscheidung über die ausreichende Trennung der Bereiche von tarifgebundenen und nicht
tarifgebundenen Unternehmen in einem tarifschließenden Arbeitgeberverband ist ausschließlich die Satzung
selbst heranzuziehen, nicht dagegen "unterrangiges Vereinsrecht", zB eine Geschäftsordnung. 2. Sieht die
Satzung die Besetzung tarifpolitischer Gremien (zB Tarifkommission) durch ein anderes Vereinsorgan (zB
Vorstand, Mitgliederversammlung) vor, dürfen die nicht tarifgebundenen Verbandsmitglieder auf diese
Auswahlentscheidung keinen Einfluss haben" ( BAG, 21.01.2015 - 4 AZR 797/13 - Leitsätze).
8.77 Outsourcing
Sieht ein Tarifvertrag vor: "Maßnahmen des Outsourcings sind ausgeschlossen, es sei denn, dass diese zur
Vermeidung von betriebsbedingten Kündigungen zwingend erforderlich sind. Alle Maßnahmen des
Outsourcings bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der vorherigen Zustimmung der Tarifvertragspartner", ist das
nicht unbedingt eine tarifliche Betriebsnorm. Sie würde nämlich voraussetzen, dass "sie eine über das
einzelne Arbeitsverhältnis hinausgehende unmittelbare und zwingende Geltung auch gegenüber den
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Arbeitnehmern beansprucht". Diese Wirkung wiederum scheidet aus, "wenn für eine Regelung ein
Zustimmungsvorbehalt zu Gunsten einer der Tarifvertragsparteien vereinbart wird". Dann liegt nämlich keine
zwingende, normative Regelung vor ( BAG, 26.01.2011 - 4 AZR 159/09 - mit dem Hinweis, dass das Verbot
ohne den Zustimmungsvorbehalt inhaltsleer sein würde).
8.78 Rechtsanspruch auf Abschluss?
Das Arbeitsgericht darf einen Arbeitgeberverband nur dann auf eine Klage der Gewerkschaft verurteilen,
einen bestimmten, von der Gewerkschaft im Entwurf vorgelegten Tarifvertrag abzuschließen, wenn eine
rechtlich verbindliche Verpflichtung zum Abschluss des Tarifvertrags besteht. Diese rechtliche
Verpflichtung muss sich genauso zweifelsfrei wie der Inhalt der eingeklagten Erklärung aus der
Verpflichtungsgrundlage - z.B. einer tariflichen Regelung oder einem Vorvertrag - ergeben. Besteht keine
verbindliche Verpflichtung, lässt sich allenfalls ein Verhandlungsanspruch der Tarifpartner gegeneinander
bejahen ( BAG, 25.09.2013 - 4 AZR 173/12 ).
8.79 Rückwirkung - 1
Tarifvertragliche Regelungen tragen auch während der Laufzeit des Tarifvertrags den immanenten
Vorbehalt ihrer rückwirkenden Änderung durch Tarifvertrag in sich. Das gilt auch für schon entstandene und
fällig gewordene, aber noch nicht abgewickelte Ansprüche (= wohlerworbene Rechte) - wie beispielsweise
eine Sonderzuwendung zu Weihnachten. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifpartner zur rückwirkenden
Änderung ist nur durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes der Normunterworfenen begrenzt. Dabei ist
es eine Frage des Einzelfalls, ob und ab wann Tarifunterworfene mit einer tariflichen Neuregelung rechnen
müssen. Dabei kommt es nicht auf die positive Kenntnis der einzelnen Tarifunterworfenen von den zu Grunde
liegenden Umständen an, sondern auf "die Kenntnis der betroffenen Kreise" ( BAG, 24.03.2011 - 6 AZR
765/09 ).
8.80 Rückwirkung - 2
Für die Beantwortung der Frage, ob ein Tarifvertrag in einen tariflichen Anspruch auf eine Sonderzahlung
eingreifen kann, ist auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem der Anspruch entsteht. Schon vor diesem Zeitpunkt
hat der Arbeitnehmer nicht bloß eine Anwartschaft, sondern eine Rechtsanspruch erworben. Auf den Erhalt
dieses Rechtsanspruchs darf er im Grundsatz vertrauen und kann gegebenenfalls auch über ihn verfügen.
