Impressum Wolf Spillner Der Bachstelzenorden Fünf Erzählungen ISBN 978-3-95655-332-5 (E-Book) Die Druckausgabe erschien erstmals 1979 bei Der Kinderbuchverlag Berlin © 2015 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de Wolf Spillnerß t>er lfd(lhsh>\zenorden 2 Falkengustav Die E-Lok kommt erst hinter der Brücke zum Halt. Die Bremsen quietschen und pfeifen, und die Drähte über den Bügeln der Stromabnehmer schwingen und zittern. Gustav Magerbrot schiebt die Tür des Führerstandes auf, sieht nach links und nach rechts, klettert zögernd die eiserne Leiter der Lokomotive hinunter und springt auf das Schotterbett. Er starrt unentschlossen zur Brücke zurück. Er bereut schon, den Zug zum Halt gebracht zu haben. Aber er rennt doch los. Die Steine klirren und scheppern unter seinen Schuhen gegen die Schwellen. Der Zug ist lang - offene und geschlossene Güterwagen. Schwarz glänzende Kohle ist in die Waggons geschüttet, Frachtgut in Kisten gestapelt, und auf drei Spezialwagen funkeln übereinander rote und sandfarbene Skodalimousinen. Der Lokführer hastet stolpernd auf dem Nebengleis zur Brücke. Dass kein anderer Zug kommen kann, weiß er. Und niemand wird ihn hier oben sehen, denn die Straße liegt tief unter den mächtigen Bögen der Steinbrücke im Tal. Vor den letzten Waggons wird ihm die Luft knapp. Das Ende des Zuges steht noch auf der Brücke. Wo das Geländer beginnt, dort mag es passiert sein, bei der Birke. Gustav Magerbrot muss tief atmen, wischt die Stirn mit dem Taschentuch trocken und zieht sich die Hose hoch, die unter den Bauch gerutscht ist. Er ist klein und dick, und Hast ist ihm ein Gräuel. Er steigt die Böschung hinunter auf die Birke zu. Da stehen das Gras und die Nachtkerzen mit ihren blassen Blüten dicht und hoch, noch feucht vom Tau der Nacht. Er versinkt bis zum Gürtel darin. Hastig sucht er im nassen Grün. 3 Es duftet scharf und streng - ganz fremd für ihn. Er ist mit der trockenen Wärme seiner Lok vertraut und dem leisen Hauch von Maschinenöl. In seinem Führerstand ist es immer peinlich sauber. Er ist sehr genau, und er hält den Fahrplan ein. Monat für Monat hängt sein Bild auf der Tafel der Besten vor dem Bahnhof. Was bin ich bloß für ein Narr, denkt Gustav Magerbrot. Der Gegenzug muss warten - das gibt Ärger! Aber ist er schon mal losgelaufen, will er jetzt auch weitersuchen. Hier an der Birke muss es doch gewesen sein. Er schiebt das Gras zur Seite und biegt die Zweige der niedrigen Büsche hoch. Da sieht er ihn. Er lebt noch! Seine Augen sind dunkel und rund wie glänzende Tollkirschen und voller Angst. Hastig greift Gustav Magerbrot zu, zieht aber die Hand sofort wieder zurück. Der Vogel da unter der Birke hat sich auf den Rücken geworfen. Er kickert mit gellender Stimme und schlägt mit gelben, dolchbewehrten Füßen nach seiner Hand. So ein Teufel, denkt Gustav Magerbrot, zieht die Jacke aus, wirft sie über den Vogel und klemmt sich den Wehrlosen unter den Arm. Er zappelt noch, als er mit ihm auf den Bahnkörper zurückkriecht. Doch er beruhigt sich und rührt sich nicht mehr, als der Lokführer den Zug entlang zu seiner Maschine hastet und pustend die Leiter zum Führerstand hochklettert. Gustav Magerbrot schiebt die Tür sorgfältig zu, kniet sich auf den Boden und nimmt die Jacke vorsichtig auseinander. Der Vogel sitzt zusammengekauert da. Ein Flügel hängt schräg zur 4 Seite hinunter. Der Schnabel ist krumm und an seiner Wurzel gelb wie Kerzenwachs. Das Gefieder sieht wie Zimt aus. „Kann dich doch nicht verrecken lassen“, murmelt der Lokführer zur Entschuldigung. Er macht seine alte Aktentasche auf, nimmt die Thermosflasche heraus und greift dann den Vogel rasch und behutsam, ehe er sich wehren kann. Hier in der Lokomotive wirkt er viel kleiner und zierlicher als draußen unter den Büschen. Er ist nicht mal so groß wie eine Taube. In der Tasche hat er bequem Platz, und Luft bekommt er auch genug. Wurde Zeit, dass ich mich drum kümmere, denkt Gustav Magerbrot und setzt den Zug langsam in Bewegung. Er hat genau neuneinhalb Minuten auf der Strecke gestanden. Der Blick auf die Armbanduhr sagt es ihm. Die verlorene Zeit könnte er vielleicht wieder aufholen. Er kennt seine Strecke. Er weiß, wie er die Kurven angehen muss, versteht sich darauf, die Steigungen aus dem Schwung der Talfahrt so zu nehmen, dass die zweitausend Pferdestärken seiner E-Lok ausreichen, um die Geschwindigkeit auch am Berg noch zu halten. Ohnehin ist die Heimfahrt immer die leichtere Tour der Strecke. Die meisten Kehren zwischen den Bergen liegen hinter ihm, die beiden großen Brücken hat er passiert. Eine knappe Stunde noch, und er ist im Heimatbahnhof. Dann so schnell wie möglich nach Hause! Mit dem Vogel in der Tasche. Der hat sich wohl einen Flügel gebrochen. Ein Wunder, dass er am Leben geblieben ist. Wirklich ein Wunder! Diese verteufelte Brücke! Immer wieder passiert es hier! Was mochten das für Vögel sein? Sie sind so schön - aber dumm! 5 Mächtig dumm, hat Gustav Magerbrot gedacht, als der erste Vogel gegen die Lok knallte. Das war vor einem Jahr und Gustav Magerbrot nicht mehr ganz neu auf der Strecke. Die Streckenkenntnis hatte er schon seit dem Herbst. Dreimal war er damals die Tour mitgefahren. Das ist Vorschrift. Sein Lehrer für die Strecke war der Heinert Willi. Ein Fuchs. Der kannte die Tücken zwischen den Bergen noch aus der Zeit, als an elektrische Lokomotiven kaum zu denken war. Er hatte als Heizer Kohlen in den Feuerschlund geschippt und war dreißig Jahre lang auf diesen Schienen unterwegs. Viele Worte machte er nicht. Aber genau das war es, was Gustav Magerbrot gefiel. „Pass uff, nimm e bischel weg - nu gib widder zu!