Zur Methode pastoral orientierter kirchlicher Lehre

Zur Methode pastoral orientierter kirchlicher Lehre
Von Eva-Maria Faber
Seit dem II. Vatikanischen Konzil gibt das Postulat eines pastoralen Lehramtes, welches –
abgekürzt gesagt – „Dogma“ und „Pastoral“ verbindet, zu denken. Obwohl es nachkonziliar
vielfältig fruchtbar wurde und Gegenstand intensiver Reflexion war, hatte und hat die
Umsetzung in die Praxis kirchlichen Lehrens mit Gegenwind zu kämpfen. Ein Grund mag
nachlassender Elan für den konstruktiven Dialog mit der zeitgenössischen Kultur und
Gesellschaft sein. Es macht sich aber auch Unsicherheit über die Methode als solche
bemerkbar. Wie gelingt es ihr, Glaube und Zeichen der Zeit in eine wechselseitige Beziehung
zu bringen? Hat der Glaube wirklich erschliessende Kraft für die Welt von heute? Wie
entgeht die Suche nach Aggiornamento dem Verdacht, einer Anpassung an den Zeitgeist
Vorschub zu leisten? Geht die Aufmerksamkeit für die Lebenswirklichkeiten der Menschen
nicht doch auf Kosten der Identität des Glaubens?
Die Fragen lassen erkennen, wo Schwierigkeiten und möglicherweise auch Widerstände
gegenüber einer pastoralen lehramtlichen Methodik liegen. In diesem Kontext ist es das
begrenzte Anliegen des hier vorgelegten Beitrags, eine vereinfachende Veranschaulichung der
Methode vorzulegen (3.). Dazu bedarf es einer Vergewisserung zum Prinzip der „Pastoralität“
des II. Vatikanischen Konzils (2.), der eine aktuelle Ermutigung zu dieser Erkenntnisform
durch Papst Franziskus (1.) vorangeschickt wird.
1. Papst Franziskus: Der hermeneutische Wert der Pastoral
Die zurückliegende Bischofssynode 2015 wich der Herausforderung zu einer wechselseitigen
Beziehung von Lehre und Pastoral weitgehend aus1. Dies gilt indes nicht für Aussagen, in
denen Papst Franziskus mit Blick auf die Bischofssynode bzw. in ihrem Umfeld die Eigenart
pastoral orientierter Lehre beschrieb.
„Vom Heiligen Geist erbitten wir für die Synodenväter vor allem die Gabe des Hörens: des
Hörens auf Gott, so dass wir mit Ihm den Schrei des Volkes hören; des Hörens auf das Volk,
so dass wir dort den Willen wahrnehmen, zu dem Gott uns ruft“, mit diesen Worten benannte
Papst Franziskus bei der Vigil zur Bischofssynode 2014 die Anliegen seines Gebetes und
1
Vgl. Eva-Maria Faber: Komplexen Situationen gerecht werden. In: SKZ 183 (2015) 654-657.672-674.
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Internetzeitschrift der Theologischen Hochschule Chur
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damit auch die Zielrichtung der Synode2. Damit beschreibt der Papst den zweifachen Vollzug
des pastoralen Lehramtes als Hören auf Gott und auf das Volk3. Das Hören auf Gott steht
dabei nicht neben dem Hören auf das Volk (mit der nachfolgenden Schwierigkeit, wie beides
zu vermitteln wäre). Vielmehr leitet das Hören auf Gott zum Hören auf das Volk bzw. in die
Geschichte, damit in diesem Hören auf das Volk der Wille Gottes wahrgenommen werde.
Vor der Bischofssynode 2015 thematisierte Papst Franziskus den notwendigen „Eifer für
Pastoral und Lehre“4. Wie er deren Verhältnisbestimmung sieht, hatte er im September 2015
in einer Videobotschaft für einen internationalen theologischen Kongress an der katholischen
Universität in Buenos Aires verdeutlicht5. Darin verurteilt er jeden Versuch, die Beziehung
zwischen der empfangenen Tradition (im Italienischen grossgeschrieben und als jener
lebendige Strom, der uns mit dem Ursprung verbindet, ausgelegt) und der konkreten
Wirklichkeit (unterschiedlicher Kulturen bzw. der Realität „hier und heute“) zu brechen oder
zu reduzieren. Andernfalls drohe die Theologie zur Ideologie zu werden. In anderen
Begrifflichkeiten mahnt Papst Franziskus, Theologie und Pastoral bzw. Glaube und Leben
nicht auseinanderzudividieren.