Davon muss die festgelegte Leistungszeit - § 271 BGB - unterschieden werden, die mit dem Zeitpunkt der
Anspruchsentstehung nicht identisch sein muss. Das Vertrauen ist dann nicht mehr schutzwürdig, "wenn und
sobald die Normunterworfenen mit einer Änderung rechnen müssen" ( BAG, 24.03.2011 - 6 AZR 796/09 - mit
dem Hinweis, dass die Umstände des Einzelfalls maßgeblich sind).
8.81 Sanierungsbeitrag - Rückforderung
Es passiert bisweilen, dass Arbeitgeber(verbände) mit der Gewerkschaft einen Tarifvertrag für die Sanierung
des Betriebs/Unternehmens schließen. Der Arbeitgeber verpflichtet sich darin u.a., bestimmte Investitionen
zu machen und keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen, wenn die Mitarbeiter dafür im
Gegenzug auf Teile ihres Arbeitsentgelts verzichten oder - wie hier - ohne Lohnausgleich länger arbeiten.
Für den Fall, dass der Arbeitgeber seinen Investitionspflichten nicht nachkommt, kann sogar ein Anspruch auf
Nachvergütung vereinbart werden. Er soll einen "Erfüllungsanreiz" darstellen - kann aber ausgeschlossen
sein, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaft davon absehen, die tariflich vorgesehen Übersicht zum
Investitionsrahmen zu erstellen, weil sie wegen der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung nicht mehr
erforderlich war und die Arbeitsplätze auch so während der Laufzeit des Tarifvertrags erhalten blieben ( LAG
Düsseldorf, 05.12.2014 - 10 Sa 605/14 ).
8.82 Sonderrechte für Gewerkschaftsmitglieder
Sieht ein Tarifvertrag vor, dass Gewerkschaftsmitglieder - hier von ver.di und NGG - eine höhere
Sonderzahlung bekommen, ist so eine Regelung grundsätzlich nicht zu beanstanden. Die Tarifregelung
schließt nicht an einen früheren Besitzstand an, sondern "differenziert lediglich in der Höhe der Leistung
zwischen organisierten und nicht organisierten Beschäftigten". Die Tarifpartner dürfen Merkmale typisieren
und generalisieren - und dabei Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt sind,
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generalisierend vernachlässigen. Sollen Folgen einer Arbeitnehmer möglicherweise benachteiliegenden
Regelung - hin zur ergebnisorientierten Sonderzahlung - für Gewerkschaftsmitglieder, "die sich in der
Vergangenheit auf die Zahlung einer nicht ergebnisabhängigen Sonderzahlung eingerichtet hatten", gemildert
werden, ist es zulässig, eine Regelung nur für die gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer zu schaffen, die
bis dahin einen Besitzstand erworben haben ( BAG, 13.06.2012 - 10 AZR 247/11 ).
8.83 Sondertarifvertrag für Studenten
Sieht ein Tarifvertrag gegenüber den sonst "Normalbeschäftigten" für studentische Aushilfskräfte nachteiligere
Arbeitsbedingungen vor, ist das allein kein Grund, der diesen Tarifvertrag unwirksam macht. Geltung als
Tarifvertrag kann dieses Regelwerk nur dann nicht beanspruchen, wenn er nicht ordnungsgemäß zu Stande
gekommen ist oder sein Inhalt insgesamt unwirksam oder unanwendbar ist. Ein Arbeitnehmer, der weiter
gehende Rechte für sich in Anspruch nehmen will, muss darlegen, inwieweit einzelne Bestimmungen des
verdrängten Tarifvertrags gegen Diskriminierungsverbote oder Gleichbehandlungsgebote verstoßen - das
Arbeitsgericht muss dann sehen, welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben ( BAG, 16.11.2011 - 4 AZR
856/09 ).
