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Vorarlberger
Sagen
Bernhard Lins
Jakob Kirchmayr
Vorarlberger Sagen
Vorarlberger
Sagen
Neu erzählt von Bernhard Lins
Mit Bildern von Jakob Kirchmayr
Tyrolia -Verlag · Innsbruck–Wien
2. Auflage 2016
© 2006 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlagillustration: Jakob Kirchmayr
Typografie und Satz: Michael Karner, www.typografie.co.at
Lithografie: Artilitho, Trento
Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan
ISBN 978-3-7022-2792-0
E-Mail: [email protected]
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Vorwort
Jeder Ort und jedes Land hat seine Geschichte und seine
Geschichten. Auch die Sagen sind ein Teil der Geschichte, überall auf der Welt. Sie berichten von Erlebnissen, in die Menschen
verstrickt worden sind. Und scheinbar können sie diesen Begegnungen gar nicht davonlaufen.
Auch Vorarlberg ist reich an Sagen. Und so stellte ich mir immer
wieder die Frage: Was wähle ich aus? Alle vier Bezirke sind zu
Wort gekommen. Vielleicht suchen Sie nach einer ganz bestimmten Sage und finden sie nicht. Dafür stoßen Sie aber auf eine
Geschichte, die bisher noch keine Stimme gehabt hat.
Immer schon wurden Sagen erzählt. An uns liegt es, dass sie ein
Teil unserer Geschichte sind und bleiben. Und deshalb habe ich
sie neu erzählt.
Mit seinen sagenhaften Bildern hat Jakob Kirchmayr das Buch in
einen zauberhaften Rahmen gesetzt.
Dafür möchte ich ihm ganz herzlich danken.
Bernhard Lins
Inhalt
Bezirk Bregenz
Der Schatzgräber . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ehre Guta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Felsenweiblein . . . . . . . . . . . . . . .
Guten Abend . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ein Waldbruder wandelt über den Bodensee
Der Ochs am Bodensee . . . . . . . . . . . . .
Das Fräulein von der Ruggburg . . . . . . . .
Vergeltsgott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Wetterglocke . . . . . . . . . . . . . . . .
An der »Roten Egg« . . . . . . . . . . . . . . .
Das kluge Hirtenbüblein . . . . . . . . . . . .
Die Teufelsbrücke . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Schatz auf der Bezegg . . . . . . . . . . .
Das Bildstöcklein auf der Losa . . . . . . . . .
Die Hexe in Rüschers Gunten . . . . . . . . .
Der Jolerbühel . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Geist auf der Kanisfluh . . . . . . . . . .
Der Markenverrücker . . . . . . . . . . . . . .
Die Windsbraut auf der Schröcker Alp . . . .
Der Stier im Sünser See . . . . . . . . . . . . .
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Wie der Gottesacker entstanden ist .
Das Walsermännlein . . . . . . . . . . .
Das Nachtvolk auf dem Brunnenberg
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Bezirk Dornbirn
Das Mütterlein mit dem Spinnrad
Die Frau mit den roten Haaren . .
Die Rochusses . . . . . . . . . . . .
Der Brenner . . . . . . . . . . . . . .
Das Kellermännlein . . . . . . . . .
Der Hexenritt . . . . . . . . . . . . .
Die Hexe von Kehlegg . . . . . . .
Hanso Bablar . . . . . . . . . . . . .
Der versteinerte Ritter . . . . . . .
Der Müller von Ems . . . . . . . . .
Galliküng . . . . . . . . . . . . . . .
Der Büngenbudel . . . . . . . . . .
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Bezirk Feldkirch
Der Reiter von Triesen
Fräulein Ida . . . . . . .
Die Pest in der Stadt . .
Die Reinbergerin . . . .
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Meister Hans Sturn . . . . . . . . .
Die Weinholer im Levner Torggel
Das Totenvolk bei Gallmist . . . .
Das Heidenglöcklein in Tisis . . . .
