Mitglieder und Ersatzmitglieder sowie Frau Celine Baumgartner Kommissionssekretärin Gesundheits- und Sozialkommission (GSoK) des Grossen Rats Kanton Bern Bern, 26. Januar 16 Sozialbericht 2015 des Regierungsrats des Kantons Bern: Stellungnahme Schweizerisches Arbeiterhilfswerk Region Bern (SAH Bern) Sehr geehrte Mitglieder der Gesundheits- und Sozialkommission des Grossen Rates Sehr geehrte Frau Baumgartner Liebe Kolleginnen und Kollegen Wir nutzen die Möglichkeit zur Stellungnahme zum Sozialbricht 2015 des Regierungsrats des Kantons Bern. Wir freuen uns, wenn unsere Überlegungen bei der Behandlung des Berichts in der Gesundheits- und Sozialkommission sowie im Grossen Rat berücksichtigt würden. Der vierte Sozialbericht des Kantons Bern ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Er enthält zunächst wiederum sehr fundierte Analysen, welche ein präzises Bild über die kantonale Einkommens- und Vermögensverteilung erlauben. Zudem konnten mit dem vorliegenden Bericht gewisse in den vorgängigen Berichten noch enthaltene Lücken geschlossen werden. Die erstmals durchgeführte Befragung von Personen mit anhaltend knappen finanziellen Mitteln ergibt neue, bisher wenig bekannte Informationen zu deren Lebenssituation. Um gezielte soziapolitische Massnahmen treffen zu können, ist eine solche Sozialberichterstattung für die Politik unerlässlich. Der Kanton Bern nimmt in dieser Hinsicht eine Pionierrolle ein. Einer der wichtigsten, aber auch alarmierendsten Befunde des Berichts ist, dass das verfügbare Einkommen der einkommensschwächsten Haushalte seit 2001 fast ununterbrochen abgenommen hat. Es liegt 2013 um einen Drittel tiefer als 2001, während die hohen und mittleren Einkommensschichten ihr Einkommen im gleichen Zeitraum steigern konnten. Wenn die Einkommen der einkommensschwächsten Haushalte abnehmen, ist es naheliegend, dass die Bedürfnisse für Bedarfsleistungen (Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, Verbilligungen der Krankenversicherungsprämien usw.) steigen, und folglich nehmen die Gesamtausgaben dieser Leistungen zu. 2 Dass in der öffentlichen Diskussion dafür oft lediglich die Sozialhilfe verantwortlich gemacht wird, ist unverständlich. Zugenommen hat die Ungleichheit der Vermögensverteilung, was sich darin zeigt, dass die reichsten 10 Prozent der Berner Bevölkerung ihren Anteil am Gesamtvermögen des Kantons zwischen 2002 und 2013 von 62,5 Prozent auf 68,4 Prozent steigern konnten. Die Auswertungen legen den Schluss nahe, dass die Abnahme des verfügbaren Einkommens (ohne Bedarfsleistungen) der einkommensschwächsten 10 Prozent der Bevölkerung weitgehend auf eine abnehmende Erwerbsbeteiligung der betroffenen Personen zurückzuführen ist. Aus der Befragung armutsbetroffener und armutsgefährdeter Personen geht hervor, dass in diesem Zusammenhang auch prekäre Arbeitsverhältnisse eine Rolle spielen. Zudem kann aufgrund dieser Resultate auch vermutet werden, dass die abnehmende Erwerbsbeteiligung vielmals auf gesundheitliche Faktoren und langjährige Abwesenheit vom Erwerbsleben zurückzuführen ist. Die Zahl der IV-Rentnerinnen und IV– Rentner ist zwischen 2005 und 2013 um rund 3‘600 Personen (13 Prozent) zurückgegangen, wie dies das Ziel der IV-Revisionen war. Aber gleichzeitig hat die Erwerbsbeteiligung abgenommen statt zuzunehmen. Daraus schliessen wir, dass eine Verlagerung der Unterstützung von IV-Leistungen zur Sozialhilfe stattgefunden hat. Mit diesen Erkenntnissen können nicht weiterhin Sparmassnahmen auf Kosten der einkommensschwächsten Bevölkerungsschichten verlangt werden. Die bereits beschlossenen Reduktionen bei der Prämienverbilligung werden zwar durch ein Referendum in Frage gestellt, aber die Forderung nach Senkung der Leistungen der Sozialhilfe steht weiterhin im Raum. Diese wird oftmals damit begründet, dass tiefere Ansätze die betroffenen Personen anreizen würden, wiederum in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Fast die Hälfte der betroffenen Personen geben in der Befragung an, den letzten Arbeitsplatz aufgrund von Krankheit oder Unfall verloren zu haben. Der wichtigste Grund für die Aufgabe von Arbeitsbemühungen ist ebenfalls in diesen Faktoren zu suchen. Deshalb werden mit dem verlangten weiteren Abbau von Transferleistungen wohl kaum die erhofften Erfolge erzielt. Dies umso mehr, als die Übernahme der revidierten SKOSRichtlinien, welche ebenfalls einen Leistungsabbau vorsehen, im Kanton Bern praktisch bereits beschlossene Sache ist. Ein hoher Anteil von Personen mit sehr niedrigem Einkommen verzichtet darauf, Sozialhilfe und/oder