Zur Methode pastoral orientierter kirchlicher Lehre Von Eva-Maria Faber Seit dem II. Vatikanischen Konzil gibt das Postulat eines pastoralen Lehramtes, welches – abgekürzt gesagt – „Dogma“ und „Pastoral“ verbindet, zu denken. Obwohl es nachkonziliar vielfältig fruchtbar wurde und Gegenstand intensiver Reflexion war, hatte und hat die Umsetzung in die Praxis kirchlichen Lehrens mit Gegenwind zu kämpfen. Ein Grund mag nachlassender Elan für den konstruktiven Dialog mit der zeitgenössischen Kultur und Gesellschaft sein. Es macht sich aber auch Unsicherheit über die Methode als solche bemerkbar. Wie gelingt es ihr, Glaube und Zeichen der Zeit in eine wechselseitige Beziehung zu bringen? Hat der Glaube wirklich erschliessende Kraft für die Welt von heute? Wie entgeht die Suche nach Aggiornamento dem Verdacht, einer Anpassung an den Zeitgeist Vorschub zu leisten? Geht die Aufmerksamkeit für die Lebenswirklichkeiten der Menschen nicht doch auf Kosten der Identität des Glaubens? Die Fragen lassen erkennen, wo Schwierigkeiten und möglicherweise auch Widerstände gegenüber einer pastoralen lehramtlichen Methodik liegen. In diesem Kontext ist es das begrenzte Anliegen des hier vorgelegten Beitrags, eine vereinfachende Veranschaulichung der Methode vorzulegen (3.). Dazu bedarf es einer Vergewisserung zum Prinzip der „Pastoralität“ des II. Vatikanischen Konzils (2.), der eine aktuelle Ermutigung zu dieser Erkenntnisform durch Papst Franziskus (1.) vorangeschickt wird. 1. Papst Franziskus: Der hermeneutische Wert der Pastoral Die zurückliegende Bischofssynode 2015 wich der Herausforderung zu einer wechselseitigen Beziehung von Lehre und Pastoral weitgehend aus1. Dies gilt indes nicht für Aussagen, in denen Papst Franziskus mit Blick auf die Bischofssynode bzw. in ihrem Umfeld die Eigenart pastoral orientierter Lehre beschrieb. „Vom Heiligen Geist erbitten wir für die Synodenväter vor allem die Gabe des Hörens: des Hörens auf Gott, so dass wir mit Ihm den Schrei des Volkes hören; des Hörens auf das Volk, so dass wir dort den Willen wahrnehmen, zu dem Gott uns ruft“, mit diesen Worten benannte Papst Franziskus bei der Vigil zur Bischofssynode 2014 die Anliegen seines Gebetes und 1 Vgl. Eva-Maria Faber: Komplexen Situationen gerecht werden. In: SKZ 183 (2015) 654-657.672-674. Theologie und Seelsorge Internetzeitschrift der Theologischen Hochschule Chur www.thchur.ch 5. März 2016 2 damit auch die Zielrichtung der Synode2. Damit beschreibt der Papst den zweifachen Vollzug des pastoralen Lehramtes als Hören auf Gott und auf das Volk3. Das Hören auf Gott steht dabei nicht neben dem Hören auf das Volk (mit der nachfolgenden Schwierigkeit, wie beides zu vermitteln wäre). Vielmehr leitet das Hören auf Gott zum Hören auf das Volk bzw. in die Geschichte, damit in diesem Hören auf das Volk der Wille Gottes wahrgenommen werde. Vor der Bischofssynode 2015 thematisierte Papst Franziskus den notwendigen „Eifer für Pastoral und Lehre“4. Wie er deren Verhältnisbestimmung sieht, hatte er im September 2015 in einer Videobotschaft für einen internationalen theologischen Kongress an der katholischen Universität in Buenos Aires verdeutlicht5. Darin verurteilt er jeden Versuch, die Beziehung zwischen der empfangenen Tradition (im Italienischen grossgeschrieben und als jener lebendige Strom, der uns mit dem Ursprung verbindet, ausgelegt) und der konkreten Wirklichkeit (unterschiedlicher Kulturen bzw. der Realität „hier und heute“) zu brechen oder zu reduzieren. Andernfalls drohe die Theologie zur Ideologie zu werden. In anderen Begrifflichkeiten mahnt Papst Franziskus, Theologie und Pastoral bzw. Glaube und Leben nicht auseinanderzudividieren. Die Begründung dafür formuliert er inkarnatorisch: Es sei für