Der Bachstelzenorden - Demo - DDR

Impressum
Wolf Spillner
Der Bachstelzenorden
Fünf Erzählungen
ISBN 978-3-95655-332-5 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1979 bei
Der Kinderbuchverlag Berlin
© 2015 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860-505 788
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.ddrautoren.de
Wolf Spillnerß t>er lfd(lhsh>\zenorden
2
Falkengustav
Die E-Lok kommt erst hinter der Brücke zum Halt. Die
Bremsen quietschen und pfeifen, und die Drähte über den
Bügeln der Stromabnehmer schwingen und zittern. Gustav
Magerbrot schiebt die Tür des Führerstandes auf, sieht nach
links und nach rechts, klettert zögernd die eiserne Leiter der
Lokomotive hinunter und springt auf das Schotterbett. Er starrt
unentschlossen zur Brücke zurück. Er bereut schon, den Zug
zum Halt gebracht zu haben. Aber er rennt doch los. Die
Steine klirren und scheppern unter seinen Schuhen gegen die
Schwellen.
Der Zug ist lang - offene und geschlossene Güterwagen.
Schwarz glänzende Kohle ist in die Waggons geschüttet,
Frachtgut in Kisten gestapelt, und auf drei Spezialwagen
funkeln übereinander rote und sandfarbene Skodalimousinen.
Der Lokführer hastet stolpernd auf dem Nebengleis zur
Brücke. Dass kein anderer Zug kommen kann, weiß er. Und
niemand wird ihn hier oben sehen, denn die Straße liegt tief
unter den mächtigen Bögen der Steinbrücke im Tal. Vor den
letzten Waggons wird ihm die Luft knapp. Das Ende des
Zuges steht noch auf der Brücke. Wo das Geländer beginnt,
dort mag es passiert sein, bei der Birke.
Gustav Magerbrot muss tief atmen, wischt die Stirn mit dem
Taschentuch trocken und zieht sich die Hose hoch, die unter
den Bauch gerutscht ist. Er ist klein und dick, und Hast ist ihm
ein Gräuel. Er steigt die Böschung hinunter auf die Birke zu.
Da stehen das Gras und die Nachtkerzen mit ihren blassen
Blüten dicht und hoch, noch feucht vom Tau der Nacht. Er
versinkt bis zum Gürtel darin. Hastig sucht er im nassen Grün.
3
Es duftet scharf und streng - ganz fremd für ihn. Er ist mit der
trockenen Wärme seiner Lok vertraut und dem leisen Hauch
von Maschinenöl. In seinem Führerstand ist es immer peinlich
sauber. Er ist sehr genau, und er hält den Fahrplan ein. Monat
für Monat hängt sein Bild auf der Tafel der Besten vor dem
Bahnhof.
Was bin ich bloß für ein Narr, denkt Gustav Magerbrot. Der
Gegenzug muss warten - das gibt Ärger! Aber ist er schon
mal losgelaufen, will er jetzt auch weitersuchen. Hier an der
Birke muss es doch gewesen sein. Er schiebt das Gras zur
Seite und biegt die Zweige der niedrigen Büsche hoch.
Da sieht er ihn.
Er lebt noch!
Seine Augen sind dunkel und rund wie glänzende Tollkirschen
und voller Angst.
Hastig greift Gustav Magerbrot zu, zieht aber die Hand sofort
wieder zurück. Der Vogel da unter der Birke hat sich auf den
Rücken geworfen. Er kickert mit gellender Stimme und schlägt
mit gelben, dolchbewehrten Füßen nach seiner Hand.
So ein Teufel, denkt Gustav Magerbrot, zieht die Jacke aus,
wirft sie über den Vogel und klemmt sich den Wehrlosen unter
den Arm. Er zappelt noch, als er mit ihm auf den Bahnkörper
zurückkriecht. Doch er beruhigt sich und rührt sich nicht mehr,
als der Lokführer den Zug entlang zu seiner Maschine hastet
und pustend die Leiter zum Führerstand hochklettert.
Gustav Magerbrot schiebt die Tür sorgfältig zu, kniet sich auf
den Boden und nimmt die Jacke vorsichtig auseinander. Der
Vogel sitzt zusammengekauert da. Ein Flügel hängt schräg zur
4
Seite hinunter. Der Schnabel ist krumm und an seiner Wurzel
gelb wie Kerzenwachs. Das Gefieder sieht wie Zimt aus.
„Kann dich doch nicht verrecken lassen“, murmelt der
Lokführer zur Entschuldigung. Er macht seine alte Aktentasche
auf, nimmt die Thermosflasche heraus und greift dann den
Vogel rasch und behutsam, ehe er sich wehren kann. Hier in
der Lokomotive wirkt er viel kleiner und zierlicher als draußen
unter den Büschen. Er ist nicht mal so groß wie eine Taube. In
der Tasche hat er bequem Platz, und Luft bekommt er auch
genug.
Wurde Zeit, dass ich mich drum kümmere, denkt Gustav
Magerbrot und setzt den Zug langsam in Bewegung. Er hat
genau neuneinhalb Minuten auf der Strecke gestanden. Der
Blick auf die Armbanduhr sagt es ihm. Die verlorene Zeit
könnte er vielleicht wieder aufholen. Er kennt seine Strecke. Er
weiß, wie er die Kurven angehen muss, versteht sich darauf,
die Steigungen aus dem Schwung der Talfahrt so zu nehmen,
dass die zweitausend Pferdestärken seiner E-Lok ausreichen,
um die Geschwindigkeit auch am Berg noch zu halten. Ohnehin
ist die Heimfahrt immer die leichtere Tour der Strecke. Die
meisten Kehren zwischen den Bergen liegen hinter ihm, die
beiden großen Brücken hat er passiert. Eine knappe Stunde
noch, und er ist im Heimatbahnhof. Dann so schnell wie
möglich nach Hause! Mit dem Vogel in der Tasche. Der hat
sich wohl einen Flügel gebrochen. Ein Wunder, dass er am
Leben geblieben ist. Wirklich ein Wunder!
Diese verteufelte Brücke! Immer wieder passiert es hier! Was
mochten das für Vögel sein? Sie sind so schön - aber dumm!