Die Begründung dafür formuliert er inkarnatorisch: Es sei für die gegebene Situation neu zu
bedenken, „wie das Christentum Fleisch wird“. Die „Begegnung“ zwischen Lehre und
Pastoral sei konstitutiv für eine ekklesiale Theologie, weil die pastorale Wahrnehmung der
konkreten Lebenswirklichkeiten erschliessende Kraft für den Glauben habe: „Die Fragen
unseres Volkes, seine Leiden, seine Kämpfe, seine Träume, sein Ringen, seine Sorgen
besitzen einen hermeneutischen Wert, den wir nicht übersehen dürfen, wenn wir das Prinzip
der Inkarnation ernst nehmen wollen. […] All das hilft uns, das Geheimnis des Wortes Gottes
zu vertiefen“.
Die Videobotschaft von Papst Franziskus steht im Zusammenhang mit dem 50-Jahr-Jubiläum
des II. Vatikanischen Konzils, dessen Wegweisung für ein pastorales Lehramt nun zu
umreissen ist.
2. Annäherungen an die Methode der Pastoralkonstitution des II. Vatikanum
Papst Johannes XXIII. gab dem II. Vatikanischen Konzil in seiner Eröffnungsrede den
Auftrag, sich um ein vertieftes Glaubensverständnis zu bemühen. Dabei postulierte er – in
gegenläufigen Aussagen – einen „Sprung nach vorwärts“ ebenso wie „Geduld“. Auf die
2
http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/october/documents/papafrancesco_20141004_incontro-per-la-famiglia.html (4.10.2014). Die Internetquellen wurden alle am 30.12.2015
geprüft. Die Daten hinter der URL beziehen sich auf das Publikationsdatum.
3
Hier dürfte zunächst das Volk Gottes gemeint sein. Der weitere Verlauf des Textes thematisiert darüber hinaus
die pastorale Verantwortlichkeit, „sich die Fragen zu eigen zu machen, die dieser Epochenwandel mit sich
bringt“, womit eine nur binnenkirchliche Perspektive überschritten wird.
4
http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2015/october/documents/papa-francesco_20151005_padrisinodali.html (5.10.2015).
5
Vgl.
http://w2.vatican.va/content/francesco/it/messages/pont-messages/2015/documents/papafrancesco_20150903_videomessaggio-teologia-buenos-aires.html (3.9.2015).
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drängende Zeit weist das Bild des „Sprungs“ nach vorwärts, dessen Dynamik so anstössig
schien, dass die Formulierung in der vorgetragenen lateinischen Übersetzung ausgelassen
wurde. Das Postulat der Geduld macht deutlich, dass eine nachhaltige Anstrengung notwendig
sein würde, um „alles [!] im Rahmen und mit den Mitteln eines Lehramtes von vorrangig
pastoralem Charakter“ zu prüfen6. Ob Papst Johannes XXIII. ahnte, wie sehr die Geduld nicht
nur wegen des umfassenden Gegenstandsbereichs, sondern auch für die Entwicklung des
pastoralen Lehramtes selbst gefordert war?
In Aufnahme der Eröffnungsansprache schlug Kardinal Augustin Bea in einem Memorandum
dem Papst vor, das gesamte Konzilsprogramm an der pastoralen Zielsetzung auszurichten7.
Das Konzil orientierte sich dann zwar stärker an der von Kardinal Léon-Joseph Suenens
vorgeschlagenen Unterscheidung der beiden Perspektiven „ad intra“ und „ad extra“, doch
spätestens bei der Entwicklung und Diskussion der Pastoralkonstitution Gaudium et spes
wurde die Herausforderung des „pastoralen Lehramtes“ wieder explizit.
2.1. Die Textgattung der Pastoralkonstitution
Das Konzil qualifizierte seine Reflexionen über die „Kirche in der Welt von heute“ als
Pastoralkonstitution. Bei jenen, welche den im Begriff der Konstitution beanspruchten
Verbindlichkeitsgrad nicht auf pastorale Fragen anwenden wollten, stiess diese Einstufung auf
Kritik. Als sie am 19. November 1965 zum Gegenstand einer eigenen Abstimmung wurde,
waren jedoch mehr als zwei Drittel der Konzilsväter damit einverstanden8.
