Schop enhauer als Spiegel Senecas - Aktuelles

Schopenhauer als Spiegel Senecas Ulf Jesper | 2015 1.
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Genügt Seneca sich selbst? Warum Schopenhauer? Wird Lateinunterricht zum Philosophieunterricht? Seneca mit Unterstützung Schopenhauers lesen Seneca hätte es so gewollt 1. Genügt Seneca sich selbst? Seneca zu lesen, ist genug. Diese Auffassung ist durch den unterrichtlichen Alltag viel-­‐
fach bewiesen: 
Das Corpus der Epistulae morales mit seinen 124 Briefen bietet in großer Zahl The-­‐
men, die ein Schulhalbjahr bequem füllen. 
Zur Zahl tritt der Gehalt: Senecas Philosophie bringt die Schüler in Kontakt mit ethi-­‐
schen, existentiellen, metaphysischen Themen wie dem menschlichen Zusammen-­‐
leben, der individuellen Lebensgestaltung, die höchsten Güter, Sterben und Tod, hö-­‐
here Mächte etc. All diese Bereiche sind anspruchsvoll und fordern Zeit, um sich mit ihnen angemessen auseinanderzusetzen. 
Auch ist Seneca nur scheinbar leicht zu übersetzen. Schüler müssen sich auf Texte einlassen, die sprachlich gedrechselt und gedanklich voraussetzungsreich sind. Bezieht man dann auch noch ein, dass die Zahl der Stunden, die dem Lateinunterricht zur Verfügung stehen, begrenzt ist, ist das Urteil, dass es genügt, sich mit Seneca zu be-­‐
schäftigen, wohl begründet. Einen anderen Philosophen hinzuziehen, ist, so gesehen, nicht notwendig: aber von Vorteil. Das liegt paradoxerweise genau daran, dass Seneca die Schüler denkerisch enorm fordert. Schüler des 21. Jahrhunderts, die im Alter von 16 oder 17 Jahren Senecas Briefe lesen, sind nicht Senecas Zielgruppe: Als Lehrer der Alten Sprachen muss man sich immer wieder vor Augen halten, dass wir Heranwachsende mit Erwachsenen-­‐Lite-­‐
ratur konfrontieren. Das ist die bildungswirksame grundsätzliche Überforderung, die sich mit dem Fach Latein in der Lektürephase verbindet. Jugendliche stehen einem Seneca nicht auf Augenhöhe gegenüber: Ihr Verstehen und Urteilen stößt natürlicherweise an Grenzen: Die eigene Denk-­‐ und Erfahrungswelt ist noch nicht ausgeprägt genug, um Seneca und seine Denkwelt wirklich zu erfassen. Seneca-­‐Unterricht begnügt sich daher damit, eine Auseinandersetzung in eingeschränk-­‐
tem Rahmen anzubahnen. Die Situation ändert sich, wenn Seneca ein ebenbürtiges Gegenüber erhält: einen Philo-­‐
sophen, der gedankenstark Alternativen oder Bestätigungen, Vertiefungen oder Verein-­‐
fachungen formuliert. Der Dissens der Philosophen spannt einen Horizont auf, der es den Schülern ermöglicht, gedanklich gestärkt mitzumischen. Das eigene Denken erfährt 1 Unterstützung oder eine Stimulation: Als schwächerer Schüler kann ich mich auf die Seite des anderen Denkers oder überzeugter auf die Senecas stellen; als stärkerer Schü-­‐
ler erhalte ich die Ermunterung, den Denkhorizont zu weiten und vielleicht eine dritte Position zu entwickeln. Entwicklungspsycholgisch betrachtet, ist die Stärkung der eigenen Sicht durch eine an-­‐
dere Stimme ausgesprochen sinnvoll: Jugendliche im Alter von 16 oder 17 Jahren befinden sich in einer Phase, in der ihr subjektives Urteilen und Werten besonders stark dominiert – jugendlicher Egozentrismus; nicht selten fällt das eigene Meinen aber un-­‐