“ Das spuckte der Heinert so nebenbei zwischen seinen Zahnstummeln heraus, kniff die Augen zusammen, schob die Mütze in die Stirn, wenn die Sonne über den Bergrücken blendete, und wies mit hornigem Mittelfinger auf die Vorsignale. Als sie die Strecke das zweite Mal hinter sich brachten, da hatte er genickt. „Mit dir wird’sch wasch“, hatte er genuschelt. Das war schon ein großes Lob vom Heinert, der einem genau auf die Finger sah. Der fühlte wohl mit dem ganzen Körper, mager und sehnig hinter dem Steuerpult, ob einer die Lok verstand, mit ihr umgehen konnte und das rechte Gespür für Kraft und Geschwindigkeit hatte. Gustav Magerbrot hatte es, er war kein Anfänger mehr. Aber jede neue Strecke ist für den Lokführer erst einmal ein Buch mit sieben Siegeln. Auch wenn es ein Streckenbuch gibt. Da muss jedes Signal gelesen werden, und jeden Baum an den Kurven muss man kennen und wissen, was die nächsten Meter hinter der Biegung bringen, die man noch nicht sehen kann. 6 Das war im Herbst. Die Wälder an den Bergen brannten im Feuer ihres Laubes, und dunkel standen die Fichten wie ernste Männer zwischen den lodernden Ahornen und rotgoldenen Buchen. Blattherzen von den Birken trieben im Fahrtwind am Zug vorüber, als Gustav Magerbrot allein fahren durfte. Er hatte schon viele Strecken gesehen, war mit der Schnellzuglok auf großen Fahrten quer durch die Republik gebraust bis zur Ostsee hinauf. Aber nirgends fand er es so schön und schwierig zugleich wie hier im Süden, wo sich die Gleise in Kurven und Bögen am Berghang entlangzogen, wo die E-Lok summend den donnernden Güterzug über die hohe Brücke der Flöha schleppte. Im Tal standen die Häuser wie Spielzeugschachteln mit blauen Schieferdächern, und das Flüsschen blitzte wie klares Silber aus seinem Uferkranz der Weiden und Wiesen. Das war eine Strecke, auf der Gustav Magerbrot dreißig Jahre fahren wollte wie der Heinert Willi, der seinen Ruhestand Jahr für Jahr vor sich hergeschoben hatte, weil er nicht los konnte von ihr. Der Winter kam hart und schnell. Im Schnee, im Sturm, im gleißenden Frost der Wintersonne war die Strecke nicht weniger schön. Aber da zeigte sie erst, was an Tücke und Schwierigkeit in ihr steckte. Zweimal blieb Gustav mit seinem Zug auf der Strecke, bis die Schneefräsen das Gleis wieder frei gefressen hatten. „Das gehört dazu“, sagte Gustav Magerbrot, als Paul ihn fragte, ob er denn nicht Angst gehabt hätte. Paul, klein und schwarzhaarig, dick und flink, wollte jede Fahrt genau erzählt haben. Aber Vater Gustav erzählte nicht viel. „Wart’s ab, Magerbrötchen“, sagte er, „setzt dich auf die 7 Hosen und lern, kannst auch Lokführer werden!“ Da war der Paul in der vierten Klasse. Im April passierte es zum ersten Mal. Auf dem Geländer der Flöhabrücke saßen die Vögel. Alles ging blitzschnell, und ehe es Gustav Magerbrot richtig wahrgenommen hatte, war es schon vorbei. Die Hände auf dem Steuerpult, starrte er für Sekundenbruchteile auf den zimtfarbenen Rücken und die federstiebenden Flügel des Vogels, der vor der Scheibe hing und seitlich unter der Lok verschwand. An diesen ersten Aufprall musste er immer wieder denken. Die Vögel waren schön. Aber so dumm! Warum flogen sie nicht zur Seite fort? Das war schon unheimlich - bis zum Mai schlugen sich auf der Brücke fünf Vögel an der Lokomotive zu Tode. Dann waren sie plötzlich verschwunden.Nur selten noch erspähte er einen der Vögel über dem Tal. Sie schienen jetzt niedriger zu fliegen, und er dachte, dass es kleine Raubvögel sein müssten. Acht Wochen lang passierte nichts mehr, und der Lokführer Gustav Magerbrot hatte die Brückenvögel fast wieder vergessen. Wenn sie ihm einfielen, dann glaubte er, es müsse Zufall gewesen sein. Aber es war kein Zufall. In der ersten Juliwoche flogen wieder Vögel gegen die Lok. Sieben wurden es sogar! Er fuhr seine Lok und grübelte. Der Heinert Willi hatte ihm die Strecke erklärt. Er hatte ihm die Stelle gewiesen, wo im Frühjahr durch die Schmelzwasser mit Steinschlag zu rechnen war an den steilen Hängen. Er hatte vor den Schneewehen gewarnt, die sich hinter den Böschungen aufwarfen, wenn der 8 Sturm die Schneezäune umfegte. Von den Vögeln an der Brücke kein Wort! Sicher, sie brachten keine Gefahr für die Lok und den Zug. Aber es war doch scheußlich, die Vögel zu töten. Der Heinert Willi klaubte in seinem Garten die letzten Erdbeeren auf, als Gustav Magerbrot ihn besuchte. „Ja, freilich - dasch isch immer scho geweschen“, nuschelte er. „Da schind scho kleine Habischte, die haben ihre Neschter in den Löchern da. Die Schungen schitschen auf dem Geländer. Muscht dir nischt bei denken, die schind immer da. Kanschte nischt machen!“ Er hielt ihm das Körbchen mit Erdbeeren hin: „Für deine Frau und dasch Paulschen!