Mit dem Genre der Pastoralkonstitution war eine Textgattung gefunden, die dem Ertrag des
pastoralen Lehramtes entspricht. Der Konzilstheologe Marie-Dominique Chenu begrüsste die
neue Kategorie, mit der eine „unglückliche und sinnlose Trennung von Dogma und Pastoral
bereinigt“ und dem stets geschichtlich verorteten Sein der Kirche Rechnung getragen werde9.
6
Papst Johannes XXIII.: „Gaudet Mater Ecclesia“. In: Ludwig Kaufmann; Nikolaus Klein: Johannes XXIII.
Prophetie im Vermächtnis. Fribourg: Exodus, 1990, 107-150, 136f: „Aber von einer wiedergewonnenen,
nüchternen und gelassenen Zustimmung zur Lehrtradition der Kirche […] erwarten jene, die sich auf der ganzen
Welt zum christlichen, katholischen und apostolischen Glauben bekennen, einen Sprung nach vorwärts, der
einem vertieften Glaubensverständnis und der Gewissensbildung zugute kommt. Dies soll zu je grösserer
Übereinstimmung mit dem authentischen Glaubensgut führen, indem es mit wissenschaftlichen Methoden
erforscht und mit den sprachlichen Ausdrucksformen des modernen Denkens dargelegt wird. Denn eines ist die
Substanz der tradierten Lehre, d.h. des depositum fidei; etwas anderes ist die Formulierung, in der sie dargelegt
wird. Darauf ist – allenfalls braucht es Geduld – grosses Gewicht zu legen, indem alles im Rahmen und mit den
Mitteln eines Lehramtes von vorrangig pastoralem Charakter geprüft wird“.
7
Vgl. Giuseppe Alberigo: Concilio acefalo? L’evoluzione degli organi direttivi del Vaticano II. In: ders.: Il
Vaticano II fra attese e celebrazione. Bologna: Società editrice Il Mulino, 1995, 193-238, 196-200.219-224;
Christoph Theobald: La réception du concile Vatican II. Bd. 1: Accéder à la source. Paris: Cerf, 2009 (Unam
Sanctam. Nouvelle série), 281-283 sowie zur Pastoralität insgesamt 281-363.
8
Vgl. Hans-Joachim Sander: Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von
heute Gaudium et spes. In: HThKVatII 4,581-886, 646-650.674.685-687.
9
Marie-Dominique Chenu: Peuple de Dieu dans le monde. Paris: Cerf, 1966 (Foi Vivante 35), 17; vgl. 13-18.
Siehe zur herausragenden Rolle von Marie-Dominique Chenu für die pastorale Wende theologischen Denkens
Christian Bauer: Pastorale Wende? Konzilstheologische Anmerkungen. In: Ders. (Hrsg.); Michael Schüssler
(Hrsg.): Pastorales Lehramt? Spielräume einer Theologie familialer Lebensformen. Ostfildern: Grünewald, 2015,
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Hans-Joachim Sander fasst das Konzept in ein erhellendes Bild: „Eine ‚constitutio pastoralis‘
ist eine Ellipse mit zwei Brennpunkten: Ihre Glaubensaussagen werden im Kontrast zwischen
speziellen humanen Problemen gesellschaftlichen Lebens und generellen christlichen
Wahrheiten gewonnen. Sie ist zeitabhängig und steht zugleich in Differenz zur
geschichtlichen Situation“10.
Mit dem Bild der Ellipse unterstreicht Sander die „Relativitätsprobleme“11, die dem II.
Vatikanum durch Hinwendung zu den Lebensrealitäten und -einstellungen ausserhalb der
Kirche entstanden. Es war gefordert, die „Wahrheit des Glaubens“ und die „Wirklichkeit des
Lebens“ zu verbinden, wie es Bischof Gabriel Garrone am 25. September 1965 in seiner
Relatio zur erneuten Vorlage der Pastoralkonstitution in der Konzilsaula formulierte12.
Entscheidend für die methodische Pointe dieser Verbindung ist die Überwindung einer
einseitigen Bewegungsrichtung vom Dogmatischen zum Pastoralen zugunsten einer
Wechselseitigkeit, in der dogmatische und pastorale Perspektive einander erschliessen:
„Dogma und Pastoral durchdringen und intensivieren sich wechselseitig“13. Zu fragen ist also
nicht nur, was der Glaube zu konkreten Lebenssituationen beizutragen hat, sondern auch
umgekehrt, inwiefern solche Situationen erschliessende Kraft für den Glauben in seinem
Selbstverständnis und in seinen Ausdrucksmöglichkeiten haben.