Der Schatz auf der Neuburg . . . .
Im Götzner Stieg . . . . . . . . . . .
Der Rat der Magd . . . . . . . . . .
Die Pestkapelle in Weiler . . . . . .
Burg Schönberg . . . . . . . . . . .
Die Goldene Mühle . . . . . . . . .
Der Klushund . . . . . . . . . . . . .
Der Dreizehnte . . . . . . . . . . . .
Mit dem Teufel auf dem Weg . . .
Das Wasserweib im Schwarzen See
Die Drei Schwestern . . . . . . . . .
Die Schlacht bei Frastanz . . . . . .
Der Schimmelreiter . . . . . . . . .
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Bezirk Bludenz
Das Burgfräulein von Rosenegg
Der Schmittenbutz . . . . . . .
Friedl mit der leeren Tasche . .
Der Zauberspiegel . . . . . . . .
Der Butz auf der Gamp . . . . .
Die Krönleinschlangen . . . . .
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Das nächtliche Gelage . . . . . . . . . . . . .
Das wilde Männle . . . . . . . . . . . . . . .
Der Drachenreiter . . . . . . . . . . . . . . .
Der Matonabach beim Bad Rotenbrunnen
Das Teufelswirtshaus . . . . . . . . . . . . .
Die Predigt am Lünersee . . . . . . . . . . .
Der Spusagang . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wie der Brandner Gletscher entstanden ist
Der Lohn der Fenggin . . . . . . . . . . . . .
Der Waldfengg und der gute Rat . . . . . .
Das Tränenbächlein . . . . . . . . . . . . . .
Der Spielmann von Vandans . . . . . . . . .
Verlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Schlüssel im Montafoner Wappen . . .
Es fehlt ein Beinlein . . . . . . . . . . . . . .
Die Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Agathakirchlein auf dem Kristberg . .
Die schöne Doggi-Magd . . . . . . . . . . .
Madrisa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rohrinda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Bruederhüsle . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Sennerin auf Spullers . . . . . . . . . . .
Die schönen Frauen vom Tannberg . . . . .
Die verwechselten Särge . . . . . . . . . . .
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Literatur-Verzeichnis
Der Autor . . . . . . .
Der Künstler . . . . .
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Bezirk Bregenz
Der Schatzgräber
Bregenz
ben auf dem Gebhardsberg liegt ein Teich. Wenn bei
Nacht auf dem Kirchturm der zwölfte Glockenschlag
verklungen ist, huscht ein kleines Licht durch den
Tannenwald aufwärts zu diesem Teich und flimmert dort bis zur
zweiten Nachtstunde. »Hier spukt es«, sagen die Leute.
Im Dreißigjährigen Krieg wollten die Schweden von Lindau her
Bregenz überfallen. Doch der einzige Weg führte über einen
schmalen Landstrich am See, die Bregenzer Klause. Dort wehrten
sich die Bregenzer tapfer, sodass die Schweden die Befestigungswälle nicht durchbrechen konnten. Also befahl General Wrangel
den Rückzug nach Lochau.
Mitten in der Nacht schlich ein Mann ins feindliche Lager und
meldete: »Es gibt einen geheimen Weg in die Stadt. Ich kann euch
dorthin führen, aber das hat seinen Preis.«
»Deinen Lohn sollst du haben«, versprachen ihm die Schweden. Daraufhin führte der Fremde die Truppen über den Haggen
und den Pfänder ins Tal vor die Stadt. So konnte das Schwedenheer Bregenz überfallen. Sie plünderten die Stadt, setzten sie in
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Flammen und zogen schließlich mit reicher Beute zurück. »Nun
gebt mir meinen Lohn!«, forderte der Verräter. Da sprach der
General: »Oben auf dem Schlossberg von Bregenz liegt ein Teich,
dort haben die Grafen im Appenzellerkrieg ein goldenes Kegelspiel vergraben. Das soll für dich ein gerechter Lohn sein! Nimm
die Schaufel und hol dir deinen Schatz.«
Da grub der Mann bis zu seinem Lebensende, doch das Kegelspiel
hat er nie gefunden.