8.84 Tarifautomatik - EU-Recht
"Art. 3 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedsstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen,
Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedsstaat
verwehrt, vorzusehen, dass im Fall eines Unternehmensübergangs die Klauseln, die dynamisch auf nach
dem Zeitpunkt des Übergangs verhandelte und abgeschlossene Kollektivverträge verweisen, gegenüber dem
Erwerber durchsetzbar sind, wenn dieser nicht die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen über diese nach
dem Übergang abgeschlossenen Kollektivverträge teilzunehmen" ( EuGH, 18.07.2013 - C-426/11 Vereinigtes Königreich).
8.85 Tarifentgelt
Sieht eine "Vertragsänderung" mit einem Formularvertrag die Regelung "3.2 Für seine Tätigkeit erhält der
Mitarbeiter ein monatliches Bruttogehalt von [es folgt eine Aufzählung] Tarifentgelt EUR 1.458,00" und
entspricht der Euro-Betrag dem zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden Tarifentgelt, ist das eine
Vergütungsabrede, die wie eine Allgemeine Geschäftsbedingung nach den §§ 305c Abs. 2, 306, 307 309
BGB zu prüfen ist. Nach den allgemeinen Auslegungsregeln für AGB "beschränkt sich" diese
"Vergütungsabrede nicht auf die Vereinbarung eines festen und statischen Euro-Betrags, sondern enthält
zumindest eine Dynamik entsprechend den Tariferhöhungen für" die Branche ( BAG, 13.02.2013 - 5 AZR
2/12 ).
8.86 Tarifliche Kündigungsregel (Auslegung)
Sieht ein Tarifvertrag vor, dass er mit Ablauf eines bestimmten Tags endet, "ohne dass es einer Kündigung
bedarf", und enthält er einen Sonderkündigungstatbestand (Nichtaufnahme des Arbeitgebers in ein
staatliches Investitionsprogramm) mit der Regelung, dass ansonsten "eine vorherige Kündigung
ausgeschlossen" ist, ist das eine schuldrechtliche Vereinbarung zwischen den Tarifpartnern ("Rechte und
Pflichten der Tarifvertragsparteien" i. S. d. § 1 TVG ). Schuldrechtliche Vereinbarungen sind
Willenserklärungen, die von den Tatsachengerichten auszulegen sind. Das BAG kann die Auslegung des
Berufungsgerichts nur daraufhin überprüfen, "ob es die Auslegungsgrundsätze der §§ 133 , 157 BGB
eingehalten hat, ob gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze verstoßen worden ist, ob alle
erheblichen Tatsachen für die Auslegung herangezogen worden sind und ob eine gebotene Auslegung
unterlassen worden ist" ( BAG, 27.02.2013 - 4 AZR 78/11 ).
8.87 Tariflicher Spielraum
Die Höhe einer tariflichen Vergütung hängt vielfach von der Dauer bestimmter Beschäftigungszeiten in
eine bestimmten Vergütungsgruppen oder -staffeln ab. Die Modalitäten, wie diese Beschäftigungszeiten
tariflich zu berücksichtigen sind, kann in Tarifverträgen recht unterschiedlich geregelt sein. Das kann von
allgemeinen bis hin zu qualifizierten Anforderungen gehen. Dabei ist es den Tarifvertragsparteien
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grundsätzlich freigestellt, zu bestimmen, "welche Zeiten welcher Tätigkeit sie tariflich in welcher Form
berücksichtigen wollen" ( BAG, 13.11.2013 - 4 AZR 100/12 - mit Hinweis auf BAG, 17.10.2007 - 4 AZR
1005/06 ).
8.88 Tarifkonkurrenz
"Die Ablösung tariflicher Regelungen durch einen anderen Tarifvertrag setzt voraus, dass die
aufeinanderfolgenden Tarifvereinbarungen von denselben Tarifvertragsparteien geschlossen werden.
