Wilhelmshavener Zeitung, 10.08.2015

MONTAG, 10. AUGUST 2015
Wilhelmshaven
SEITE 5
WILHELMSHAVENER ZEITUNG
In der Nacht kommt das „Beste am Morgen“
SEITENWECHSEL
Redakteur Stephan Giesers hat WZ-Zustellerin Nicole Stubben begleitet und musste sich aus dem Bett quälen
Journalisten kommen
mit vielen Menschen zusammen, aus den unterschiedlichsten Berufen.
Aber wie sind deren Jobs
überhaupt? Was erleben
sie den ganzen Tag? Zeit
für einen Seitenwechsel.
VON STEPHAN GIESERS
WILHELMSHAVEN – Ein lautes
Fiepen reißt mich aus dem
Tiefschlaf. Ungläubig blicke
ich auf den Wecker: 2.15 Uhr.
Viel zu früh für einen Redakteur, der eigentlich erst um 9
Uhr in der Redaktion sein
muss. Um diese Zeit wälze ich
mich also höchstens von der
einen auf die andere Seite des
Bettes.
Stattdessen also schnell
aufstehen, anziehen und mit
dem Rad losfahren: „Seitenwechsel“ – eine Nacht die
„Wilhelmshavener Zeitung“
austragen, an der ich
tags zuvor mitgearbeitet habe. Zum
Glück bin ich in guten
Händen. Nicole Stubben zeigt mir ihre
Route. Wir treffen uns
an der „Ablagestelle“
Paul-Klee-Straße.
Dort bekommt sie jede Nacht gegen 3.15
Uhr ihre Zeitungslieferung. Stubben ist 45
Jahre alt und wohnt in
Siebethsburg. Seit 18
Jahren ist sie Zustellerin und sorgt dafür,
dass die Leser pünktlich zum Frühstück
ihre Zeitung im Briefkasten haben.
Die Wilhelmshavenerin ist
hellwach und atmet tief
durch, als wollte sie gleich
Bäume
ausreißen.
Kein
Mensch weit und breit. Kein
Auto. „Das ist doch herrlich –
diese Stille“, sagt sie und
schaut in den Sternenhimmel.
„Ich habe schon so viele
Sternschnuppen gesehen, so
viel kann ich mir gar nicht
wünschen.“
Dann kommt der Lieferwagen mit den druckfrischen
Zeitungen. Zwei gebundene
Nicole Stubben (Foto oben) ist seit 18 Jahren Zustellerin und jede Nacht unterwegs,
damit andere pünktlich ihre Zeitung haben.
Pakete und ein Stapel mit losen Exemplaren sind für Stubben. 110 Zeitungen muss sie
in dieser Nacht austragen –
weniger als üblich. „Viele
Abonnenten sind im Urlaub
und haben ihre Zeitung abbestellt“, erklärt sie und packt
dabei ihre blauen Fahrradtaschen und den Fahrradkorb
am Lenkrad.
Zwei Zeitungen drückt sie
mir gleich in die Hand. Ich
darf die erste Zustellung übernehmen. Direkt an der Ablagestelle. Dann fahren wir mit
den Rädern los. Kreuz und
quer durch die Paul-KleeStraße mit ihren Sackgassen
und engen Abzweigungen. Es
ist stockdunkel, die Jalousien
an den Fenstern der schmucken Einfamilienhäuser sind
heruntergelassen. Hier hört
man nur den Wind in den
Bäumen und das Geräusch
von Stubbens Regen-Cape,
wenn sie mit Zeitungen unter
dem Arm schnellen Schrittes
in der Dunkelheit verschwindet.
In strömendem Regen, bei
Glatteis, Kälte und Nebel ist
die 45-Jährige unterwegs. Das
bleibt mir in dieser Nacht erspart. Es ist eine warme Sommernacht. „Gegen schlechtes
Wetter kann man sich anziehen“, sagt Stubben. Im Winter
sei es dann aber doch manchmal so kalt, da spüre sie ihre
Finger nicht mehr. Trotz dicker Handschuhe.
Die Zustellerin verschwin-
Das weiß WZ-Redakteur nun noch mehr zu
schätzen, seit er die Zustellerin eine Nacht
lang begleitet hat.
FOTOS: GIESERS/STUBBEN
det erneut in der Dunkelheit.
