Erleben von Demenz bei geistiger Behinderung Unterstützung für Mitbewohner(innen) von Betroffenen und Fachkräften Eine Erkrankung am demenziellen Syndrom betrifft nicht nur die Person mit Demenz, sondern immer auch die Menschen im sozialen Umfeld. Dies sind für Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz, die in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe leben, neben ihren Angehörigen vor allem die Fachkräfte und Mitarbeiter(innen) der jeweiligen Wohnform, aber insbesondere auch die Mitbewohner(innen). Beide Personengruppen sind durch den oftmals über einen sehr langen Zeitraum bestehenden Kontakt wichtige Bezugs- und Begleitpersonen für den Menschen mit Demenz. Demenziell bedingte Veränderungen, z. B. in den Verhaltensweisen und im Betreuungs- und Pflegebedarf, beeinflussen das Zusammenleben sowie die bestehenden Strukturen und Abläufe in den Wohneinrichtungen. Diese Veränderungen können von allen Beteiligten sowohl als Herausforderung, als auch als Belastung und Stress wahrgenommen werden. Für die Mitarbeitenden bedeutet das, dass sie eine steigende Arbeitsbelastung aufgrund des zunehmenden Hilfe-, Pflege- und Beaufsichtigungsbedarfs und Unsicherheiten im Umgang mit Demenzsymptomen aushalten müssen. Sie haben häufig das Gefühl, nicht mehr allen Bewohner(innen) der Wohngruppe gerecht werden zu können, müssen vermehrt die besorgten Angehörigen der erkrankten Person begleiten, erleben Sterbe- und Trauerprozesse mit oder empfinden einen drohenden Auszug der Person mit Demenz als eigenes Versagen und mit Schuldgefühlen. Auch kommt es zunehmend zu Konflikten zwischen den Bewohner(innen), zwischen denen zusätzlich vermittelt werden muss. Überraschenderweise war über die Lebenssituation von Mitbewohner(innen) demenzkranker Menschen bisher wenig bekannt und darüber, wie sie eine Demenzerkrankung in ihrem unmittelbaren häuslichen Umfeld erleben. Je weniger sie über die Ursachen der Demenzerkrankung wissen, desto häufiger reagieren sie mit Unverständnis, Wut, Ablehnung oder auch Angst vor einer eigenen Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit. Meist wird das demenziell bedingte Verhalten als Provokation und absichtsvolle Störung wahrgenommen und es treten häufig Streitigkeiten und Konflikte zwischen den Bewohner(innen), aber auch zwischen Team und Bewohner(innen) auf. Die Mitbewohner(innen) müssen häufig ihre eigenen Bedürfnisse, Wünsche oder Freizeitaktivitäten innerhalb der Wohngruppe den Bedürfnissen der Person mit Demenz unterordnen und fühlen sich dann ungerecht behandelt. So kommt es zu regelrechten Konfliktspiralen, welche die Krisenatmosphäre in den Wohngruppen weiter verschärfen und die Lebensqualität und das Wohlbefinden von der Person mit Demenz und den Begleitpersonen einschränken. Werden die Mitbewohner(innen) von Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz nach ihren Erlebnissen gefragt, ergibt sich ein vielschichtiges Bild, wie Abbildung 1 zeigt. 1 Abbildung 1: Situation der Mitbewohner(innen): Erfahrungen mit Demenz im Wohngruppenalltag (vgl. Lubitz 2014) Wie wird Demenz von den Mitbewohner(innen) erlebt? „belastend, weil man nicht helfen konnte“ „Das ist schrecklich zusehen zu müssen, wenn jemand so krank wie [Name] wird und es ihr immer schlechter geht.“ „Die werden immer in Schutz genommen.“ „Die ist immer so komisch. (…) ist ein bisschen durch inner Rübe.“ „Bei D. muss man alles öfters sagen, nur er kapiert es einfach nicht. Manchmal hab ich Gefühl, er will mich ärgern. Und dann werde ich sauer.“ „Manchmal bin ich sauer, wenn die Leute Quatsch machen oder Fehler machen oder wenn die vergessen und ich muss ein paar Mal sagen.“ „Wer weiß, ob man nicht auch mal so im Bett landet.“ „Und dann will ich auch Besuch.