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DAS ENDE EUROPAS
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Der Felsen Monchique stellt Europas allerletzten Außenposten dar
Text: roland Hanewald
Keine Sorge – die Überschrift ist geografisch und nicht apokalyptisch zu verstehen. Ihr Thema ist die Azoren-Insel Flores, deren steinige Westküstengestade
jäh in die dunklen Tiefen des Atlantischen
Ozeans abbrechen – dort ist Europa zu
Ende. Dann kommt lange Zeit nichts
mehr außer Wasser, bis sich letztlich
die US-amerikanische Ostküste aus dem
Meer erhebt.
Doch halt! Flores vorgelagert ist tatsächlich
noch ein weiterer Brocken Europa, nämlich der
Felsen Monchique, der nun endgültig einen
Schlusspunkt bildet. Dieses Stückchen Gestein
ist kaum größer als ein Uboot-Turm und sieht
auch ganz ähnlich aus. Die ozeanische Dünung
bricht an vielen Tagen im Jahr über ihn hinweg
oder hüllt ihn in eine dichte Gischtwolke – man
verbleibe also lieber auf dem festen Land der
Insel, um Europas Ende kennenzulernen.
GrOSSArTIGE WESTKÜSTE
Das Eiland ist eines der lieblichsten nicht nur
der Azoren, sondern der Welt, und seine Westküste ist von dramatischer Großartigkeit. Fast
auf ihrer ganzen Länge von knapp zwanzig
Kilometern ragt sie bis zu 600 Meter auf und
fällt steil ab in den selten ruhigen Ozean. Die
gesamte Strecke kann man auf Pfaden und
wenig befahrenen Landstraßen erwandern,
was allemal zu empfehlen ist, um die vielen
prächtigen Ansichten zur Totalität zu absorbieren. Man muss allerdings gut zu Fuß sein,
denn die route ist ein ständiges Auf und Ab
mit eindrucksvoll schlauchenden Steigungen!
Flores heißt „Blumen“, und diesen Namen trägt
die Insel zu recht. Im Frühjahr beginnen sich
die Wegränder in ein Meer von Hortensien zu
verwandeln, und auch in anderen Nischen hat
sich überall Buntes angesiedelt, das zum Teil
aus den fernen Amerikas herübergeschwommen kam. Ansonsten herrscht die Farbe Grün
vor, gegen welche sogar Irlands vielgerühmte
Variante zu verblassen droht, denn jene auf Flores ist eine Dimension in sich selbst. Grüne Luft
kommt hier geflossen, Frühling, Frühling muss
es sein…! Keinen Punkt gibt es, an dem Grünes
nicht das Auge träfe und zur ruhigstellung einer geschundenen Seele beitrüge.
GLÜcKLIcHE VIErBEINEr
Dunkle Linien durchziehen das schwellende
Grün: Steinwälle, die kleine Weideflächen
unterteilen, auch auf steilem Gelände. Braune
und schwarzweiße Flecken darauf: rindviecher. Jedes von ihnen ist wie robert Louis
Stevensons klassische Kuh
BLOWN By ALL THE WINDS THAT PASS
AND WET By ALL THE SHOWErS,
denn das Wetter wechselt ständig auf Flores.
Man scherzt, nicht ohne Grund, dass der Tag
von allen vier Jahreszeiten eingenommen
wird; nur in den touristischen Broschüren
herrscht immer Sonnenschein. Vor allem im
Winter erstrecken die nordatlantischen Stür-
“Blown by all the winds that pass / and wet by all the showers”
me ihre regenreichen Ausläufer tief in den
azorischen Archipel hinein, und eine gewaltige
Brandung rennt dann gegen die grünen Eilande an. Der Salzhauch ist noch weit im insularen
Inland zu spüren, und selbst die (häufigen) Nebel schmecken nach der See. Es wird aber nie
wirklich kalt; das Klima ist milde-ozeanisch,
und unter exzessiver Hitze leiden muss man
deshalb selbst im Sommer nicht.
Ein paar Dörfer reihen sich entlang dieser
Küste, keines mit mehr als 300 Einwohnern,
aber jedes hat eine Kirche. Jener von Ponta
im Nordwesten schreibt man das Wunder zu,
1987 einen schweren Bergrutsch aufgehalten
zu haben, der das Dörfchen um ein Haar verschüttete. Das stimmte zwar nicht so ganz,
festigte aber den Glauben. In Faja Grande, ein
Stückchen weiter, steht Europas letzte Kirche,
was nochmals geografisch und nicht nummerisch gemeint ist. Und so geht es weiter
mit den Gotteshäusern, über Fajazinha und
Mosteiro bis Lajedo im Süden. Der Katholizismus spielt eine tragende rolle auf den Azoren,
Linke Seite: Eine schaumweiße Borte umgibt die Seeseiten der ganzen Insel
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Dieser Regenschirm weht nicht so leicht weg!
und die Kirche wird, anders als im kontinentalen Europa, dort noch lange im Dorf bleiben.
BUKOLIScHEr FrIEDEN
In den gottesfürchtigen und erdverwachsenen
Gemeinden ist für schandbares Tun kein Platz.