“ Gustav Magerbrot nahm die Erdbeeren und dankte. Zufrieden war er nicht. Er ärgerte sich. Was gingen ihn eigentlich die Vögel an? Sie werden immer in die Lokomotiven geflogen sein. Der Heinert musste es ja wissen. Aber jedes Mal, wenn sich die Lok um den Felsen herumschwang und die Brücke über dem Flöhatal vor ihm lag, zuckte er zusammen, sah die Vögel von den Geländern fliegen und bangte vor dem nächsten Zusammenprall. Langsamer konnte er die Brücke nicht befahren. Die Lok hatte es ohnehin schwer genug, die nächste Steigung zu nehmen. Und wohin käme man, wollte jeder Lokführer fahren, wie er wollte - nur weil da ein paar dumme Vögel flogen? Der nächste könnte kommen und um die Blumen barmen, die der Fahrtwind wegreißt! Darum kann sich ein Lokführer nicht kümmern. Für ihn ist Technik wichtig, aber kein Vogel. Sonst sollte er nicht Lokführer werden. Er soll pünktlich fahren und seine Maschine pflegen, dass sie ohne 9 Reparaturen auskommt. Dazu braucht er keine Gefühle und dumme Gedanken. Aber mach einer was gegen die Gedanken und das Gefühl! Er schüttelt den Kopf, der Lokführer Magerbrot - angehalten hat er! Auf freier Strecke! Ohne triftigen, amtlichen Grund! Es sind immer noch sieben Minuten, die er aufholen muss - und nur, weil so ein dummer Vogel noch halb mit dem Leben davongekommen ist. Er ist ein ganzes Stück neben der Lok hergeflogen. Knappe sechzig Stundenkilometer, das Dusseltier. Statt abzuschwenken, kommt er vor die Lok, prallt an die Scheibe und stürzt nach rechts hinter der Brücke den Damm hinunter ins Gras unter die Birke. Nun sitzt der Vogel in der Tasche. Na, der Paul wird aber Augen machen, denkt Gustav Magerbrot. So ’n Vogel ist doch was anderes als ein Wellensittich. Einen krummen Schnabel hat er allerdings auch. Zum Tierarzt wird man müssen. Der Flügel ist bestimmt hin. Und Futter? Der Heinert Willi meinte, das wären Habichte. Die fressen doch Fleisch! Darum soll sich das Paulchen kümmern! Der Gegenzug wartet schon hinter der nächsten Blockstelle. Der Schrankenwärter tippt mit der Hand an den Mützenschirm, als Gustav Magerbrot vorüberdonnert. Aus der stehenden Lokomotive hebt der Lokführer vier Finger. Vier Minuten Verspätung noch! Die wird er nicht mehr aufholen. Der Vogel hat den Fahrplan über den Haufen geworfen. „War was?“, fragt der Einsatzleiter auf dem verrußten Bahnhof. 10 Gustav Magerbrot schüttelt den Kopf und klemmt seine Tasche unter den Arm. „Schlechter Tag heute“, knurrt er, „ich fühle mich nicht gut!“ Da sagt er nichts Falsches. Der Einsatzleiter sieht ihn an, wie er da steht, mit kleinen Schweißperlen über der Nase und den braunen Augen. ,,Du bist doch nicht krank, Gustav?“ „Nein, nein - übermorgen geht’s wieder. Hab ja erst mal Freischicht!“ Er macht, dass er wegkommt. In der Straßenbahn hält Gustav Magerbrot die Tasche fest auf den Knien. Die Bahn ist voll, die Menschen drängen und stoßen sich, aber er denkt, dass alle nur auf seine Tasche starren. Er hat noch immer ein schlechtes Gewissen. Er fühlt sich wirklich nicht gut. Wenn er nur wüsste, was das eigentlich für ein Vieh ist, das er da nach Hause bringt. „Oi, ein Turmfalke“, ruft Paul, als sein Vater die Tasche auf dem Küchentisch öffnet. „Wo hast du den her?“ „Ist gegen die Lok geflogen.“ „Und da hast du angehalten?“ Paul staunt seinen Vater an. „Ja“, brummelt er, „hat vier Minuten gekostet!“ „Mann, Vater!“ Frau Magerbrot steht mit ängstlichem Gesicht hinter Paul und sieht sich misstrauisch den Vogel an. Der sitzt still auf dem Tisch und lässt den linken Flügel hängen. „Wenn der nun unsere Küken frisst?“ „Aber Mama!“ Paul dreht sich um, und der Falke macht einen Klecks auf den Tisch. „Turmfalken fressen doch keine Küken die fangen Mäuse! Nur Mäuse! Die sind unheimlich nützlich!“ 11 „Woher hast du deine Weisheit“, staunt Gustav Magerbrot. „Na, vom alten Seemann, ich meine von Herrn Seemann, unserem Biolehrer!“ „Dann frag ihn mal, wie wir ihn füttern sollen.“ Paul grinst. „Wen?“ „Den Lehrer natürlich nicht, du Schlaukopf! Den Falken hier!“ „Dürfen wir ihn denn behalten?“ Frau Magerbrot schüttelt den Kopf. Gustav Magerbrot zuckt die Schultern. „Ich dachte! Der kann sich doch allein nicht helfen, oder? Aber Mäuse, wo sollen wir Mäuse hernehmen?“ Er sieht hilflos aus. „Wir setzen ihn in die leere Karnickelbucht, und dann fahre ich zum Seemann und frage ihn. Der weiß das!“ „Zu Herrn Seemann, Paul-Heinrich! Merk dir das endlich mal!“ „Ja, Mutter!“ Paul greift sich den Falken und trägt ihn durch den Garten zum Kaninchenstall. Der Vogel schickert leise vor sich hin. Sehr scheu ist er nicht. Er springt auf den Holzklotz, den Paul in den Kaninchenstall legt. Paul findet den Vogel sehr schön. Was für starke Krallen er hat! Da möchte man keine Maus sein. Er macht die Tür vom Kaninchenstall sorgfältig zu und fährt zur Siedlung. Im letzten Haus wohnt der alte Seemann. Alle sagen alter Seemann. Ist doch nichts Schlimmes bei! Alt ist er, weiße Haare hat er und Seemann heißt er - Seemann ist er nie gewesen. Immer Lehrer. Der ist in Ordnung! Der weiß auch, dass sie ihn alten Seemann nennen. Soll Mutter sich bloß nicht so haben! 12 „Ein Turmfalke?