differenziert aus oder wirkt gar trotzig. Der gefühlsgelenkten Sicht ein gefestigteres Argumentationsfundament zu geben, ist für die Entwicklung der Jugendlichen daher förderlich. Zugleich wächst das Bewusstsein, dass auch andere Recht haben könnten: Die Entwicklung der Persönlichkeit schreitet voran. 2. Warum Schopenhauer? Schopenhauer interessiert sich für alle Themen, für die sich auch Seneca interessiert. Sein Blick reicht von der metaphysischen Kraft im Hintergrund allen Seins bis hin zu den Niederungen der Ethik. Moderne und aktuelle Philosophen mögen zwar die Bestseller-­‐
Listen beherrschen, die Spannweite Schopenhauers haben sie nicht. Es ist geradezu er-­‐
staunlich: Zu jedem Thema, das Seneca angeht, gibt es ein entsprechendes Pendant Schopenhauers. Natürlich beschäftigt sich Schopenhauer auch mit Fragen, die Seneca nicht beachtet und auch noch nicht beachten konnte: kantische Erkenntnisphilosophie zum Beispiel. Die Frage, ob die Welt eine bloße Vorstellung ist und ob der Mensch Dinge an sich erkennen kann, sind keine Fragen, die Seneca umtreiben. Er ist Lebensphilosoph. Ihn interessiert die Lebenskunst. Genau so ist es – recht betrachtet – auch bei Schopenhauer: Sein Den-­‐
ken bleibt geerdet. Wie Seneca geht es Schopenhauer aber nicht allein darum, lebens-­‐
kluge Ratschläge für die Praxis zu geben, obwohl es daran nicht fehlt. Schopenhauer ent-­‐
wickelt seine Ethik vor einem geradezu kosmologischen Hintergrund: Er geht von meta-­‐
physischen Grundüberlegungen aus, die das Handeln bestimmen. Wie der Stoiker Sene-­‐
ca die Welt vom Logos aus denkt, definiert Schopenhauer das Sein und Tun von der Ur-­‐
kraft des Willens aus, der alles bestimmt. Diese Dualität von kosmischem Programm und irdischer Konsequenz macht beide Denker zu Vergleichspartnern ernsten Ranges. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass Schopenhauer ein ausgesprochen po-­‐
sitives Seneca-­‐Bild hat. Voller Ablehnung einer blutleeren Stoa gegenüber, wie sie in der lehrbuchhafte Darstellung des Stobaios (5. Jh. n. Chr.) erscheint, schreibt er: „Daher hal-­‐
ten diese platten Schulexerzitien keinen Vergleich aus mit den so energischen, geist-­‐
vollen und durchdachten Schriften des Seneca.“1 Es scheint, als hätte er im antiken Philosophen ein alter ego entdeckt. Seine Worte wirken wie eine Selbstbeschreibung. Auch Schopenhauer liebt die energische und pointierte Art des Schreibens. Schopenhauers positives Urteil über Seneca ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass der Römer ansonsten meist abschätzig beurteilt wurde2. Hegel entdeckte „in Sene-­‐
1 Die Welt als Wille und Vorstellung IV 70. 2 Vgl. Trillitzsch, W.: Seneca im literarischen Urteil der Antike, Amsterdam 1972; Hadot, I: Seneca und die griechisch-­‐römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969; Soerensen, V.: Seneca. Ein Humanist an 2 ca mehr Brast und Bombast moralischer Reflexion als wahrhafte Gediegenheit“ 3 , Mommsen fand, dass „die anmutige Form seiner Schriften [...] heute noch Vergnügen [er-­‐
regt], auch wenn sie ohne Inhalt sind“4 und Nietzsche ätzte: „[E]r schreibt und schreibt sein unausstehlich weises Larifari, als gält es primum scribere, deinde philosophari“5. Für Schopenhauer dagegen war Seneca „ein Lieblingsautor“6. Diese Wertschätzung führte immer wieder dazu, dass er sich wie ein moderner Seneca äußert und sich diesem auch inhaltlich anschließt. Am auffälligsten ist dies bei seiner im Nachlass entdeckten Schrift „Die Kunst, glücklich zu sein“7 der Fall. Dieses Büchlein ist gespickt mit Seneca-­‐Zitaten. Die Wertschätzung, die Seneca durch Schopenhauer erfährt, darf aber nicht darüber hin-­‐