Türen und Fenster stehen offen auf Flores; kaum
jemand schließt sein Haus oder Auto ab. Kein
Missklang zerreißt die rustikale Stille, höchstens
dass der Bäcker aus dem Hauptort Santa cruz
(an der Ostküste) mal hupt, um seine Produkte
zu annoncieren. Nachts rührt sich nichts. Nur die
atlantische Brandung bullert in der Ferne, und im
Winter braust der Sturm. Diese Geräuschkulisse
ist dem Menschen offenbar einprogrammiert,
denn sie wiegt ihn in den Schlaf und belässt ihn
dort, viele Stunden lang, in tiefster Tiefe, bis der
Brötchenmann tutet.
Große Teile der Insel gehören dem Weltnaturerbe der Unesco an. In den rauen Höhen
Die „Orgelpfeifen“ des Rocha dos Bordoes sind ein vulkanisches Relikt
der Westküste haben Baumheiden und Wacholder das regime, dann wieder stößt man
auf Gehölze mit riesigen Zedern, Araukarien,
Kiefern und Lorbeerbäumen, richtige Urwälder
mitunter. Diese archaischen Panoramen werden von zahlreichen Wasserfällen durchzogen
(siehe den folgenden Exkurs), die der Luft
köstliche Frische vermitteln – als ob sie’s denn
nötig hätte… Nicht einmal vor Erdkonvulsionen
muss der Besucher sich fürchten – die Insel
liegt außerhalb des tektonischen Zentrums
der Azoren. Das Erbe eines tausende von Jahre
zurückliegenden Vulkanismus ist zwar noch
überall präsent, so am rocha dos Bordoes,
einer sehenswerten Ansammlung granitener
Orgelpfeifen magmatischen Ursprungs, aber
heute regt sich nichts mehr.
HEILES AMBIENTE
Die neue Sehnsucht nach Gelassenheit in unserer Gesellschaft – hier findet sie Erfüllung.
Keineswegs muss man Entbehrungen leiden,
wenn auch keine „Touri-Strände“ vorhanden
sind – Felsen und Geröll bestimmen überall die
Küstenlinie, aber es gibt geschützte Badestellen.Strom und Wasser werden verlässlich angeliefert, und das Essen in den kleinen Hotels
und Pensionen ist, wie anders, naturbelassen
und entstammt zumeist eigenem Anbau.
Produkte wie Milch, Käse und Eier sind von
exquisiter Frische. Und die Insulaner zählen zu
den freundlichsten Menschen der Welt. Kein
Wunder in diesem heilen Ambiente; sie sind
halt selbst heil und mit sich im reinen.
Das ist rar auf der Welt: Treibholz viel, Plastik nil (Küste bei Fajazinha)
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Die Dauerberieselung durch diesen Fall hat die Vegetation weitgehend verdrängt
VON FALL ZU FALL
Eine Studie in wunderschönen Farbkontrasten
Zur urwüchsigen Schönheit der atlantischen
Steilküste tragen mindestens zwanzig Wasserfälle bei, die aus großen Höhen blendend weiß
in die Tiefe stürzen. Dies ist die größte Zahl auf
den Azoren, und der aus etwa 300 Metern zu
Tal schäumende ribeira Grande ist der höchste.
Es handelt sich um keine „klassischen Giganten“
wie den Niagara, und manche sind sogar eher
„Fällchen“. Aber sie alle sind eingebettet in ein
herrliches natürliches Umfeld und bilden mit
diesem Einheiten, die nicht von dieser Welt zu
sein scheinen. Der ribeira Grande zum Beispiel
ergießt sich in den riesigen grünen (längst erloschenen) Kraterkessel von Fajazinha und
bietet vor allem in den Wintermonaten ein
einzigartiges Schauspiel. Die vom Atlantik heranfauchenden Stürme erzeugen dann nämlich
machtvolle Verwirbelungen an den Talwänden,
die dazu führen, dass das Wasser dieses Falls
nach oben verweht wird, ein irrwitziger Anblick.
Auch manche anderen Katarakte zerstäuben,
bevor sie die Talsohle erreichen, ebenfalls in
kuriosen Perspektiven resultierend. Dazu gehört
eine Zehnergruppe, die nahe des ribeira aus
ähnlicher Höhe in ein Sammelbecken rauscht
und eine Idylle sondergleichen hervorbringt.
Aus dem See heraus beäugen Goldfische den
seltenen Wanderer, inmitten der totalen Wildnis offenbar eine ungewohnte Erscheinung. In
anderen Bergbächen sind Forellen häufig, ein
Paradies für Sportangler.
Man hat beobachtet, dass manche Menschen
angesichts eines spektakulären Wasserfalls
überwältigt in Tränen ausbrechen oder einander
in die Arme schließen, sich gar in Zärtlichkeiten
ergehen, weil sie erstmalig in ihrem ansonsten
ereignisarmen Leben ein so großartiges Naturschauspiel vor Augen haben, worauf ihre ganze
Gemütswelt aus den Fugen gerät. An der Westküste von Flores stehen derart Empfindsamen
viele solche Bewegungen ins Haus – könnte
man sich schönere Erlebnisse vorstellen…?
Es fällt schwer, sich von solchen Eindrücken
loszureißen, auch wenn es nicht unbedingt
zu Tränen, Umarmungen und weiterem
kommt. Auf jeden Fall sei man für jeden Fall
gewappnet. Nämlich mit viel Speicherplatz in
der Kamera. Auf Flores kann man gar nicht
genug davon haben.
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