LifeExperience, 16.10.2015

Johannes Kotte: Wenn, dann richtig!
Dr. Kerstin Gernig:
Der krumme Lebensweg
als Erfolgsweg
Dr. Kerstin Gernig, Foto: Gülsah Oral
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LifeExperience Ausgabe 01/15
Dr. Kerstin Gernig: Der krumme Lebenslauf als Erfolgsweg
Hermsdorf ist kein Tal der Könige, aber
ein grüner und lebenswerter Stadtteil im
Berliner Norden. Zwischen großzügigen
Gartenlächen reihen sich Familienhäuser unterschiedlichster Bauart aneinander. In einem davon wohnt Dr. Kerstin
Gernig mit ihrem Mann. Es ist lichtdurchlutet, geschmackvoll eingerichtet
und bietet zahlreiche Sitzgelegenheiten,
die Business Coach Dr. Gernig heute für
die Gespräche mit ihren Klienten nutzt.
Dass sie sich früher als Geschätsführerin des Kuratorium Deutsche Bestattungskultur mit Trauermusik oder unterschiedlichen
Bestattungskulturen
weltweit beschätigt hat, merkt man weder dem Ort noch ihr an. Den unweigerlich mit der Bestattungsbranche assoziierten Ernst vergisst man rasch, wenn
man sie begeistert auf ihrer sonnigen
Terrasse von ihren damaligen Tätigkeiten sprechen hört.
Nachdem sie zehn Jahre lang engagiert
als Chefredakteurin die Fachzeitschrit
bestattungskultur geleitet und von den
Katakomben Palermos über die Pharaonengräber Ägyptens bis zu den Verbrennungsghats in Indien die unterschiedlichsten Bestattungsstätten und
-riten erkundet hatte, war für sie der
Tag gekommen, an dem sie eine neue
Herausforderung brauchte. Von der Beschätigung mit dem Tod zurück zum
Leben: heute arbeitet sie als Coach mit
Menschen, die selbst vor einer Veränderung in ihrem Leben stehen. Ihre Klienten kommen dafür zu ihr nach Hermsdorf, wohin sie auch heute eingeladen
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hat. Kerstin Gernig ist einige Umwege
gegangen, bis sie dort angekommen ist,
wo sie heute als Autorin, Coach und Beraterin arbeitet und lebt. Sie liebt Bücher
und interessiert sich für Menschen, ihre
Entwicklungen und Lebenswege. Deshalb hat sie in ihrem ersten Leben Germanistik, Romanistik und Philosophie
studiert. Sie unterrichtete erst an Berliner Gymnasien, wechselte dann an die
Universität als Dozentin, promovierte
über Kaka, arbeitete als Postdoktorandin an der Freien Universität an einem
Habilitationsprojekt, bevor es sie nach
Düsseldorf zum Bestatterverband verschlagen hat, wo sie Erfahrungen in der
Wirtschat sammelte. Eskapaden oder
Umwege? Gernig meint, dass es angesichts der gestiegenen Lebenserwartung
in Zukunt immer weniger gradlinige
Lebensläufe geben wird.
Sie selbst gehört den Babyboomern an,
dem geburtenstärksten Jahrgang des 20.
Jahrhunderts, der sich damals nicht sicher sein konnte, eine Stelle in der Schule
zu bekommen. Kerstin Gernig ist überzeugt, dass die gesellschatlichen Rahmenbedingungen beruliche Lebenswege wesentlich beeinlussen. Nach dem
Prinzip Aubruch, Umbruch, Durchbruch hat sie viel Neues gewagt. Sie habe
ebenso gern unterrichtet wie journalistisch gearbeitet. Heute ist sie dankbar
für die unterschiedlichen Berufserfahrungen. Und immer wieder war es ihre
Neugierde, die sie weiterziehen ließ – jedoch immer in Abstimmung mit ihrem
Mann. „Unsere Beziehung hat ►
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Dr. Kerstin Gernig: Der krumme Lebenslauf als Erfolgsweg
Dr. Kerstin Gernig, Foto: Gülsah Oral
Priorität in unserem Leben. Wir haben
immer wieder versucht, unsere berulichen Wege miteinander abzustimmen.“
Der Beruf ist ihr wichtig als Teil des Lebens, in dem es auf vier zentrale Säulen
ankommt: Beruf, Beziehungen, Gesundheit und Geld.
