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6 // Europäisches Kartellrecht
Deutscher AnwaltSpiegel
Ausgabe 05 // 9. März 2016
Kronzeugenanträge in Europa
DHL Express: Windhundrennen mit Hindernissen – wie viele Zielpfosten gibt es?
Von Dr. Ulrich Schnelle
© Chalabala/iStock/Thinkstock/Getty Images
Sachverhalt
Internationaler Frachtverkehr: Der EuGH macht neue Vorgaben hinsichtlich der Kronzeugenregelung bei Kartellverstößen.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit seinem Urteil vom 20.01.2016 (Rs. C-428/14 – „DHL Express“), mit
dem er ein Vorabentscheidungsersuchen des höchsten
italienischen Verwaltungsgerichts, des Consiglio di Stato,
beantwortete, grundlegende Vorgaben zum Verhältnis
von Kronzeugenanträgen bei der Kommission und bei
nationalen Wettbewerbsbehörden, hier der italienischen
AGCM, gemacht. Dabei hat der Gerichtshof unter anderem die Bekanntmachung der Kommission über die Zu-
sammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden (European Competition Network, ECN) und
deren Kronzeugenregelungsmodell aus dem Jahr 2006,
das im Jahr 2012 überarbeitet worden ist, behandelt. Im
Ergebnis hat der Gerichtshof die Verantwortung dafür,
welche zeitliche Reihenfolge und welche bußgeldmindernde Wirkung Kronzeugenanträge haben, den Unternehmen, die solche Anträge stellen, zugewiesen.
DHL hatte als erstes Unternehmen aus dem Kartell der
internationalen Frachtverkehrsdienste bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbußen gestellt.
Die Kommission gewährte einen bedingten Erlass der
Geldbuße für den gesamten Sektor des internationalen Frachtverkehrs, also für den See-, Luft- und Straßenfrachtverkehr. Die Kommission beschloss später, nur den
Teil des Kartells zu verfolgen, der die Frachtdienste im
internationalen Luftverkehr betraf, und gab somit den
nationalen Wettbewerbsbehörden die Möglichkeit, die
Verstöße, betreffend die Frachtdienste im Seeverkehr
und auf der Straße, zu verfolgen.
Parallel zu dem Antrag bei der Kommission reichte
DHL nach der italienischen nationalen Kronzeugenregelung einen sogenannten Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße bei der AGCM ein. Im weiteren Verlauf des Verfahrens entstand Streit darüber, ob dieser Antrag inhaltlich
überhaupt den Straßenfrachtverkehr betroffen habe.
Nach der DHL stellte die Deutsche Bahn AG bei der
Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbuße, der
den See- und den Straßenfrachtverkehr betraf. Die Tochtergesellschaft Schenker stellte ebenfalls zeitgleich bei
der AGCM einen Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung, betreffend den Straßenfrachtverkehr.
Agility stellte als drittes Unternehmen bei der Kommission einen Antrag auf Ermäßigung der Geldbuße 
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und parallel dazu einen Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung hinsichtlich des italienischen Kartells, betreffend den Straßenfrachtverkehr bei der AGCM.
Zeitlich nach den Kurzanträgen der Deutsche Bahn
AG (Schenker) und von Agility reichte DHL bei der
AGCM einen klarstellenden Antrag auf Erlass der Geldbuße ein und behauptete, dass der erste Kurzantrag sich
auch auf den internationalen Straßenfrachtverkehr bezogen habe.
Die AGCM gewährte in ihrer Bußgeldentscheidung
Schenker einen vollständigen Erlass der Geldbuße, DHL
und Agility wurde hingegen nur eine Ermäßigung der
Geldbuße zugebilligt. DHL griff diese Entscheidung vor
dem zuständigen italienischen Verwaltungsgericht an,
in der 2. Instanz kam es zu dem Verfahren vor dem italienischen Consiglio di Stato, das die entsprechenden
Vorlagefragen an den Gerichtshof stellte. DHL behauptete, die AGCM sei nach europäischem Recht verpflichtet gewesen, sich hinsichtlich der Reichweite des ersten
Kurzantrags von DHL bei der Kommission oder bei DHL
rückzuversichern. Der Antrag bei der Kommission sei der
Hauptantrag, die Anträge bei den nationalen Wettbewerbsbehörden seien nur akzessorisch. Das ECN-Kronzeugenregelungsmodell sehe die von Italien gewählte
Form des Kurzantrags nicht vor, eine von dem Modell
abweichende Regelung könne es nicht geben.
Regelungswerk und Vorlagefragen
Die einstweilige Verordnung Nr. 1/2003 gibt bekanntlich
in Bußgeldverfahren ein System paralleler Zuständigkeiten vor, durch das alle Wettbewerbsbehörden zur Durchsetzung des europäischen Kartellrechts befugt sind, soweit diese im Einzelfall jeweils „gut geeignet“ sind.
