Allein in der Wildnis Im Dialog mit der Schöpfung auf Visionssuche Ausgangspunkt In den zahlreichen Gesprächen, die ich in meiner Tätigkeit als Diakon in der Männerarbeit der Nordelbischen Kirche geführt habe, tauchte bei vielen Männern die Bedeutung der Natur für ihr spirituelles Erleben auf. Dabei ging es weniger um die besonderen Erlebnisse z. B. in einer grandiosen Landschaft, sondern häufig um die Begegnungen mit der Pflanzen- und Tierwelt im Nahbereich. Eine naturbezogene, oder besser schöpfungsbasierte geistliche Praxis, die diese Erfahrungen aufnimmt, kommt aber in unseren kirchlichen Arbeitsfeldern so gut wie nicht vor. In Glaubenzusammenhängen sprechen wir allenfalls in Bildern, Symbolen oder Metaphern von der Natur. Eigentlich verwunderlich, denn an vielen Stellen in der Bibel wird von Gottes Gegenwart in seiner Schöpfung berichtet. Zwar haben sich Pilgerwege und Waldgottesdienste etablieren können, es handelt sich hierbei aber um Veranstaltungen in der Natur, die noch keinen Begegnungsraum mit der Natur eröffnen. Die unmittelbare Kontaktaufnahme mit der Natur, mit der Landschaft und dem Wetter, den Pflanzen und Tieren ist nicht Teil dieser Glaubenspraxis. Aber genau davon berichten die Männer und die biblischen Geschichten. Wenn wir Menschen mit ihren naturgebundenen Glaubenserfahrungen nicht nur ernst nehmen, sondern sie auch auf diesem Weg begleiten wollen, stellt sich die Frage nach dem Wie und dem angemessenen Rahmen. Ein von uns in diesem Zusammenhang entwickeltes, oder besser: neu belebtes Ritual, das sprachlich etwas schwerfällig als „Visionssuche“ daher kommt, soll hier vorgestellt werden. Das Ritual „Geh allein in die Wildnis, bleibe drei Tage und drei Nächte an deinem Platz und faste.“ So lautet die uralte Grundregel für dieses Ritual. Die Parallelen zur so genannten Versuchungsgeschichte Jesu, jener Prüfung, der er sich an der Schwelle zum Beginn seiner Missionstätigkeit unterzieht, sind sicherlich unverkennbar. Diese auch als Schwellenzeit bezeichneten Tage der Einkehr in der Natur sind eingebettet in eine längere Vorbereitungsphase und einen Nachklangs. Im Kern geht es darum einen Raum zu eröffnen, in dem Selbsterkenntnis, Heilung und geistliches Wachstum im Dialog mit der Schöpfung möglich werden. Wir gehen mit Gruppen von maximal acht Teilnehmern nicht in die Wüste, sondern in die „Wildnis“ Schwedens. Von dem festen Quartier begleiten wir die Männer durch die Vorbereitungszeit, sie begeben sich von hier aus auf die Suche nach ihrem Platz für die Schwellenzeit und hierher kehren sie danach wieder zurück. Die Vorbereitung auf die Zeit allein in der Wildnis beginnt aber schon ein gutes halbes Jahr vor der Reise nach Schweden. Bei einem ersten Treffen lernen wir Mentoren die Teilnehmer kennen und die Gruppe kann miteinander bekannt werden. Regelmäßig erhalten alle Weggefährten Briefe, die sie auf anstehende Themen wie Aufräumen, Loslassen, Abschied usw. vorbereiten und zum Einüben in den Schöpfungsdialog einladen. Die Tage der Vorbereitung in Schweden dienen vor allem der Entschleunigung, dem Einfühlen in die Landschaft und dem Aufspüren der zentralen Themen der einzelnen Teilnehmer für ihre Zeit allein in der Wildnis. Ferner gehören dazu seelsorgerliche Einzelgespräche und Übungen zur Sensibilisierung