“, fragt Lehrer Seemann erstaunt. Er klopft sich die Erde von der Hose, hält sich dann die Hand aufs Kreuz und stöhnt. „Das verflixte Unkraut!“ Er steht mitten im Möhrenbeet. „Da möchte ich gleich mitkommen, aber du siehst ja - mehr Unkraut als Möhren!“ Paul überlegt. „Kann ich nicht weitermachen, Herr Seemann, und Sie sehen sich mal den Vogel an? Mutter hat schon Angst, der könnte unsere Küken fressen. Kann er das?“ „Nein, das kann er nicht“, Lehrer Seemann schmunzelt. „Schönen Dank für dein Angebot - komm, wir fahren zusammen!“ Dann stehen sie vor dem Kaninchenstall. „Ein junger Turmfalke, tatsächlich“, sagt der Lehrer, „woher haben Sie ihn?“ „Von der Flöhabrücke - ist gegen die Lok geflogen“, antwortet Gustav Magerbrot. Er zieht die Stirn in Falten. Mehr möchte er nicht sagen, aber der Lehrer fragt: „Gibt’s da noch mehr?“ „Eine ganze Menge! Aber wenn es so weitergeht, dann gibt es bald keine mehr!“ „Das verstehe ich nicht, Herr Magerbrot!“ „Sie sitzen auf den Brückengeländern. Wenn ich um die Kurve auf die Brücke komme, fliegen sie los. Immer geradeaus, immer vor dem Zug her. Und dann knallt es! Wieder einer weniger! Jetzt um diese Zeit ist es ganz schlimm. Das sind wohl die Jungen, die noch nicht so schnell fliegen können. Wenn die Viecher doch nach rechts oder links wegfliegen würden, aber nein, immer vor der Lok her!“ „Könnt ihr nicht langsam auf die Brücke fahren?“, fragt Paul. 13 „Nein!“ Das sagt Gustav Magerbrot kurz und knapp. Man kann nicht weiter fragen. Der Lehrer überlegt. Er fährt dem Falken vorsichtig über den runden Kopf und streicht den Flügel zur Seite. Der Falke springt vom Holzklotz und kickert. Hell und scharf klingt die Stimme durch den Garten. „Der Flügel ist gebrochen - ich meine, der Vogel sollte in den Tierpark kommen. Vielleicht ist er noch zu retten!“, sagt der Lehrer. „Och“, macht Paul, „der ist so schön!“ „Eben deshalb, Paul. Da hat er bessere Pflege als hier. Vielleicht kann er dann wieder fliegen und freigelassen werden. Findest du das nicht schöner?“ „Das stimmt schon“, gibt Paul zu, „aber wenn er wieder an die Brücke fliegt, was denn dann?“ „Ja, da liegt der Hase im Pfeffer - nicht nur für ihn!“ Lehrer Seemann sieht Gustav Magerbrot fragend an. „Ist Ihnen das schon öfter passiert?“ Pauls Vater nickt. „Ich fahre ja die Strecke noch nicht lange. Anderthalb Jahre erst. Aber es hat schon zwölfmal geknallt!“ „Und wie viel Züge fahren dort?“ Gustav Magerbrot hebt die Schultern. „Genau weiß ich das nicht, aber hundert werden es wohl sein pro Tag - die Nacht natürlich mitgerechnet.“ „Und was könnte man machen?“, fragt der Lehrer. Er hat ein bestürztes Gesicht, ganz ratlos sieht er aus. „Da kann man sich vorstellen, dass viel mehr Falken umkommen, nicht wahr?“ 14 „Das wird schon sein. Mein Kollege, den ich auf der Strecke abgelöst habe, der sagt, das war schon immer so. Aber er hat gemeint, es wären kleine Habichte!“ Lehrer Seemann schüttelt den Kopf. „Immer dieselbe Leier alles, was einen krummen Schnabel und scharfe Fänge hat, gilt als Habicht. Dabei gibt es gar nicht mehr viel Habichte. Na, und Turmfalken sind ja auch nicht gerade häufig. Außerdem stehen sie unter Naturschutz, da muss man sich doch was einfallen lassen, um sie wirklich zu schützen!“ Gustav Magerbrot hebt die Hände. „Wenn Sie das nicht wissen ... Ich bin Lokführer, verstehe nichts davon. Aber ich möchte nicht dauernd mit ’nem schlechten Gewissen über die Flöhabrücke fahren!“ „Ich weiß“, schreit Paul plötzlich, „tuten müsst ihr, Signal geben, schon vor der Brücke. Dann erschrecken sich die Falken und können eher losfliegen!“ „Unsinn“, sagt Gustav Magerbrot. „Das geht nicht! Wir können doch nicht Signal geben, wann und wo wir wollen. Wir haben Vorschriften, verstehst du?“ „Aber angehalten hast du auch! Ohne Vorschrift!“ Pauls Vater kneift die Lippen zusammen. Er sagt nichts. Es ist ganz still. Nur die Kaninchen schnurpsen in den Buchten. „Wenn es Ihnen recht ist, nehme ich den Falken und bringe ihn zum Tierpark. Ich kenne die Kollegen da“, bricht Lehrer Seemann die peinliche Stille. „Danke“, sagt Gustav Magerbrot. Seine Frau macht ein erleichtertes Gesicht. Sie glaubt doch nicht recht daran, dass ein Turmfalke keine Küken greift. 15 In einem Pappkarton fährt der Vogel auf dem Gepäckträger des Lehrerrades aus dem Garten. „Und du kümmerst dich jetzt mal gefälligst ums Karnickelfutter“, knurrt Gustav Magerbrot seinen Sohn an. „Ist schon alles besorgt!“ Das Gesicht des Vaters wird nicht freundlicher. „Kannst du das nicht wenigstens mal probieren, Papa?“ „Was denn?“ „Tuten!“ „Hast doch gehört, was ich gesagt habe! Vorschrift ist Vorschrift. Ich darf kein Signal geben. Und du merk dir mal, dass man seinen Vater nicht bloßstellt, verstehst du?“ „Aber du hast doch was Gutes gemacht, das kann man doch sagen!“ „Was ist daran gut, wenn ich Verspätung mache? Reine Dummheit war das!“ Er tippt sich vor den Kopf. „Da fährt man monatelang ohne Minus, und plötzlich kriegt man den Rappel. Nee, ich will davon nichts mehr wissen, verstehst du!“ Damit dreht er sich um und geht ins Haus. Die Vögel von der Flöhabrücke fliegen jedoch weiter in Gustav Magerbrots Kopf umher. Am Abend und auch am nächsten Morgen noch. Da fährt er den Trabi aus der Garage. „Willst du mit, Magerbrötchen?