5
Mächtig dumm, hat Gustav Magerbrot gedacht, als der erste
Vogel gegen die Lok knallte. Das war vor einem Jahr und
Gustav Magerbrot nicht mehr ganz neu auf der Strecke. Die
Streckenkenntnis hatte er schon seit dem Herbst. Dreimal war
er damals die Tour mitgefahren. Das ist Vorschrift. Sein
Lehrer für die Strecke war der Heinert Willi. Ein Fuchs. Der
kannte die Tücken zwischen den Bergen noch aus der Zeit, als
an elektrische Lokomotiven kaum zu denken war. Er hatte als
Heizer Kohlen in den Feuerschlund geschippt und war dreißig
Jahre lang auf diesen Schienen unterwegs. Viele Worte
machte er nicht. Aber genau das war es, was Gustav
Magerbrot gefiel. „Pass uff, nimm e bischel weg - nu gib
widder zu!“ Das spuckte der Heinert so nebenbei zwischen
seinen Zahnstummeln heraus, kniff die Augen zusammen,
schob die Mütze in die Stirn, wenn die Sonne über den
Bergrücken blendete, und wies mit hornigem Mittelfinger auf
die Vorsignale.
Als sie die Strecke das zweite Mal hinter sich brachten, da
hatte er genickt. „Mit dir wird’sch wasch“, hatte er genuschelt.
Das war schon ein großes Lob vom Heinert, der einem genau
auf die Finger sah. Der fühlte wohl mit dem ganzen Körper,
mager und sehnig hinter dem Steuerpult, ob einer die Lok
verstand, mit ihr umgehen konnte und das rechte Gespür für
Kraft und Geschwindigkeit hatte. Gustav Magerbrot hatte es,
er war kein Anfänger mehr. Aber jede neue Strecke ist für den
Lokführer erst einmal ein Buch mit sieben Siegeln. Auch wenn
es ein Streckenbuch gibt. Da muss jedes Signal gelesen
werden, und jeden Baum an den Kurven muss man kennen und
wissen, was die nächsten Meter hinter der Biegung bringen,
die man noch nicht sehen kann.
6
Das war im Herbst. Die Wälder an den Bergen brannten im
Feuer ihres Laubes, und dunkel standen die Fichten wie ernste
Männer zwischen den lodernden Ahornen und rotgoldenen
Buchen. Blattherzen von den Birken trieben im Fahrtwind am
Zug vorüber, als Gustav Magerbrot allein fahren durfte. Er
hatte schon viele Strecken gesehen, war mit der Schnellzuglok
auf großen Fahrten quer durch die Republik gebraust bis zur
Ostsee hinauf.
Aber nirgends fand er es so schön und schwierig zugleich wie
hier im Süden, wo sich die Gleise in Kurven und Bögen am
Berghang entlangzogen, wo die E-Lok summend den
donnernden Güterzug über die hohe Brücke der Flöha
schleppte. Im Tal standen die Häuser wie Spielzeugschachteln
mit blauen Schieferdächern, und das Flüsschen blitzte wie
klares Silber aus seinem Uferkranz der Weiden und Wiesen.
Das war eine Strecke, auf der Gustav Magerbrot dreißig
Jahre fahren wollte wie der Heinert Willi, der seinen
Ruhestand Jahr für Jahr vor sich hergeschoben hatte, weil er
nicht los konnte von ihr.
Der Winter kam hart und schnell. Im Schnee, im Sturm, im
gleißenden Frost der Wintersonne war die Strecke nicht
weniger schön. Aber da zeigte sie erst, was an Tücke und
Schwierigkeit in ihr steckte. Zweimal blieb Gustav mit seinem
Zug auf der Strecke, bis die Schneefräsen das Gleis wieder
frei gefressen hatten. „Das gehört dazu“, sagte Gustav
Magerbrot, als Paul ihn fragte, ob er denn nicht Angst gehabt
hätte. Paul, klein und schwarzhaarig, dick und flink, wollte jede
Fahrt genau erzählt haben. Aber Vater Gustav erzählte nicht
viel. „Wart’s ab, Magerbrötchen“, sagte er, „setzt dich auf die
7
Hosen und lern, kannst auch Lokführer werden!“
Da war der Paul in der vierten Klasse.
Im April passierte es zum ersten Mal. Auf dem Geländer der
Flöhabrücke saßen die Vögel.
Alles ging blitzschnell, und ehe es Gustav Magerbrot richtig
wahrgenommen hatte, war es schon vorbei. Die Hände auf
dem Steuerpult, starrte er für Sekundenbruchteile auf den
zimtfarbenen Rücken und die federstiebenden Flügel des
Vogels, der vor der Scheibe hing und seitlich unter der Lok
verschwand.
An diesen ersten Aufprall musste er immer wieder denken. Die
Vögel waren schön. Aber so dumm! Warum flogen sie nicht
zur Seite fort? Das war schon unheimlich - bis zum Mai
schlugen sich auf der Brücke fünf Vögel an der Lokomotive zu
Tode. Dann waren sie plötzlich verschwunden.Nur selten noch
erspähte er einen der Vögel über dem Tal. Sie schienen jetzt
niedriger zu fliegen, und er dachte, dass es kleine Raubvögel
sein müssten. Acht Wochen lang passierte nichts mehr, und
der Lokführer Gustav Magerbrot hatte die Brückenvögel fast
wieder vergessen. Wenn sie ihm einfielen, dann glaubte er, es
müsse Zufall gewesen sein.
Aber es war kein Zufall. In der ersten Juliwoche flogen wieder
Vögel gegen die Lok. Sieben wurden es sogar!
Er fuhr seine Lok und grübelte. Der Heinert Willi hatte ihm die
Strecke erklärt. Er hatte ihm die Stelle gewiesen, wo im
Frühjahr durch die Schmelzwasser mit Steinschlag zu rechnen
war an den steilen Hängen. Er hatte vor den Schneewehen
gewarnt, die sich hinter den Böschungen aufwarfen, wenn der
8
Sturm die Schneezäune umfegte. Von den Vögeln an der
Brücke kein Wort! Sicher, sie brachten keine Gefahr für die
Lok und den Zug. Aber es war doch scheußlich, die Vögel zu
töten.
Der Heinert Willi klaubte in seinem Garten die letzten
Erdbeeren auf, als Gustav Magerbrot ihn besuchte. „Ja,
freilich - dasch isch immer scho geweschen“, nuschelte er. „Da
schind scho kleine Habischte, die haben ihre Neschter in den
Löchern da. Die Schungen schitschen auf dem Geländer.
Muscht dir nischt bei denken, die schind immer da. Kanschte
nischt machen!“ Er hielt ihm das Körbchen mit Erdbeeren hin:
„Für deine Frau und dasch Paulschen!“
Gustav Magerbrot nahm die Erdbeeren und dankte. Zufrieden
war er nicht.