Schließt ein an einen Verbandstarifvertrag kraft Mitgliedschaft gebundener Arbeitgeber mit der
Gewerkschaft, die diesen Tarifvertrag vereinbart hat, einen Haustarifvertrag , findet auch hinsichtlich
übereinstimmender Regelungsbereiche keine Ablösung statt, sondern es kann lediglich eine Tarifkonkurrenz
eintreten" (BAG, 19.11.2014 - 4 AZR 761/12) .
8.89 Tariföffnungsklausel
"Eine Tariföffnungsklausel, die den Betriebsparteien die abweichende Ausgestaltung der Tarifnormen durch
eine nicht erzwingbare Betriebsvereinbarung ermöglicht, ist ohne Hinzutreten besonderer Umstände
dahingehend auszulegen, dass diese entsprechend den für tarifliche Normen geltenden Grundsätzen auch
rückwirkende Regelungen treffen können. Ein solches Verständnis belässt den Betriebspartnern in zeitlicher
Hinsicht den ihnen durch eine Tariföffnungsklausel geschaffenen Freiraum. Wollen die Tarifvertragsparteien
diesen begrenzen, muss das im Tarifvertrag deutlich zum Ausdruck kommen" ( BAG, 22.05.2012 - 1 AZR
103/11 ).
8.90 Tarifpluralität
"Hat ein Arbeitgeber mit unterschiedlichen Gewerkschaften zwei sich in ihrem Geltungsbereich
überschneidende Tarifverträge über eine betriebliche Vergütungsordnung abgeschlossen, liegt eine
Tarifpluralität vor, bei der beide Tarifverträge im jeweiligen Betrieb nebeneinander gelten. In einem
solchen Fall ist der Arbeitgeber nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG gehalten, die Arbeitnehmer unter Beteiligung
des Betriebsrats den Entgeltgruppen beider Vergütungsordnungen zuzuordnen" (BAG, 14.04.2015 - 1 ABR
66/13) .
8.91 Tarifsukzession - 1
Vereinbaren die Arbeitsvertragspartner ein Bezugnahmeklausel, die auf die "Bestimmungen des
Tarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundespost" und die sonstigen für sie geltenden Tarifverträge in
der jeweiligen Fassung verweist, erfasst über die ergänzende Vertragsauslegung auch die Tarifverträge der
Deutschen Telekom AG, die dann auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden sind. Der von den Vertragspartnern
abgesteckte Inhalt der Bezugnahmeklausel kann nicht erweiternd dahingehen ausgelegt werden, dass auch
Haustarifverträge von Tochterfirmen der Deutschen Telekom AG erfasst werden, die lange Zeit nach
Vertragsschluss gegründet wurden. Das gilt auch für den Fall eines Betriebsübergangs von der Deutschen
Telekom AG auf eines ihrer neu gegründeten Tochterunternehmen. Eine Tarifsukzession unter Ablösung der
bei der Deutschen Telekom geltenden Tarifverträge ist beim neuen Arbeitgeber nicht gegeben ( BAG,
06.07.2011 - 4 AZR 706/09 ).
8.92 Tarifsukzession - 2
"1. Eine Vergütungsabrede, mit der eine Vergütung 'nach' einer bestimmten Vergütungsgruppe des BAT oder
'in Anlehnung' an eine solche vereinbart wurde, ist durch die Tarifsukzession im öffentlichen Dienst [dem
BAT folgte der TVöD] lückenhaft geworden. 2. Die nachträgliche Regelungslücke ist im Wege der
ergänzenden Vertragsauslegung zum Zeitpunkt der Tarifsukzession zu schließen. Das danach ermittelte
Entgelt mindert sich allein wegen der späteren Verlängerung der Regelarbeitszeit im öffentlichen Dienst nicht"
( BAG, 25.02.2015 - 5 AZR 481/13 - mit dem Ergebnis, dass sich die Vergütung nun nach dem TVöD und den
dazu vorliegenden Entgelttarifverträgen richtet, hier: TVÜ-VKA).
