Travel DAS ENDE EUROPAS 78 Travel Der Felsen Monchique stellt Europas allerletzten Außenposten dar Text: roland Hanewald Keine Sorge – die Überschrift ist geografisch und nicht apokalyptisch zu verstehen. Ihr Thema ist die Azoren-Insel Flores, deren steinige Westküstengestade jäh in die dunklen Tiefen des Atlantischen Ozeans abbrechen – dort ist Europa zu Ende. Dann kommt lange Zeit nichts mehr außer Wasser, bis sich letztlich die US-amerikanische Ostküste aus dem Meer erhebt. Doch halt! Flores vorgelagert ist tatsächlich noch ein weiterer Brocken Europa, nämlich der Felsen Monchique, der nun endgültig einen Schlusspunkt bildet. Dieses Stückchen Gestein ist kaum größer als ein Uboot-Turm und sieht auch ganz ähnlich aus. Die ozeanische Dünung bricht an vielen Tagen im Jahr über ihn hinweg oder hüllt ihn in eine dichte Gischtwolke – man verbleibe also lieber auf dem festen Land der Insel, um Europas Ende kennenzulernen. GrOSSArTIGE WESTKÜSTE Das Eiland ist eines der lieblichsten nicht nur der Azoren, sondern der Welt, und seine Westküste ist von dramatischer Großartigkeit. Fast auf ihrer ganzen Länge von knapp zwanzig Kilometern ragt sie bis zu 600 Meter auf und fällt steil ab in den selten ruhigen Ozean. Die gesamte Strecke kann man auf Pfaden und wenig befahrenen Landstraßen erwandern, was allemal zu empfehlen ist, um die vielen prächtigen Ansichten zur Totalität zu absorbieren. Man muss allerdings gut zu Fuß sein, denn die route ist ein ständiges Auf und Ab mit eindrucksvoll schlauchenden Steigungen! Flores heißt „Blumen“, und diesen Namen trägt die Insel zu recht. Im Frühjahr beginnen sich die Wegränder in ein Meer von Hortensien zu verwandeln, und auch in anderen Nischen hat sich überall Buntes angesiedelt, das zum Teil aus den fernen Amerikas herübergeschwommen kam. Ansonsten herrscht die Farbe Grün vor, gegen welche sogar Irlands vielgerühmte Variante zu verblassen droht, denn jene auf Flores ist eine Dimension in sich selbst. Grüne Luft kommt hier geflossen, Frühling, Frühling muss es sein…! Keinen Punkt gibt es, an dem Grünes nicht das Auge träfe und zur ruhigstellung einer geschundenen Seele beitrüge. GLÜcKLIcHE VIErBEINEr Dunkle Linien durchziehen das schwellende Grün: Steinwälle, die kleine Weideflächen unterteilen, auch auf steilem Gelände. Braune und schwarzweiße Flecken darauf: rindviecher. Jedes von ihnen ist wie robert Louis Stevensons klassische Kuh BLOWN By ALL THE WINDS THAT PASS AND WET By ALL THE SHOWErS, denn das Wetter wechselt ständig auf Flores. Man scherzt, nicht ohne Grund, dass der Tag von allen vier Jahreszeiten eingenommen wird; nur in den touristischen Broschüren herrscht immer Sonnenschein. Vor allem im Winter erstrecken die nordatlantischen Stür- “Blown by all the winds that pass / and wet by all the showers” me ihre regenreichen Ausläufer tief in den azorischen Archipel hinein, und eine gewaltige Brandung rennt dann gegen die grünen Eilande an. Der Salzhauch ist noch weit im insularen Inland zu spüren, und selbst die (häufigen) Nebel schmecken nach der See. Es wird aber nie wirklich kalt; das Klima ist milde-ozeanisch, und unter exzessiver Hitze leiden muss man deshalb selbst im Sommer nicht. Ein paar Dörfer reihen sich entlang dieser Küste, keines mit mehr als 300 Einwohnern, aber jedes hat eine Kirche. Jener von Ponta im Nordwesten schreibt man das Wunder zu, 1987 einen schweren Bergrutsch aufgehalten zu haben, der das Dörfchen um ein Haar verschüttete. Das stimmte zwar nicht so ganz, festigte aber den Glauben. In Faja Grande, ein Stückchen weiter, steht Europas letzte Kirche, was nochmals geografisch und nicht nummerisch gemeint ist. Und so geht es weiter mit den Gotteshäusern, über Fajazinha und Mosteiro bis Lajedo im Süden. Der Katholizismus spielt eine tragende rolle auf den Azoren, Linke Seite: Eine schaumweiße Borte umgibt die Seeseiten der ganzen Insel 79 Travel Dieser Regenschirm weht nicht so leicht weg! und die Kirche wird, anders als im kontinentalen Europa, dort noch lange im Dorf bleiben. BUKOLIScHEr FrIEDEN In den gottesfürchtigen und erdverwachsenen Gemeinden ist für schandbares Tun kein Platz. Türen und Fenster stehen offen auf Flores; kaum jemand schließt sein Haus oder Auto ab. Kein Missklang zerreißt die rustikale Stille, höchstens dass der Bäcker aus dem Hauptort Santa cruz (an der