4. Fazit

Axel Tschentscher
Universität Bern
Verfassung als Ordnungskonzept
Verfassung im Völkerrecht:
Konstitutionelle Elemente jenseits des Staates?
I. Konstitutionalisierung des Völkerrechts (1) Unter Konstitutionalisierung des Völkerrechts versteht man den Prozess
zunehmender Verfasstheit der internationalen Gemeinschaft. 1. Das klassische Modell des Völkerrechts (2) Das Gegenmodell der Konstitutionalisierung im Völkerrecht kann man als
klassisches Modell bezeichnen. Es geht idealtypisch von der freien
Verfügbarkeit aller Inhalte aus, unter uneingeschränkter Wahrung der
einzelstaatlichen Souveränität. Die entstehende Koordinations- und
Kooperationsordnung bedarf keiner Verfassung. (3) Unmittelbare Rechtssubjekte dieses Völkerrechts sind einzelne Staaten,
nicht einzelne Menschen und auch nicht die internationale Gemeinschaft
insgesamt. Geltungsgrund ist der Wille dieser Staaten, ausgedrückt in einer
Zustimmung zur völkerrechtlichen Bindung. 2. Das konstitutionelle Modell des Völkerrechts (4) Der Konstitutionalismus im Völkerrecht sucht inhaltlich nach Geltungsgründen, die den Menschenrechtsschutz vom Willen einzelner Staaten
unabhängig machen. Er sucht organisatorisch nach Instrumenten zur
wirksameren Durchsetzung des Völkerrechts. (5) Anders als im staatlichen Konstitutionalismus geht es im Völkerrecht nicht
um die Anknüpfung an oder die Entwicklung von Staatlichkeit – weder in
Gestalt eines einheitlichen Weltstaates noch als Weltföderalismus. 3. Bestehende konstitutionelle Elemente (6) Erste Indikatoren für eine Konstitutionalisierung des Völkerrechts sind die
Anerkennung von ius cogens, die Rechtswirkungen erga omnes sowie die
Einschränkungen der Immunität. Der sachliche Anwendungsbereich dieser
Phänomene ist klein, ihre Bedeutung für den möglichen Charakterwandel
des Völkerrechts hingegen groß. 4. Fazit II. Völkerrechtsverfassung versus Staatsverfassung (7) Die im Völkerrecht diskutierte Verfassung zeigt keine große Ähnlichkeit mit
den typischen Aspekten staatlicher Verfassungen (Verfassungsurkunde,
verfassunggebende Gewalt, Verfassungsvorrang, Verfassungsänderung,
Verfassungsorgane, Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,
Verfassungsgerichtsbarkeit). 1. Menschenrechte (8) Beim internationalen Menschenrechtsschutz ist die Ähnlichkeit mit dem
staatlichen Grundrechtsschutz am größten. Inhaltlich zeichnet sich bei den
Integritätsrechten eine völkerrechtlich implementierte, internationale
Werteordnung ab. Anwendungsbereich und Geltungsgrund des
Menschenrechtsschutzes bleiben bisher hinter den Erwartungen einer
Konstitutionalisierung zurück. 2. Vorrang der Verfassung (9) Der unbestrittene Vorrang des ius cogens gegenüber völkerrechtlichen
Verträgen ist inhaltlich ein Beleg für das konstitutionelle Völkerrechtsmodell.