“ Deutlich wird aufgrund der Aussagen, dass die Mitbewohner(innen) demenzielle Veränderungen feinfühlig wahrnehmen und sehr belastet auf Veränderungen im Zusammenleben reagieren können. Angebote zur Wissensvermittlung und zur emotionalen Unterstützung, wie sie für pflegende Angehörige von Demenzkranken der Allgemeinbevölkerung und auch zur Qualifikation von Fachkräften bereits bestehen, müssen auch für den Personenkreis der Menschen mit Behinderung verfügbar sein. Unterstützungs- und Bildungsangebote In einem Praxisprojekt wurden daher zwischen 2011 und 2013 duale Bildungsangebote für Mitarbeitende und Wie erleben Mitbewohner(innen) Demenzsymptome, hier bspw. das Auftreten von Schreiphasen und was haben sie gemacht? „Und irgendwann fangen die dann auch an zu schreien und hören nicht mehr auf.“ „Das Rumschreien war heftig.“ „Ich konnte nicht schlafen, weil sie so geschrien hat.“ „Wenn M. angefangen hat zu schreien, hat P. angefangen mit Geschirr zu schmeißen.“ „Mich verstecken.“ „Weg gehen. Nach oben oder in den Keller oder in den Wald.“ „Aber wenn man weg geht, muss man ja auch wieder kommen. Und dann war sie immer noch am Schreien.“ Mitbewohnende von Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz entwickelt und durchgeführt (vgl. Lubitz 2014). Im Folgenden soll auf die Schulungsangebote für die Mitbewohner(innen) eingegangen werden. In acht wöchentlichen Gruppenangeboten wurde sich mit Aspekten von Wohlbefinden und Krankheit, Funktionen von Erinnerung und Gedächtnis, Auswirkungen von Demenz sowie der Entwicklung von Problemlösungsfähigkeiten und der Stärkung von Einfühlungsvermögen beschäftigt. Die einzelnen Gruppentreffen folgten stets einem festen Ablauf und beinhalteten die Möglichkeit zu Diskussion und Austausch von eigenen Erfahrungen, eine praktische Übung oder ein Spiel, um 2 den Lerninhalt unmittelbar erfahrbar und erlebbar zu machen sowie einem Abschlussritual. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Themenschwerpunkte der Angebote. Abbildung 2: Inhalt und Struktur des Gruppenangebots für Mitbewohner(innen) (Quelle: Lindmeier/Lubitz 2012, 174) Thema des jeweiligen Lerninhalte, Zielvorstellungen, Kompetenzen Gruppenangebots 1 Kennenlernen – Sich als neue Gruppe kennenlernen und Angebotsinhalte vorstellen – Absprachen für das Miteinander treffen Wünsche/Vorstellungen der Interesse für sich und andere TeilnehmerInnen erfragen Bewohner(innen) sowie für das eigene Wohlbefinden und das der anderen entwickeln Das Erarbeiten von Wünschen für das Zusammenleben dient als Vorbereitung für die weiteren Sitzungen; Verständnis und Einfühlungsvermögen für andere Bewohner(innen) werden geschult. 2 Krank werden und krank sein Interesse für sich und andere – was hilft? Bewohner(innen) sowie für das eigene Wohlbefinden und das der anderen entwickeln Sich über Veränderungen bei Krankheit bewusst werden Das erste Mal von Vergesslichkeit als Krankheit hören 3 „Normales“ und „krankes“ Vertraut machen mit Vergesslichkeit als Vergessen: Vergesslichkeit Krankheit als Krankheit Einführung des Krankheitsbegriffs „Demenz“ Eine erste Vorstellung davon bekommen, dass Veränderungen wegen Demenz krankheitsbedingt und keine böse Absicht sind 4 Was passiert, wenn das Eine Vorstellung von Erinnerung und Gedächtnis durcheinander Gedächtnis entwickeln gerät – Was passiert, wenn Verknüpfung von Gedächtnisfunktionen und man sich nicht mehr gut Krankheitsbild Demenz erinnern kann 5 Wenn das Gedächtnis Verdeutlichung, dass Demenz eine durcheinander gerät – was Erkrankung ist können wir tun? Verdeutlichung, dass Veränderungen im Verhalten oder den Fähigkeiten keine böse Absicht sind, sondern durch die Demenzerkrankung bedingt sind Verständnis für jemanden mit Demenz entwickeln Strategien entwickeln, wie man sich selbst oder anderen helfen kann, wenn man wütend, ängstlich oder traurig ist 3 6 7 Etwas Wichtiges suchen und nicht finden können – Wünsche für das eigene Altern oder krank sein „Was mache ich, wenn ...