Entscheidend ist für Gernig, in Resonanz mit sich und dem Leben zu sein.
Als Coach geht es ihr deshalb auch darum, herauszuinden, wie die Energien bei ihren Klienten verteilt sind, um
Blockaden aufzulösen. Viele ihrer Klienten wollen sich berulich weiterentwickeln, neu orientieren oder auch selbstständig machen. Sie kommen in einer
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Umbruchphase ihres Lebens, in der es
darum geht, die eigenen Ressourcen zu
stärken, Selbstzweifel zu überwinden
und Umsetzungsstrategien für die eigenen Ziele zu entwickeln. Die Klienten
kommen mit einer Leidenschat oder
einem Leidensdruck zu ihr – für beides
bietet sich Gernig als „Sparringspartnerin“ an. Beim Coaching geht es um aktives Zuhören, Spiegeln, Feedback und
Fragen, um die Anliegen der Klienten
aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Manchmal gilt es, Altes loszulassen, um Neues in Angrif nehmen zu
können. Nur so sei Weiterentwicklung
möglich, sagt sie. Wer unter Stress leidet,
häuig krank ist oder sich unzufrie- ►
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Dr. Kerstin Gernig: Der krumme Lebenslauf als Erfolgsweg
den im Job fühlt, bekommt Zeichen von
seinem Körper, dass es Zeit ist, etwas
zu verändern. Das sei die Körperintelligenz, so Gernig.
Manchmal können bereits kleine Entscheidungen an den entscheidenden
Punkten schon einen Kurswechsel bedeuten. „Es gibt unzählige Perspektiven,
wir nehmen aber immer nur wenige
wahr, abhängig von unseren Bedürfnissen, die sich im Laufe des Lebens verändern.“ Das hat Kerstin Gernig ot genug
Ältere Menschen können bei berulichen Veränderungen häuig auf inanzielle Rücklagen zurückgreifen. Aber
die Finanzierung guter Ideen ist in Zeiten digitaler Vernetzung über Crowdfunding und Business Angel insgesamt
einfacher geworden als früher. Die Digitalisierung und die sozialen Medien
haben unser Leben fundamental verändert. Über Netzwerke wie Xing, LinkedIn oder Facebook kann man heutzutage viel unkomplizierter miteinander in
Kontakt treten. Wie immer sind mit
„Ein Neuanfang ist möglich, nicht nur mit Anfang zwanzig, sondern
auch in der Mitte des Lebens.“
an sich selbst erfahren. Ihr Interesse an
Menschen und wandelbaren Lebenswegen zeigt sich auch an ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Buch: „Werde,
was du kannst! Wie man ein ungewöhnlicher Unternehmer wird“. Hierfür hat
sie sich auf die Suche nach Menschen
begeben, die ihr Leben neu ausgerichtet
haben – vom Juristen, der sich als Online-Parfumeur selbstständig machte,
bis zum Dirigenten, der nach extremer
Stressbelastung zum Qi-Gong-Meister
wurde. Lebensgeschichten mit Umwegen, die ihrer eigenen gleichen. Es sind
Menschen, die unabhängig von ihrem
Alter ihre Wünsche und Probleme ergründet und ihr Leben danach ausgerichtet haben: selbstbestimmt, mutig
und experimentierfreudig. Sie haben
Krisen durchgemacht, Rückschläge
überwunden, eigene Ideen umgesetzt
und Erfolg für sich je neu deiniert.
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neuen Chancen aber auch neue Risiken
verbunden. Bei jüngeren Klienten habe
sie manchmal den Eindruck, dass es
ihnen schwer fällt, sich zu fokussieren.
Das Überangebot erschwert eben auch
die Wahl. Deshalb empiehlt Gernig,
herauszuinden, was man wirklich will,
Prioritäten zu setzen und seine eigene
Nische zu inden und zu besetzen.
Ganz ohne Ratschläge geht es bei aller
Beratung manchmal eben doch nicht.
Aber auch die sind hilfreich, solange die
Umstände der betrofenen Person berücksichtigt werden. Dr. Kerstin Gernig
hat gelernt, zuzuhören, nachzuforschen
und die entscheidenden Fragen zu stellen. ▬
Text: Marco Weimer
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