wegtäuschen, dass sich in der Sache zwischen beiden gewaltige Gräben auftun: Vom wichtigsten Punkt war schon die Rede: Seneca, ganz Stoiker, räumt der ratio den ersten Platz in dieser Welt ein. Sie durchflutet alles und es ist die Aufgabe des Menschen, sie in sich zu entdecken und zu befreien. Die Welt und der Mensch sind ihrer Natur nach vernünftig. Anders Schopenhauer: Die Welt ist Ausdruck eines blinden, chaotischen und sich selbst widerstreitenden Willens, der sich im Lebensdrang alles Lebendigen, bio-­‐
logisch in der Fortpflanzung, charakterlich im Egoismus und gesellschaftlich z. B. im Krieg zeigt. Schopenhauer sieht wie später Freud eine triebhaft-­‐unbewusste Urkraft am Werk. Das ist die einfache Grundidee seiner Philosophie, die sich von diesem Punkt aus entfaltet8. In der Konsequenz dieser grundverschiedenen Annahmen, die sich verein-­‐
facht auch auf das Kontrastpaar Daseins-­‐Optimismus und -­‐Pessimismus zuspitzen lie-­‐
ßen, kommen beide Philosophen zu ethischen Einsichten, die manchmal weit auseinan-­‐
derliegen, sich manchmal aber auch decken. Schopenhauer begegnet dem stoischen Modell zunächst mit Respekt: „Die Stoische Ethik, im Ganzen genommen, ist in der Tat ein sehr schätzbarer und achtenswerter Ver-­‐
such, das große Vorrecht des Menschen, die Vernunft, zu einem wichtigen und heil-­‐
bringenden Zweck zu benutzen, nämlich um ihn über die Leiden und Schmerzen, wel-­‐
chen jedes Leben anheimgefallen ist, hinauszuheben, ihn eben dadurch im höchsten Grade der Würde teilhaft zu machen, welche ihm als vernünftigen Wesen im Gegensatz zum Tiere zusteht.“ (W. II, 103 -­‐108. 375.) Doch ergibt sich für Schopenhauer ein zentraler Widerspruch: „Es liegt [...] ein vollkommener Widerspruch darin, leben zu wollen ohne zu leiden. Dieser Widerspruch offenbart sich schon dadurch, dass der Stoiker genötigt ist, seiner Anweisung zum glückseligen Leben eine Empfehlung des Selbstmordes einzuflechten, für den Fall nämlich, wo die Leiden des Körpers, die sich durch keine Sätze und Schlüsse wegphilosophieren lassen, überwiegend und unheilbar sind, sein alleiniger Zweck, Glückseligkeit, also doch vereitelt ist, und nichts bleibt, um dem Leiden zu entgehen, als der Tod. Der innere Widerspruch, mit welchem die Stoische Ethik in ihrem Grundgedanken behaftet ist, zeigt sich ferner auch darin, dass ihr Ideal, der Stoische Weise, in ihrer Darstellung selbst, nie Leben oder innere poetische Wahrheit gewinnen konnte, sondern ein hölzerner, steifer Gliedermann bleibt, mit dem man nichts anfangen kann, der selbst nicht weiß, wohin mit seiner Weisheit, dessen Neros Hof, München 21985, S. 289ff. – Auch an der Schule hatte Seneca lange keinen guter Stand: Vgl. Fritsch, A.: Zur Seneca-­‐Lektüre im Lateinunterricht, Pegasus-­‐Onlinezeitschrift XII (2012), Heft 2. 3 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, 2.2A, 2. 4 Römische Kaisergeschichte I 4. 5 Die fröhliche Wissenschaft III 34. 6 Giebel, M.: Seneca, Reinbek 52006, S. 132. 7 Hrsg. v. Volpi, F., München 21999. 8 Vgl. Spiering, Volker: Arthur Schopenhauer zur Einführung, Hamburg 42015, S. 14. 3 vollkommene Ruhe, Zufriedenheit, Glückseligkeit dem Wesen der Menschheit geradezu widerspricht und uns zu keiner anschaulichen Vorstellung davon kommen lasst.“ (W. I, 108 fg.). Die Stoiker – so Schopenhauer weiter – „hatten [...] dabei außer Acht gelassen, [...] dass der Wille nicht mit sich spielen lässt, nicht genießen kann, ohne die Genüsse zu lieben; dass ein Hund nicht gleichgültig bleibt, indem man ihm ein Stück Braten durchs Maul zieht, und ein Weiser, wenn er hungrig ist, auch nicht; und dass es zwischen Begehren und Entsagen kein Mittleres gibt.