“ Paul sieht ihn fragend an. „Wohin?“ „Zur Flöhabrücke!“ Wie gut, dass Ferien sind, denkt Paul. 16 Sie fahren länger als eine halbe Stunde. Dann stehen sie unter der Brücke. Sie ist riesig. Sieben Bögen aus Stein überspannen das Tal. Der Nacken schmerzt, wenn man lange hinaufsieht. Da oben fliegen die Falken. Ihre Flügel zittern vor dem hellen Himmel. Manchmal gleiten sie ohne Flügelschlag, dann sehen sie wie winzige Anker aus. Sieben, acht, dann sogar zehn Falken zählen sie. „Die haben da ihre Nester, Papa!“ Paul zeigt auf die Rüstlöcher unter den Brückenbögen. Dort verschwinden die Falken für kurze Augenblicke, und ganz leise sind aus der großen Höhe die hellen Bettelschreie der Jungen zu hören. „Auf dem Geländer sitzen auch welche.“ Gustav Magerbrot hält den ausgestreckten Arm neben Pauls Kopf. „Siehst du sie?“ Es grummelt und donnert. Aus der Kurve hinter der Bergnase schießt ein D-Zug heraus. Er ist schon auf der Brücke. Die vier Vögel sitzen noch immer. Jetzt erst fliegen sie los, und da ist die Lok schon hinter ihnen. Drei schaffen es, kommen unter den Leitungen über die Brücke hinweg. Doch es stieben auch Federn auf, und hinter dem letzten Pfeiler stürzt ein Falke herab. „Los, Papa - hin!“, schreit Paul und rennt los. Als sein Vater keuchend am Brückenfuß ankommt, hält ihm Paul den Falken entgegen, schlaff liegt er in seiner Hand. Ein paar Federchen segeln schaukelnd von oben herunter. Sie tanzen so leicht wie die lichten, bräunlichen Schmetterlinge über dem Hang. Am Feldrand hebt Gustav Magerbrot mit dem Montiereisen 17 aus dem Trabi eine Grube aus. Sie muss nicht groß sein. Er sagt nichts, und Paul sagt auch nichts, als der Falke vergraben wird. Schön ist der Morgen am nächsten Tag. Die Schienen blitzen silbern vor der Lokomotive. Frisch gewaschen vom Nachtregen leuchten die Signale vor dem dunklen Wald, und in den Tälern duften reife Gerstenfelder. Ein Morgen, an dem das Fahren Freude machen könnte. Aber froh ist Gustav Magerbrot nicht. Warum musste er hinter der Brücke halten und den Falken nach Hause bringen? Kein anderer Lokführer kümmert sich um die Vögel. Je näher sein Zug dem Flöhatal kommt, desto unruhiger wird er. Da ist schon die lange Kurve um die Bergnase vor dem Tal! Noch vierhundert Meter vielleicht, noch dreihundert. Seine Hand zuckt vor, wieder zurück, und dann brüllt die Lok laut heulend auf. Die Hand liegt fest über dem Signalknopf. Als der Zug um die Kurve auf die Brücke donnert, schlägt das Echo von der Bergwand zurück und füllt das Tal. Und Gustav Magerbrot sieht die Falken zu beiden Seiten der Brücke davonfliegen! Er stößt die Luft aus, die er angehalten hat. Das ist doch ein schöner Morgen! Er schickt noch einen Signalton hinter den Falken her, obwohl es nicht mehr nötig ist. Vorschrift hin, Vorschrift her - man wird die Vorschrift ändern müssen, denkt Gustav Magerbrot. Aber das ist so einfach nicht. Er merkt es schon auf der Versammlung am Nachmittag. Da steht er am Tisch zwischen den anderen Lokführern und den Heizern auf, die noch mit Dampfloks fahren, und redet vorsichtig und stockend von der Brücke und den Falken. 18 Ein paar Lokführer grinsen. Einer sagt: „Halt uns doch nicht mit deinem Quatsch auf, Gustav, wir wollen nach Hause“, und der lange Niebäumer schreit aus der Ecke: „Wir haben keinen Vogel, Gustav - es reicht doch, wenn du einen hast!“ Er zeigt deutlich an den Kopf. *** Ende der Demo-Version, siehe auch http://www.ddrautoren.de/Spillner/Bachstelzenorden/bachstelze *** 19 Wolf Spillner Geboren 1936 in Herzberg am Harz, ist ein deutscher Autor und Fotograf Aus seinem Geburtsort zog seine Mutter mit ihm in ein winziges Holzhaus am Rande der Lüneburger Heide, als er 13 Jahre alt war. Mit 16 Jahren wurde er Waise. In Mainz war er mehrere Jahre Volontär einer naturwissenschaftlichen Jugendzeitschrift. Als die Wiederbewaffnung der 20 Bundesrepublik Deutschland akut wurde, übersiedelte er 1955 in die DDR. Er war in Schwerin etliche Jahre als freier Bildreporter tätig. Auch wurde er für acht Jahre Betonfacharbeiter und nutzte seine Freizeit, um Material für seine ersten Bücher zu erarbeiten. Ab 1967 freiberuflich als Autor und Fotograf tätig. Er wohnte zwei Dutzend Jahre in einem 17–Seelen-Dorf zwischen Wismar und Schwerin in der Naturlandschaft Mecklenburgs am Dambecker See. Heute lebt Wolf Spillner in Ludwigslust. Spillner arbeitete zunächst als Journalist. Später betrieb er ornithologische Studien und galt als einer der profiliertesten Naturfotografen der DDR. Dabei widmete er sich insbesondere der Beobachtung des Sozialverhaltens koloniebrütender Vögel. Beeinflusst von Werner Lindemann wurde er Mitte der 1970er Jahre zum Autor von Kinder- und Jugendbüchern, von denen einige auch verfilmt wurden. Sein bekanntestes Buch Taube Klara wurde in 8 Sprachen übersetzt und 1991 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Seit einigen Jahren hat er sich der digitalen Fotografie zugewandt, sowie per Fahrrad und Kajak Nordamerika, Nordskandinavien, Neuseeland und Jakutien bereist. Bibliographie: Claas und die Wunderblume. Kinderbuchverlag, Berlin 1989 Das Vogeljahr der Küste. Deutscher Landwirtschaftsverlag, Berlin 