2.2. Methodische Konsequenzen
Eine Theologie, die sich auf zeitbedingte geschichtliche Gegebenheiten beziehen möchte,
muss sich darüber in ihrer Methodik Rechenschaft ablegen. Dies geschah im Kontext von
Gaudium et spes durch die Identifikation der Geschichte als „theologischer Ort (locus
theologicus)“. Wie Christian Bauer erhellend gezeigt hat, bahnte der französische
Dominikaner Marie-Dominique Chenu dafür schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
den Weg, indem er die loci theologici durch „theologische Praxisorte“ (lieux théologiques en
acte) erweiterte14. Gemeint sind Orte christlicher und sozialer Praxis ebenso wie allgemein
geschichtliche Erfahrungen, die sich, wenn sie in theologische Erkenntnisprozesse Eingang
finden, dort mit eigener Autorität geltend machen.
Für die Konzeption von Gaudium et spes wurde diese neue Wertung fundamental. In ihr
werden „ausserkirchliche Lebenskontexte in ihrer Neuheit und Fremdheit […] Bezeugungs9-49, 17-21, sowie zum Ansatz von Chenu Christian Bauer: Ortswechsel der Theologie. M.-Dominique Chenu
im Kontext seiner Programmschrift „Une école de théologie: Le Saulchoir“. Münster: Lit, 2010 (Tübinger
Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik 42).
10
Sander, Kommentar 704.
11
Sander, Kommentar 593.
12
Vgl. Gabriel Garrone: Relatio generalis. In: AS 4/1,553-559, 557.
13
Bauer, Wende 11; vgl. Sander, Kommentar 594: „Damit geht eine Relativität zwischen den konkreten
Situationen vor Ort und den Glaubensaussagen einher; sie müssen zueinander passen“. Siehe zur Verschränkung
von pastoraler und dogmatischer Zielsetzung die Fussnote am Beginn von Gaudium et spes und dazu Sander,
Kommentar 687f.
14
Vgl. Bauer, Wende 25.32.39-44 sowie ders., Ortwechsel 723-730.
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und Erschliessungsinstanzen christlicher Glaubenswahrheit“, oder mit den Anfangsworten
von Gaudium et spes formuliert: „In der ‚Freude und Hoffnung, Trauer und Angst‘ (GS 1) der
heute lebenden Menschen zeigt sich etwas, das die Jüngerinnen Christi unbedingt angeht. Die
Lebensrealität heute ist in einem fundamentalen Sinn locus theologicus und nicht bloss Objekt
‚pastoraler Sorge‘“15.
Sehen – Urteilen – Handeln
Um dem theologischen Ort der Geschichte gerecht zu werden, stand zur Zeit des Konzils die
Methode „Sehen – Urteilen – Handeln“ bereit. Diese Methode war von Jozef Cardijn im
Kontext der Bewegung der Jeunesse Ouvrière Chrétienne in Belgien und Frankreich entwickelt worden. Er brachte sie zuerst als Konzilsperitus, seit 1965 als Kardinal und Konzilsvater ins Konzil ein16. Cardijn identifiziert das Leben selbst als Grundlage einer gesunden
Theologie: „Die Entdeckung von Tatsachen und realen Sachverhalten“ müssen Ausgangspunkt für die nachfolgende christliche Stellungnahme sein, die ins Handeln mündet17.
Für die Pastoralkonstitution Gaudium et spes erwies sich die Methode in dem Moment als ein
Schlüssel, als das problemvermeidende Modell, zeitbedingte Darlegungen in einen nicht mehr
vom Konzil zu verantwortenden Anhang („Adnexa“) zu verweisen, aufgegeben wurde. Um
dogmatische Perspektive und Reflexion der Zeitsituation miteinander in Beziehung zu setzen,
bot sich der Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“ an18.
Die methodische Neuerung nimmt ihren Ausgang beim Entscheid, im ersten Schritt nicht die
Glaubenslehre darzulegen, sondern die vorfindliche Lebensrealität zu analysieren.
Demgegenüber scheint es weniger aufsehenerregend, wenn der Glaube im zweiten Schritt ins
Spiel gebracht wird, um den dritten Schritt des „Handelns“ zu ermöglichen. Bei näherem
Hinsehen erweist sich jedoch gerade dieser zweite Schritt als überaus anspruchsvoll. Denn die
Perspektive des Glaubens wird nicht nur in einer anderen Abfolge der traditionellen Schritte
eingebracht; vielmehr gerät sie – in Konsequenz der beschriebenen Wechselseitigkeit der
Bezüge – nun unter den Anspruch des ersten Schrittes. Es muss gezeigt werden, welche
Relevanz der Glaube angesichts von bestimmten Zeitsituationen hat und wie in diesen
Situationen aufgrund des Glaubens alternative Handlungsperspektiven auftauchen.