für die „Sprache“ der Natur. Am Beginn der drei Tage und drei Nächte, die jeder allein an seinem Platz in der Natur verbringt, steht die Aussendung mit einer Segenshandlung. Für die Zeit des Alleinseins haben wir ein Sicherheitssystem entwickelt, dass täglich eine Rückmeldung an uns Mentoren ermöglicht, ohne in direkten Kontakt treten zu müssen. Die Teilnehmer bleiben die ganze Zeit ungestört. Am Tag der Rückkehr empfangen wir die Männer mit einem Segensritual und lassen ihnen viel Zeit, damit auch ihre Seelen nachkommen können. Mit dem Erzählen der Geschichten und dem Verankern des Erfahrenen schließt dieser Teil ab. Vor der Abreise aus Schweden holen wir die Männer noch etwas weiter in den Alltag zurück und feiern das Neuhinzugewonnene. Reflexion Die Motivation zur Teilnahme an diesem Ritual ist vielfältig und sehr bunt. Manche Teilnehmer bewegt eine konkrete Frage, andere befinden sich in einem Lebensübergang oder haben eine existenzielle Krise zu bewältigen. Häufig ist es aber auch „nur“ ein unbestimmtes, aber sehr klares Gefühl, dass dieser Weg jetzt „dran“ ist. Dementsprechend offen halten wir die einzelnen Schritte hin zu der Zeit allein in der Wildnis, und zwar von den konkreten Anweisungen wie auch von der Wortwahl her. Außerdem verändern sich häufig die Themen noch im Fortschreiten durch das Ritual. Sowohl in der seelsorgerlichen Begleitung einzelner wie auch bei der Auswahl der Texte und Segensformeln für die Morgen- und Abendgebete nehmen wir die aktuellen Befindlichkeiten der Teilnehmer auf, setzen diese in Bezug zu der uns umgebenden Schöpfung und stellen sie in den Horizont unseres Glaubens. Die Anleitung zur Einübung in den Schöpfungsdialog variieren wir je nach Gruppenzusammensetzung. Haben wir überwiegend Sinnsuchende, aber eher kirchenferne Teilnehmer dabei, verzichten wir auf christliche Formeln und wählen offenere Umschreibungen. Aber gerade von kirchlich engagierten Menschen – z. B. Kirchenvorstandsmitgliedern – haben wir immer wieder gehört, wie sehr sie die Offenheit dieses Rituals einerseits und die Klarheit des Weges andererseits positiv überrascht hat. Insbesondere in der Ausbildung zukünftiger Visionssuchenleiter weisen wir darauf hin, dass dieses Ritual eine sehr eigene Gestalt hat. Es unterscheidet sich grundsätzlich von Gottesdiensten, von traditionellen wie „modernen“. Auch handelt es sich nicht um eine Bibelarbeit oder um einen Glaubenskurs. Am ehesten lässt es sich wohl als eine seelsorgerliche Wegbegleitung im umfassenden Sinn verstehen, wobei auch körperliche und geistige Aspekte mit einbezogen werden. Wer Menschen durch dieses vielschichtige und komplexe Rituals führen will, braucht unbedingt eine entsprechende Ausbildung. Ferner sind neben theologischen und pädagogischen Kenntnissen auch Erfahrung in der Gruppenleitung und seelsorgerliche Kompetenz wichtige Voraussetzungen. Entscheidender aber ist fast noch die Haltung, mit der die Leitenden den Teilnehmenden begegnen. Letztendlich besteht die Hauptaufgabe der Mentoren darin, die Suchenden auf die Begegnung und den Dialog mit der großen Lehrmeisterin, der Schöpfung (und schlussendlich mit Gott), vorzubereiten und sie beim Verstehen des Erfahrenen zu unterstützen. Der Ertrag Was Menschen während ihrer Zeit allein in der Wildnis widerfährt, lässt