1973 Der Alte vom Hammer. Kinderbuchverlag, Berlin 1986 Der Bachstelzenorden. Kinderbuchverlag, Berlin 1979 21 Der Luftballon und die Warzenkröte. Kinderbuchverlag, Berlin 1979 Der Riese vom Storvalen. Kinderbuchverlag, Berlin 1983 Der Seeadler. Hinstorff Verlag, Rostock 1993 Der Wald der großen Vögel. Deutscher Landwirtschaftsverlag, Berlin 1969 Der Wald der kleinen Vögel. Deutscher Landwirtschaftsverlag, Berlin 1976. Die Baumräuber. Kinderbuchverlag, Berlin 1982 Die Graugans. Kinderbuchverlag, Berlin 1990 Die Hexe mit der Mundharmonika und andere Geschichten. Kinderbuchverlag, Berlin 1983 Die Vogelinsel. Kinderbuchverlag, Berlin 1976 Durch Urwald und Dünensand. Kinderbuchverlag, Berlin 1984 Feldornithologie. Deutscher Landwirtschaftsverlag, Berlin 1990 Ferne nahe Welt. Deutscher Landwirtschaftsverlag, Berlin 1981 Gänse überm Reiherberg. Kinderbuchverlag, Berlin 1977 Im Walde wohnt der schwarze Storch. Kinderbuchverlag, Berlin 1988 Land unter dem Wind. Deutscher Landwirtschaftsverlag, Berlin 1971 Lieber weißer Vogel. LeiV, Leipzig 1996 22 Natur-Ansichten oder die Macht der Kamille. Demmler Verlag, Schwerin 1996 Schätze der Heimat. Kinderbuchverlag, Berlin 1986 Schmetterlinge. Kinderbuchverlag, Berlin 1989 Seeadler - gestern und heute. Hoyer Verlag, Galenbeck 2004 Staatenbildende Insekten. Kinderbuchverlag, Berlin 1981 Taube Klara oder Zufälle gibt es nicht. Kinderbuchverlag, Berlin 1987 Wasseramsel. Kinderbuchverlag, Berlin 1984 Wildgänse überm Moor. Boje-Verlag, Stuttgart 1981 Zwischen Alpen und Eismeer. Kinderbuchverlag, Berlin 1987 23 E-Books von Wolf Spillner Der Alte vom Hammer. Eine Bilderbuchgeschichte aus den Bergen der Schweiz Corinna wird von ihren Mitschülern aus der 3. Klasse beneidet. Ihr Vater ist Wildhüter und nimmt sie oft mit in die Berge. Die Sennen haben gesehen, dass der alte Steinbock lahmt? Wird es so schlimm sein, dass ihn der Wildhüter erschießen muss, weil er mit seiner Verletzung nicht überleben kann? Corinna darf den Vater bei der gefährlichen und anstrengenden Suche nach dem Alten begleiten und bangt um sein Leben. Wolf Spillner bereicherte diese schöne Geschichte mit wunderbaren Fotos. Der Bachstelzenorden Gäbe es ihn, Hannes hätte ihn verdient: den Bachstelzenorden. Und nicht nur, weil er Stapellauf, Auszeichnung und Fernsehkamera davonlief, um ein Bachstelzennest zu retten. - Eines Tages hält Gustav seine Lok vorschriftswidrig an. Seltsam, denkt er, dass die Vögel nicht nach der Seite davonfliegen, sondern immer gegen die fahrende Lok prallen und sterben. Und er beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. Wolf Spillner hatte als Junge den großen Wunsch, einen Hund zu besitzen. Der erfüllte sich schließlich, doch was dann geschah, ist ihm auch heute noch Anlass, in seinen Geschichten von Menschen und Tieren zu erzählen, von keinen besonderen Menschen und keinen exotischen Tieren, sondern solchen, denen man überall begegnen kann, schaut man nur 24 richtig hin. Der Riese vom Storvalen. Eine Bilderbuchgeschichte aus Härjedalen Björn-Eyvind lebt mit seinen Eltern einsam in den Bergen. Er hat einen weiten Weg zur Schule, im Winter auf Skiern, im Sommer mit dem Fahrrad. Aber er ist schon groß, er geht schon in die 2. Klasse. Viele Tiere kann er auf dem Schulweg beobachten: Rentiere, balzende Auerhähne, die drolligen Brushähne. Gern besucht er seinen Freund Rune Axelson. Rune ist ein Bauer und hat vor sein Anglerhaus ein Schwein abgelegt, als Winterfutter für den Adler. Doch plötzlich kommt ein Riese den Berg hinab. Björn-Eyvind läuft und läuft, bis ihm die Beine versagen. Die Baumräuber Ein Jäger wohnte mit seiner Frau allein am Waldrand. Er war sehr mutig und schoss Bären, Wölfe und Wildschweine. Nur vor den Räubern, die mitten im Walde in einem riesengroßen Baum hausten, hatte er wie alle anderen große Angst. Doch eines Tages verfolgte er ein besonders großes Wildschwein und gelangte dabei zum Lager der Räuber. Zum Glück waren diese betrunken und schliefen ihren Rausch aus. Nur der kleine Jäger, der noch ein Kind war und keinen Alkohol trinken durfte, wachte und schlug Alarm. Vor Schreck gab der Jäger einen Schuss ab, der den Hut des kleinen Räubers traf. Kein Räuber durfte seinen Hut abnehmen und das schon seit vielen Jahren. Ihr könnt euch denken, dass die Räuber weder 25 Seife noch Kamm kannten. Aber nun gab es zwei Löcher in dem Hut des kleinen Räubers, durch die die Meise zu ihren Jungen fliegen konnte, die auf dem Kopf des kleinen Räubers ein Nest besaßen. Die Hexe mit der Mundharmonika Die Begegnung mit der Natur ist wie der Kontakt mit einem Menschen. Man muss hinsehen, zuhören und sich einstellen können, darf nehmen, aber auch geben und muss sich, wenn nötig, einsetzen, dann kann im Miteinander Liebe und Freundschaft wachsen. Dass dieses Einanderverstehen nicht immer leicht ist, erfährt Kerstin. „Du bist ein Sprüchemacher“, ruft sie ihrem Vater zu, der seinen Worten unerwartete Taten folgen lässt. Der alte Mann erfährt, dass seine Gemeinschaft mit den Vögeln ihm nicht allein gehören darf. Mit den Vögeln und den Jungen wird er reicher, die Gemeinschaft schöner. Wolf Spillners Sorge gilt in den neun Geschichten den