die gegebene Situation neu zu bedenken, „wie das Christentum Fleisch wird“. Die „Begegnung“ zwischen Lehre und Pastoral sei konstitutiv für eine ekklesiale Theologie, weil die pastorale Wahrnehmung der konkreten Lebenswirklichkeiten erschliessende Kraft für den Glauben habe: „Die Fragen unseres Volkes, seine Leiden, seine Kämpfe, seine Träume, sein Ringen, seine Sorgen besitzen einen hermeneutischen Wert, den wir nicht übersehen dürfen, wenn wir das Prinzip der Inkarnation ernst nehmen wollen. […] All das hilft uns, das Geheimnis des Wortes Gottes zu vertiefen“. Die Videobotschaft von Papst Franziskus steht im Zusammenhang mit dem 50-Jahr-Jubiläum des II. Vatikanischen Konzils, dessen Wegweisung für ein pastorales Lehramt nun zu umreissen ist. 2. Annäherungen an die Methode der Pastoralkonstitution des II. Vatikanum Papst Johannes XXIII. gab dem II. Vatikanischen Konzil in seiner Eröffnungsrede den Auftrag, sich um ein vertieftes Glaubensverständnis zu bemühen. Dabei postulierte er – in gegenläufigen Aussagen – einen „Sprung nach vorwärts“ ebenso wie „Geduld“. Auf die 2 http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/october/documents/papafrancesco_20141004_incontro-per-la-famiglia.html (4.10.2014). Die Internetquellen wurden alle am 30.12.2015 geprüft. Die Daten hinter der URL beziehen sich auf das Publikationsdatum. 3 Hier dürfte zunächst das Volk Gottes gemeint sein. Der weitere Verlauf des Textes thematisiert darüber hinaus die pastorale Verantwortlichkeit, „sich die Fragen zu eigen zu machen, die dieser Epochenwandel mit sich bringt“, womit eine nur binnenkirchliche Perspektive überschritten wird. 4 http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2015/october/documents/papa-francesco_20151005_padrisinodali.html (5.10.2015). 5 Vgl. http://w2.vatican.va/content/francesco/it/messages/pont-messages/2015/documents/papafrancesco_20150903_videomessaggio-teologia-buenos-aires.html (3.9.2015). Theologie und Seelsorge 5. März 2016 3 drängende Zeit weist das Bild des „Sprungs“ nach vorwärts, dessen Dynamik so anstössig schien, dass die Formulierung in der vorgetragenen lateinischen Übersetzung ausgelassen wurde. Das Postulat der Geduld macht deutlich, dass eine nachhaltige Anstrengung notwendig sein würde, um „alles [!] im Rahmen und mit den Mitteln eines Lehramtes von vorrangig pastoralem Charakter“ zu prüfen6. Ob Papst Johannes XXIII. ahnte, wie sehr die Geduld nicht nur wegen des umfassenden Gegenstandsbereichs, sondern auch für die Entwicklung des pastoralen Lehramtes selbst gefordert war? In Aufnahme der Eröffnungsansprache schlug Kardinal Augustin Bea in einem Memorandum dem Papst vor, das gesamte Konzilsprogramm an der pastoralen Zielsetzung auszurichten7. Das Konzil orientierte sich dann zwar stärker an der von Kardinal Léon-Joseph Suenens vorgeschlagenen Unterscheidung der beiden Perspektiven „ad intra“ und „ad extra“, doch spätestens bei der Entwicklung und Diskussion der Pastoralkonstitution Gaudium et spes wurde die Herausforderung des „pastoralen Lehramtes“ wieder explizit. 2.1. Die Textgattung der Pastoralkonstitution Das Konzil qualifizierte seine Reflexionen über die „Kirche in der Welt von heute“ als Pastoralkonstitution. Bei jenen, welche den im Begriff der Konstitution beanspruchten Verbindlichkeitsgrad nicht auf pastorale Fragen anwenden wollten, stiess diese Einstufung auf Kritik. Als sie am 19. November 1965 zum Gegenstand einer eigenen Abstimmung wurde, waren jedoch mehr als zwei Drittel der Konzilsväter damit einverstanden8. Mit dem Genre der Pastoralkonstitution war eine Textgattung gefunden, die dem Ertrag des pastoralen Lehramtes entspricht. Der Konzilstheologe Marie-Dominique Chenu begrüsste die neue Kategorie, mit der eine „unglückliche und sinnlose Trennung von Dogma und Pastoral bereinigt“ und dem stets geschichtlich verorteten Sein der Kirche Rechnung getragen werde9. 