Sie hat ihre Route genau abgestimmt, kennt jede Abkürzung, steuert zielstrebig auf
die Briefkästen zu. Hausnummern? Danach muss sie gar
nicht mehr sehen. Ich indes
habe schon am vierten Haus
die Orientierung hoffnungslos
verloren. „Reine Übungssache“, sagt Stubben und drückt
ihrem Praktikanten Zeitungen
in die Hand. „Die sind für die
Häuser da hinten“, sagt sie
Wilhelmshavener Zeitung, 10.08.2015
Mit festem Willen für eine Ausbildung
BILDUNG
Georgij Vinnichenko will sich von Behinderung nicht unterkriegen lassen
VON IMKE OLTMANNS
– Das Gespräch mit Georgij Vinnichenko dauert nur etwa eine Stunde, und wenn eines dabei
deutlich geworden ist, dann
dies: Der junge Mann ist äußerst willensstark.
Eben erst hat er an der
Volkshochschule Wilhelmshaven (VHS) den Realschulabschluss gemacht, und gar
nicht mal schlecht, „guter
Durchschnitt“, sagt Christina
Heide, die Programmbereichsleiterin für den zweiten
Bildungsweg an der VHS.
Dabei war das für den 18jährigen nicht ganz leicht.
Denn nicht nur leidet er seit
seiner Geburt an einer körperlichen Behinderung, er ist
auch Spastiker. Prüfungen
handschriftlich
abzulegen,
fällt ihm daher sehr schwer. In
der Volkshochschule hat man
da zu einem (erlaubten) Hilfsmittel gegriffen: Georgij durfte einen Computer nutzen,
eine Tastatur zu bedienen,
fällt ihm deutlich leichter.
Das Lernen für die Prüfung
– dafür brauchte der junge
Mann kaum Hilfe, denn der
Wille, sich eine gute AusbilWILHELMSHAVEN
Weiteres Etappenziel erreicht: Georgij Vinnichenko (blaues
Hemd), seine Schwester Sophie, seine Mutter Natalia Glück
und Christina Heide von der VHS (rechts im Bild) WZ-FOTO: GA-JÜ
dung zu erarbeiten, der treibt
ihn an. Schon lange. „Ich will
mich von meiner Behinderung nicht einschränken lassen, ich will ganz normal
einen Schulabschluss und
eine Ausbildung machen“,
sagt der 18-Jährige.
Bis hierher war es schon
ein langer Weg: Georgij kam
2005 mit seiner Mutter nach
Wilhelmshaven, beide stammen aus Tomsk in Sibirien.
Bei seiner Ankunft in der Jadestadt saß der Junge noch im
Rollstuhl, besuchte erst die
Hafenschule, dann die Nogatschule, immer in den Klassen
für Körperbehinderte. „Aber
er wollte immer aufstehen, er
wollte nicht im Rollstuhl bleiben“, berichtet seine Mutter,
Natalia Glück. Ihr Sohn habe
immer gesagt, er sei nicht
krank, er sei gesund.
Nach einem Hauptschulabschluss in der BBS kam nun
also der Realschulabschluss in
der VHS. Und Georgij hat feste
Vorstellungen, was jetzt kommen könnte: Er will eine Ausbildung machen, als Fachinformatiker für Systemintegration. „Der Beruf hat Zukunft“, sagt er optimistisch,
und mit Computern umgehen
könne er sehr gut.
Und das ist beileibe nicht
das einzige Ziel, das der junge
Mann hat: Er wolle mehr über
die Welt lernen, er wolle reisen, sagt Georgij, und wer
weiß, vielleicht später auch
eine Firma gründen und sich
selbstständig machen.
Seine körperliche Behinderung wird ihm den Weg zu
diesen Zielen wohl nicht einfach machen; aber in diesem
Konflikt hat der junge Mann
nun schon ein paar Erfahrungen gesammelt; und entmutigt haben die ihn nicht.
„Manchmal muss ich auch
kämpfen“, sagt Georgij. „Aber
meine Grundhaltung ist eben
positiv. Ich will aus meinem
Leben etwas machen.“
und weist mir den Weg. Ich
sprinte los. Aber wo sind die
Briefkästen? Während ich
noch suche, ist Stubben längst
wieder an ihrem Fahrrad. Ohne die Zustellerin wäre ich
aufgeschmissen. „Unter dem
Kasten. In die Rolle stecken!“,
ruft sie. Oder: „Vorsicht – da
am Tor ist eine Stufe!“ Die
Kommandos kommen im
Flüsterton. Man will ja die Leser nicht wecken.
Weiter geht es. Ich habe
Mühe, hinterherzukommen
und Stubben auf ihrem Zickzack-Kurs durch das Wohngebiet zu folgen. Wieder eine
Vollbremsung. Wieder absteigen, Zeitung falten, loslaufen.
„Da muss die Zeitung ganz in
den Briefkasten gesteckt werden,“ erklärt Stubben und
zeigt auf ein Haus. Vor kurzem
hätten Langfinger die WZ aus
der Zeitungsrolle gestohlen.
Die Folge: Keine Frühstückslektüre.
Die Paul-Klee-Straße ist erledigt. Jetzt halten wir an versteckten Häusern am Rande
der Kurt-Schumacher-Straße.