Mit dem schmalen Anwendungsbereich des ius cogens und seiner geringen
Durchsetzungskraft in Fällen von Immunität und humanitärer Intervention
hat der Vorrang allerdings noch kein großes Gewicht erlangt. 3. Verfassunggebende und verfassungsändernde Gewalt (10) Als verfassunggebende Gewalt der internationalen Gemeinschaft kommt
nur die gesamte Weltbevölkerung in Betracht. Heute sind fast alle
Menschen über ihre Staaten an der UNO beteiligt. Bisher fehlt der UNCharta die für Verfassungen typische Dynamisierung durch eine
Änderungsbefugnis nach dem Mehrheitsprinzip. 4. Verfassungsurkunde (11) Eine Verfassungsurkunde für das Völkerrecht insgesamt gibt es bisher
nicht. Die UN-Charta hat durch den Mitgliederzuwachs zwar quasiuniversellen Charakter erlangt. Völkerrechtliche Verpflichtungen erzeugt die
Charta aber weiterhin nur für Mitglieder, nicht für die Internationale
Gemeinschaft insgesamt. 5. Gewaltenteilige Organe (12) Die durch das Völkerrecht bisher bereit gestellten Organe weisen kaum
Ähnlichkeit mit staatlichen Organen auf. Gesetzgebungs- und
Exekutivfunktionen bleiben weitgehend in der Hand der Staaten. Eine
zentrale obligatorische Gerichtsbarkeit fehlt. Einzig der Sicherheitsrat
erfährt für den Teilbereich der Friedenssicherung einen Machtzuwachs als
Legislativ- und Exekutivorgan. 6. Fazit (13) Als Beschreibung des status quo ist der Konstitutionalismus im Völkerrecht
wenig geeignet. Von einer Verfasstheit lässt sich am ehesten im
Sachbereich des Integritätsschutzes sprechen (Menschenrechte, ius
cogens, Friedenssicherung, Sicherheitsrat). Als Aspiration für die Zukunft,
mithin in seiner normativen Dimension, bietet das konstitutionelle Modell
des Völkerrechts hingegen gute Anknüpfungspunkte. III. Leistungen der Völkerrechtsverfassung als Ordnungskonzept (14) Die Völkerrechtsverfassung ist der Inbegriff der verfassungsfunktionalen
Normen, die in der globalen Sphäre Beiträge zu Organisation, Legitimation,
Machtbegrenzung und Identifikation leisten. 32
1. Konstitutionalisierung zur Kompensation von Defiziten (15) Die Konstitutionalisierung im Völkerrecht entspricht einem mehrfachen
Kompensationsbedürfnis. Kontrollverluste auf der staatlichen und neue
Kontrollbedürfnisse auf der internationalen Ebene lassen eine
staatsähnliche Verfassungsordnung im Völkerrecht attraktiv erscheinen. 2. Verfassung der internationalen Gemeinschaft als regulative Idee (16) Zwischen der Orientierung an der Staatsverfassung und der Ablehnung
einer neuen Weltstaatlichkeit besteht ein bisher ungelöstes
Spannungsverhältnis. Die Verfassung der Internationalen Gemeinschaft
fungiert als regulative Idee. 3. Konstitutionelle Ordnung als umfassende Verrechtlichung (17) Der Erfolg des Verfassungsdenkens beruht auf der Überzeugung, dass es
einer politischen Herrschaft gut tut, umfassend verrechtlicht zu werden.
Konstitutionell in diesem Sinne ist nur eine Normenordnung, deren Teile
sich in ein geschlossenes Ganzes integrieren, statt unverbunden
nebeneinander zu stehen. 4. Dynamisierung der Normanwendung durch Abwägung (18) Das völkerrechtliche Verfassungsdenken ist bisher nicht in allen Teilen der
Welt vergleichbar dominant wie im deutschsprachigen Raum. Das liegt
unter anderem an der Differenz zwischen regelorientierter und
prinzipienorientierter Rechtsanwendung. 5. Inspirationskraft für die staatliche Verfassung (19) In der Rechtsetzung ist die formelle Repräsentation ein Faktor mit
abnehmender Bedeutung. Diejenigen Nichtregierungsorganisationen, die
glaubwürdig ein überstaatliches Gemeinwohl fördern, tragen vermehrt zur
Gestaltung des Völkerrechts bei. Das ist im Sinne der Diskurstheorie als ein
legitimationsfördernder Prozess anzusehen. (20) Der Blick auf den Weltmaßstab zeigt, dass sachlich-inhaltliche Legitimation
durch diskursive Kontrolle auch im Staat noch mehr Aufmerksamkeit
erhalten kann und sollte. IV. Fazit 33