Er ärgerte sich. Was gingen ihn eigentlich die Vögel an? Sie
werden immer in die Lokomotiven geflogen sein. Der Heinert
musste es ja wissen. Aber jedes Mal, wenn sich die Lok um
den Felsen herumschwang und die Brücke über dem Flöhatal
vor ihm lag, zuckte er zusammen, sah die Vögel von den
Geländern fliegen und bangte vor dem nächsten
Zusammenprall. Langsamer konnte er die Brücke nicht
befahren. Die Lok hatte es ohnehin schwer genug, die nächste
Steigung zu nehmen. Und wohin käme man, wollte jeder
Lokführer fahren, wie er wollte - nur weil da ein paar dumme
Vögel flogen? Der nächste könnte kommen und um die Blumen
barmen, die der Fahrtwind wegreißt! Darum kann sich ein
Lokführer nicht kümmern. Für ihn ist Technik wichtig, aber kein
Vogel. Sonst sollte er nicht Lokführer werden. Er soll pünktlich
fahren und seine Maschine pflegen, dass sie ohne
9
Reparaturen auskommt. Dazu braucht er keine Gefühle und
dumme Gedanken.
Aber mach einer was gegen die Gedanken und das Gefühl!
Er schüttelt den Kopf, der Lokführer Magerbrot - angehalten
hat er! Auf freier Strecke! Ohne triftigen, amtlichen Grund! Es
sind immer noch sieben Minuten, die er aufholen muss - und
nur, weil so ein dummer Vogel noch halb mit dem Leben
davongekommen ist. Er ist ein ganzes Stück neben der Lok
hergeflogen. Knappe sechzig Stundenkilometer, das
Dusseltier. Statt abzuschwenken, kommt er vor die Lok, prallt
an die Scheibe und stürzt nach rechts hinter der Brücke den
Damm hinunter ins Gras unter die Birke.
Nun sitzt der Vogel in der Tasche. Na, der Paul wird aber
Augen machen, denkt Gustav Magerbrot. So ’n Vogel ist doch
was anderes als ein Wellensittich. Einen krummen Schnabel
hat er allerdings auch. Zum Tierarzt wird man müssen. Der
Flügel ist bestimmt hin. Und Futter? Der Heinert Willi meinte,
das wären Habichte. Die fressen doch Fleisch! Darum soll sich
das Paulchen kümmern!
Der Gegenzug wartet schon hinter der nächsten Blockstelle.
Der Schrankenwärter tippt mit der Hand an den Mützenschirm,
als Gustav Magerbrot vorüberdonnert. Aus der stehenden
Lokomotive hebt der Lokführer vier Finger. Vier Minuten
Verspätung noch! Die wird er nicht mehr aufholen. Der Vogel
hat den Fahrplan über den Haufen geworfen.
„War was?“, fragt der Einsatzleiter auf dem verrußten
Bahnhof.
10
Gustav Magerbrot schüttelt den Kopf und klemmt seine
Tasche unter den Arm. „Schlechter Tag heute“, knurrt er, „ich
fühle mich nicht gut!“ Da sagt er nichts Falsches. Der
Einsatzleiter sieht ihn an, wie er da steht, mit kleinen
Schweißperlen über der Nase und den braunen Augen.
,,Du bist doch nicht krank, Gustav?“
„Nein, nein - übermorgen geht’s wieder. Hab ja erst mal
Freischicht!“ Er macht, dass er wegkommt.
In der Straßenbahn hält Gustav Magerbrot die Tasche fest auf
den Knien. Die Bahn ist voll, die Menschen drängen und
stoßen sich, aber er denkt, dass alle nur auf seine Tasche
starren. Er hat noch immer ein schlechtes Gewissen. Er fühlt
sich wirklich nicht gut. Wenn er nur wüsste, was das eigentlich
für ein Vieh ist, das er da nach Hause bringt.
„Oi, ein Turmfalke“, ruft Paul, als sein Vater die Tasche auf
dem Küchentisch öffnet. „Wo hast du den her?“
„Ist gegen die Lok geflogen.“
„Und da hast du angehalten?“ Paul staunt seinen Vater an.
„Ja“, brummelt er, „hat vier Minuten gekostet!“
„Mann, Vater!“
Frau Magerbrot steht mit ängstlichem Gesicht hinter Paul und
sieht sich misstrauisch den Vogel an. Der sitzt still auf dem
Tisch und lässt den linken Flügel hängen. „Wenn der nun
unsere Küken frisst?“
„Aber Mama!“ Paul dreht sich um, und der Falke macht einen
Klecks auf den Tisch. „Turmfalken fressen doch keine Küken die fangen Mäuse! Nur Mäuse! Die sind unheimlich nützlich!“
11
„Woher hast du deine Weisheit“, staunt Gustav Magerbrot.
„Na, vom alten Seemann, ich meine von Herrn Seemann,
unserem Biolehrer!“
„Dann frag ihn mal, wie wir ihn füttern sollen.“
Paul grinst. „Wen?“
„Den Lehrer natürlich nicht, du Schlaukopf! Den Falken hier!“
„Dürfen wir ihn denn behalten?“
Frau Magerbrot schüttelt den Kopf.
Gustav Magerbrot zuckt die Schultern. „Ich dachte! Der kann
sich doch allein nicht helfen, oder? Aber Mäuse, wo sollen wir
Mäuse hernehmen?“ Er sieht hilflos aus.
„Wir setzen ihn in die leere Karnickelbucht, und dann fahre ich
zum Seemann und frage ihn. Der weiß das!“
„Zu Herrn Seemann, Paul-Heinrich! Merk dir das endlich mal!“
„Ja, Mutter!“ Paul greift sich den Falken und trägt ihn durch
den Garten zum Kaninchenstall. Der Vogel schickert leise vor
sich hin. Sehr scheu ist er nicht. Er springt auf den Holzklotz,
den Paul in den Kaninchenstall legt. Paul findet den Vogel sehr
schön. Was für starke Krallen er hat! Da möchte man keine
Maus sein.
Er macht die Tür vom Kaninchenstall sorgfältig zu und fährt zur
Siedlung. Im letzten Haus wohnt der alte Seemann. Alle sagen
alter Seemann. Ist doch nichts Schlimmes bei! Alt ist er, weiße
Haare hat er und Seemann heißt er - Seemann ist er nie
gewesen. Immer Lehrer. Der ist in Ordnung! Der weiß auch,
dass sie ihn alten Seemann nennen. Soll Mutter sich bloß nicht
so haben!