“ – Problemlösestrategien 8 Rückblick – Ausblick – Zertifikatsverleihung Das Ziel dieser Gruppenangebote sollte sein, durch vermehrtes Wissen um die Ursachen und Hintergründe einer Demenzerkrankung die Mitbewohner(innen) darin zu unterstützen, die Verhaltensweisen als krankheitsbedingt und nicht absichtsvoll-provokativ einzuschätzen. Während der Auseinandersetzung damit, wo Demenz passiert und was sich dann verändert, erkannten im Gruppenverlauf die Teilnehmenden: „das passiert, weil man im Kopf nicht mehr denken kann!“ und „Das hat mit dem Kopf zu tun, das Vergessen. Vergessen im Kopf!“ „Das Gehirn stirbt ab.“ „Alzheimer ist Vergessenheit. Da kann man vergessen. Man kann da vergessen, wie man heißt.“ „Das Gehirn wird immer kleiner. Das schrumpft.“ „Das Gedächtnis wird kleiner.“ „Die Sprache ist dann weg.“ „Das ist wie Gewitter im Kopf.“ Ebenso sollten wiederkehrende Konflikte, die zum Teil auch erst durch unwissentlich unpassendes Verhalten und Interaktionen hervorgerufen wurden, vermieden werden. Vertiefung der Inhalte vom letzten Mal durch andere Übungen Strategien entwickeln, wie man sich selbst oder anderen helfen kann, wenn man wütend, ängstlich oder traurig ist Erneute Wiederholung und Vertiefung der bereits behandelten Inhalte Sich über eigene und fremde Gefühle bewusst werden und wie man auf diese reagieren kann Strategien entwickeln, wie man sich bei Problemen wegen Demenz im Gruppenalltag verhalten könnte Sich über das Gelernte bewusst werden Sich über die erworbenen Strategien/ Problemlösefähigkeiten klar werden Wünsche und Ziele für die Zukunft und das Zusammenleben formulieren Sich von dieser Gruppe verabschieden Anhand konkreter Stresssituationen wurde in jeder Wohngruppe überlegt und geübt, wie man anders und verstehender in diesem Moment reagieren könnte. Die Teilnehmenden reagierten zunehmend verständnisvoll und konnten sich mehr und mehr in die Person mit Demenz hineinversetzen: „Da kann keiner was für. Keiner“. Jemand beschrieb weiterhin: „Wollen wir mal so sagen: Es ist `ne Krankheit. […] Weil durch die Krankheit kann der Mensch jemanden verletzen, ohne dass da das Bewusstsein ist. [..] Ohne, dass er weiß, was er getan hat. [..] Und dafür kann man ihn nicht bestrafen.“ Ein weiterer Teilnehmer konkretisierte: „Gut, das ist `ne gefährliche Krankheit, aber man kann sich da ja auch mit reinfühlen“. Für die Mitbewohner(innen) war die Möglichkeit zu gegenseitigem Austausch, Reflexion und offenen Gesprächen sehr wichtig: „Du, ich bin froh, dass wir so was machen. (…) Vor allem die ganzen Erklärungen. (…) Man merkt mittlerweile, wie man mit sowas umgehen kann. Und da, Erfahrungen austauschen.“ 4 „Das hat gut getan, weil man endlich drüber reden konnte.“ „Weil man erzählen konnte.“ „Die Mitarbeiter haben immer so viel zu tun, da konnte man sie nicht auch noch mit belasten.“ Es konnte gezeigt werden, dass sich im Verlauf der dualen Bildungsangebote beide Personengruppen gegenseitig im Umgang mit Demenz unterstützen, demenzielle Beanspruchungen gemeinsam bewältigt wurden und die Teilnehmenden über mehr Problemlösungsstrategien und verbesserte Umgangsweisen in der Bewältigung demenzieller Herausforderungen verfügten. Die Mitarbeiter(innen) berichteten von weniger eskalierenden Konflikten, vermehrter Empathie und Perspektivenübernahme seitens der Mitbewohner(innen) für die Person mit Demenz. Rückblickend bilanzierten die teilnehmenden Teams: „Was ich hier sehr erstaunlich finde, also wie sensibel die erst mal so mit diesem Thema an sich umgehen, nicht nur in der Zeit, sondern grundsätzlich auch als Nachwirkung jetzt. Also wie positiv die eigentlich sich geäußert haben, sich wirklich auch mal Zeit zu nehmen für so ein wichtiges Thema. Also besonders bei den Teilnehmern gab es da einen Ruck, wo die wacher werden, heller werden auch, speziell zu diesem Thema, aber auch, glaub ich sogar, allgemein.