Deduktion – Induktion – Abduktion
Die geforderte Erneuerung der theologischen Methodik lässt sich an der Frage verdeutlichen,
welche Art von Schlussverfahren zum Einsatz kommt. Der Entscheid, mit der Wahrnehmung
der zeitgenössischen Welt zu beginnen und erst dann die Perspektive des Glaubens
15
Franz Gmainer-Pranzl: Jesus Christus – die Aufklärung des Menschen? Überlegungen zu einer
christologischen Neuorientierung von Gaudium et spes. In: ders. (Hrsg.); Magdalena Holztrattner (Hrsg.):
Partnerin der Menschen – Zeugin der Hoffnung. Die Kirche im Licht der Pastoralkonstitution Gaudium et spes.
Innsbruck: Tyrolia, 2010 (Salzburger Theologische Studien 41), 147-183, 148.
16
Vgl. seine Konzilsrede am 20.9.1965: AS 4/1,406-408.
17
Vgl. Josef Cardijn: Laien im Apostolat. Kevelaer: Butzen & Bercker, 1964, 160f.
18
Vgl. Sander, Kommentar 640f.707.
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einzubringen, kehrt die Denkrichtung von einer deduktiven zu einer induktiven
Vorgehensweise um.
Die deduktive Methode schliesst von einer Prämisse auf davon abgeleitete lehrhafte oder
praktische Konsequenzen. Die Richtung des Denken geht von der Theorie zur Empirie, vom
Allgemeinen auf das Besondere. Das Gesetz führt zu einer Folgerung, die auf einen Fall
angewandt wird. Theologisch gesprochen werden aus einem übergeordneten Glaubenssatz
andere Glaubenssätze oder konkrete Anweisungen abgeleitet.
Demgegenüber arbeitet die Induktion mit Schlussfolgerungen aus beobachteten Phänomenen
auf eine allgemeinere Erkenntnis. Die Richtung geht von der Empirie zur Theorie, vom
Besonderen auf das Allgemeine. Einzelne Fälle sind Ausgangspunkt einer Folgerung, die als
Gesetz verallgemeinert werden kann. Theologisch werden auf einem solchen induktiven Weg
die Situationen bzw. die Zeichen der Zeit zur Basis theologischer Erkenntnis.
So hilfreich der Vergleich von deduktiver und induktiver Methode ist, um den neuen Ansatz
zu verstehen, so problematisch ist theologisch gesehen in beiden Methoden der Anspruch,
über eine präzise definierte Denkoperation einen neuen Erkenntnisstand zu erreichen. Hier
führt, wie Hans-Joachim Sander und Christian Bauer zeigen19, das von Charles Sanders Peirce
beschriebene Schlussverfahren der Abduktion weiter.
Die Abduktion stellt sich Phänomenen, die sich (noch) nicht in einer allgemeinen Theorie
erklären lassen, und nimmt sie zum Anlass einer Denkbewegung hin auf eine Lösung, die
selbst noch nicht auszumachen ist. Der bisherige Erkenntnisstand wird also überstiegen,
obwohl eine neue Erkenntnis noch nicht vorliegt. Anders als die Deduktion geht die
Abduktion nicht von definierten Prämissen aus; anders als die Induktion beansprucht die
Abduktion aber auch nicht, dass eine allgemeine Einsicht durch geradlinige Folgerungen aus
der Situation gewonnen werden kann. Vielmehr werden vorläufige Hypothesen gebildet, die
sich bewähren müssen. Der Abduktion eignet somit „schwache Stringenz, weil sie auf neues,
noch unerprobtes Gelände geht“. Dadurch aber kann sie „auf Erfahrungen, Realitäten,
Tatsachen reagieren, die nicht in das Bild der bisherigen Überzeugungen und
Wahrheitspositionen passen“20. Damit wird der theologische Erkenntnisweg stärker als
Suchbewegung beschrieben, die über ihre Ergebnisse nicht von vornherein verfügt und in
ihrem hypothetischen Urteilen Risiken eingeht.