Wenn bei Nacht auf dem Kirchturm der zwölfte Glockenschlag
verklungen ist, huscht ein kleines Licht durch den Tannenwald.
Und der Verräter muss als Geist nach dem Schatz graben, bis es auf
dem Turm zwei Uhr schlägt. Dann fällt alles wieder zusammen,
was er gegraben hat, und dunkel wird es wieder im Wald.
Ehre Guta
Bregenz
In der Altstadt von Bregenz gibt es den Ehre-Guta-Platz. Wie dieser Platz zu seinem Namen kam, erzählt diese Sage.
Im Winter des Jahres 1408 bedrängten die Appenzeller wieder
einmal die Städte und Schlösser am Bodensee und auch Bregenz
wollten sie erstürmen. In dieser Notlage bat der Graf von Montfort die Ritter aus dem Schwabenland um Hilfe. Doch das hatten
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die Appenzeller erfahren. Noch in der gleichen Nacht trafen sich
ihre wichtigsten Leute in einem Gasthaus in Rankweil und besprachen, wie sie den Schwaben zuvorkommen und Bregenz angreifen könnten.
Sie kamen zu dem Entschluss, Bregenz am 14. Jänner zu überfallen. Als sie aufbrechen wollten, entdeckten sie aber hinter dem
Ofen eine alte Frau, die scheinbar schlief.
»Steh auf, Alte! Du hast alles gehört! Du wirst uns verraten! Wir
werden dich töten müssen!«, schrie ein Appenzeller.
»Ich habe geschlafen und gar nichts gehört«, erklärte die alte Frau
mit zitternder Stimme. »Und hätte ich was gehört, ich würde es
keinem Menschen erzählen! Das schwöre ich!«
Die Männer wussten nicht, ob die Alte die Wahrheit gesprochen
hatte, schließlich aber jagte man sie aus dem Gasthaus.
Da schlich die Frau in den Stall, setzte sich auf ein Pferd und ritt,
so schnell sie konnte, durch die kalte Winternacht nach Bregenz.
Todmüde kam sie beim Rathaus an.
»Wer bist du? Was willst du?«, wollte der Amtmann wissen, »und
warum starrst du so auf den Ofen?«
»Man nennt mich Guta. Ich bin in dieser Stadt geboren. In einem
Gasthaus in Rankweil habe ich heute Nacht geschworen, keinem
Menschen ein Wort zu sagen, was ich mit meinen Augen gesehen
und mit meinen Ohren gehört habe. So lasst mich das dem Feuer
im Ofen erzählen!«
Und dann berichtete die Frau, was die Appenzeller beschlossen
hatten.
Als der 14. Jänner daraufhin ins Land zog, standen 8 000 Mann zur
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Rettung von Bregenz bereit und die verdutzten Appenzeller erlitten eine schwere Niederlage.
Die Bregenzer aber vergaßen nicht, was Frau Guta für sie getan
hatte. Und die Ratsherren fragten sie, ob sie einen Wunsch habe.
»In Bregenz möchte ich bleiben und etwas zu essen haben, so
lange ich lebe«, war ihre Antwort. Dieser Wunsch wurde ihr gern
erfüllt.
Zum Dank an die Retterin von Bregenz kündigten fortan die
Nachtwächter vom Martinitag (11. 11.) bis Maria Lichtmess (2. 2.)
die neunte Abendstunde mit dem Ruf »Ehret Guta!« an.
Ein Denkmal und der Ehre-Guta-Platz in der Altstadt von Bregenz
erinnern heute noch an sie.
Das Felsenweiblein
Bregenz
Zwischen Bregenz und Lochau berührt der Pfänderhang den
Bodensee. Vor langer Zeit war hier ein Felsblock vom Pfänder in
den See gedonnert. Auf dem Fels stand bald eine kleine Hütte, zu
der ein schmaler Steg führte. Dort wohnte das »Felsawieble«.