“ (W. II, 167—173.) So kommt er zu folgendem Schluss: „Der Stoizismus der Gesinnung, welcher dem Schicksale Trotz bietet, ist zwar ein guter Panzer gegen die Leiden des Lebens und dienlich, die Gegenwart besser zu ertragen; aber dem wahren Heile steht er entgegen; denn er verstockt das Herz. Wie sollte doch dieses durch Leiden gebessert werden, wenn es, von einer steinernen Rinde umgeben, sie nicht empfindet?“ (P. II, 342.) Schopenhauer selbst sieht – ganz seiner Grundeinsicht folgend – im Willen eine mit stoischen Mitteln nicht überwindbare Kraft: „Die unaufhörliche Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leiste nichts weiter, als daß es seine Gestalt verändert.“ (W I, § 57, 371) Schopenhauers Weg ist ein anderer; er ist bestimmt von Mitleid und Resignation. Der Schopenhauer-­‐Experte Volker Spiering erläutert diese Begriffe so: „Das Mit-­‐Leiden hält die Menschen davon ab, andere zu verletzen, oder veranlasst sie sogar, ihnen zu helfen. Dies geschieht nicht, weil ich mitleidend sein soll, sondern weil ich es bin. Die Schranken zwischen Ich und Du fallen. Die metaphysische Einheit des Willens wird in allen seinen Erscheinungen erblickt. Ein und dasselbe Wesen ist es, das sich in allem Lebenden darstellt und leidet. [...] Aus der Erkenntnis der Allgemeinheit des Leidens kann die Resignation hervorgehen. Diese ‚Verneinung des Willens zum Leben’, die nicht mit dem Selbstmord zu verwechseln ist, hebt den Grund des Leidens, den Willen selbst auf und mit ihm alle seine Erscheinungen. Es ist die ‚Erlösung’ von der Welt.“9 Die Darstellung hat gezeigt, wie die beiden Denker in Grundsatzfragen aufeinander be-­‐
zogen sind; diese Bezogenheit ist kein Gleichklang, sondern ein Ringen. In Einzelfragen der Ethik setzt sich diese Form des Diskurses intensiv fort. Diese Bezogenheit ist das Hauptargument dafür, neben Seneca Schopenhauer zu lesen. Gegen eine Schopenhauer-­‐Lektüre könnte man einwenden: Er sei kein Mensch unserer Zeit, zu weit entfernt von den heutigen Schülern; ein moderner Philosoph spreche die Sprache der Zeit, vertrete zeitgemäßere Positionen und könne die Schüler besser errei-­‐
chen. Abgesehen davon, dass sich ein solches Argument auch und mehr noch gegen den anti-­‐
ken Autor Seneca richtet, trifft es nicht zu. Schopenhauer gehört weltweit zu den am meisten gelesen Philosophen – oft leider in etwas verflachter Form. Seine Popularität verdankt er gleichermaßen seinen Gedanken, die aktuell zu sein scheinen oder zu-­‐
mindest anregend, und seiner kraftvollen Sprache, die es an Deutlichkeit nicht vermis-­‐
sen lässt. Dass ein Mensch des 19. Jahrhunderts anders spricht als wir heute, kann nicht bestritten werden, reicht aber als Ausschlusskriterium nicht aus. Dass Philosophen der Jetztzeit die Sprache unserer Schüler sprechen, darf obendrein bezweifelt werden. Sie bewegen sich meist in einem akademischen Diskurs, der für Schüler schwer zu entschlüsseln ist. Handelt es sich bei den Philosophen unserer Zeit um modische Denker, dann erhebt sich der Zweifel, ob es sich lohnt, sich mit ihren Gedanken auseinanderzusetzen: Es könnte sein, dass ihre Vorstellungen eine allzu kurze Halbwertszeit haben. Der Bildungswert Schopenhauers dagegen ist unbestritten; er ist ein Klassiker, der den Schülern im Laufe ihres Lebens wieder begegnen wird. 9 Spiering, Volker: Arthur Schopenhauer zur Einführung, Hamburg 42015, S. 21 f. 4 Arthur Schopenhauer
Steckbrief
Geburt: 22.2.1788 in Danzig
Tod: 21.9.1860 in Frankfurt a. M.