Der Anspruch und seine Schwierigkeiten
Die mit der Methodik pastoral orientierter Lehre verbundenen Schwierigkeiten liegen auf
unterschiedlichen Ebenen. Eine erste – hier nicht weiter vertiefte21 – Schwierigkeit betrifft die
Wahrnehmung der Zeitsituationen. Wie kann deren Analyse – theologisch und im Dialog mit
19
Vgl. Bauer, Ortswechsel 814-837; Sander, Kommentar 698f.
Sander, Kommentar 698; vgl. Bauer, Lehramt 24.
21
Siehe z.B. Theobald, Réception 819-834.
20
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empirischen Wissenschaften – geleistet werden? Wie lassen sich die Zeichen der Zeit
identifizieren?
Eine zweite Schwierigkeit stellt sich – wie bereits angedeutet – ein, wenn der Glaube ins Spiel
gebracht werden soll. Nicht von ungefähr kritisierte Elmar Klinger in einem Interview, die
Methode „Sehen – Urteilen – Handeln“ werde oftmals nicht adäquat eingesetzt. Dabei ortet er
die Probleme beim Urteilen. Man sehe vieles richtig und der Wille zum Handeln sei
vorhanden, man riskiere aber keine Urteile. „Urteile setzen Kenntnisse voraus und sind ein
Standpunkt. Sie müssen in der gegenwärtigen Situation bedeuten, dass man in der Pastoral
Dogmatisches und in der Dogmatik Pastorales aus der jeweiligen Perspektive und mit der
entsprechenden Legitimation verbunden vertritt“22. Weil das Urteilen riskant ist und sich nicht
schon selbst aus pastoralen Wahrnehmungen ergibt, wird es sinnvollerweise als abduktiver
Vorgang beschrieben. Dabei liegt der entscheidende Punkt darin, im Blick auf zeitgenössische
Situationen und Problemlagen eine spezifisch christliche Perspektive einzubringen, die für die
Gestaltung und Bewältigung dieser Situationen relevant ist.
Die folgenden Überlegungen betreffen diese Herausforderung. Beansprucht wird dabei nicht,
die theoretische Reflexion voranzutreiben. Es geht lediglich darum, die formale
Relationierung zwischen Zeitdiagnose und Glaubensperspektive mit Hilfe des bekannten
„Neun-Punkte-Problems“ zu veranschaulichen, um so die „Fähigkeit zum Ortswechsel vom
Innen ins Aussen und vom Aussen ins Innen“23 zu fördern. Die Identifikation von
neuralgischen Kennzeichen bestimmter Zeitsituationen wird dabei vorausgesetzt.
3. Veranschaulichung
In der Studie „Lösungen“ veranschaulicht ein Forscherteam um Paul Watzlawick am NeunPunkte-Problem, wie wichtig es bei der Bearbeitung von Problemen ist, aus dem vermeintlich
abgesteckten Rahmen der Problemsituation herauszutreten24. Das Neun-Punkte-Problem stellt
als Aufgabe, neun im Quadrat angeordnete Punkte mit vier geraden Linien miteinander zu
verbinden, ohne den Stift abzusetzen.
22
Elmar Klinger: Mich hat an der Theologie immer das Extreme interessiert. Elmar Klinger befragt von Rainer
Bucher. Würzburg: Echter, 2009, 98.
23
Sander, Kommentar 701.
24
Vgl. Paul Watzlawick; John H. Weakland; Richard Fisch: Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen
Wandels. Bern: Huber, 72009, 43-47.105. Im Austausch mit Christian Bauer bin ich darauf gestossen, dass er das
Neun-Punkte-Problem ebenfalls veranschaulichend für die Herausforderung pastoral orientierter Theologie
aufnimmt, wenngleich in andersartiger Verwendung: vgl. Ortssuche 827-829 sowie ders.: Denken in
Konstellationen? Pastoraltheologie als kontrastiver Mischdiskurs. In: PThI 36 (2016) Nr. 1.
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Die spontan versuchten Problemlösungen scheitern in der Regel daran, dass sie die Aufgabe
im Binnenraum der neun Punkte zu erfüllen versuchen. Dann aber vermögen vier Linien nicht
alle Punkte zu erfassen.
Eine Lösung ist erst dann möglich, wenn die nicht formulierte und nur fälschlicherweise
vorausgesetzte Regel durchbrochen und das Binnensystem der neun Punkte überschritten
wird.