Das Weiblein trug immer noch die alte Tracht. Es hatte einen
dicken Flanellrock an, um den eine schwarze Schürze mit großen,
weißen Blumen gewickelt war. Dazu trug es ein rotes Jäckchen
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und eine Kappe mit langen Bändern, die unter dem Kinn gebunden waren.
Die Leute behaupteten, dass es eine Hexe sei, weil es ganz sonderbare Dinge tat und geschehen ließ. Manche meinten auch, das Weiblein hätte mit dem Teufel etwas zu tun. Darum gruselte es den Kindern immer, wenn sie auf ihrem Schulweg nach Bregenz am Haus
auf dem Felsen vorbeigehen mussten. Doch manche Leute fragten
es auch um Hilfe, wenn ihnen niemand mehr helfen konnte.
Eines Tages kam ein Mann zum Felsenweiblein und beklagte sich:
»Ich weiß, der Nachbar hat mir allerlei Werkzeug gestohlen. Aber
er streitet alles ab.«
»Der wird dir die Sachen gerne wieder zurück bringen«, schmunzelte das Weiblein, »sonst wird es ihm schlecht gehen.« Dann
blätterte es in einem dicken Buch und murmelte Sprüche, die der
Mann nicht verstehen konnte.
»Sorg dich nicht und geh nach Haus, die Dinge nehmen ihren
Lauf«, sagte das Weiblein dann.
»Und wie kann ich mich bei dir bedanken?«, wollte der Mann
wissen.
»Frag nicht so viel und schau, was passiert!«
Mitten in der Nacht polterte es im ganzen Haus. Da wurde der
Mann wach und verkroch sich tief unter seiner Bettdecke, weil er
große Angst hatte. Nachdem es wieder ruhig im Haus geworden
war, getraute er sich aus dem Bett. Und da waren alle Dinge wieder da, die man ihm gestohlen hatte.
Bald danach war der Fels mit der kleinen Hütte und dem Steg im See
versunken. Das Weiblein wurde nie mehr gesehen. Vielleicht hat
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es damals schon geahnt, dass einmal viele Autos die Straße befahren werden, dort, wo der Pfänderhang den Bodensee berührt.
Und deshalb hatte es bei Zeiten ade gesagt und ist für immer verschwunden.
Guten Abend
Bregenz
Ein Bauer ging einmal spätabends von Moos nach Hause. Als er
zum Schanzgraben kam, begegnete ihm ein großer Herr in einem
langen Mantel mit hoch aufgestelltem Kragen und einem Zylinder auf dem Kopf.
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Unheimlich sah die Gestalt aus und schaurig klangen die Schritte.
Das war dem Bauer nicht geheuer. Doch weil er von Jugend an das
Grüßen gepflegt hatte, sagte er freundlich: »Guten Abend!«
Der noble Herr aber nahm ihm den Gruß nicht ab und ging wortlos an ihm vorbei. Da ärgerte sich der Bauer und rief zornig: »Ach,
rutsch mir doch den Buckel hinunter! Du hast meinen Gruß nicht
gehört, so wirst du auch das nicht hören, was ich noch gesagt
habe!«
Und tatsächlich drehte sich der Fremde nicht um und blieb stumm.
Nur der dumpfe Klang seiner Schritte war zu hören.
»Gute Nacht!«, rief der Bauer dem Fremden nach. Da drehte sich
der Mann um. Und zu seinem Entsetzen sah der Bauer, dass der
noble Herr keinen Kopf hatte. Der Zylinder saß fest auf seinen
Schultern.
So schnell er konnte, rannte der Bauer nach Hause. Mit kreidebleichem Gesicht weckte er seine Frau und sagte atemlos: »Nicht
um fünfzig Gulden gehe ich noch einmal bei Nacht über den
Schanzgraben. Da gibt es einen, der nicht grüßen kann, weil er
keinen Kopf hat.«
Und nie wieder ging er bei Nacht diesen Weg.