12
„Ein Turmfalke?“, fragt Lehrer Seemann erstaunt. Er klopft
sich die Erde von der Hose, hält sich dann die Hand aufs
Kreuz und stöhnt. „Das verflixte Unkraut!“ Er steht mitten im
Möhrenbeet. „Da möchte ich gleich mitkommen, aber du siehst
ja - mehr Unkraut als Möhren!“
Paul überlegt. „Kann ich nicht weitermachen, Herr Seemann,
und Sie sehen sich mal den Vogel an? Mutter hat schon Angst,
der könnte unsere Küken fressen. Kann er das?“
„Nein, das kann er nicht“, Lehrer Seemann schmunzelt.
„Schönen Dank für dein Angebot - komm, wir fahren
zusammen!“
Dann stehen sie vor dem Kaninchenstall. „Ein junger
Turmfalke, tatsächlich“, sagt der Lehrer, „woher haben Sie
ihn?“
„Von der Flöhabrücke - ist gegen die Lok geflogen“, antwortet
Gustav Magerbrot. Er zieht die Stirn in Falten. Mehr möchte er
nicht sagen, aber der Lehrer fragt: „Gibt’s da noch mehr?“
„Eine ganze Menge! Aber wenn es so weitergeht, dann gibt es
bald keine mehr!“
„Das verstehe ich nicht, Herr Magerbrot!“
„Sie sitzen auf den Brückengeländern. Wenn ich um die Kurve
auf die Brücke komme, fliegen sie los. Immer geradeaus,
immer vor dem Zug her. Und dann knallt es! Wieder einer
weniger! Jetzt um diese Zeit ist es ganz schlimm. Das sind
wohl die Jungen, die noch nicht so schnell fliegen können.
Wenn die Viecher doch nach rechts oder links wegfliegen
würden, aber nein, immer vor der Lok her!“
„Könnt ihr nicht langsam auf die Brücke fahren?“, fragt Paul.
13
„Nein!“ Das sagt Gustav Magerbrot kurz und knapp. Man kann
nicht weiter fragen.
Der Lehrer überlegt. Er fährt dem Falken vorsichtig über den
runden Kopf und streicht den Flügel zur Seite. Der Falke
springt vom Holzklotz und kickert. Hell und scharf klingt die
Stimme durch den Garten. „Der Flügel ist gebrochen - ich
meine, der Vogel sollte in den Tierpark kommen. Vielleicht ist
er noch zu retten!“, sagt der Lehrer.
„Och“, macht Paul, „der ist so schön!“
„Eben deshalb, Paul. Da hat er bessere Pflege als hier.
Vielleicht kann er dann wieder fliegen und freigelassen
werden. Findest du das nicht schöner?“
„Das stimmt schon“, gibt Paul zu, „aber wenn er wieder an die
Brücke fliegt, was denn dann?“
„Ja, da liegt der Hase im Pfeffer - nicht nur für ihn!“
Lehrer Seemann sieht Gustav Magerbrot fragend an. „Ist
Ihnen das schon öfter passiert?“
Pauls Vater nickt. „Ich fahre ja die Strecke noch nicht lange.
Anderthalb Jahre erst. Aber es hat schon zwölfmal geknallt!“
„Und wie viel Züge fahren dort?“
Gustav Magerbrot hebt die Schultern. „Genau weiß ich das
nicht, aber hundert werden es wohl sein pro Tag - die Nacht
natürlich mitgerechnet.“
„Und was könnte man machen?“, fragt der Lehrer. Er hat ein
bestürztes Gesicht, ganz ratlos sieht er aus.
„Da kann man sich vorstellen, dass viel mehr Falken
umkommen, nicht wahr?“
14
„Das wird schon sein. Mein Kollege, den ich auf der Strecke
abgelöst habe, der sagt, das war schon immer so. Aber er hat
gemeint, es wären kleine Habichte!“
Lehrer Seemann schüttelt den Kopf. „Immer dieselbe Leier alles, was einen krummen Schnabel und scharfe Fänge hat,
gilt als Habicht. Dabei gibt es gar nicht mehr viel Habichte. Na,
und Turmfalken sind ja auch nicht gerade häufig. Außerdem
stehen sie unter Naturschutz, da muss man sich doch was
einfallen lassen, um sie wirklich zu schützen!“
Gustav Magerbrot hebt die Hände. „Wenn Sie das nicht
wissen ... Ich bin Lokführer, verstehe nichts davon. Aber ich
möchte nicht dauernd mit ’nem schlechten Gewissen über die
Flöhabrücke fahren!“
„Ich weiß“, schreit Paul plötzlich, „tuten müsst ihr, Signal
geben, schon vor der Brücke. Dann erschrecken sich die
Falken und können eher losfliegen!“
„Unsinn“, sagt Gustav Magerbrot. „Das geht nicht! Wir können
doch nicht Signal geben, wann und wo wir wollen. Wir haben
Vorschriften, verstehst du?“
„Aber angehalten hast du auch! Ohne Vorschrift!“
Pauls Vater kneift die Lippen zusammen. Er sagt nichts. Es ist
ganz still. Nur die Kaninchen schnurpsen in den Buchten.
„Wenn es Ihnen recht ist, nehme ich den Falken und bringe ihn
zum Tierpark. Ich kenne die Kollegen da“, bricht Lehrer
Seemann die peinliche Stille.
„Danke“, sagt Gustav Magerbrot. Seine Frau macht ein
erleichtertes Gesicht. Sie glaubt doch nicht recht daran, dass
ein Turmfalke keine Küken greift.
15
In einem Pappkarton fährt der Vogel auf dem Gepäckträger
des Lehrerrades aus dem Garten.
„Und du kümmerst dich jetzt mal gefälligst ums
Karnickelfutter“, knurrt Gustav Magerbrot seinen Sohn an.
„Ist schon alles besorgt!“
Das Gesicht des Vaters wird nicht freundlicher.
„Kannst du das nicht wenigstens mal probieren, Papa?“
„Was denn?“
„Tuten!“
„Hast doch gehört, was ich gesagt habe! Vorschrift ist
Vorschrift. Ich darf kein Signal geben. Und du merk dir mal,
dass man seinen Vater nicht bloßstellt, verstehst du?“
„Aber du hast doch was Gutes gemacht, das kann man doch
sagen!“
„Was ist daran gut, wenn ich Verspätung mache? Reine
Dummheit war das!“ Er tippt sich vor den Kopf. „Da fährt man
monatelang ohne Minus, und plötzlich kriegt man den Rappel.
Nee, ich will davon nichts mehr wissen, verstehst du!“ Damit
dreht er sich um und geht ins Haus.