sich nur narrativ wiedergeben. Ein kleinerer Teil ist meist Bericht, abgefasst wie ein Reisebericht. Innere Prozesse, Träume oder Tagträume kleiden die meisten in Bilder oder kleine Szenarien. Von sehr starken seelischen Bewegungen oder emotionalen Erschütterungen berichten die Männer überwiegend in einer mythischen Sprache, die der der alten Mystiker sehr nahe kommt. Damit bewegen wir uns zumindest sprachlich zwar nicht auf Neuland, aber doch in einem gerade von uns Lutheranern eher vernachlässigten geistlichen Erfahrungsraum. Einige Bilder, die die Männer benutzen, erinnern stark an biblische Geschichten, wie z. B. die im Abendrot erglühende Kiefer an den Dornenbusch der brennt/nicht brennt. Bibelfeste Teilnehmer haben oft keine Scheu, in solchen Zusammenhängen von der Nähe Gottes zu reden, die sie in solchen Momenten erleben. Andere Teilnehmer träumen von Gottes Nähe. Wieder andere benutzen für ihre Glaubenserfahrungen Bilder aus anderen Traditionen oder andern Kulturen. Heilung erfahren die meisten Männer schon dadurch, dass sie für eine längere Zeit im Schoß der Natur verweilen, weitgehend unbehaust und in direktem Kontakt zu Felsen, Moosen, Bäumen und Tieren. In der Natur herrscht ein anderes Zeitmaß. Alleine dies führt in eine tiefe, erholsame Entspannung. Die Farben der Umgebung, das wechselvolle Licht, die Waldluft, all dies ist Balsam für die Seele und beruhigt den Geist. Das Fasten reinigt den Körper und schärft die Sinne. Spätestens in der dritten Nacht verändern sich die Träume, denn Körper, Geist und Seele sind jetzt in der Natur zu Hause. Nicht immer finden die Suchenden eine Lösung für ihre konkreten oder grundsätzlichen Fragestellungen. Aber alle finden einen Weg, der dorthin führt. Manches klärt sich erst später, bei der Rückkehr in den Alltag. Nur sehr wenige haben nach der Visionssuche einen Teil ihres Lebens nachhaltig verändert. Dies ist eher ein Ritual mit Langzeitwirkung. Die Grenzen Zur Vorbereitung gehört immer auch der Auftrag, die persönliche Belastbarkeit, körperliche wie seelische, zu überprüfen, gegebenenfalls auch mit einem Arzt oder einem Seelsorger Rücksprache zu halten. Dies gilt insbesondere für ältere Teilnehmer (wir hatten auch schon über Siebzigjährige dabei) und für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Aber grundsätzlich ist die innere Haltung entscheidend. Einigen Teilnehmern erscheint der Zeitraum von drei Tagen und drei Nächten sehr lang. Daher weisen wir im Vorwege nachdrücklich darauf hin, dass ein vorzeitiges Ende dieser Zeit kein Abbruch bedeutet und schon gar nicht als Versagen zu verstehen ist. Vielmehr kann der Entschluss, vor Ablauf der drei Tage ins Basislager zurückzukehren, ein wichtiger Schritt im persönlichen Reifungsprozess bedeuten. Es ist durchaus schon vorgekommen, dass Teilnehmer eine solche Entscheidung getroffen haben. Der Hintergrund Was genau mit Menschen geschieht, wenn sie für eine Zeit ihr Zuhause in der Natur gefunden haben und was dann in den oft überwältigenden Geschichten, die sie mitbringen, seinen Niederschlag findet, lässt sich nur schwer fassen. Dieser sehr komplexe und vielschichtige Prozess ist bisher nur bruchstückhaft erforscht. Es gibt mittlerweile dazu eine ganz Reihe von Theorien (Tiefenökologie, Gaiaprinzip, Naturphilosophie, bioenergetische