Vater: Heinrich Floris Schopenhauer, Kaufmann
Mutter: Johanna Schopenhauer (geb. Trosiner), Schriftstellerin
Beruf: Philosoph
Lebenslauf:
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Besuch der Handelsschule in Hamburg
Bildungsreise durch Europa
Kaufmannslehre
Tod des Vaters, Auflösung des Geschäfts, Abbruch der Lehre
Besuch des Gymnasiums in Gotha
Beziehung zu einer Schauspielerin und Opernsängerin
Beginn eines Medizinstudiums, Abbruch und Wechsel zur Philosophie
Doktor der Philosophie an der Universität Jena
Begegnungen mit Goethe in Weimar
Streit mit seinen Verleger Brockhaus
Privatgelehrter, Italienreise
Finanzielle Schwierigkeiten, Dozent an der Berliner Universität
Fortsetzung der Italienreise, Abneigung gegen Universitätsphilosophie
Verhältnis mit der Opernsängerin Carolin Medon, keine Heirat
erneuter Versuch, an der Universität Berlin zu arbeiten
Flucht nach Frankfurt wegen einer Cholera-Epedimie in Berlin
Tod der Mutter
Ehrung einer Schrift in Norwegen, ansonsten wenig Erfolg zu Lebzeiten
Erkrankung an einer Lungenentzündung, die zum Tod führte
Tagesablauf:
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morgens: Arbeit am Schreibtisch
vor dem Mittagessen: Flötespielen
Mittag: in Gasthäusern
nachmittags: zweistündige Spaziergang mit seinem Pudel
Charakter: einzelgängerisch, polemisch, pessimistisch
Politische Einstellung: Vertreter der Monarchie
Hauptwerk: Die Welt als Wille und Vorstellung, 11819 / 21844
Einfluss: auf F. Nietzsche, S. Freud, Th. Mann, Th. Bernhard u.a.
5 3. Wird der Lateinunterricht zum Philosophieunterricht? Der Lateinunterricht muss stets auf der Hut sein: Wird Sallust gelesen, droht ein Ab-­‐
gleiten in den Geschichtsunterricht, werden die Vesuv-­‐Briefe des Plinius gelesen, be-­‐
steht die Gefahr, dass der Geographieunterricht die Regie übernimmt, werden Bilder bei der Ovid-­‐Lektüre betrachtet, kann der Lateinunterricht zum Kunstunterricht werden. Die „Gefahr“ eines sprachlichen Unterrichts sind seine Inhalte. Allein die Seneca-­‐Lektüre kann schon dazu führen, dass ein besonders interessantes Thema sich verselbstständigt und ohne Textbezug diskutiert wird. Gerade philosophi-­‐
sche Texte laden dazu ein, von der mühseligen sprachlichen Arbeit abzusehen und sich auf den Inhalt zu konzentrieren. Wird diese Tendenz nun noch verstärkt, wenn ein zweiter Philosoph ins Spiel kommt? Die Gefahr besteht zweifelsohne. Zwei Maßnahmen können helfen, sie einzudämmen:  Der Umfang eines Schopenhauer-­‐Textes, der hinzugezogen wird, muss knapp sein. Da sich der Philosoph – wie Seneca auch – gern sentenzhaft äußert, stellt diese For-­‐
derung an sich kein Problem dar. Die Zahl der Schopenhauer-­‐Texte sollte sich nach der Zahl der Themen richten, die Seneca berührt. Allerdings braucht nicht jeder Gedanke gespiegelt zu werden. Als Faustregel gilt: Einem Seneca-­‐Brief folgt ein Schopenhauer-­‐Text.  Die Schopenhauer-­‐Texte müssen funktional eingesetzt werden: Sie werden um Se-­‐
necas willen gelesen. Schopenhauer kommt damit die Aufgabe des Kontrastmittels zu. Seine Sicht der Welt und des Menschen bleibt eine Skizze. Die Auswahl der Texte muss sich daran ausrichten: Nicht, was die Philosophie Schopenhauers bestimmt, ist das Auswahlkriterium, sondern was bei der Auseinandersetzung mit Seneca hilft. 