Die Vögel von der Flöhabrücke fliegen jedoch weiter in Gustav
Magerbrots Kopf umher. Am Abend und auch am nächsten
Morgen noch. Da fährt er den Trabi aus der Garage.
„Willst du mit, Magerbrötchen?“
Paul sieht ihn fragend an. „Wohin?“
„Zur Flöhabrücke!“
Wie gut, dass Ferien sind, denkt Paul.
16
Sie fahren länger als eine halbe Stunde. Dann stehen sie unter
der Brücke. Sie ist riesig. Sieben Bögen aus Stein
überspannen das Tal. Der Nacken schmerzt, wenn man lange
hinaufsieht. Da oben fliegen die Falken. Ihre Flügel zittern vor
dem hellen Himmel. Manchmal gleiten sie ohne Flügelschlag,
dann sehen sie wie winzige Anker aus.
Sieben, acht, dann sogar zehn Falken zählen sie.
„Die haben da ihre Nester, Papa!“ Paul zeigt auf die
Rüstlöcher unter den Brückenbögen. Dort verschwinden die
Falken für kurze Augenblicke, und ganz leise sind aus der
großen Höhe die hellen Bettelschreie der Jungen zu hören.
„Auf dem Geländer sitzen auch welche.“ Gustav Magerbrot
hält den ausgestreckten Arm neben Pauls Kopf. „Siehst du
sie?“
Es grummelt und donnert. Aus der Kurve hinter der Bergnase
schießt ein D-Zug heraus. Er ist schon auf der Brücke. Die vier
Vögel sitzen noch immer. Jetzt erst fliegen sie los, und da ist
die Lok schon hinter ihnen. Drei schaffen es, kommen unter
den Leitungen über die Brücke hinweg. Doch es stieben auch
Federn auf, und hinter dem letzten Pfeiler stürzt ein Falke
herab.
„Los, Papa - hin!“, schreit Paul und rennt los.
Als sein Vater keuchend am Brückenfuß ankommt, hält ihm
Paul den Falken entgegen, schlaff liegt er in seiner Hand. Ein
paar Federchen segeln schaukelnd von oben herunter. Sie
tanzen so leicht wie die lichten, bräunlichen Schmetterlinge
über dem Hang.
Am Feldrand hebt Gustav Magerbrot mit dem Montiereisen
17
aus dem Trabi eine Grube aus. Sie muss nicht groß sein. Er
sagt nichts, und Paul sagt auch nichts, als der Falke vergraben
wird.
Schön ist der Morgen am nächsten Tag. Die Schienen blitzen
silbern vor der Lokomotive. Frisch gewaschen vom
Nachtregen leuchten die Signale vor dem dunklen Wald, und in
den Tälern duften reife Gerstenfelder. Ein Morgen, an dem
das Fahren Freude machen könnte. Aber froh ist Gustav
Magerbrot nicht. Warum musste er hinter der Brücke halten
und den Falken nach Hause bringen? Kein anderer Lokführer
kümmert sich um die Vögel. Je näher sein Zug dem Flöhatal
kommt, desto unruhiger wird er.
Da ist schon die lange Kurve um die Bergnase vor dem Tal!
Noch vierhundert Meter vielleicht, noch dreihundert. Seine
Hand zuckt vor, wieder zurück, und dann brüllt die Lok laut
heulend auf. Die Hand liegt fest über dem Signalknopf. Als der
Zug um die Kurve auf die Brücke donnert, schlägt das Echo
von der Bergwand zurück und füllt das Tal.
Und Gustav Magerbrot sieht die Falken zu beiden Seiten der
Brücke davonfliegen!
Er stößt die Luft aus, die er angehalten hat. Das ist doch ein
schöner Morgen! Er schickt noch einen Signalton hinter den
Falken her, obwohl es nicht mehr nötig ist. Vorschrift hin,
Vorschrift her - man wird die Vorschrift ändern müssen, denkt
Gustav Magerbrot. Aber das ist so einfach nicht.
Er merkt es schon auf der Versammlung am Nachmittag. Da
steht er am Tisch zwischen den anderen Lokführern und den
Heizern auf, die noch mit Dampfloks fahren, und redet
vorsichtig und stockend von der Brücke und den Falken.
18
Ein paar Lokführer grinsen. Einer sagt: „Halt uns doch nicht mit
deinem Quatsch auf, Gustav, wir wollen nach Hause“, und der
lange Niebäumer schreit aus der Ecke: „Wir haben keinen
Vogel, Gustav - es reicht doch, wenn du einen hast!“ Er zeigt
deutlich an den Kopf.
*** Ende der Demo-Version, siehe auch
http://www.ddrautoren.de/Spillner/Bachstelzenorden/bachstelze
***
19
Wolf Spillner
Geboren 1936 in Herzberg am Harz, ist ein deutscher Autor
und Fotograf
Aus seinem Geburtsort zog seine Mutter mit ihm in ein
winziges Holzhaus am Rande der Lüneburger Heide, als er 13
Jahre alt war. Mit 16 Jahren wurde er Waise. In Mainz war er
mehrere Jahre Volontär einer naturwissenschaftlichen
Jugendzeitschrift. Als die Wiederbewaffnung der
20
Bundesrepublik Deutschland akut wurde, übersiedelte er 1955
in die DDR. Er war in Schwerin etliche Jahre als freier
Bildreporter tätig. Auch wurde er für acht Jahre
Betonfacharbeiter und nutzte seine Freizeit, um Material für
seine ersten Bücher zu erarbeiten. Ab 1967 freiberuflich als
Autor und Fotograf tätig. Er wohnte zwei Dutzend Jahre in
einem 17–Seelen-Dorf zwischen Wismar und Schwerin in der
Naturlandschaft Mecklenburgs am Dambecker See. Heute lebt
Wolf Spillner in Ludwigslust.
Spillner arbeitete zunächst als Journalist. Später betrieb er
ornithologische Studien und galt als einer der profiliertesten
Naturfotografen der DDR. Dabei widmete er sich
insbesondere der Beobachtung des Sozialverhaltens
koloniebrütender Vögel. Beeinflusst von Werner Lindemann
wurde er Mitte der 1970er Jahre zum Autor von Kinder- und
Jugendbüchern, von denen einige auch verfilmt wurden. Sein
bekanntestes Buch Taube Klara wurde in 8 Sprachen
übersetzt und 1991 mit dem Deutschen
Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Seit einigen Jahren hat
er sich der digitalen Fotografie zugewandt, sowie per Fahrrad
und Kajak Nordamerika, Nordskandinavien, Neuseeland und
Jakutien bereist.