“ „Was ich so total faszinierend fand, dass man so was erreichen kann. Also, wenn man genügend Zeit einsetzt und wenn man diese passenden Mittel so runterbricht, dass das verständlich wird, dass man das tatsächlich erreichen kann, viele Leute im Verhalten so, ja, zu verändern. Ist schon erstaunlich.“ „Ja, das ist so ein Reflektieren von: ,Wie geht es dem wohl, ne?‘ Und das finde ich, das ist echt angekommen. Das hat man jetzt echt noch mal gemerkt.“ „Wir hatten ja eigentlich kaum Zeit, das mit den Bewohnern […] so zu kommunizieren oder so die Bewohner mitzunehmen an der Stelle, weil wir eigentlich handeln mussten. Und das ist eigentlich jetzt im Nachhinein supertoll, […] Das ist eigentlich jetzt […] wie ein Geschenk […], dass das für die Leute ein bisschen aufgearbeitet wurde, und wir im Grunde genommen dann auch entlastet werden an der Stelle.“ So konnte durch die Teilnahme an den Bildungsangeboten und die daraus entstehende Entspannung im Zusammenleben die Lebensqualität und Zufriedenheit nicht nur der Mitarbeitenden und Mitbewohner(innen), sondern auch die der Person mit Demenz verbessert werden. Die Aufbereitung und Veröffentlichung der Materialien für Mitbewohnerschulungen sind in Arbeit und werden voraussichtlich Mitte 2016 als Praxisbuch erscheinen. Mitte 2016 beginnt in Hannover eine – teilinklusive – Multiplikatorenschulung, in welcher Mitarbeiter(innen) mit Unterstützung von Mitbewohner(innen) demenziell erkrankter Menschen mit geistiger Behinderung gemeinsam daran arbeiten, Mitbewohnerschulungen am eigenen Arbeitsstandort durchzuführen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, Fortbildungsanfragen für Mitarbeiterteams zu Demenz bei geistiger Behinderung und weiteren alterungsrelevanten Themen an Frau Lubitz zu stellen. Dr. phil. Heike Lubitz & Prof. Dr. phil. Bettina Lindmeier August, 2015 5 Weiterführende Literatur: Die Autorinnen: Lubitz, H. (2014). „Das ist wie Gewitter im Kopf!“ – Erleben und Bewältigung demenzieller Prozesse bei geistiger Behinderung. Bildungs- und Unterstützungsarbeit mit Beschäftigten und Mitbewohner/Innen von Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz. Klinkhardt; Bad Heilbrunn. Dr. phil. Heike Lubitz, Dipl. Päd. [email protected] Tel.: 0511–762 17463 Lubitz, H. (2013): Demenz und geistige Behinderung – Möglichkeiten und Herausforderungen der Begleitung. In: Sonderpädagogische Förderung heute 58, 1. 26–35 Leibniz Universität Hannover Abteilung Allgemeine Behindertenpädagogik und -soziologie Schlosswender Straße 1 30159 Hannover Prof. Dr. phil. Bettina Lindmeier [email protected] Tel.: 0511–762 17373 Lindmeier, B., Windheuser, J., Riecken, A., Oermann, L., Schippmann, N., Thulke, A., Kösters, F. (2012): Abschlussbericht des Forschungsprojektes „Anders alt?! Lebensqualität für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung“. Im Internet unter: https://www.oshho.de/hho/projekte/projekt-andersalt.html Lindmeier, B., Lubitz, H. (2012). „Wolken im Kopf“ – Bildungsangebote für Mitarbeitende und Mitbewohner(innen) demenzkranker Menschen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe. In: Teilhabe 51, 4. 169–181 Lindmeier, B., Lubitz, H. (2011). Alternde Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz – Grundlagen und Handlungsansätze. In: Teilhabe 50, 4. 155–160 Lindmeier, B., Lubitz, H. (2011). Geistige Behinderung und Demenz Verbesserung von Lebensqualität und Handlungsstrategien durch Erwachsenenbildung. In: Erwachsenenbildung und Behinderung 22, 2. 36–41 6
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