alltäglichen Begegnungen, in denen sich die Haltung der Menschen zeigt. Durch Urwald und Dünensand. Aus Naturschutzgebieten und Nationalparks der CSSR, der Volksrepublik Polen und der DDR Für dieses Buch ist Wolf Spillner fast dreißigtausend Kilometer gefahren und viele Hundert Kilometer gewandert und geklettert. Bekannte und unbekannte Pflanzen und Tiere in geschützten Landschaften wollte er beobachten und fotografieren, um darüber berichten zu können. So kam er in 26 verschiedene Naturschutzgebiete und Nationalparks in der Volksrepublik Polen, in der CSSR und in der DDR. Von den Seen der wilden Gänse und seltenen Schwarzhalstaucher seines mecklenburgischen Dorfes, über die im Frühjahr und Herbst die Seeadler fliegen, ist er zu den scheuen Wisenten gefahren und vor ihnen davongerannt. Durch glutheißen Sand der Wanderdünen an der Ostsee ist er gestapft und durch den Sommerschnee der Hohen Tatra, dort, wo die Karpatengämsen leben. In den regennassen Waldbergen der Bieszczady hat er den Schwarzstorch auf seinem Nest gesehen und die seltene, kleine Orchidee Korallenwurz auf der Insel Rügen. Unter der Tarnkappe seines Versteckzeltes hat er mit Notizbuch und Kamera auf Bäumen und im Sumpf, zwischen Felsgeröll und im Schnee gesessen, um die scheuen Tiere zu belauschen und Bilder von ihrem Leben für dieses Buch zu sammeln. Das war nicht immer leicht. Aber es war immer schön, denn viele freundliche Menschen, die sich in den Reservaten und Nationalparks um den Schutz der Natur sorgen, haben ihm sehr geholfen. Nur so konnte dieses Buch im Laufe einiger Jahre entstehen. Spillner hat viel von der Schönheit der Natur gesehen und doch nur einen Teil vom Reichtum unseres blauen Planeten. Gänse überm Reiherberg „Was ist das schon, so’n Hund, gar nichts ist das. Der rennt dir bloß hinterher, weil er Kohldampf hat und Fleisch haben will. Gar nichts ist das! ... Eine Wildgans ziehe ich mir auf, dass ihr’s wißt. Und die wird zahm und fliegen. Hinter mir her. Die kommt sogar wieder, im nächsten Jahr wieder, verlasst euch 27 drauf! Und nicht weil sie Kohldampf hat.“ Knuppe lässt diese Idee nicht los, eine Idee, für die er nur bei wenigen Verständnis findet. Er lebt in einem Dorf am See, und dieser See ist einer der selten gewordenen Brutplätze der Graugänse. Aber bis alle im Dorf das begriffen haben, gibt es Streit zwischen den LPG-Bauern und den Naturschützern, bei den Jägern und Anglern, Krach mit Freund Kalle und — tatsächlich Ohrfeigen vom Vater. Im Walde wohnt der schwarze Storch Anna kennt sich im Wald aus, denn ihr Vater ist Förster. Ihr Vater hat sie oft auf seine Jagdkanzel in der Nähe des Weihers mitgenommen. Dorthin kommen die Wildschweine. Als sie ihrem vater die vergessenen Kiefernpflanzen nachbringen will, steigt sie noch schnell neugierig auf die Kanzel hinauf. Plötzlich entdeckt sie ein großes Nest auf einem Baum. Da ist ja auch ein großer Vogel, der rasch davonfliegt. Es ist ein Märchenvogel. „Gibt es Störche, die schwarz sind, oder bunt und mit roter Brille um die Augen?“, fragt sie aufgeregt ihren Vater? Niemand außer den Eltern darf von ihrem großen Geheimnis wissen. Noch nie haben die seltenen Schwarzstörche in ihrem Wald gebrütet und sie sollen doch im nächsten Jahr wiederkommen. Wunderbare Fotos von Wolf Spillner ergänzen die schöne Geschichte für Kinder ab 4 Jahre. Schätze der Heimat Große und kleine Naturschutzgebiete – von der Kreideküste 28 der Insel Rügen bis zu den Höhen des Thüringer Waldes, von den Wiesensteppen im Odertal bis zum Lindenwald in der Altmark – sind die Schatzkammern unserer Heimat. Sie bewahren den Reichtum der Natur. Aus der Fülle von über siebenhundert Reservaten stellt Wolf Spillner jeweils ein Naturschutzgebiet aus jedem Bezirk der DDR in anschaulichen Texten und beeindruckenden Farbfotos vor. Schmetterlinge Schmetterlinge sind für uns meist nur die bunten Tagpfauenaugen, die gelben Zitronenfalter, die hellen Weißlinge oder andere farbschöne Tagfalter im Sonnenschein. Flattert uns jedoch ein kleines, unscheinbar braungraues Tier im Haus oder gar aus dem Kleiderschrank entgegen, dann heißt es meist entsetzt: Das ist eine Motte! Eine Motte aber will schon nicht mehr so recht in unsere Bildvorstellung von Schmetterlingen passen. Noch weniger wollen wir an Falter glauben, wenn sich am Abend oder in der Nacht dick bepelzte und behaarte Fluginsekten vor der Fensterscheibe versammeln oder burrend und schwirrend im hellen Licht um die Straßenlaternen kreisen. Doch viele dieser seltsam anmutenden fliegenden »Geister der Nacht« gehören auch in die große Ordnung der Schmetterlinge. Wir brauchen nur genau zu beobachten, dann merken wir bald, dass sie gemeinsame Merkmale haben, die sie deutlich von anderen Insekten unterscheiden. Die zweitgrößte Ordnung des Tierreiches bilden die Schmetterlinge mit schätzungsweise 150 000 Arten. Wie viele es wirklich sind, wissen nicht einmal die Fachleute ganz genau, 29 denn noch werden ständig neue Arten entdeckt. In dieser nahezu unüberschaubaren Fülle gibt es Riesen mit einer Flügelspannweite von 30 Zentimetern, wie die südamerikanische Graue Rieseneule. Sie ähnelt im Flug einer Fledermaus. Winzlinge, zum Beispiel unsere