Bibliographie:
Claas und die Wunderblume. Kinderbuchverlag, Berlin 1989
Das Vogeljahr der Küste. Deutscher Landwirtschaftsverlag,
Berlin 1973
Der Alte vom Hammer. Kinderbuchverlag, Berlin 1986
Der Bachstelzenorden. Kinderbuchverlag, Berlin 1979
21
Der Luftballon und die Warzenkröte. Kinderbuchverlag,
Berlin 1979
Der Riese vom Storvalen. Kinderbuchverlag, Berlin 1983
Der Seeadler. Hinstorff Verlag, Rostock 1993
Der Wald der großen Vögel. Deutscher
Landwirtschaftsverlag, Berlin 1969
Der Wald der kleinen Vögel. Deutscher
Landwirtschaftsverlag, Berlin 1976.
Die Baumräuber. Kinderbuchverlag, Berlin 1982
Die Graugans. Kinderbuchverlag, Berlin 1990
Die Hexe mit der Mundharmonika und andere
Geschichten. Kinderbuchverlag, Berlin 1983
Die Vogelinsel. Kinderbuchverlag, Berlin 1976
Durch Urwald und Dünensand. Kinderbuchverlag, Berlin
1984
Feldornithologie. Deutscher Landwirtschaftsverlag, Berlin
1990
Ferne nahe Welt. Deutscher Landwirtschaftsverlag, Berlin
1981
Gänse überm Reiherberg. Kinderbuchverlag, Berlin 1977
Im Walde wohnt der schwarze Storch. Kinderbuchverlag,
Berlin 1988
Land unter dem Wind. Deutscher Landwirtschaftsverlag,
Berlin 1971
Lieber weißer Vogel. LeiV, Leipzig 1996
22
Natur-Ansichten oder die Macht der Kamille. Demmler
Verlag, Schwerin 1996
Schätze der Heimat. Kinderbuchverlag, Berlin 1986
Schmetterlinge. Kinderbuchverlag, Berlin 1989
Seeadler - gestern und heute. Hoyer Verlag, Galenbeck
2004
Staatenbildende Insekten. Kinderbuchverlag, Berlin 1981
Taube Klara oder Zufälle gibt es nicht. Kinderbuchverlag,
Berlin 1987
Wasseramsel. Kinderbuchverlag, Berlin 1984
Wildgänse überm Moor. Boje-Verlag, Stuttgart 1981
Zwischen Alpen und Eismeer. Kinderbuchverlag, Berlin 1987
23
E-Books von Wolf Spillner
Der Alte vom Hammer. Eine Bilderbuchgeschichte aus
den Bergen der Schweiz
Corinna wird von ihren Mitschülern aus der 3. Klasse beneidet.
Ihr Vater ist Wildhüter und nimmt sie oft mit in die Berge. Die
Sennen haben gesehen, dass der alte Steinbock lahmt? Wird
es so schlimm sein, dass ihn der Wildhüter erschießen muss,
weil er mit seiner Verletzung nicht überleben kann? Corinna
darf den Vater bei der gefährlichen und anstrengenden Suche
nach dem Alten begleiten und bangt um sein Leben. Wolf
Spillner bereicherte diese schöne Geschichte mit wunderbaren
Fotos.
Der Bachstelzenorden
Gäbe es ihn, Hannes hätte ihn verdient: den
Bachstelzenorden. Und nicht nur, weil er Stapellauf,
Auszeichnung und Fernsehkamera davonlief, um ein
Bachstelzennest zu retten. - Eines Tages hält Gustav seine
Lok vorschriftswidrig an. Seltsam, denkt er, dass die Vögel
nicht nach der Seite davonfliegen, sondern immer gegen die
fahrende Lok prallen und sterben. Und er beschließt, der
Sache auf den Grund zu gehen.
Wolf Spillner hatte als Junge den großen Wunsch, einen Hund
zu besitzen. Der erfüllte sich schließlich, doch was dann
geschah, ist ihm auch heute noch Anlass, in seinen
Geschichten von Menschen und Tieren zu erzählen, von keinen
besonderen Menschen und keinen exotischen Tieren, sondern
solchen, denen man überall begegnen kann, schaut man nur
24
richtig hin.
Der Riese vom Storvalen. Eine Bilderbuchgeschichte aus
Härjedalen
Björn-Eyvind lebt mit seinen Eltern einsam in den Bergen. Er
hat einen weiten Weg zur Schule, im Winter auf Skiern, im
Sommer mit dem Fahrrad. Aber er ist schon groß, er geht
schon in die 2. Klasse. Viele Tiere kann er auf dem Schulweg
beobachten: Rentiere, balzende Auerhähne, die drolligen
Brushähne. Gern besucht er seinen Freund Rune Axelson.
Rune ist ein Bauer und hat vor sein Anglerhaus ein Schwein
abgelegt, als Winterfutter für den Adler. Doch plötzlich kommt
ein Riese den Berg hinab. Björn-Eyvind läuft und läuft, bis ihm
die Beine versagen.
Die Baumräuber
Ein Jäger wohnte mit seiner Frau allein am Waldrand. Er war
sehr mutig und schoss Bären, Wölfe und Wildschweine. Nur
vor den Räubern, die mitten im Walde in einem riesengroßen
Baum hausten, hatte er wie alle anderen große Angst.
Doch eines Tages verfolgte er ein besonders großes
Wildschwein und gelangte dabei zum Lager der Räuber. Zum
Glück waren diese betrunken und schliefen ihren Rausch aus.
Nur der kleine Jäger, der noch ein Kind war und keinen Alkohol
trinken durfte, wachte und schlug Alarm. Vor Schreck gab der
Jäger einen Schuss ab, der den Hut des kleinen Räubers traf.
Kein Räuber durfte seinen Hut abnehmen und das schon seit
vielen Jahren. Ihr könnt euch denken, dass die Räuber weder
25
Seife noch Kamm kannten. Aber nun gab es zwei Löcher in
dem Hut des kleinen Räubers, durch die die Meise zu ihren
Jungen fliegen konnte, die auf dem Kopf des kleinen Räubers
ein Nest besaßen.
Die Hexe mit der Mundharmonika
Die Begegnung mit der Natur ist wie der Kontakt mit einem
Menschen. Man muss hinsehen, zuhören und sich einstellen
können, darf nehmen, aber auch geben und muss sich, wenn
nötig, einsetzen, dann kann im Miteinander Liebe und
Freundschaft wachsen. Dass dieses Einanderverstehen nicht
immer leicht ist, erfährt Kerstin. „Du bist ein Sprüchemacher“,
ruft sie ihrem Vater zu, der seinen Worten unerwartete Taten
folgen lässt. Der alte Mann erfährt, dass seine Gemeinschaft
mit den Vögeln ihm nicht allein gehören darf. Mit den Vögeln
und den Jungen wird er reicher, die Gemeinschaft schöner.