Das ECN entwickelte ein Kronzeugenregelungsmodell, das ein Muster der Kronzeugenregelung für die
internationalen Wettbewerbsbehörden vorsieht. Dazu
gehört der auch von der AGCM eingeführte Kurzantrag.
Dieser soll die Belastung eines Antragstellers in Fällen,
in denen er bereits einen Kronzeugenantrag bei der
Kommission gestellt hat, vermindern. Das betreffende
Unternehmen könne einen Antrag auf Kronzeugenbehandlung in vereinfachter Form bei der AGCM stellen.
Unter dem ECN-Kronzeugenregelungsmodell 2006 war
unklar, ob der Kurzantrag nur für dasjenige Unternehmen zugänglich war, das als erstes Unternehmen einen
Kronzeugenantrag bei der Kommission gestellt hatte,
oder auch für weitere Unternehmen, die bei der Kommission nur noch eine Ermäßigung der Geldbuße erzielen konnten.
Die erste Vorlagefrage ging dahin, ob das ECN-Kronzeugenregelungsmodell für die nationalen Wettbewerbsbehörden verbindlich ist.
Mit der zweiten Vorlagefrage wollte der italienische
Consiglio di Stato in Erfahrung bringen, ob die nationale
Wettbewerbsbehörde verpflichtet ist, bei Unklarheiten
des Kurzantrags diesen im Licht des „Hauptantrags“ bei
der Kommission auszulegen und ggf. bei der Kommission oder bei dem Unternehmen Rückfrage über den Antrag und dessen Umfang zu halten.
Die dritte Frage betraf den Kurzantrag: Ist dieser nur
für dasjenige Unternehmen eröffnet, das als Erstes einen Hauptantrag bei der Kommission gestellt hat, oder
können auch Unternehmen, die bei der Kommission lediglich Anträge auf Ermäßigung der Geldbuße stellen
konnten, einen Kurzantrag bei der AGCM auf vollen Erlass der Geldbuße stellen?
Entscheidung des EuGH
Keine Beschränkung der nationalen Kronzeugenregelungen auf das ECN-Kronzeugenregelungsmodell. Das ECN
stellt nach Auffassung des Gerichtshofs ein Diskussionsund Kooperationsforum für die Anwendung und Durchsetzung der Wettbewerbspolitik der Union dar. Daraus
folgert der Gerichtshof, dass das ECN nicht befugt ist,
für die Mitgliedstaaten rechtsverbindliche Regelungen
zu erlassen. Auch die Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des ECN kann keine Verpflichtung
für die Mitgliedstaaten begründen, sich an die Vorgaben
des ECN zu halten. Mangels eines zentralisierten Systems auf Unionsebene für die Entgegennahme und Beurteilung von Anträgen auf Kronzeugenbehandlung in
Bezug auf Verstöße gegen europäisches Kartellrecht bestimmt die nationale Wettbewerbsbehörde die Behandlung solcher an sie gerichteten Anträge nach Maßgabe
des Rechts ihres Staates.
Keine Verpflichtung der nationalen Wettbewerbsbehörde, bei ihr eingereichte Anträge vor dem Hintergrund eventuell bei der Kommission eingereichter Kronzeugenanträge auszulegen. Der Gerichtshof sieht keine
Verpflichtung der nationalen Wettbewerbsbehörden, bei
der Auslegung eines Antrags wie hier des ersten Kurzantrags der DHL dahingehend, ob dieser den internationalen Straßenfrachtverkehr erfasste oder nicht, auf
den Antrag bei der Kommission oder auf die Anträge bei
anderen Wettbewerbern zurückzugreifen. Dies ergibt
sich laut EuGH aus dem bereits zur ersten Vorlagefrage erläuterten Prinzip, dass es kein unionsweites System
vollständig harmonisierter Kronzeugenprogramme gebe. Ein bei einer bestimmten Behörde gestellter Antrag
auf Kronzeugenbehandlung gilt nicht als Antrag 
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auf Kronzeugenbehandlung bei einer anderen Behörde.
Es gibt insofern keinen „Hauptantrag“. Die nationalen
Wettbewerbsbehörden können diejenigen Kronzeugenregelungen erlassen, die sie für erforderlich und geeignet halten. Auch wenn ein rechtlicher Zusammenhang
zwischen dem bei der Kommission gestellten Antrag
und dem Kurzantrag bei der AGCM bestehen sollte, ist
die Beurteilung des Kurzantrags ausschließlich Sache
der nationalen Wettbewerbsbehörde. Für den inhaltlichen Umfang des gestellten Kurzantrags ist das Unternehmen verantwortlich, das diesen stellt. Die nationale
Wettbewerbsbehörde ist jedenfalls nicht verpflichtet,
die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um sich zu vergewissern, ob dieses Unternehmen den Kurzantrag mit dem gleichen Umfang gestellt
hat wie den Antrag bei der Kommission.