Ostküste) mal hupt, um seine Produkte zu annoncieren. Nachts rührt sich nichts. Nur die atlantische Brandung bullert in der Ferne, und im Winter braust der Sturm. Diese Geräuschkulisse ist dem Menschen offenbar einprogrammiert, denn sie wiegt ihn in den Schlaf und belässt ihn dort, viele Stunden lang, in tiefster Tiefe, bis der Brötchenmann tutet. Große Teile der Insel gehören dem Weltnaturerbe der Unesco an. In den rauen Höhen Die „Orgelpfeifen“ des Rocha dos Bordoes sind ein vulkanisches Relikt der Westküste haben Baumheiden und Wacholder das regime, dann wieder stößt man auf Gehölze mit riesigen Zedern, Araukarien, Kiefern und Lorbeerbäumen, richtige Urwälder mitunter. Diese archaischen Panoramen werden von zahlreichen Wasserfällen durchzogen (siehe den folgenden Exkurs), die der Luft köstliche Frische vermitteln – als ob sie’s denn nötig hätte… Nicht einmal vor Erdkonvulsionen muss der Besucher sich fürchten – die Insel liegt außerhalb des tektonischen Zentrums der Azoren. Das Erbe eines tausende von Jahre zurückliegenden Vulkanismus ist zwar noch überall präsent, so am rocha dos Bordoes, einer sehenswerten Ansammlung granitener Orgelpfeifen magmatischen Ursprungs, aber heute regt sich nichts mehr. HEILES AMBIENTE Die neue Sehnsucht nach Gelassenheit in unserer Gesellschaft – hier findet sie Erfüllung. Keineswegs muss man Entbehrungen leiden, wenn auch keine „Touri-Strände“ vorhanden sind – Felsen und Geröll bestimmen überall die Küstenlinie, aber es gibt geschützte Badestellen.Strom und Wasser werden verlässlich angeliefert, und das Essen in den kleinen Hotels und Pensionen ist, wie anders, naturbelassen und entstammt zumeist eigenem Anbau. Produkte wie Milch, Käse und Eier sind von exquisiter Frische. Und die Insulaner zählen zu den freundlichsten Menschen der Welt. Kein Wunder in diesem heilen Ambiente; sie sind halt selbst heil und mit sich im reinen. Das ist rar auf der Welt: Treibholz viel, Plastik nil (Küste bei Fajazinha) 80 Travel Die Dauerberieselung durch diesen Fall hat die Vegetation weitgehend verdrängt VON FALL ZU FALL Eine Studie in wunderschönen Farbkontrasten Zur urwüchsigen Schönheit der atlantischen Steilküste tragen mindestens zwanzig Wasserfälle bei, die aus großen Höhen blendend weiß in die Tiefe stürzen. Dies ist die größte Zahl auf den Azoren, und der aus etwa 300 Metern zu Tal schäumende ribeira Grande ist der höchste. Es handelt sich um keine „klassischen Giganten“ wie den Niagara, und manche sind sogar eher „Fällchen“. Aber sie alle sind eingebettet in ein herrliches natürliches Umfeld und bilden mit diesem Einheiten, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Der ribeira Grande zum Beispiel ergießt sich in den riesigen grünen (längst erloschenen) Kraterkessel von Fajazinha und bietet vor allem in den Wintermonaten ein einzigartiges Schauspiel. Die vom Atlantik heranfauchenden Stürme erzeugen dann nämlich machtvolle Verwirbelungen an den Talwänden, die dazu führen, dass das Wasser dieses Falls nach oben verweht wird, ein irrwitziger Anblick. Auch manche anderen Katarakte zerstäuben, bevor sie die Talsohle erreichen, ebenfalls in kuriosen Perspektiven resultierend. Dazu gehört eine Zehnergruppe, die nahe des ribeira aus ähnlicher Höhe in ein Sammelbecken rauscht und eine Idylle sondergleichen hervorbringt. Aus dem See heraus beäugen Goldfische den seltenen Wanderer, inmitten der totalen Wildnis offenbar eine ungewohnte Erscheinung. In anderen Bergbächen sind Forellen häufig, ein Paradies für Sportangler. Man hat beobachtet, dass manche Menschen angesichts eines spektakulären Wasserfalls überwältigt in Tränen ausbrechen oder einander in die Arme schließen, sich gar in Zärtlichkeiten ergehen, weil sie erstmalig in ihrem ansonsten ereignisarmen Leben ein so großartiges Naturschauspiel vor Augen haben, worauf ihre ganze Gemütswelt aus den Fugen gerät. An der Westküste von Flores stehen derart Empfindsamen viele solche Bewegungen ins Haus – könnte man sich schönere Erlebnisse vorstellen…? Es fällt schwer, sich von solchen Eindrücken loszureißen, auch wenn es nicht unbedingt zu Tränen, Umarmungen und weiterem kommt. Auf jeden Fall sei man für jeden Fall gewappnet. Nämlich mit viel Speicherplatz in der Kamera. Auf Flores kann man gar nicht genug davon haben. 81
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