6 Papst Johannes XXIII.: „Gaudet Mater Ecclesia“. In: Ludwig Kaufmann; Nikolaus Klein: Johannes XXIII. Prophetie im Vermächtnis. Fribourg: Exodus, 1990, 107-150, 136f: „Aber von einer wiedergewonnenen, nüchternen und gelassenen Zustimmung zur Lehrtradition der Kirche […] erwarten jene, die sich auf der ganzen Welt zum christlichen, katholischen und apostolischen Glauben bekennen, einen Sprung nach vorwärts, der einem vertieften Glaubensverständnis und der Gewissensbildung zugute kommt. Dies soll zu je grösserer Übereinstimmung mit dem authentischen Glaubensgut führen, indem es mit wissenschaftlichen Methoden erforscht und mit den sprachlichen Ausdrucksformen des modernen Denkens dargelegt wird. Denn eines ist die Substanz der tradierten Lehre, d.h. des depositum fidei; etwas anderes ist die Formulierung, in der sie dargelegt wird. Darauf ist – allenfalls braucht es Geduld – grosses Gewicht zu legen, indem alles im Rahmen und mit den Mitteln eines Lehramtes von vorrangig pastoralem Charakter geprüft wird“. 7 Vgl. Giuseppe Alberigo: Concilio acefalo? L’evoluzione degli organi direttivi del Vaticano II. In: ders.: Il Vaticano II fra attese e celebrazione. Bologna: Società editrice Il Mulino, 1995, 193-238, 196-200.219-224; Christoph Theobald: La réception du concile Vatican II. Bd. 1: Accéder à la source. Paris: Cerf, 2009 (Unam Sanctam. Nouvelle série), 281-283 sowie zur Pastoralität insgesamt 281-363. 8 Vgl. Hans-Joachim Sander: Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes. In: HThKVatII 4,581-886, 646-650.674.685-687. 9 Marie-Dominique Chenu: Peuple de Dieu dans le monde. Paris: Cerf, 1966 (Foi Vivante 35), 17; vgl. 13-18. Siehe zur herausragenden Rolle von Marie-Dominique Chenu für die pastorale Wende theologischen Denkens Christian Bauer: Pastorale Wende? Konzilstheologische Anmerkungen. In: Ders. (Hrsg.); Michael Schüssler (Hrsg.): Pastorales Lehramt? Spielräume einer Theologie familialer Lebensformen. Ostfildern: Grünewald, 2015, Theologie und Seelsorge 5. März 2016 4 Hans-Joachim Sander fasst das Konzept in ein erhellendes Bild: „Eine ‚constitutio pastoralis‘ ist eine Ellipse mit zwei Brennpunkten: Ihre Glaubensaussagen werden im Kontrast zwischen speziellen humanen Problemen gesellschaftlichen Lebens und generellen christlichen Wahrheiten gewonnen. Sie ist zeitabhängig und steht zugleich in Differenz zur geschichtlichen Situation“10. Mit dem Bild der Ellipse unterstreicht Sander die „Relativitätsprobleme“11, die dem II. Vatikanum durch Hinwendung zu den Lebensrealitäten und -einstellungen ausserhalb der Kirche entstanden. Es war gefordert, die „Wahrheit des Glaubens“ und die „Wirklichkeit des Lebens“ zu verbinden, wie es Bischof Gabriel Garrone am 25. September 1965 in seiner Relatio zur erneuten Vorlage der Pastoralkonstitution in der Konzilsaula formulierte12. Entscheidend für die methodische Pointe dieser Verbindung ist die Überwindung einer einseitigen Bewegungsrichtung vom Dogmatischen zum Pastoralen zugunsten einer Wechselseitigkeit, in der dogmatische und pastorale Perspektive einander erschliessen: „Dogma und Pastoral durchdringen und intensivieren sich wechselseitig“13. Zu fragen ist also nicht nur, was der Glaube zu konkreten Lebenssituationen beizutragen hat, sondern auch umgekehrt, inwiefern solche Situationen erschliessende Kraft für den Glauben in seinem Selbstverständnis und in seinen Ausdrucksmöglichkeiten haben. 