Im Rahmen der Reflexionen Watzlawicks dient das Neun-Punkte-Problem dazu, eine
Problem- und Konfliktbearbeitung anzuleiten, die sich aus der gegebenen Konstellation
„erster Ordnung“ löst, um eine Lösung „zweiter Ordnung“ anzustreben. Dabei will
Watzlawick auch darauf hinaus, dass eine Problemlösung dann möglich ist, wenn Menschen
sich als fähig ansehen, den Rahmen von Situationen umzudeuten. Erst eine neue
Wirklichkeitswahrnehmung ermöglicht es, Veränderungen einzuleiten, die gegebene
Probleme lösen können25.
In theologischer Optik lässt sich die Unterscheidung von erster und zweiter Ordnung
unschwer auf das Verhältnis von immanenter Weltbetrachtung und Glaubensperspektive
transponieren. Religiöse Menschen nehmen zur Deutung und Bewältigung geschichtlicher
Einzelphänomene und -fragen Bezug auf eine transzendente Wirklichkeit und finden darin
Kraft, die Herausforderungen des Lebens zu bestehen. In diesem Sinne vertritt Gaudium et
spes die Überzeugung, dass es im Licht Jesu Christi möglich ist, „das Geheimnis des
Menschen zu erhellen“. Aufgrund dieses Lichtes kann die Kirche mitwirken dabei, „dass für
die dringlichsten Fragen unserer Zeit eine Lösung gefunden wird“ (GS 10).
Wichtig ist nun aber, dass GS 10 nicht behauptet, die Kirche könne schon eine fertige Lösung
anbieten. Dies lenkt den Blick auf die vorhin thematisierte „abduktive“ Suchbewegung. Sie
soll hier mit einer gewissermassen weitergedachten Fassung des Neun-Punkte-Problems
25
Vgl. Watzlawick, Lösungen 116-141.
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veranschaulicht werden. Zu fragen ist, wie sich denn die Bezugspunkte für Lösungen zweiter
Ordnung finden lassen.
Dazu sind die neun Punkte hier als schematische Darstellung von vorgängig identifizierten
Lebenswirklichkeiten zu lesen. Sie stellen glaubende Menschen und theologietreibende
Personen und Instanzen vor die Frage, was der christliche Glaube zum Verständnis und zur
Gestaltung der zeitgenössischen Phänomene und Probleme beitragen kann26.
In der Grafik des Neun-Punkte-Problems scheint der Glaube zunächst nur scheinbar keine
Darstellung zu finden. Sobald die systemüberschreitende Problemlösung in den Blick kommt,
wird jedoch der gesamte Hintergrund, auf dem die neun Punkte gezeichnet sind, relevant. In
der hier vorgelegten Transposition repräsentiert dieser Hintergrund (der wohlgemerkt auch
hinter und zwischen den Punkten liegt!) jenen Horizont, der für glaubende Menschen im
Glauben gegeben ist.
Bedeutsam ist nun, dass dieser Horizont grösser ist, als es in einzelnen
Glaubensüberzeugungen zum Ausdruck kommt. Die Kunst der pastoralen Methode liegt
darin, in diesem Gesamthorizont des Glaubens jene Punkte zu identifizieren, die für eine
konstruktive Verbindung mit den zeitgenössischen Lebenssituationen hilfreich sind. Solche
Glaubensüberzeugungen werden hier durch Sterne dargestellt.
Es ist die Pointe des Neun-Punkte-Problems, dass es die externen Bezugspunkte für die
Lösung des Problems braucht. Für die pastorale Methodik bedeutet dies, dass es nicht genügt,
in etwas erhöhtem, erbaulichem Ton von den Realitäten der Welt zu sprechen. Vielmehr ist
von ihnen aus jene Glaubensperspektive zu entdecken, die zu einem echten „Reframing“
führen kann.
In der Lösungsstrategie des Neun-Punkt-Problems treten die Sterne aber erst dann hervor,
wenn der Stift bei den Punkten ansetzt. Wie oben beschrieben ist der erste Schritt das
„Sehen“. Erst wenn von der Pluralität heutiger Lebensrealitäten aus Ausschau gehalten wird,
lässt sich erkennen, welche Gehalte, Formulierungen, Einsichten des Glaubens sich mit den
gelebten Situationen in Verbindung bringen lassen. Im Rahmen der hier beschriebenen
26
Die Veranschaulichung durch das Neun-Punkte-Problem soll die Wirklichkeiten, die durch die Punkte
dargestellt werden, nicht schlechthin als problembehaftet identifizieren. Es kann sich auch um positive
Einsichten und Sensibilitäten der zeitgenössischen Kultur handeln.