Wolf Spillners Sorge gilt in den neun Geschichten den
alltäglichen Begegnungen, in denen sich die Haltung der
Menschen zeigt.
Durch Urwald und Dünensand. Aus Naturschutzgebieten
und Nationalparks der CSSR, der Volksrepublik Polen und
der DDR
Für dieses Buch ist Wolf Spillner fast dreißigtausend Kilometer
gefahren und viele Hundert Kilometer gewandert und
geklettert. Bekannte und unbekannte Pflanzen und Tiere in
geschützten Landschaften wollte er beobachten und
fotografieren, um darüber berichten zu können. So kam er in
26
verschiedene Naturschutzgebiete und Nationalparks in der
Volksrepublik Polen, in der CSSR und in der DDR. Von den
Seen der wilden Gänse und seltenen Schwarzhalstaucher
seines mecklenburgischen Dorfes, über die im Frühjahr und
Herbst die Seeadler fliegen, ist er zu den scheuen Wisenten
gefahren und vor ihnen davongerannt. Durch glutheißen Sand
der Wanderdünen an der Ostsee ist er gestapft und durch den
Sommerschnee der Hohen Tatra, dort, wo die
Karpatengämsen leben. In den regennassen Waldbergen der
Bieszczady hat er den Schwarzstorch auf seinem Nest
gesehen und die seltene, kleine Orchidee Korallenwurz auf der
Insel Rügen. Unter der Tarnkappe seines Versteckzeltes hat
er mit Notizbuch und Kamera auf Bäumen und im Sumpf,
zwischen Felsgeröll und im Schnee gesessen, um die scheuen
Tiere zu belauschen und Bilder von ihrem Leben für dieses
Buch zu sammeln. Das war nicht immer leicht. Aber es war
immer schön, denn viele freundliche Menschen, die sich in den
Reservaten und Nationalparks um den Schutz der Natur
sorgen, haben ihm sehr geholfen. Nur so konnte dieses Buch
im Laufe einiger Jahre entstehen. Spillner hat viel von der
Schönheit der Natur gesehen und doch nur einen Teil vom
Reichtum unseres blauen Planeten.
Gänse überm Reiherberg
„Was ist das schon, so’n Hund, gar nichts ist das. Der rennt dir
bloß hinterher, weil er Kohldampf hat und Fleisch haben will.
Gar nichts ist das! ... Eine Wildgans ziehe ich mir auf, dass
ihr’s wißt. Und die wird zahm und fliegen. Hinter mir her. Die
kommt sogar wieder, im nächsten Jahr wieder, verlasst euch
27
drauf! Und nicht weil sie Kohldampf hat.“
Knuppe lässt diese Idee nicht los, eine Idee, für die er nur bei
wenigen Verständnis findet. Er lebt in einem Dorf am See, und
dieser See ist einer der selten gewordenen Brutplätze der
Graugänse. Aber bis alle im Dorf das begriffen haben, gibt es
Streit zwischen den LPG-Bauern und den Naturschützern, bei
den Jägern und Anglern, Krach mit Freund Kalle und —
tatsächlich Ohrfeigen vom Vater.
Im Walde wohnt der schwarze Storch
Anna kennt sich im Wald aus, denn ihr Vater ist Förster. Ihr
Vater hat sie oft auf seine Jagdkanzel in der Nähe des
Weihers mitgenommen. Dorthin kommen die Wildschweine.
Als sie ihrem vater die vergessenen Kiefernpflanzen
nachbringen will, steigt sie noch schnell neugierig auf die
Kanzel hinauf. Plötzlich entdeckt sie ein großes Nest auf einem
Baum. Da ist ja auch ein großer Vogel, der rasch davonfliegt.
Es ist ein Märchenvogel. „Gibt es Störche, die schwarz sind,
oder bunt und mit roter Brille um die Augen?“, fragt sie
aufgeregt ihren Vater? Niemand außer den Eltern darf von
ihrem großen Geheimnis wissen. Noch nie haben die seltenen
Schwarzstörche in ihrem Wald gebrütet und sie sollen doch im
nächsten Jahr wiederkommen. Wunderbare Fotos von Wolf
Spillner ergänzen die schöne Geschichte für Kinder ab 4
Jahre.
Schätze der Heimat
Große und kleine Naturschutzgebiete – von der Kreideküste
28
der Insel Rügen bis zu den Höhen des Thüringer Waldes, von
den Wiesensteppen im Odertal bis zum Lindenwald in der
Altmark – sind die Schatzkammern unserer Heimat. Sie
bewahren den Reichtum der Natur. Aus der Fülle von über
siebenhundert Reservaten stellt Wolf Spillner jeweils ein
Naturschutzgebiet aus jedem Bezirk der DDR in anschaulichen
Texten und beeindruckenden Farbfotos vor.
Schmetterlinge
Schmetterlinge sind für uns meist nur die bunten
Tagpfauenaugen, die gelben Zitronenfalter, die hellen
Weißlinge oder andere farbschöne Tagfalter im Sonnenschein.
Flattert uns jedoch ein kleines, unscheinbar braungraues Tier
im Haus oder gar aus dem Kleiderschrank entgegen, dann
heißt es meist entsetzt: Das ist eine Motte! Eine Motte aber
will schon nicht mehr so recht in unsere Bildvorstellung von
Schmetterlingen passen. Noch weniger wollen wir an Falter
glauben, wenn sich am Abend oder in der Nacht dick bepelzte
und behaarte Fluginsekten vor der Fensterscheibe
versammeln oder burrend und schwirrend im hellen Licht um
die Straßenlaternen kreisen. Doch viele dieser seltsam
anmutenden fliegenden »Geister der Nacht« gehören auch in
die große Ordnung der Schmetterlinge. Wir brauchen nur
genau zu beobachten, dann merken wir bald, dass sie
gemeinsame Merkmale haben, die sie deutlich von anderen
Insekten unterscheiden.