2.2. Methodische Konsequenzen Eine Theologie, die sich auf zeitbedingte geschichtliche Gegebenheiten beziehen möchte, muss sich darüber in ihrer Methodik Rechenschaft ablegen. Dies geschah im Kontext von Gaudium et spes durch die Identifikation der Geschichte als „theologischer Ort (locus theologicus)“. Wie Christian Bauer erhellend gezeigt hat, bahnte der französische Dominikaner Marie-Dominique Chenu dafür schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Weg, indem er die loci theologici durch „theologische Praxisorte“ (lieux théologiques en acte) erweiterte14. Gemeint sind Orte christlicher und sozialer Praxis ebenso wie allgemein geschichtliche Erfahrungen, die sich, wenn sie in theologische Erkenntnisprozesse Eingang finden, dort mit eigener Autorität geltend machen. Für die Konzeption von Gaudium et spes wurde diese neue Wertung fundamental. In ihr werden „ausserkirchliche Lebenskontexte in ihrer Neuheit und Fremdheit […] Bezeugungs9-49, 17-21, sowie zum Ansatz von Chenu Christian Bauer: Ortswechsel der Theologie. M.-Dominique Chenu im Kontext seiner Programmschrift „Une école de théologie: Le Saulchoir“. Münster: Lit, 2010 (Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik 42). 10 Sander, Kommentar 704. 11 Sander, Kommentar 593. 12 Vgl. Gabriel Garrone: Relatio generalis. In: AS 4/1,553-559, 557. 13 Bauer, Wende 11; vgl. Sander, Kommentar 594: „Damit geht eine Relativität zwischen den konkreten Situationen vor Ort und den Glaubensaussagen einher; sie müssen zueinander passen“. Siehe zur Verschränkung von pastoraler und dogmatischer Zielsetzung die Fussnote am Beginn von Gaudium et spes und dazu Sander, Kommentar 687f. 14 Vgl. Bauer, Wende 25.32.39-44 sowie ders., Ortwechsel 723-730. Theologie und Seelsorge 5. März 2016 5 und Erschliessungsinstanzen christlicher Glaubenswahrheit“, oder mit den Anfangsworten von Gaudium et spes formuliert: „In der ‚Freude und Hoffnung, Trauer und Angst‘ (GS 1) der heute lebenden Menschen zeigt sich etwas, das die Jüngerinnen Christi unbedingt angeht. Die Lebensrealität heute ist in einem fundamentalen Sinn locus theologicus und nicht bloss Objekt ‚pastoraler Sorge‘“15. Sehen – Urteilen – Handeln Um dem theologischen Ort der Geschichte gerecht zu werden, stand zur Zeit des Konzils die Methode „Sehen – Urteilen – Handeln“ bereit. Diese Methode war von Jozef Cardijn im Kontext der Bewegung der Jeunesse Ouvrière Chrétienne in Belgien und Frankreich entwickelt worden. Er brachte sie zuerst als Konzilsperitus, seit 1965 als Kardinal und Konzilsvater ins Konzil ein16. Cardijn identifiziert das Leben selbst als Grundlage einer gesunden Theologie: „Die Entdeckung von Tatsachen und realen Sachverhalten“ müssen Ausgangspunkt für die nachfolgende christliche Stellungnahme sein, die ins Handeln mündet17. Für die Pastoralkonstitution Gaudium et spes erwies sich die Methode in dem Moment als ein Schlüssel, als das problemvermeidende Modell, zeitbedingte Darlegungen in einen nicht mehr vom Konzil zu verantwortenden Anhang („Adnexa“) zu verweisen, aufgegeben wurde. Um dogmatische Perspektive und Reflexion der Zeitsituation miteinander in Beziehung zu setzen, bot sich der Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“ an18. Die methodische Neuerung nimmt ihren Ausgang beim Entscheid, im ersten Schritt nicht die Glaubenslehre darzulegen, sondern die vorfindliche Lebensrealität zu analysieren. Demgegenüber scheint es weniger aufsehenerregend, wenn der Glaube im zweiten Schritt ins Spiel gebracht wird, um den dritten Schritt des „Handelns“ zu ermöglichen. Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch gerade dieser zweite Schritt als überaus anspruchsvoll. Denn die Perspektive des Glaubens wird nicht nur in einer anderen Abfolge der traditionellen Schritte eingebracht; vielmehr gerät sie – in Konsequenz der beschriebenen Wechselseitigkeit der Bezüge – nun unter den Anspruch des ersten Schrittes. Es muss gezeigt werden, welche Relevanz der Glaube angesichts von bestimmten Zeitsituationen hat und wie in diesen Situationen aufgrund des Glaubens alternative Handlungsperspektiven auftauchen. Deduktion – Induktion – Abduktion Die geforderte Erneuerung der theologischen Methodik lässt sich an der Frage verdeutlichen, welche Art von Schlussverfahren zum Einsatz kommt. Der Entscheid, mit der Wahrnehmung der zeitgenössischen Welt zu beginnen und erst dann die Perspektive des Glaubens 15 Franz Gmainer-Pranzl: Jesus Christus – die Aufklärung des Menschen? Überlegungen zu einer christologischen Neuorientierung von Gaudium et spes. In: ders. (Hrsg.); Magdalena Holztrattner (Hrsg.): Partnerin der Menschen – Zeugin der Hoffnung. Die Kirche im Licht der Pastoralkonstitution Gaudium et spes. Innsbruck: Tyrolia, 2010 (Salzburger Theologische Studien 41), 147-183, 148. 16 Vgl. seine Konzilsrede am 20.9.1965: AS 4/1,406-408. 17 Vgl. Josef Cardijn: Laien im Apostolat. Kevelaer: Butzen & Bercker, 1964, 160f. 18 Vgl. Sander, Kommentar 640f.707. Theologie und Seelsorge 5. März 2016 6 einzubringen, kehrt die Denkrichtung von einer deduktiven zu einer induktiven Vorgehensweise um. Die deduktive Methode schliesst von einer Prämisse auf davon abgeleitete lehrhafte oder praktische Konsequenzen. Die Richtung des Denken geht von der Theorie zur Empirie, vom Allgemeinen auf das Besondere. Das Gesetz führt zu einer Folgerung, die auf einen Fall angewandt wird. Theologisch gesprochen werden aus einem übergeordneten Glaubenssatz andere Glaubenssätze oder konkrete Anweisungen abgeleitet. Demgegenüber arbeitet die Induktion mit Schlussfolgerungen aus beobachteten Phänomenen auf eine allgemeinere Erkenntnis. Die Richtung geht von der Empirie zur Theorie, vom Besonderen auf das Allgemeine. Einzelne Fälle sind Ausgangspunkt einer Folgerung, die als Gesetz verallgemeinert werden kann. Theologisch werden auf einem solchen induktiven Weg die Situationen bzw. die Zeichen der Zeit zur Basis theologischer Erkenntnis. So hilfreich der Vergleich von deduktiver und induktiver Methode ist, um den neuen Ansatz zu verstehen, so problematisch ist theologisch gesehen in beiden Methoden der Anspruch, über eine präzise definierte Denkoperation einen neuen Erkenntnisstand zu erreichen. Hier führt, wie Hans-Joachim Sander und Christian Bauer zeigen19, das von Charles Sanders Peirce beschriebene Schlussverfahren der Abduktion weiter. Die Abduktion stellt sich Phänomenen, die sich (noch) nicht in einer allgemeinen Theorie erklären lassen, und nimmt sie zum Anlass einer Denkbewegung hin auf eine Lösung, die selbst noch nicht auszumachen ist. Der bisherige Erkenntnisstand wird also überstiegen, obwohl eine neue Erkenntnis noch nicht vorliegt. Anders als die Deduktion geht die Abduktion nicht von definierten Prämissen aus; anders als die Induktion beansprucht die Abduktion aber auch nicht, dass eine allgemeine Einsicht durch geradlinige Folgerungen aus der Situation gewonnen werden kann. Vielmehr werden vorläufige Hypothesen gebildet, die sich bewähren müssen. Der Abduktion eignet somit „schwache Stringenz, weil sie auf neues, noch unerprobtes Gelände geht“. Dadurch aber kann sie „auf Erfahrungen, Realitäten, Tatsachen reagieren, die nicht in das Bild der bisherigen Überzeugungen und Wahrheitspositionen passen“20. Damit wird der theologische Erkenntnisweg stärker als Suchbewegung beschrieben, die über ihre Ergebnisse nicht von vornherein verfügt und in ihrem hypothetischen Urteilen Risiken eingeht. Der Anspruch und seine Schwierigkeiten Die mit der Methodik pastoral orientierter Lehre verbundenen Schwierigkeiten liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Eine erste – hier nicht weiter vertiefte21 – Schwierigkeit betrifft die Wahrnehmung der Zeitsituationen. Wie kann deren Analyse – theologisch und im Dialog mit 19 Vgl. Bauer, Ortswechsel 814-837; Sander, Kommentar 698f. Sander, Kommentar 698; vgl. Bauer, Lehramt 24. 