4. Seneca mit Unterstützung Schopenhauers lesen Im Folgenden soll passend zur Unterrichteinheit „Nähe und Distanz – der Umgang mit dem Mitmenschen (Seneca: Epistulae morales)“ eine Auswahl von Schopenhauer-­‐Texten vorgestellt werden, die die Seneca-­‐Lektüre im oben beschriebenen Sinne unterstützt. Abkürzungen: E. = Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Auflage G. = Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 3. Auflage H. = Aus Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nachlass P. = Parerga und Paralipomena, 2. Auflage W. = Welt als Wille und Vorstellung, 3. Auflage 6 Seneca: Ep. mor. 96 („Ich bin ein tapferer Soldat“) Schopenhauer: 5 10 Der Stoizismus der Gesinnung, welcher dem Schicksale Trotz bietet, ist zwar ein guter Panzer gegen die Leiden des Lebens und dienlich, die Gegenwart besser zu ertragen; aber dem wahren Heile steht er entgegen; denn er verstockt das Herz. Wie sollte doch dieses durch Leiden gebessert werden, wenn es, von einer steinernen Rinde umgeben, sie nicht empfindet? (P. II, 342) Es liegt [...] ein vollkommener Widerspruch darin, leben zu wollen ohne zu lei-­‐
den. [...] Der innere Widerspruch, mit welchem die Stoische Ethik in ihrem Grundgedanken behaftet ist, zeigt sich [...] auch darin, dass ihr Ideal, der Stoi-­‐
sche Weise, in ihrer Darstellung selbst, nie Leben oder innere poetische Wahr-­‐
heit gewinnen konnte, sondern ein hölzerner, steifer Gliedermann bleibt, mit dem man nichts anfangen kann, der selbst nicht weiß, wohin mit seiner Weis-­‐
heit, dessen vollkommene Ruhe, Zufriedenheit, Glückseligkeit dem Wesen der Menschheit geradezu widerspricht und uns zu keiner anschaulichen Vorstellung davon kommen lasst. (W. I, 108 fg.) 7 Seneca: Ep. mor. 47b-­‐50 („Wie geht man mit Göttern um?“) Schopenhauer: 5 10 15 20 Der Gottesglaube (Theismus) wurzelt im Egoismus. Er ist kein Erzeugnis der Erkenntnis, sondern des Willens. [...] Die Not, das beständige Fürchten und Hoffen, bringt den Menschen dahin, dass er die Hypostase1 persönlicher Wesen macht, zu denen er beten könne. Sind Anfangs der Götter mehrere, so werden sie später durch das Bedürfnis, Konsequenz, Ordnung und Einheit in die Erkenntnis zu bringen, Einem unterworfen, oder gar auf Einen reduziert. Das Wesentliche jedoch ist der Drang des geängstigten Menschen, sich nieder-­‐
zuwerfen und Hilfe anzuflehen. Damit also sein Herz (Wille) die Erleichterung des Betens und den Trost des Hoffens habe, muss sein Intellekt ihm einen Gott schaffen; nicht aber umgekehrt, weil sein Intellekt auf einen Gott logisch richtig geschlossen hat, betet er. (P. I, 127-­‐131 / W. I, 607) Mit dem Ursprung alles Theismus aus dem Willen, dem Herzen genau verwandt und ebenso aus der Natur des Menschen hervorgehend ist der Drang, seinen Göttern Opfer zu bringen, um ihre Gunst zu erkaufen, oder, wenn sie solche schon bewiesen haben, die Fortdauer derselben zu sichern, oder um Übel ihnen abzukaufen. Dies ist der Sinn jedes Opfers und eben dadurch der Ursprung und die Stütze des Daseins aller Götter, so dass man mit Wahrheit sagen kann, die Götter lebten vom Opfer. Denn eben weil der Drang, den Beistand übernatür-­‐
licher Wesen anzurufen und zu erkaufen, dem Menschen natürlich und seine Befriedigung ein Bedürfnis ist, schafft er sich Götter. (P. I, 129-­‐131) 1 Hypostase: Festlegung Seneca: Ep. mor. 95, 51-­‐53 („Wie geht man mit Menschen um?“) Schopenhauer: 5 10 In der unmittelbaren, auf keine Argumentation gestützten [...] Teilnahme liegt der allein lautere Ursprung der Menschenliebe, der caritas, [...] also derjenigen Tugend, deren Maxime ist: omnes, quantum potes, juva, und aus welcher alles Das fließt, was die Ethik unter dem Namen Tugendpflichten, Liebespflichten [...] vorschreibt. Diese ganz unmittelbare, ja, instinktartige Teilnahme am fremden Leiden, also das Mitleid, ist die alleinige Quelle solcher Handlungen, wenn sie moralischen Wert haben, d. h. von allen egoistischen Motiven rein sein sollen. (E. 227 —229.) Diese unmittelbare Teilnahme setzt voraus, dass ich mich mit dem Anderen gewissermaßen identifiziert habe, und folglich die Schranke zwischen Ich und Nicht-­‐Ich für den Augenblick aufgehoben sei. Dieser Vorgang ist mysteriös. (E. 229.) Wer von der Tugend der Menschenliebe beseelt ist, hat sein eigenes Wesen in jedem Anderen wiedererkannt. (W. II, 694.) 