8.93 Tarifvertragliche Verweisungsklausel
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Nehmen die Tarifvertragsparteien in einem Tarifvertrag auf einen anderen Tarifvertrag Bezug, dann gilt
dieser für die an den Verweisungsvertrag gebundenen Parteien des Arbeitsvertrags "nicht als solcher",
"sondern als inkorporierter Teil des Verweisungsvertrages". Eine dynamische tarifvertragliche Verweisung auf
einen anderen Tarifvertrag bewirkt keine eigenständige und normative Geltung des in Bezug genommenen
Tarifvertrags. "Der verweisende Tarifvertrag und der in Bezug genommene Tarifvertrag bilden eine Einheit.
Die Normen des Bezugstarifvertrages sind ein Teil der Normen des Verweisungstarifvertrages" ( BAG,
22.02.2012 - 4 AZR 8/10 - mit dem Ergebnis, dass jede Änderung, Ergänzung oder Ersetzung des
inkorporierten Tarifvertrags zum Ende der normativen Geltung des Verweisungstarifvertrags führt).
8.94 Tarifvertrag vs. Betriebsvereinbarung
Der "Tarifvertrag ERA-Anpassungsfonds" vom 18.12.2003 in der Metallindustrie Baden-Württembergs sieht
für die Auszahlung der Mittel aus dem Fonds bestimmte Voraussetzungen vor. Auch wenn die "Auszahlung
[nach dem Tarifvertrag] in einer Betriebsvereinbarung zu regeln ist": Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können
"Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder überlicherweise
geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein". Das heißt: Die
Betriebspartner dürfen den Anspruch auf Zahlungen nicht von anderen als den im Tarifvertrag
ERA-Anpassungsfonds geregelten Auszahlungsbedingungen abhängig machen ( BAG, 16.08.2011 - 1 AZR
314/10 ).
8.95 Tarifvorbehalt
Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 BetrVG in den dort genannten sozialen Angelegenheiten
mitzubestimmen, "soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht". Insoweit besteht für die
Betriebspartner kein Bestimmungs- oder Mitbestimmungsrecht mehr besteht, "wenn eine den Arbeitgeber
bindende Regelung durch Gesetz oder Tarifvertrag bereits vorliegt". Der Mitbestimmungsausschluss durch
Tarifvertrag erfordert allerdings, "dass die Tarifvertragsparteien selbst über die mitbestimmungspflichtige
Angelegenheit eine zwingende und abschließende inhaltliche Regelung getroffen und damit dem
Schutzzweck des verdrängten Mitbestimmungsrechts Genüge getan haben" ( BAG, 18.10.2011 - 1 ABR
34/10 ).
8.96 Transparenzkontrolle
"Die sich aus Art. 56 AEUV ergebende Transparenzpflicht steht der von einem Mitgliedstaat vorgenommenen
Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines von den Arbeitgeberorganisationen und den
Arbeitnehmerorganisationen einer Branche geschlossenen Tarifvertrags für sämtliche Arbeitgeber und
Arbeitnehmer dieser Branche entgegen, mit dem die Verwaltung eines zusätzlichen
Pflichtvorsorgesystems für die Arbeitnehmer einem einzigen, von den Tarifpartnern ausgewählten
Wirtschaftsteilnehmer übertragen wird, ohne dass die nationale Regelung eine angemessene Öffentlichkeit
vorsieht, die es der zuständigen Behörde ermöglicht, mitgeteilte Informationen über das Vorliegen eines
günstigeren Angebots in vollem Umfang zu berücksichtigen. Die Wirkungen des vorliegenden Urteils gelten
nicht für die eine einzige Einrichtung mit der Verwaltung eines Zusatzvorsorgesystems beauftragenden
Tarifverträge, die vor der Verkündung des vorliegenden Urteils von einer Behörde für sämtliche Arbeitgeber
und Arbeitnehmer einer Branche für verbindlich erklärt wurden, wobei vor diesem Zeitpunkt erhobene Klagen
unberührt bleiben" ( EuGH, 17.12.2015 - C-25/14 und C-26/14 - Leitsätze - Frankreich).