Sozialberatung in Anspruch zu nehmen. Beunruhigend ist zudem, dass viele Personen bei den Gesundheitsausgaben sparen (müssen), und die subjektive Einschätzung ihres Gesundheitszustands deutlich schlechter ist, als die jener vergleichbaren Gruppen. Präventive Massnahmen erreichen also nicht alle Zielpersonen. Wenn sich als Folge davon der Gesundheitszustand verschlechtert, dann sind auch die Aussichten auf eine Arbeitsmarktintegration geringer. Dennoch geht aus dem Bericht auch hervor, dass 60 Prozent der betroffenen Personen nach dem Stellenverlust wiederum eine Arbeit gesucht haben, obwohl dies öfters mit grösseren Schwierigkeiten verbunden war. Bereits 2012 hat das SAH Bern in seiner Stellungnahme zum zweiten Sozialbericht auf die Wichtigkeit der Massnahmen im Hinblick auf die Arbeitsmarktintegration hingewiesen. Die Ergebnisse des vierten Sozialberichts zeigen nochmals, wie wichtig solche Massnahmen sind, da viele Armutsbetroffene auf Unterstützung bei der Arbeitsmarktintegration angewiesen sind. Auch wenn in diesem Zusammenhang bereits eine Palette von Angeboten existiert, und vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene in der 3 Zwischenzeit begrüssenswerte Anstrengungen unternommen wurden, scheint dieser wichtige Aspekt noch unbefriedigend gelöst zu sein. Die «Betreuungskette und Begleitung Jugendlicher» (siehe Bericht Punkt 5.8) könnte im Sinne des waadtländischen Projektes «FORJAD», welches nicht nur die Betreuung von Jugendlichen mit Mehrfachproblemen, sondern auch die Vorbereitung zum Lehreintritt, die eigentliche Berufsbildung zusammen mit einem Lehrstipendium vorsieht, ausgebaut werden. Dies umso mehr, als dieses Programm eine Erfolgsquote von rund 65 Prozent vorzeigen kann. Allerdings kann aus dem Bericht gefolgert werden, dass es einen steigenden Anteil von nicht oder schwerlich in den Arbeitsmarkt zu integrierenden Personen gibt. Dies geht unter anderem daraus hervor, dass die Armutsgefährdungsquote bei Personen im Alter zwischen 51 und 60 Jahren besonders ausgeprägt ist und sich zwischen 2001 und 2013 um mehr als die Hälfte vergrössert hat. Im Bericht wird auf den Strukturwandel und das Verschwinden von Arbeitsplätzen mit geringen Qualifikationsanforderungen als Ursache verwiesen. In Zukunft wird die Anzahl von solchen Arbeitsplätzen voraussichtlich noch geringer sein und gleichzeitig wird die Zahl der Personen, die solche Arbeitsplätze sucht, aufgrund der steigenden Anzahl der Flüchtlinge, noch grösser werden. Für diese Personengruppe wandelt sich die Sozialhilfe vielmals zu einer praktischen Verrentung, was nicht ihrer heutigen Funktion entspricht. In diesem Zusammenhang weist das SAH Bern – wie bereits in der erwähnten Stellungnahme von 2012 – wiederum auf die Notwendigkeit einer umfassenden Reform des schweizerischen Systems der sozialen Sicherung hin. Diese soll durch die «Allgemeine Erwerbsversicherung (AEV)», welche unabhängig von den Gründen, die zur Erwerbslosigkeiten führten, gewährt werden. Eine solche Reform kann zwar nicht auf kantonaler Ebene realisiert werden, aber der Kanton Bern könnte hier eine Vorreiterrolle spielen. Zusammenfassend halten wir fest: Ein weiterer Leistungsabbau bei der Sozialhilfe ist auch aufgrund der Ergebnisse des Sozialberichts 2015 verantwortungslos. Entsprechende Sparmassnahmen lehnen wir ab. Die Übernahme der revidierten SKOS-Richtlinien und die Nicht-Übernahme der Teuerung 2013 bedeuten bereits einen Leistungsabbau. Die Verlagerung von der IV zur Sozialhilfe muss gestoppt werden; Mit dem Abbau der Prämienverbilligungen wird nicht gespart; im Gegenteil: die finanzielle Belastung wird nur verlagert. Massnahmen zur Arbeitsintegration sind zentral. Sie ermöglichen nicht nur die soziale und berufliche Integration und damit die wirtschaftliche Eigenständigkeit. Ein besserer Gesundheitszustand der betroffenen Personen ist die Folge. Die Betreuungskette für Jugendliche und junge Erwachsene soll im Sinne des waadtländischen Projekts «FOJARD» ausgebaut und stärker gefördert werden. Massnahmen zur Unterstützung von Personen ab 50 Jahren zur Erhaltung im Arbeitsmarkt sollen dezidiert ausgebaut werden. Eine umfassende Reform des schweizerischen Systems zur sozialen Sicherung ist dringend notwendig. 4 Wir hoffen, mit unserer Stellungnahme einen Beitrag zu einer engagierten Diskussion der Ergebnisse des Sozialberichts 2015 und zur Erarbeitung eines Massnahmenplans beizutragen. Freundliche Grüsse Verein SAH Bern Barbara Geiser Co-Präsidentin Ernst Rutschi Co-Präsident
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