heimischen Zwergmotten, dagegen breiten ihre feinen Flügel nur ein paar Millimeter weit aus. Wir kennen aber auch flügellose Schmetterlinge, beispielsweise die Weibchen der Sackspinner und des Frostspanners. Andererseits gibt es Wanderfalter mit erstaunlichen Flugleistungen. Der Monarch, ein Tagfalter des amerikanischen Kontinents, fliegt im Herbst wie ein Zugvogel von Kanada bis nach Mexiko. Hervorragende Flieger sind auch die Schmetterlinge aus der Familie der Schwärmer. Schmale Flügel tragen ihre dicken, spindelförmigen Leiber schneller durch die Nacht, als Autos innerhalb von Ortschaften fahren dürfen! Sie erreichen Fluggeschwindigkeiten von mehr als 50 Kilometern in der Stunde. Der Totenkopfschwärmer wandert vom Mittelmeergebiet bis nach England. Falter leben rund um die Erde bis zu den arktischen und antarktischen Regionen. Die meisten Arten sind in den Tropen und in den Subtropen zu Hause. Dort gibt es die schönsten und größten Schmetterlinge. Aber auch in Mitteleuropa sind mehr als 3 000 verschiedene Falterarten anzutreffen. Manche können mit ihren Verwandten aus den warmen Ländern an Schönheit wetteifern, wie Schillerfalter, Bären und Ordensbänder. Es wäre jedoch falsch, Schmetterlinge allein nach ihrer Schönheit zu beurteilen. Viel interessanter ist ihr Leben. Davon will dieses Buch einiges berichten. 30 Staatenbildende Insekten Diese kleine Insektenkunde erzählt vom Jahresstaat der Wespen und Hummeln, berichtet über die soziale Gemeinschaft eines Bienenvolkes, das in einem Dauerstaat lebt, und hilft auch, das scheinbar heillose Durcheinander eines Ameisenhügels zu verstehen. Die mannigfaltige und in der Natur nicht in allen Einzelheiten beobachtbare Lebensweise der staatenbildenden Insekten wird eindrucksvoll und leicht verständlich in Wort und Bild dargestellt. Taube Klara So kannte Hannes seine Mutter noch nicht: Opas Lieblingstaube Klara hing tot in ihrer Hand. Sicher, resolut war Mutter schon immer, der Kapitän zu Hause, obwohl doch Vater auf großen Schiffen zur See fuhr. Aber Mutter war auch verständnisvoll, lieb und vor allem: hilfsbereit. Nicht einen Augenblick hatte sie gezögert, mit dem Schlitten in der Weihnachtsnacht durch Kälte und Schnee zu ziehen, um den hilflosen Nachbarn Pinkau zu holen, dem andere die Hilfe verweigerten. Doch Klara töten? Omas einzige Gefährtin nach Opas Tod? Gewiss, Mutter hatte sich vor ihr geekelt, vor dem Taubendreck in der Küche, sie fürchtete um Omas Gesundheit und würde Oma am liebsten mit nach Berlin nehmen. - Zwei Weihnachtstage zu Besuch am Jammerfeld - Hannes wird sie nie vergessen. Das Buch erschien 1987 bei: Der Kinderbuchverlag Berlin. Es wurde in acht Sprachen übersetzt und 1991 mit dem 31 Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Wasseramsel Wasseramsel — das ist nicht nur der Name des seltenen Vogels, den Winfried und Ulla entdecken, der unter Wasser laufen kann und angeblich die Fischbrut aus dem Forellenteich frisst. Winfried nennt auch Ulla so, seit er sie zum ersten Mal sah, als sie im angestauten Waldbach badete. Zwischen beiden entsteht eine große Liebe, obwohl Winfried bisher nur Freude an schnellen Motorrädern fand und seine Mutter ihn noch zu jung für „Mädchengeschichten“ hält. Und dann hängt Ullas Bild auf der Ausstellung zum Heimatfest, es zeigt das schöne Tulbachtal im Landschaftsschutzgebiet, bevor dort Winfrieds Vater ein Haus baute und einen Forellenteich anlegte. Eines Tages ist Winfried fort, das Haus seiner Eltern verwaist, kein Zeichen, kein Brief gibt Ulla Nachricht. Zwischen Alpen und Eismeer Seit jenem regennassen Herbsttag, an dem ich als 13-Jähriger die Lachmöwe in den Harzbergen fand, wollte ich wissen, wie Vögel und andere Tiere in ihrer Umwelt leben. Dazu nutzte ich immer wieder meine Freizeit. Um ihnen nahe zu sein, verbarg ich mich unter der Tarnkappe eines Versteckzeltes auf Bäumen und im Sumpf. Mit dem Auge der Kamera habe ich über viele Jahre versucht, ihr Verhalten in fotografischen Bildern auch für andere sichtbar zu machen. Manchmal ist es gelungen. Dafür bin ich gewandert, geklettert und weit gefahren, habe geschwitzt und sehr viel mehr noch gefroren. 32 In den Stunden der Beobachtungen, die zu Wochen, Monaten und Jahren wurden, fand ich ein paar Körnchen an neuem Wissen. So führte die kindliche Neugier und die Freude an eigenen Entdeckungen von der toten Lachmöwe am Hang auf manchem Umweg zu meinem ersten Buch vom »Wald der großen Vögel«. Darin beschrieb ich, was mir nach dreijähriger Beobachtung bei Graureihern, Mäusebussard und Habicht aufgefallen war. Andere Bücher folgten, und den Büchern folgten Einladungen, auch in anderen Ländern Tiere zu beobachten und zu fotografieren. Auge in Auge mit den frei lebenden Tieren zu sein, von denen manche bedroht und gefährdet sind, wurde so zu einem Teil meiner Arbeit. Und schließlich kam ich zu jenen Vögeln im hohen Norden, von denen ich als Junge geträumt hatte. Ich traf auch andere Tiere, von denen ich damals noch nichts wusste. Von diesen Begegnungen will ich hier berichten. 33 Inhaltsverzeichnis Impressum Falkengustav Wolf Spillner E-Books von Wolf Spillner 2 3 20 24 34
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