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Erkenntnisbewegung haben die Fragen, Leiden, Träume und Sorgen der Menschen (s.o.
Abschnitt 1.) hermeneutischen Wert, um die Hoffnungen und Verheissungen des Glaubens
überhaupt wahrnehmen und verstehen zu können.
Um die Rückwirkung des pastoralen „Sehens“ auf die Glaubenserkenntnis zu verdeutlichen,
lässt sich die Grafik noch etwas abwandeln. Der christliche Glaube ist ja nie nur Horizont.
Glaubende stehen in traditionellen Glaubenswelten, deren Kristallisationspunkte (hier
dargestellt durch Quadrate) in anderen Kontexten gewachsen sind und darin hilfreich waren.
Das Eingehen auf die zeitgenössischen Situationen nötigt nun aber dazu, diese vorgegebenen
Kristallisationen des christlichen Glaubens zu überprüfen bzw. neu zu formulieren, damit der
Glaube in seiner Relevanz für zeitgenössische Lebenswelten erkennbar wird. In Erkenntnis
der kulturell oder epochal gewandelten Problempunkte müssen die traditionellen
Glaubensaussagen bewegt oder ergänzt werden.
Das Quadrat rechts oben steht für eine Glaubenserkenntnis, die nur um weniges verschoben,
re-formuliert werden muss, damit sie sich (nun als Stern) für die Erschliessung von
zeitgenössischen Lebenssituationen eignet. Ein Beispiel könnten die christologischen
Schlüsseltexte von Gaudium et spes (GS 22; 32; 38; 45) sein, die zwar im Rahmen des
chalkedonensischen Dogmas stehen, im Licht der zeitgenössischen Fragen jedoch das
Menschsein Jesu in neuer Weise akzentuieren.
Das Quadrat rechts unten lässt sich für eine bestimmte Problemkonstellation nicht
erschliessen. Dafür – und dies ist höchst bedeutsam – wird die Aufmerksamkeit durch das
Eingehen auf die zeitgenössischen Problemwelten – gewissermassen abduktiv – in eine
Richtung gelenkt, die bislang vernachlässigt war. Hier wird nun ein „Stern“ identifizierbar,
der vorher nicht wahrgenommen wurde. So führt die Auseinandersetzung mit ökologischen
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Problemen in der Enzyklika „Laudato si“ (2015) zu einer neuen Aufmerksamkeit für bis anhin
übersehene Implikationen des Schöpfungsglaubens.
Schliesslich eignet sich das Neun-Punkte-Problem dazu, die wechselseitige Beziehung von
Pastoral und Dogma als fortdauernden Prozess darzustellen, der mit gegenseitiger
Bereicherung (vgl. GS 40-44) einhergeht. Es braucht mehrere Linien in unterschiedlichen
Richtungen, um die „Lösung“ herbeizuführen. In der theologischen Transposition lässt sich in
beiden Richtungen ein „Sehen“ und „Urteilen“ beschreiben. Die von Lebensrealitäten aus neu
gesehenen Glaubenseinsichten tragen ihrerseits zur Identifikation von zeitgenössischen
Problemlagen bei, die wiederum die Aufmerksamkeit auf andere Aspekte des Glaubens
lenken. Wäre diesbezüglich ein Prozess vorstellbar, in dem die Wahrnehmung demokratischer
Systeme der zeitgenössischen Gesellschaft zur Ausprägung von synodalen Strukturen in der
(römisch-katholischen) Kirche beiträgt, wodurch es umgekehrt möglich werden könnte, einen
eigenen Beitrag zur Optimierung demokratischer Kultur (z.B. in der Auseinandersetzung
zwischen liberalem und deliberativem Demokratiemodell) zu leisten27?
Fazit
Das Neun-Punkte-Problem vermag – illustrativ, nicht begründend – der Methodik pastoral
orientierter Theologie eine Darstellung zu geben, welche die unreduzierbare Bedeutung beider
Bezugspunkte („Pastoral“ und „Dogmatik“) ebenso veranschaulicht wie den Prozess ihres
wechselseitigen Bezugs. Die so gewonnene Visualisierung könnte einen Beitrag leisten, die
anfänglich erwähnten Unsicherheiten über die Methode zu überwinden.
27
Siehe (in innerkirchlicher Perspektive) Bernhard Waldmüller: Deliberatio – eine Kultur der Kommunikation in
der Kirche? In: SKZ 174 (2006) 109-117.
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