Die zweitgrößte Ordnung des Tierreiches bilden die
Schmetterlinge mit schätzungsweise 150 000 Arten. Wie viele
es wirklich sind, wissen nicht einmal die Fachleute ganz genau,
29
denn noch werden ständig neue Arten entdeckt. In dieser
nahezu unüberschaubaren Fülle gibt es Riesen mit einer
Flügelspannweite von 30 Zentimetern, wie die
südamerikanische Graue Rieseneule. Sie ähnelt im Flug einer
Fledermaus. Winzlinge, zum Beispiel unsere heimischen
Zwergmotten, dagegen breiten ihre feinen Flügel nur ein paar
Millimeter weit aus.
Wir kennen aber auch flügellose Schmetterlinge,
beispielsweise die Weibchen der Sackspinner und des
Frostspanners. Andererseits gibt es Wanderfalter mit
erstaunlichen Flugleistungen. Der Monarch, ein Tagfalter des
amerikanischen Kontinents, fliegt im Herbst wie ein Zugvogel
von Kanada bis nach Mexiko. Hervorragende Flieger sind auch
die Schmetterlinge aus der Familie der Schwärmer. Schmale
Flügel tragen ihre dicken, spindelförmigen Leiber schneller
durch die Nacht, als Autos innerhalb von Ortschaften fahren
dürfen! Sie erreichen Fluggeschwindigkeiten von mehr als 50
Kilometern in der Stunde. Der Totenkopfschwärmer wandert
vom Mittelmeergebiet bis nach England.
Falter leben rund um die Erde bis zu den arktischen und
antarktischen Regionen. Die meisten Arten sind in den Tropen
und in den Subtropen zu Hause. Dort gibt es die schönsten
und größten Schmetterlinge. Aber auch in Mitteleuropa sind
mehr als 3 000 verschiedene Falterarten anzutreffen. Manche
können mit ihren Verwandten aus den warmen Ländern an
Schönheit wetteifern, wie Schillerfalter, Bären und
Ordensbänder. Es wäre jedoch falsch, Schmetterlinge allein
nach ihrer Schönheit zu beurteilen. Viel interessanter ist ihr
Leben. Davon will dieses Buch einiges berichten.
30
Staatenbildende Insekten
Diese kleine Insektenkunde erzählt vom Jahresstaat der
Wespen und Hummeln, berichtet über die soziale
Gemeinschaft eines Bienenvolkes, das in einem Dauerstaat
lebt, und hilft auch, das scheinbar heillose Durcheinander eines
Ameisenhügels zu verstehen. Die mannigfaltige und in der
Natur nicht in allen Einzelheiten beobachtbare Lebensweise
der staatenbildenden Insekten wird eindrucksvoll und leicht
verständlich in Wort und Bild dargestellt.
Taube Klara
So kannte Hannes seine Mutter noch nicht: Opas
Lieblingstaube Klara hing tot in ihrer Hand. Sicher, resolut war
Mutter schon immer, der Kapitän zu Hause, obwohl doch
Vater auf großen Schiffen zur See fuhr. Aber Mutter war auch
verständnisvoll, lieb und vor allem: hilfsbereit. Nicht einen
Augenblick hatte sie gezögert, mit dem Schlitten in der
Weihnachtsnacht durch Kälte und Schnee zu ziehen, um den
hilflosen Nachbarn Pinkau zu holen, dem andere die Hilfe
verweigerten. Doch Klara töten? Omas einzige Gefährtin nach
Opas Tod? Gewiss, Mutter hatte sich vor ihr geekelt, vor dem
Taubendreck in der Küche, sie fürchtete um Omas Gesundheit
und würde Oma am liebsten mit nach Berlin nehmen. - Zwei
Weihnachtstage zu Besuch am Jammerfeld - Hannes wird sie
nie vergessen.
Das Buch erschien 1987 bei: Der Kinderbuchverlag Berlin. Es
wurde in acht Sprachen übersetzt und 1991 mit dem
31
Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Wasseramsel
Wasseramsel — das ist nicht nur der Name des seltenen
Vogels, den Winfried und Ulla entdecken, der unter Wasser
laufen kann und angeblich die Fischbrut aus dem Forellenteich
frisst. Winfried nennt auch Ulla so, seit er sie zum ersten Mal
sah, als sie im angestauten Waldbach badete. Zwischen
beiden entsteht eine große Liebe, obwohl Winfried bisher nur
Freude an schnellen Motorrädern fand und seine Mutter ihn
noch zu jung für „Mädchengeschichten“ hält. Und dann hängt
Ullas Bild auf der Ausstellung zum Heimatfest, es zeigt das
schöne Tulbachtal im Landschaftsschutzgebiet, bevor dort
Winfrieds Vater ein Haus baute und einen Forellenteich
anlegte. Eines Tages ist Winfried fort, das Haus seiner Eltern
verwaist, kein Zeichen, kein Brief gibt Ulla Nachricht.
Zwischen Alpen und Eismeer
Seit jenem regennassen Herbsttag, an dem ich als 13-Jähriger
die Lachmöwe in den Harzbergen fand, wollte ich wissen, wie
Vögel und andere Tiere in ihrer Umwelt leben. Dazu nutzte ich
immer wieder meine Freizeit. Um ihnen nahe zu sein, verbarg
ich mich unter der Tarnkappe eines Versteckzeltes auf
Bäumen und im Sumpf. Mit dem Auge der Kamera habe ich
über viele Jahre versucht, ihr Verhalten in fotografischen
Bildern auch für andere sichtbar zu machen. Manchmal ist es
gelungen. Dafür bin ich gewandert, geklettert und weit
gefahren, habe geschwitzt und sehr viel mehr noch gefroren.
32
In den Stunden der Beobachtungen, die zu Wochen, Monaten
und Jahren wurden, fand ich ein paar Körnchen an neuem
Wissen. So führte die kindliche Neugier und die Freude an
eigenen Entdeckungen von der toten Lachmöwe am Hang auf
manchem Umweg zu meinem ersten Buch vom »Wald der
großen Vögel«. Darin beschrieb ich, was mir nach dreijähriger
Beobachtung bei Graureihern, Mäusebussard und Habicht
aufgefallen war. Andere Bücher folgten, und den Büchern
folgten Einladungen, auch in anderen Ländern Tiere zu
beobachten und zu fotografieren. Auge in Auge mit den frei
lebenden Tieren zu sein, von denen manche bedroht und
gefährdet sind, wurde so zu einem Teil meiner Arbeit. Und
schließlich kam ich zu jenen Vögeln im hohen Norden, von
denen ich als Junge geträumt hatte. Ich traf auch andere
Tiere, von denen ich damals noch nichts wusste. Von diesen
Begegnungen will ich hier berichten.
33
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Falkengustav
Wolf Spillner
E-Books von Wolf Spillner
2
3
20
24
34