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Ein Waldbruder wandelt über den Bodensee
Bodensee
Vor vielen hundert Jahren hauste in dem damals noch wilden und
rauen Gebirge südlich des Bodensees ein Einsiedler, der allerhand
Wunder tat. Er war ein einfacher Mensch und suchte die Stille und
den Frieden in der Einsamkeit auf dem Berg.
Dort entdeckte er die Wunderkraft in sich. Die Kranken, denen er
gut zusprach, wurden wieder gesund. Die Tiere des Waldes kamen
zu seiner Hütte und es war ihm bald, als könnte er ihre Sprache
verstehen. Sie teilten ihm mit, wenn Böses bevorstand, und der
Waldbruder warnte die Leute zur rechten Zeit.
Er war ein gottesfürchtiger Mann, aber mit den Vorschriften der
Kirche und mit ihrem Latein kannte er sich nicht gut aus. Als die
Wunder des Einsiedlers im ganzen Land bekannt wurden, reiste
sogar der Bischof von Passau auf den Berg am Bodensee um zu
prüfen, ob der Mann auch fromm sei.
Er fragte den Einsiedler, welches Gebet er denn zu sprechen pflege.
»Misere me Dominus!«, war die Antwort. Da musste der Bischof
lachen und wusste genug. Wie konnte jemand Wunder wirken, der
in drei Worten seines Gebetes gleich drei Fehler machte? Er klopfte
dem Waldbruder auf die Schulter und sagte: »Lieber Freund, das ist
ganz falsch, wie du betest. Es muss heißen ›Miserere mei, Domine‹,
das solltest du wissen! So kannst du keine Wunder wirken!«
Demütig sprach der Alte das richtige Latein mehrmals nach und
gelobte, dass er künftig so beten wolle.
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Als der Bischof wieder auf der Heimreise war, stieß der Steuermann mitten auf dem Bodensee einen Schreckensruf aus. Sie wollten ihren Augen nicht trauen, denn der Waldbruder wandelte über
das Wasser auf das Schiff zu. Dann lehnte er sich über die Bordwand und fragte, wie er richtig beten müsse. Er habe in seinem
alten Kopf die richtigen Worte schon vergessen und wisse nur,
wie er immer schon gebetet habe.
Da wurde der Bischof erst ganz still. Er sah den seltsamen Alten an,
dem er nie und nimmer ein Wunder zugetraut hatte. Dann erhob
er die Hand zum Segen und sagte: »Bete so weiter wie bisher! Du
betest besser als ich!«
Der Ochs am Bodensee
Bodensee
In Oberschwaben fütterten die Bauern vor langer Zeit ihre Ochsen
so sehr, dass sie eine ungeheure Größe erreichten.
Eines Tages wollte ein solcher Ochs nicht mehr länger in seinem
Stall bleiben. Er brach aus und lief bis zum Bodensee.
Dort hielt er eine Weile inne und stieg dann ins Wasser hinein.
Bei jedem Schritt nahm er einen Schluck. Als er schließlich ans
Schweizer Ufer kam, hatte er so nebenbei im Gehen den ganzen
See ausgetrunken.
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Nun dachte der Ochs, er wolle sich doch auch die Schweiz ein
wenig ansehen und stieg an Land. Als er dann einmal Rast machte,
bestaunte er die hohen, fernen Berge.
Da flog ein Adler daher und ließ sich auf einem Horn des Ochsen
nieder. Nach einer Weile schüttelte das Riesentier ganz gemächlich seinen Kopf. Gleich breitete der Vogel seine Schwingen aus
und flog zum anderen Horn des Ochsen. Bis er dort aber ankam,
dauerte es nicht weniger als zwei volle Stunden.
Da kann man sich vorstellen, was das für ein großer Ochs gewesen sein muss.