8 Seneca: Ep. mor. 103 („Die Bestie“) Schopenhauer: 5 10 15 20 [U]nsere zivilisierte Welt [ist] nur eine große Maskerade. Man trifft daselbst Ritter, Pfaffen, Soldaten, Doktoren, Advokaten, Priester, Philosophen und was nicht alles an! Aber sie sind nicht was sie vorstellen: sie sind bloße Masken, unter welchen, in der Regel, Geldspekulanten (moneymakers) stecken. [...] -­‐ Es ist sehr wichtig, schon früh, in der Jugend darüber belehrt zu werden, daß man sich auf der Maskerade befinde. Denn sonst wird man manche Dinge gar nicht begreifen und aufkriegen können, sondern davor stehn ganz verdutzt. [...] Aber ernstere Betrachtungen sind anzustellen und schlimmere Dinge zu berich-­‐
ten. Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustand der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloß und Kette der gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie ein-­‐
tritt, da zeigt sich was er ist. [...] Wirklich also liegt im Herzen eines jeden ein wildes Tier, das nur auf Gelegen-­‐
heit wartet, um zu toben und zu rasen, indem es andern weh tut und, wenn sie gar ihm den Weg versperren, sie vernichten möchte: es ist eben das, woraus alle Kampf-­‐ und Kriegslust entspringt; und eben das, welches zu bändigen und einigermaßen in Schranken zu halten die Erkenntnis, sein beigegebener Wäch-­‐
ter, stets vollauf zu tun hat. Immerhin mag man es das radikale Böse nennen [...]. Ich aber sage: es ist der Wille zum Leben, der, durch das stete Leiden des Da-­‐
seins mehr und mehr erbittert, seine eigene Qual durch das Verursachen der fremden zu erleichtern sucht. Aber auf diesem Weg entwickelt er sich allmäh-­‐
lich zur eigentlichen Bosheit und Grausamkeit. (P II, 115) 9 Seneca: Ep. mor. 3 (Ein Freund oder ein ‚Freund’?) / 9 („Darf man Freunde haben?“) / 35 („Freundschaft“) / 63 („Grenzen der Trauer“) Schopenhauer: 5 10 15 Die Freundschaft ist immer Mischung von Selbstsucht und Mitleid; erstere liegt im Wohlgefallen an der Gegenwart des Freundes, dessen Individualität der uns-­‐
rigen entspricht, und sie macht fast immer den größten Teil aus; Mitleid zeigt sich in der aufrichtigen Teilnahme an seinem Wohl und Wehe und den uneigen-­‐
nützigen Opfern, die man diesem bringt. (W. I, 444) Wahre, echte Freundschaft setzt eine starke, rein objektive und völlig uninte-­‐
ressierte Teilnahme am Wohl und Wehe des Anderen voraus, und diese wieder ein wirkliches Sich-­‐ mit dem Freunde-­‐Identifizieren. Dem steht der Egoismus der menschlichen Natur so sehr entgegen, dass wahre Freundschaft zu den Din-­‐
gen gehört, von denen man, wie von den kolossalen Seeschlangen, nicht weiß, ob sie fabelhaft sind oder irgendwo existieren. Indessen gibt es mancherlei, in der Hauptsache freilich auf versteckten egoistischen Motiven der mannigfaltig-­‐
sten Art beruhende Verbindungen zwischen Menschen, welche dennoch mit ei-­‐
nem Gran1 jener wahren Freundschaft versetzt sind, wodurch sie so veredelt werden, dass sie in dieser unvollkommenen Welt mit einigem Fug den Namen der Freundschaft führen dürfen. (P. I, 488) 1 Gran = Korn 10 Seneca: Ep. mor. 47 („Menschen zweiter Klasse“) Schopenhauer: 5 10 15 20 [Man] kann die Überzeugung, daß der Mensch an Grausamkeit und Unerbittlich-­‐