8.97 Unklare Rechtslage
Ist nach den tariflichen Bestimmungen unklar, wie das Tarifrecht anzuwenden ist, sind die Tarifvertragsparten
(ebenso wie der Gesetzgeber bei unklaren Gesetzen) bei so einer unklaren Rechtslage berechtigt,
"vorausgegangene Tarifverträge authentisch zu interpretieren, soweit sie den Rückwirkungsschutz beachten.
Führt die tarifliche Norm dabei zur rückwirkenden Beseitigung einer unklaren oder verworrenen Rechtslage,
wird dadurch nicht in schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand einer etwa begünstigenden Rechtslage
eingegriffen" ( BAG, 15.11.2011 - 3 AZR 113/10 ).
8.98 Unwirksame Verweisung
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Für Leiharbeitnehmer gilt nach § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG , dass der Verleiher verpflichtet ist, sie zu den
gleichen Arbeitsbedingungen zu beschäftigen wie seine Stammmitarbeiter und ihnen das gleiche
Arbeitsentgelt zu zahlen (= "equal pay"). Aber: Gibt es für das Leiharbeitsverhältnis einen Tarifvertrag, muss
der Verleiher diesen Tarifvertrag anwenden ( § 10 Abs. 4 Satz 2 AÜG ) - auch wenn die Arbeitsbedingungen
schlechter und die Vergütung geringer ist. Das Gleiche gilt, wenn zwischen nicht tarifgebundenen
Vertragspartnern die Anwendung eines bestimmten Tarifvertrags vereinbart ist (§ 9 N. 2 AÜG ). Verweist
der Arbeitsvertrag auf die ungültigen CGZP-Verträge, ist das keine Vereinbarung i. S. d. § 9 Nr. 2 AÜG - mit
dem Ergebnis, dass die Grundsätze des "equal pay" greifen ( BAG, 13.03.2013 - 5 AZR 294/12 ).
8.99 Urlaubsdauer - Staffelung nach Alter
In vielen Tarifverträgen ist es so, dass die Dauer des tariflichen Urlaubs an das Lebensalter der Mitarbeiter
geknüpft ist. So haben beispielsweise Beschäftigte im TVöD -Bereich bis zur Vollendung des 30.
Lebensjahres Anspruch auf 26 Arbeitstage Urlaub, nach Vollendung des 30. Lebensjahres Anspruch auf 29
und nach Vollendung des 40. Lebensjahres sogar Anspruch auf einen 30-tägigen Urlaub. Das ist eine
unmittelbare, sachlich nicht gerechtfertigte Diskriminierung wegen des AGG -Merkmals Alter. Dieser
Verstoß kann für die Vergangenheit nur dadurch beseitigt werden, dass "der Urlaub der wegen ihres Alters
diskriminierten Beschäftigten in der Art und Weise 'nach oben' angepasst wird, dass auch ihr
Urlaubsanspruch in jedem Kalenderjahr 30 Arbeitstage beträgt" ( BAG, 20.03.2012 - 9 AZR 529/10 ).
8.100 Verbandsaustritt - 3
In der Regel erfolgt ein Austritt aus dem Arbeitgeberverband über eine Kündigung. Eine Alternative ist die
einvernehmliche Beendigung der Mitgliedschaft durch einen Aufhebungsvertrag. Soll das ausgeschlossen
sein, muss die Satzung des Verbandes dafür besondere Anhaltspunkte liefern. Selbst wenn die Satzung nur
Fallgestaltungen vorsieht, in denen eine Beendigung der Mitgliedschaft ohne übereinstimmende
Willenserklärungen zu Stande kommt, schließt das allein eine vertragliche Aufhebung der Mitgliedschaft nicht
aus ( BAG, 18.05.2011 - 4 AZR 457/09 ).