Unabhängigkeit der Bußgeldermäßigung nach
nationalem Recht vom Umfang der Bußgeldermäßigung durch die Kommission. Der Kurzantrag nach italienischem System gilt auch für Unternehmen, die bei
der Kommission nur einen Antrag auf Ermäßigung der
Geldbuße gestellt haben. Aus dem Grundsatz der Eigenständigkeit der jeweiligen Kronzeugenprogramme
der Kommission der Mitgliedstaaten folgert der Gerichtshof, dass eine Bindungswirkung des ECN-Kronzeugenregelungsmodells insoweit nicht besteht, dass
ein Mitgliedstaat einen Kurzantrag auch solchen Unternehmen eröffnen kann, die bei der Kommission nicht als
Erste einen Kronzeugenantrag gestellt haben. Nach dem
ECN-Kronzeugenregelungsmodell in der Fassung, die
zum Zeitpunkt des Rechtsstreits vor dem italienischen
Staatsrat galt, war dies unklar. Mittlerweile ist auch im
ECN-Kronzeugenregelungsmodell von 2012 geklärt, dass
der Kurzantrag auch von Unternehmen gestellt werden
kann, die bei der Kommission nur einen Antrag auf Ermäßigung der Geldbuße gestellt haben. Wegen der Eigenständigkeit der Kronzeugenprogramme der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden ist es
möglich, dass ein Kurzantrag von einem Unternehmen
gestellt werden kann, das bei der Kommission nicht als
Erstes den Antrag gestellt hat. Somit konnte in Italien
Schenker vom vollständigen Erlass der Geldbuße profitieren, obwohl dies für Schenker in Brüssel nicht mehr
möglich war.
Folgerungen für die Praxis
Mit diesem Urteil rundet der EuGH seine Rechtsprechung zur Eigenständigkeit der jeweiligen Kronzeugenprogramme ab. Der Gerichtshof hatte sich bereits
in den Urteilen „Pfleiderer“ (Rs. C-360/09) und „Kone“
(Rs. C-557/12) mit dem Verhältnis zwischen der Kronzeugenregelung der Kommission und denjenigen der
Mitgliedstaaten beschäftigt. Der Gerichtshof betont die
Eigenständigkeit der jeweiligen Kronzeugenprogramme. Dies ist auf der Grundlage des europäischen Rechts
wohl der einzig gangbare Weg. Daraus ergibt sich, dass
es im Fall eines Kartells, dessen wettbewerbswidrige
Auswirkungen möglicherweise in mehreren Mitgliedstaaten auftreten und die folglich das Tätigwerden verschiedener nationaler Wettbewerbsbehörden und der
Kommission nach sich ziehen können, im Interesse des
Unternehmens liegt, das wegen seiner Beteiligung am
betreffenden Kartell an einer Kronzeugenregelung teilhaben möchte, Anträge auf Erlass der Geldbuße nicht
nur bei der Kommission zu stellen, sondern auch bei den
nationalen Wettbewerbsbehörden, die möglicherweise
für die Anwendung des europäischen Kartellverbots zuständig sind.
Zu beachten ist ferner, dass das Unternehmen, das
als Erstes bei der Kommission vorstellig wird, nicht automatisch diesen Rang auch in allen Mitgliedstaaten hat.
Das Unternehmen muss sich daher darüber im Klaren
sein, welches Ziel es in welchem Mitgliedstaat erreichen kann und will. Die Verantwortung für eine möglichst weitgehende Herabsetzung der Geldbuße trägt
das Unternehmen. Es wäre sicherlich wünschenswert,
wenn die nationalen Gesetzgeber eine größere Uniformität hinsichtlich der Kronzeugenregelungsmodelle innerhalb des ECN erreichen würden. Am Ausgangspunkt,
nämlich dass das Unternehmen die Verantwortung für
die Rechtzeitigkeit und den Umfang des Kronzeugenantrags in allen in Betracht kommenden Mitgliedstaaten
hat, ändert sich dadurch allerdings auch nichts. Der Gerichtshof hebt darauf ab, dass das Spannungsverhältnis
zwischen den nationalen Regelungen die Zahl der Kronzeugenanträge erhöhen würde, was für die Aufdeckung
von Kartellen und damit für die effektivste Anwendung
des europäischen Wettbewerbsrechts förderlich wäre.
Dieses Interesse wird somit über das Interesse des einzelnen Kronzeugen an einer möglichst einheitlichen und
F
einfachen Antragstellung gestellt. Dr. Ulrich Schnelle, LL.M.,
Rechtsanwalt, Partner, Haver & Mailänder,
­Stuttgart
[email protected]
www.haver-mailaender.de