Felder), die zum Teil auch Einzug in die wissenschaftliche Diskussion gefunden haben. So unterschiedlich diese auch sein mögen, eins haben sie gemeinsam: Alle Erklärungsmodelle postulieren, dass wir Menschen ein Teil des großen Lebensgewebes sind und unsere Existenz aufs Engste mit unserer Umwelt verbunden ist. Wir stehen nicht außerhalb der Schöpfung, sondern sind „lediglich“ Mitgeschöpfe, angewiesen auf alle anderen Mitgeschöpfe, Himmel und Erde, Sonne und Mond und so weiter. Und das nicht nur auf einer rein physischen Ebene, denn warum sonst haben die meisten von uns Pflanzen und Blumen in ihren Wohnungen. Auch unsere seelische Gesundheit hängt wesentlich von einer guten Beziehung zu unserer Umgebung, zu Baum und Strauch, Bach und See ab. Erste Therapieansätze, die in diese Richtung gehen, entwickeln sich gerade. Ganz eindeutig hat diese Auszeit in der Natur eine metamorphosische Wirkung. Es ist eine Zeit der Wandlung und Verwandlung. Aber immer kann nur das zum Vorschein kommen, was auch bereits in der jeweiligen Person angelegt ist. Ahnungen werden zur Gewissheit, Träume lebbar, Vergangenes bekommt eine neue Bedeutung. Schöpfungsspiritualität Hinter dieser Überschrift verbirgt sich keine neue naturreligiöse Richtung. Eine solche zu kreieren liegt uns fern. Vielmehr haben wir uns bei der Entwicklung dieses Rituals weitgehend an biblischen Geschichten und an alten christlichen Traditionen orientiert. Die Erfahrungen der Wüstenväter und der Einsiedler hat unser katholischer Weggefährte von der Männerseelsorge im Erzbistum Hamburg beigesteuert. Gerade was den Umgang mit dem Ritus betrifft, haben wir Lutheraner viel von ihm gelernt. Neben dem biblischen Bezug und den Rückgriff auf alte Traditionen war für uns bei der Entwicklungsarbeit wichtig, die kirchenfernen, spirituellen Sinnsucher in den Blick zu nehmen. Die Zusammensetzung der Gruppen bestätigt, dass uns dies weitgehend auch gelungen ist, vielleicht gerade, weil Kirche (egal ob evangelisch oder katholisch) dieses Ritual anbietet. Volker Karl Lindenberg ist Diakon, Dipl.Soz.Päd. und Wildnispädagoge. Er war bis zum herbst 2012 als Referent im Männerforum der Nordkirche tätig. Mehr Infos unter www.schoepftungsspirit.de O-Ton Teilnehmer: „Ich bin seit fast dreißig Jahren mit Gott unterwegs. Ich habe gebetet, habe „Stille Zeit“ gehalten, meditiert und Lobpreis gefeiert. Aber ich habe Gott immer als fern und stumm erlebt. Doch jetzt redet ein Baum mit mir über Verletzungen und Wunden, über das Bleiben und nicht aufgeben. Das erste Mal in meinem Leben redet Gott mit mir, durch seine Schöpfung!“ Jörg, 45 Jahre, Arzt „Ich ging in die Visionssuche mit dem Hauptthema Energieeinsatz. Setze ich meine Energie richtig ein? Dosiere ich richtig? Ich bekam jede Menge Antworten. … Es hat sich Stück für Stück ein neues Bild zusammengesetzt, so wie bei einem Puzzle. Ohne dabei die alten Bilder wegzuwerfen. … Manchmal bekam ich keine direkten Antworten, sondern ich wurde über einen „Umweg“ geleitet. Manchmal musste ich zuerst ‚Felsbrocken’ aus dem Weg räumen, um Antworten freizulegen.“ Thomas, 48, Geschäftsführer Buchtipps: Die Weißheit der Schöpfungsmythen Vera Zingsem Vision Quest Sylvia Koch-Weser, Geseko von Lüpke
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