8.101 Verweisung
Sieht der Arbeitsvertrag eines Johanniter-Krankenhauses den Passus "Für das Dienstverhältnis gelten,
soweit nicht in diesem Dienstvertrag ausdrücklich ein anderes bestimmt ist, die Vorschriften des
Bundesangestelltentarifvertrags ( BAT ) für Länder und Gemeinden einschließlich der hierzu ergangenen
Zusatztarifverträge und Sonderregelungen", ist mit Übergang vom BAT auf den TVöD und den TV-L eine
Vertragslücke entstanden. Die Lücke ist dadurch zu schließen, dass die den BAT ersetzenden Tarifverträge
nun Vertragsbestandteil geworden sind (= ergänzende Auslegung). "Im Wege der ergänzenden
Vertragsauslegung tritt an die Stelle der lückenhaften Klausel diejenige Gestaltung, die die Parteien bei einer
angemessenen Abwägung der beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben als redliche
Vertragsparteien vereinbart hätten, wenn ihnen die Unwirksamkeit der Geschäftsbedingung bekannt gewesen
wäre" ( BAG, 12.12.2012 - 4 AZR 65/11 ).
8.102 Verzicht
Der Verzicht auf entstandene tarifliche Rechte ist nach § 4 Abs. 4 TVG nur "in einem von den
Tarifvertragsparteien gebilligten Vergleich zulässig." Bei einem Betriebsübergang bedeutet das: "Ein
einzelvertraglicher Verzicht auf einen bereits entstandenen tarifvertraglichen Anspruch [hier: eine
Jahressonderzahlung] ist auch dann wegen eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 4 TVG nichtig, wenn dieser erst
nach einem Betriebsübergang gegenüber dem Betriebsveräußerer oder dem Betriebserwerber erklärt wird.
Der Betriebsübergang ist für die Unverzichtbarkeit tariflich begründeter Ansprüche ohne Belang" ( BAG,
12.02.2014 - 4 AZR 317/12 ).
8.103 Vorenthalten des Organisationsgrads
"1. Art. 9 Abs. 3 GG schützt eine Gewerkschaft auch darin, der Arbeitgeberseite in einer konkreten
Tarifvertragsverhandlungssituation Angaben über ihren Organisationsgrad und die Verteilung ihrer
Mitglieder in bestimmten Betrieben zu machen. 2. Verlangt ein Arbeitgeber während laufender
Tarifverhandlungen von seinen Arbeitnehmern die Offenlegung ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit, handelt
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es sich um eine gegen die gewerkschaftliche Koalitionsfreiheit gerichtete Maßnahme" ( BAG, 18.11.2014 1 AZR 257/13 ).
8.104 Wille der Tarifvertragsparteien
"Wegen der weitreichenden Wirkung von Tarifnormen auf die Rechtsverhältnisse von Dritten, die an den
Tarifvertragsverhandlungen unbeteiligt waren, kann im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit der
Wille der Tarifvertragsparteien nur dann berücksichtigt werden, wenn er in den tariflichen Normen unmittelbar
einen Niederschlag gefunden hat (...). Die den Normen eines Tarifvertrags Unterworfenen müssen erkennen,
welchen Regelungsgehalt die Normen haben. Zu dessen Ermittlung über den nicht zweifelhaften Wortlaut
hinaus können sie nicht darauf verwiesen werden, sich Kenntnis über weitere Auslegungsmöglichkeiten zu
verschaffen. So sind sie weder verpflichtet, Auskünfte ihrer Koalitionen einzuholen (...) noch etwaige
'Vorgängerverträge' ausfindig zu machen." So kann sich dann die Heranziehung der Tarifgeschichte schon
aus grundsätzlichen Überlegungen heraus verbieten ( BAG, 21.03.2012 - 4 AZR 254/10 ).
8.105 Wirtschaftszweig
"Die bei der Ermittlung eines auffälligen Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung i.S.v.
§ 138 BGB erforderliche Zuordnung eines Unternehmens des Arbeitgebers zu einem bestimmten
Wirtschaftszweig richtet sich nach der durch Unionsrecht vorgegebenen Klassifikation der Wirtschaftszweige"
(Leitsatz). Das ist im Ergebnis die Klassifikation der Wirtschaftszweige durch das Statistische Bundesamt
- sie beruht nämlich auf der Verordnung (EG) Nr. 1893/2006 . Die vom Statistischen Bundesamt
herausgegebene Klassifikation der Wirtschaftszweige steht in Einklang mit dem EU-Recht und ist ein
"geeigneter und rechtssicher handhabbarer Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des maßgeblichen
Wirtschaftszweigs als Grundlage für die Ermittlung des objektiven Werts einer Arbeitsleistung" ( BAG,
18.04.2012 - 5 AZR 630/10 - hier: verlagsgebundenes Zustellunternehmen für Tages- und Wochenzeitungen
(70 %) und Briefe (30 %)).