Das Fräulein von der Ruggburg
Eichenberg
In Eichenberg stand einst eine gewaltige Ritterburg. Dort lebte
ein wunderschönes Fräulein, das viele Ritter begehrten. Doch das
Fräulein wollte nichts vom Heiraten wissen und wies alle Freier
ab. Die Eltern liebten ihr Kind und nie sollte es Not und Leid
erfahren.
Eines Abends ging das Mädchen zur Burg hinaus und sah eine Bettlerin. Sie saß im Gras und strickte.
»Du schönes Kind, dir geht es gut. Du weißt ja gar nicht, was es
heißt, Kummer und Sorge zu haben«, jammerte die Alte.
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»Ich weiß nicht, wovon du redest. Ei, sag du mir doch , was das ist«,
meinte das Mädchen spöttisch.
Da hörte die Bettlerin zu stricken auf und blickte das Mädchen
ernst an: »Nimm diesen Knäuel, geh in den Wald hinauf und lass
den ganzen Faden abrollen. Dann weißt du, was Kummer und
Sorge bedeuten.«
Das Fräulein tat, wie ihm geheißen wurde. Es lief durch den Wald
und spulte den ganzen Faden ab. Doch es hatte gar nicht gemerkt,
wie rasch es finster geworden war. Der Nachtwind rauschte in den
Tannen und nur die Käuzchen schrieen.
»Ich finde den Weg nicht mehr! Ich will zurück zur Burg! Zu meinen Eltern! Ich habe Hunger und Durst!«, rief das Fräulein ganz
verzweifelt und weinte. Dabei lief es immer tiefer in den Wald
hinein. Aber plötzlich sah es ein helles Flimmern zwischen den
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Tannen. Es kam aus einer kleinen Hütte, in der Licht brannte. Da
nahm das Fräulein allen Mut zusammen und klopfte an die Türe.
»Komm herein«, sagte eine alte Frau.
»Ich habe mich verirrt und finde nicht mehr heim«, klagte das
Mädchen.
»Du kannst heute Nacht hier bleiben. Aber hoffentlich kommt der
Jäger nicht nach Hause. Er bleibt oft viele Tage lang fort. Er ist ein
wilder Kerl, der keinen Menschen um sich sehen mag, nur mich
lässt er in Ruhe. Wenn er dich hier sieht, dann wird es dir schlecht
ergehen!«
Das Mädchen dachte an den abgespulten Faden und erinnerte sich,
was die Bettlerin gesagte hatte. Jetzt wusste es, was Kummer und
Sorge sind.
Plötzlich bellten draußen Hunde. Dann stürmte der Jäger zur Tür
herein. Als er das Fräulein erblickte, sprang er wütend auf es zu.
Doch es konnte sich losreißen und fliehen. Der wilde Kerl warf sein
Jagdmesser hinter dem Mädchen her und ein paar blonde Locken
fielen auf den Boden. Das Mädchen aber war frei und unverletzt.
Nachdem sein erster Zorn verraucht war, dachte der Jäger nur
noch an das schöne Fräulein. Zu gerne hätte er gewusst, wer es war
und wo es lebte. Und immer wieder nahm er die blonden Locken
in die Hand.
»Ich habe etwas gut zu machen. Ich muss das Mädchen finden«,
sagte der Jäger. Mitten im Winter zog er los. Von Ort zu Ort. Viele
Jahre lang.
Und wieder war es Winter geworden. Da stand der Jäger vor einer
Klosterpforte und bat um eine warme Suppe. Eine Klosterschwes26
ter wollte ihm etwas zu essen geben, aber da erkannte sie den Jäger
und lief in ihre Zelle. Vor Jahren hatte sie beschlossen für die Menschen da zu sein, die Kummer und Sorge haben. Doch nun hatte
sie ihr Mut verlassen. Es war das Fräulein von der Ruggburg.
Auch der Jäger hatte es erkannt – das Fräulein, nach dem er so
lange gesucht hatte.