21 Siehe z.B. Theobald, Réception 819-834. 20 Theologie und Seelsorge 5. März 2016 7 empirischen Wissenschaften – geleistet werden? Wie lassen sich die Zeichen der Zeit identifizieren? Eine zweite Schwierigkeit stellt sich – wie bereits angedeutet – ein, wenn der Glaube ins Spiel gebracht werden soll. Nicht von ungefähr kritisierte Elmar Klinger in einem Interview, die Methode „Sehen – Urteilen – Handeln“ werde oftmals nicht adäquat eingesetzt. Dabei ortet er die Probleme beim Urteilen. Man sehe vieles richtig und der Wille zum Handeln sei vorhanden, man riskiere aber keine Urteile. „Urteile setzen Kenntnisse voraus und sind ein Standpunkt. Sie müssen in der gegenwärtigen Situation bedeuten, dass man in der Pastoral Dogmatisches und in der Dogmatik Pastorales aus der jeweiligen Perspektive und mit der entsprechenden Legitimation verbunden vertritt“22. Weil das Urteilen riskant ist und sich nicht schon selbst aus pastoralen Wahrnehmungen ergibt, wird es sinnvollerweise als abduktiver Vorgang beschrieben. Dabei liegt der entscheidende Punkt darin, im Blick auf zeitgenössische Situationen und Problemlagen eine spezifisch christliche Perspektive einzubringen, die für die Gestaltung und Bewältigung dieser Situationen relevant ist. Die folgenden Überlegungen betreffen diese Herausforderung. Beansprucht wird dabei nicht, die theoretische Reflexion voranzutreiben. Es geht lediglich darum, die formale Relationierung zwischen Zeitdiagnose und Glaubensperspektive mit Hilfe des bekannten „Neun-Punkte-Problems“ zu veranschaulichen, um so die „Fähigkeit zum Ortswechsel vom Innen ins Aussen und vom Aussen ins Innen“23 zu fördern. Die Identifikation von neuralgischen Kennzeichen bestimmter Zeitsituationen wird dabei vorausgesetzt. 3. Veranschaulichung In der Studie „Lösungen“ veranschaulicht ein Forscherteam um Paul Watzlawick am NeunPunkte-Problem, wie wichtig es bei der Bearbeitung von Problemen ist, aus dem vermeintlich abgesteckten Rahmen der Problemsituation herauszutreten24. Das Neun-Punkte-Problem stellt als Aufgabe, neun im Quadrat angeordnete Punkte mit vier geraden Linien miteinander zu verbinden, ohne den Stift abzusetzen. 22 Elmar Klinger: Mich hat an der Theologie immer das Extreme interessiert. Elmar Klinger befragt von Rainer Bucher. Würzburg: Echter, 2009, 98. 23 Sander, Kommentar 701. 24 Vgl. Paul Watzlawick; John H. Weakland; Richard Fisch: Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern: Huber, 72009, 43-47.105. Im Austausch mit Christian Bauer bin ich darauf gestossen, dass er das Neun-Punkte-Problem ebenfalls veranschaulichend für die Herausforderung pastoral orientierter Theologie aufnimmt, wenngleich in andersartiger Verwendung: vgl. Ortssuche 827-829 sowie ders.: Denken in Konstellationen? Pastoraltheologie als kontrastiver Mischdiskurs. In: PThI 36 (2016) Nr. 1. Theologie und Seelsorge 5. März 2016 8 Die spontan versuchten Problemlösungen scheitern in der Regel daran, dass sie die Aufgabe im Binnenraum der neun Punkte zu erfüllen versuchen. Dann aber vermögen vier Linien nicht alle Punkte zu erfassen. Eine Lösung ist erst dann möglich, wenn die nicht formulierte und nur fälschlicherweise vorausgesetzte Regel durchbrochen und das Binnensystem der neun Punkte überschritten wird. Im Rahmen der Reflexionen Watzlawicks dient das Neun-Punkte-Problem dazu, eine Problem- und Konfliktbearbeitung anzuleiten, die sich aus der gegebenen Konstellation „erster Ordnung“ löst, um eine Lösung „zweiter Ordnung“ anzustreben. Dabei will Watzlawick