Vier Skateboarder kommen
uns entgegen. Mitten auf der
Straße. „Das habe ich auch
noch nicht erlebt“, sagt Stubben und lacht. Keine Zeit zum
Wundern. Wir biegen in die
Max-Pechstein-Straße
ein.
Die Finger sind inzwischen
pechschwarz von der Druckerschwärze. „Manchmal sehe ich aus, als hätte ich unter
Tage gearbeitet“, sagt die Zustellerin.
Bei mir macht sich die
Arbeit nicht nur an den Fingern bemerkbar: Alle paar
Meter anhalten, absteigen,
Zeitung einstecken, wieder
auf das Fahrrad steigen. Das
geht in die Beine. Auf einmal
verstehe ich, warum Stubben
zu Beginn unserer Tour mein
Fahrrad so skeptisch beäugt
hat. Mit einen Lächeln und
den Worten: „Herrenrad mit
Stange? Viel Spaß!“
Am Horizont ist schon das
Morgenrot zu sehen. In der
Emil-Nolde-Straße hat Stubben aber noch einen ganz besonderen „Abonnenten“: Eine
Katze. „Die bekommt schon
seit Jahren ein Leckerli von
mir.“ Tatsächlich: Die Katze
wartet schon, schnurrt zufrieden und sucht dann mit dem
Leckerli das Weite. Zufrieden
sein sollen aber auch die Leser. Stubben kennt nach den
ganzen Jahren als Zustellerin
Wünsche und Gewohnheiten.
Nur die Gesichter der Abonnenten hat sie zumeist noch
nie gesehen. „Eine Frau hat
mal nachts an der Tür gewartet, bis ich komme. Die wollte
sich persönlich bedanken“,
erzählt sie.
Es ist inzwischen kurz vor 5
Uhr, die Sonne geht auf und
die letzten Zeitungen liegen
im Fahrradkorb – dann ist die
Schicht zu Ende. Wir fahren
noch ein Stück zusammen.
Die ersten Autos sind jetzt
unterwegs. Zu Hause schaue
ich als Erstes in den Briefkasten. Hundemüde. Meine WZ
ist schon da. Pünktlich. Wie
jeden Morgen. Und selten
weiß ich das zu schätzten wie
an diesem Tag.
Keine Wespenplage
INSEKTEN
Population nimmt ab
WILHELMSHAVEN/JSA – Wer in
dann wieder weg“, so Rübsadiesen Tagen den Eindruck men. „Aber dann sollte man
hat, es herrsche eine Wespen- schnell aufessen, denn in
plage in er Stadt, der täuscht ihrem Nest sagt sie dann den
sich. Fooke Claaßen, Haut- anderen Bescheid“.
flüglerbeauftragter der Stadt,
Wenn die Wespe doch zuspricht sogar vom Gegenteil:
sticht, können einfache Haus„Wir haben eher zu wenig mittel helfen. „Eine aufgeWespen.
Die
Population schnittene Zwiebel oder Zunimmt jedes Jahr weiter ab“. ckerstücke können das Gift
Er habe in diesem Jahr sehr aus dem Gewebe saugen und
wenige Anrufe von Menschen Schwellung und Schmerzen
bekommen, die ein Wespen- lindern“, erklärt Rübsamen.
nest entdeckt haben.
Auch antiallergische
Grund für diese EntSalben können helwicklung seien vor alfen. Im Gegensatz
lem die vielen Spritzzur Biene verlieren
und Unkrautmittel, die
die Wespen ihren
auf den Flächen in der
Stachel nicht, wenn
Umgebung eingesetzt
sie zustechen. GeWespen kön- fährlich
würden.
werden
Im Klinikum Wil- nen gefährlich kann so ein Wespenhelmshaven wurden sein
FOTO: DPA stich, sollte der Gedieses Jahr eher selten
stochene allergisch
Patienten mit Wespenstichen reagieren. „Wenn zehn bis
aufgenommen. Und das trotz zwanzig Minuten nach dem
der Fehler, die viele machen: Stich Atemnot oder Ähnliches
Kaum jemand kann ruhig sit- auftritt, muss sofort der Notzen bleiben und nicht nach arzt gerufen werden. Es droht
dem Tier schlagen.
ein anaphylaktischer Schock,
Doch ruhig zu bleiben, ist der zu Bewusstlosigkeit führt
wichtig, sagt Dr. Christof Rüb- und lebensgefährlich sein
samen, Leiter des Wilhelms- kann“, mahnt Rübsamen. Alhavener Gesundheitsamtes. lergiker sollten deshalb im„Die Wespe nimmt sich, was mer spezielle Adrenalinspritsie tragen kann und fliegt zen dabeihaben.