Es schneite und eine bitterkalte Nacht brach herein. Am nächsten
Morgen fand man den Jäger erfroren vor der Klosterpforte.
Vergeltsgott
Möggers
Eines Abends kam ein armer Hausierer nach Möggers und bat in
einem Bauernhaus um ein Nachtlager. Der Bauer ließ ihn im Heu
übernachten.
Am nächsten Morgen sagte der Mann: »Bezahlen kann ich nicht.
Nehmt mein Vergeltsgott!«
»Von solchen Vergeltsgott hab ich schon den Heuboden voll. Das
kann ich nicht nehmen. Du musst bezahlen für das Nachtlager!
Gib ein paar Knöpfe her, eine Schnur, Rasierklingen oder was du
sonst noch hast!«, forderte der geizige Bauer.
»Ich bin arm«, antwortete der Hausierer, »nehmt mein Vergeltsgott!«
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Dann machte er sich schnell davon und der Bauer schrie ihm nach:
»Ich kann’s nicht nehmen!«
Kurze Zeit später war der Bauer gestorben. Und jede Nacht hörte
man im Haus und in der Tenne seinen klagenden Ruf: »Ich kann’s
nicht nehmen!«
Nach einem Jahr kam der Hausierer wieder und bat um ein Nachtlager im Heu. »Es geistert und es ruft die ganze Nacht«, jammerte
die Bäuerin. »Darauf hab’ ich gewartet«, sagte der arme Mann und
legte sich auf den Heuboden.
»Ich kann’s nicht nehmen, das Vergeltsgott!«, erklang es zu Mitternacht. »Nimm es«, sprach der Hausierer, »du wirst es brauchen
können!«
»Vergeltsgott«, sagte der Geist. Da war die Seele des Bauern erlöst
und er musste nicht mehr geistern. Der Fremde jedoch wurde in
Möggers nie mehr gesehen.
Die Wetterglocke
Hohenweiler
Im Kirchturm von Hohenweiler hing vor langer Zeit eine Glocke,
die Gewitter, Donner und Blitze vertreiben konnte. Immer wenn
ein Unwetter kam, wurde sie geläutet. Dann fühlten sich die Leute
von Hohenweiler sicher.
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Wer der Glockengießer gewesen war, das wusste im Dorf niemand
mehr. Man erzählte sich aber, dass ein Haar der Gottesmutter in
der wundersamen Glocke eingegossen war.
Auch in der nahen Schweiz konnte man die Glocke hören und
sehen, wie sich das Unwetter über Hohenweiler verzog und keinen Schaden anrichtete.
Daher wollten die Schweizer die Glocke kaufen und schickten Verhandler nach Hohenweiler. Doch der Pfarrer und auch der Bürgermeister bestanden darauf, dass die Glocke im Dorf bleibt.
Da machten die Schweizer ein weiteres Angebot: »Wir werden die
Glocke mit Silber füllen!«
»Nein, danke!«, sagte man in Hohenweiler.
»Dann werden wir sie mit Gold füllen.«
Doch auch davon wollten die Leute in Hohenweiler nichts wissen.
Enttäuscht zogen die Schweizer aus dem Dorf hinaus.
Auf dem Heimweg trafen sie einen Mann, dem sie die ganze
Geschichte erzählten.
»Halb so schlimm«, meinte er. »Wartet mit dem Gold. Ich habe
einen guten Bekannten. Der wird euch die Glocke bringen.«
In der Kirche von Hohenweiler goss der Mesner jeden Tag Weihwasser in das Becken. Doch kurz vor Ostern vergaß er es. Und weil
die Frauen das Wasser holten, um es auf die Gräber zu bringen,
war das Weihwasserbecken bald leer.
Darauf hatte ein unheimlicher Geselle gewartet. Er schlich sich
in die Kirche und stieg leise auf den Glockenturm. Dann packte
er die Glocke und schwebte mit ihr aus dem Turmfenster hinaus.
Das sahen die Frauen, die auf dem Friedhof die Gräber herrichte29