auch darauf hinaus, dass eine Problemlösung dann möglich ist, wenn Menschen sich als fähig ansehen, den Rahmen von Situationen umzudeuten. Erst eine neue Wirklichkeitswahrnehmung ermöglicht es, Veränderungen einzuleiten, die gegebene Probleme lösen können25. In theologischer Optik lässt sich die Unterscheidung von erster und zweiter Ordnung unschwer auf das Verhältnis von immanenter Weltbetrachtung und Glaubensperspektive transponieren. Religiöse Menschen nehmen zur Deutung und Bewältigung geschichtlicher Einzelphänomene und -fragen Bezug auf eine transzendente Wirklichkeit und finden darin Kraft, die Herausforderungen des Lebens zu bestehen. In diesem Sinne vertritt Gaudium et spes die Überzeugung, dass es im Licht Jesu Christi möglich ist, „das Geheimnis des Menschen zu erhellen“. Aufgrund dieses Lichtes kann die Kirche mitwirken dabei, „dass für die dringlichsten Fragen unserer Zeit eine Lösung gefunden wird“ (GS 10). Wichtig ist nun aber, dass GS 10 nicht behauptet, die Kirche könne schon eine fertige Lösung anbieten. Dies lenkt den Blick auf die vorhin thematisierte „abduktive“ Suchbewegung. Sie soll hier mit einer gewissermassen weitergedachten Fassung des Neun-Punkte-Problems 25 Vgl. Watzlawick, Lösungen 116-141. Theologie und Seelsorge 5. März 2016 9 veranschaulicht werden. Zu fragen ist, wie sich denn die Bezugspunkte für Lösungen zweiter Ordnung finden lassen. Dazu sind die neun Punkte hier als schematische Darstellung von vorgängig identifizierten Lebenswirklichkeiten zu lesen. Sie stellen glaubende Menschen und theologietreibende Personen und Instanzen vor die Frage, was der christliche Glaube zum Verständnis und zur Gestaltung der zeitgenössischen Phänomene und Probleme beitragen kann26. In der Grafik des Neun-Punkte-Problems scheint der Glaube zunächst nur scheinbar keine Darstellung zu finden. Sobald die systemüberschreitende Problemlösung in den Blick kommt, wird jedoch der gesamte Hintergrund, auf dem die neun Punkte gezeichnet sind, relevant. In der hier vorgelegten Transposition repräsentiert dieser Hintergrund (der wohlgemerkt auch hinter und zwischen den Punkten liegt!) jenen Horizont, der für glaubende Menschen im Glauben gegeben ist. Bedeutsam ist nun, dass dieser Horizont grösser ist, als es in einzelnen Glaubensüberzeugungen zum Ausdruck kommt. Die Kunst der pastoralen Methode liegt darin, in diesem Gesamthorizont des Glaubens jene Punkte zu identifizieren, die für eine konstruktive Verbindung mit den zeitgenössischen Lebenssituationen hilfreich sind. Solche Glaubensüberzeugungen werden hier durch Sterne dargestellt. Es ist die Pointe des Neun-Punkte-Problems, dass es die externen Bezugspunkte für die Lösung des Problems braucht. Für die pastorale Methodik bedeutet dies, dass es nicht genügt, in etwas erhöhtem, erbaulichem Ton von den Realitäten der Welt zu sprechen. Vielmehr ist von ihnen aus jene Glaubensperspektive zu entdecken, die zu einem echten „Reframing“ führen kann. In der Lösungsstrategie des Neun-Punkt-Problems treten die Sterne aber erst dann hervor, wenn der Stift bei den Punkten ansetzt. Wie oben beschrieben ist der erste Schritt das „Sehen“. Erst wenn von der Pluralität heutiger Lebensrealitäten aus Ausschau gehalten wird, lässt sich erkennen, welche Gehalte, Formulierungen, Einsichten des Glaubens sich mit den gelebten Situationen in Verbindung bringen lassen. Im Rahmen der hier beschriebenen 26 Die Veranschaulichung durch das Neun-Punkte-Problem soll die Wirklichkeiten, die durch die Punkte dargestellt werden, nicht schlechthin als problembehaftet identifizieren. Es kann sich auch um positive Einsichten und Sensibilitäten der zeitgenössischen Kultur handeln. Theologie und Seelsorge 5. März 2016 10 Erkenntnisbewegung haben