8.106 Zeitdynamische Bezugnahme
Arbeitgeber und Arbeitnehmer hatten im 2002er Arbeitsvertrag ua. folgende Vereinbarungen getroffen: § 1
"Der Arbeitnehmer wird mit Wirkung vom 01.07.2002 als Buchhändlerin … Tarifgruppe II/1 eingestell"; § 3
"Tarifgehalt EUR 1.610,-- (Eintausendsechshundertundzehn) ... übertarifliche Bezüge sind bei
Tariferhöhungen, bei Aufrücken in ein anderes Berufs- oder Tätigkeitsjahr oder bei Einstufung in eine höhere
Beschäftigungsgruppe anrechenbar. Sie können im übrigen unter Einhaltung der in § 10 vereinbarten Frist
gekündigt werden.". Der Arbeitgeber fror das Arbeitsentgelt irgendwann auf 966,00 EUR/Monat ein. Der
Arbeitnehmer verlangte im Jahr 2012 Zahlung der Entgeltdifferenz zum maßgeblichen Tarifentgelt.
Das BAG dazu: "Nach dem Wortlaut des Arbeitsvertrags in § 1 wurde die Klägerin als 'Buchhändlerin …
Tarifgruppe II/1' eingestellt und in § 3 für die 'Gehaltszahlung' ein 'Tarifgehalt' vorgesehen. Damit hat die
Rechtsvorgängerin der Beklagten als Klauselverwenderin deutlich zum Ausdruck gebracht, sie vergüte die
Klägerin entsprechend den einschlägigen tariflichen Entgeltbestimmungen. Der durchschnittliche
Arbeitnehmer darf bei einer derartigen Verknüpfung von einem festen Entgeltbetrag und dessen Bezeichnung
als Tarifgehalt redlicherweise davon ausgehen, der in der Klausel festgehaltene Betrag werde nicht für die
Dauer des Arbeitsverhältnisses statisch sein, sondern solle sich entsprechend den tariflichen
Entwicklungen des maßgebenden Gehaltstarifvertrags entwickeln. Ein redlicher Arbeitgeber würde - wenn er
die von ihm gestellte Klausel nicht so verstanden wissen wollte - die Bezeichnung als Tarifgehalt unterlassen,
um klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen (vgl. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB ), dass er nicht 'nach Tarif'
zahlen will, sondern sich das vereinbarte Entgelt ausschließlich nach den konkret bezifferten
Parteivereinbarungen richten soll" ( BAG, 08.07.2015 - 4 AZR 51/14 - mit Hinweis auf BAG, 13.02.2013 5 AZR 2/12 - und BAG, 13.05.2015 - 4 AZR 244/14 - für eine nahezu wortgleiche Vertragsgestaltung).
8.107 Zweckbestimmung
Die in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte und grundgesetzlich geschützte Tarifautonomie erlaubt es den
Tarifvertragsparteien, den Zweck einer tariflichen Leistung autonom und frei zu bestimmen. Die Tarifpartner
können diesen Zweck in ihren Tarifvereinbarungen konkret bestimmen. Haben sie das nicht getan, ist der
Zweck via Auslegung der Tarifnorm "- anhand von Anspruchsvoraussetzungen, Ausschließungs- und
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Kürzungsregelungen -" festzustellen. Dabei muss nicht jeder nur denkbare Zweck ermittelt werden, sondern
nur die, "um die es den Tarifvertragsparteien bei der entsprechenden Leistung nach ihrem im Tarifvertrag
selbst zum Ausdruck gekommenen, durch die Tarifautonomie geschützten Willen geht" ( BAG, 11.12.2012 3 AZR 588/10 ).
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