die Fragen, Leiden, Träume und Sorgen der Menschen (s.o. Abschnitt 1.) hermeneutischen Wert, um die Hoffnungen und Verheissungen des Glaubens überhaupt wahrnehmen und verstehen zu können. Um die Rückwirkung des pastoralen „Sehens“ auf die Glaubenserkenntnis zu verdeutlichen, lässt sich die Grafik noch etwas abwandeln. Der christliche Glaube ist ja nie nur Horizont. Glaubende stehen in traditionellen Glaubenswelten, deren Kristallisationspunkte (hier dargestellt durch Quadrate) in anderen Kontexten gewachsen sind und darin hilfreich waren. Das Eingehen auf die zeitgenössischen Situationen nötigt nun aber dazu, diese vorgegebenen Kristallisationen des christlichen Glaubens zu überprüfen bzw. neu zu formulieren, damit der Glaube in seiner Relevanz für zeitgenössische Lebenswelten erkennbar wird. In Erkenntnis der kulturell oder epochal gewandelten Problempunkte müssen die traditionellen Glaubensaussagen bewegt oder ergänzt werden. Das Quadrat rechts oben steht für eine Glaubenserkenntnis, die nur um weniges verschoben, re-formuliert werden muss, damit sie sich (nun als Stern) für die Erschliessung von zeitgenössischen Lebenssituationen eignet. Ein Beispiel könnten die christologischen Schlüsseltexte von Gaudium et spes (GS 22; 32; 38; 45) sein, die zwar im Rahmen des chalkedonensischen Dogmas stehen, im Licht der zeitgenössischen Fragen jedoch das Menschsein Jesu in neuer Weise akzentuieren. Das Quadrat rechts unten lässt sich für eine bestimmte Problemkonstellation nicht erschliessen. Dafür – und dies ist höchst bedeutsam – wird die Aufmerksamkeit durch das Eingehen auf die zeitgenössischen Problemwelten – gewissermassen abduktiv – in eine Richtung gelenkt, die bislang vernachlässigt war. Hier wird nun ein „Stern“ identifizierbar, der vorher nicht wahrgenommen wurde. So führt die Auseinandersetzung mit ökologischen Theologie und Seelsorge 5. März 2016 11 Problemen in der Enzyklika „Laudato si“ (2015) zu einer neuen Aufmerksamkeit für bis anhin übersehene Implikationen des Schöpfungsglaubens. Schliesslich eignet sich das Neun-Punkte-Problem dazu, die wechselseitige Beziehung von Pastoral und Dogma als fortdauernden Prozess darzustellen, der mit gegenseitiger Bereicherung (vgl. GS 40-44) einhergeht. Es braucht mehrere Linien in unterschiedlichen Richtungen, um die „Lösung“ herbeizuführen. In der theologischen Transposition lässt sich in beiden Richtungen ein „Sehen“ und „Urteilen“ beschreiben. Die von Lebensrealitäten aus neu gesehenen Glaubenseinsichten tragen ihrerseits zur Identifikation von zeitgenössischen Problemlagen bei, die wiederum die Aufmerksamkeit auf andere Aspekte des Glaubens lenken. Wäre diesbezüglich ein Prozess vorstellbar, in dem die Wahrnehmung demokratischer Systeme der zeitgenössischen Gesellschaft zur Ausprägung von synodalen Strukturen in der (römisch-katholischen) Kirche beiträgt, wodurch es umgekehrt möglich werden könnte, einen eigenen Beitrag zur Optimierung demokratischer Kultur (z.B. in der Auseinandersetzung zwischen liberalem und deliberativem Demokratiemodell) zu leisten27? Fazit Das Neun-Punkte-Problem vermag – illustrativ, nicht begründend – der Methodik pastoral orientierter Theologie eine Darstellung zu geben, welche die unreduzierbare Bedeutung beider Bezugspunkte („Pastoral“ und „Dogmatik“) ebenso veranschaulicht wie den Prozess ihres wechselseitigen Bezugs. Die so gewonnene Visualisierung könnte einen Beitrag leisten, die anfänglich erwähnten Unsicherheiten über die Methode zu überwinden. 27 Siehe (in innerkirchlicher Perspektive) Bernhard Waldmüller: Deliberatio – eine Kultur der Kommunikation in der Kirche? In: SKZ 174 (2006) 109-117. Theologie und Seelsorge 5. März 2016
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