keit keinem Tiger und keiner Hyäne nachsteht, aus hundert alten und neuen Be-­‐
richten schöpfen. Ein vollwichtiges Beispiel aus der Gegenwart liefert ihm die Antwort, welche die britische Antisklaverei-­‐Gesellschaft, auf ihre Frage nach der Behandlung der Sklaven in den sklavenhaltenden Staaten der Nordamerikani-­‐
schen Union, von der Nordamerikanischen Antisklaverei-­‐Gesellschaft erhalten hat. Dieses Buch macht eine der schwersten Anklageakten gegen die Menschheit aus. Keiner wird es ohne Entsetzen, wenige ohne Tränen aus der Hand legen. Denn was der Leser desselben jemals vom unglücklichen Zustand der Sklaven, ja, von menschlicher Härte und Grausamkeit überhaupt, gehört oder sich ge-­‐
dacht oder geträumt haben mag, wird ihm geringfügig erscheinen, wenn er liest, wie jene Teufel in Menschengestalt, jene bigotten, kirchengehenden, streng den Sabbath beobachtenden Schurken, namentlich auch die anglikanischen Pfaffen unter ihnen, ihre unschuldigen schwarzen Brüder behandeln, welche durch Unrecht und Gewalt in ihre Teufelsklauen geraten sind. Dieses Buch, welches aus trockenen, aber authentischen und dokumentierten Berichten besteht, em-­‐
pört alles Menschengefühl in dem Grade, daß man, mit demselben in der Hand, einen Kreuzzug predigen könnte, zur Unterjochung und Züchtigung der skla-­‐
venhaltenden Staaten Nordamerikas. Denn sie sind ein Schandfleck der ganzen Menschheit. (P II, 115) 11 Seneca: Ep. mor. 7 („Unter Menschen“) Schopenhauer: 5 10 15 20 25 Die Einsamkeit gibt Freiheit und Gemütsruhe. Jede Gesellschaft erfordert not-­‐
wendig eine gegenseitige Akkommodation. Ganz er selbst sein darf Jeder nur so lange er allein ist. Wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit; denn nur wenn man allein ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrenn-­‐
liche Gefährte der Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die um so schwerer fal-­‐
len, je bedeutender die eigene Individualität ist. (P. I, 446) Je höher Einer [...] steht, desto einsamer steht er, und zwar wesentlich und un-­‐
vermeidlich. Dann aber ist es eine Wohltat für ihn, wenn die physische Einsam-­‐
keit der geistigen entspricht; widrigenfalls dringt die häufige Umgebung hetero-­‐
gener Wesen störend, ja, feindlich auf ihn ein, raubt ihm sein Selbst und hat nichts als Ersatz dafür zu geben. Sodann, während die Natur zwischen Men-­‐
schen die weiteste Verschiedenheit, im Moralischen und Intellektuellen gesetzt hat, stellt die Gesellschaft, diese für nichts achtend, sie alle gleich [...]. Die Ge-­‐
sellschaft, welche man die gute nennt, hat nicht nur den Nachteil, dass sie uns Menschen darbietet, die wir nicht loben und lieben können, sondern sie lässt auch nicht zu, dass wir selbst seien, wie es unserer Natur angemessen ist; viel-­‐
mehr nötigt sie uns, des Einklanges mit den Anderen wegen, einzuschrumpfen, oder gar uns selbst zu verunstalten. (P. I, 446 fg.) Dem Intellektuell hochstehenden Menschen gewährt die Einsamkeit einen zwiefachen Vorteil: erstlich den, mit sich selber zu sein, und zweitens den, nicht mit Anderen zu sein. Diesen letzteren wird man hoch anschlagen, wenn man bedenkt, wie viel Zwang, Beschwerde und selbst Gefahr jeder Umgang mit sich bringt. Geselligkeit gehört zu den gefährlichen, ja, verderblichen Neigungen, da sie uns in Kontakt bringt mit Wesen, deren große Mehrzahl moralisch schlecht und Intellektuell stumpf oder verkehrt ist. (P. I, 451) 12 Seneca: Ep. mor. 104 („Aus Liebe zu Paulina“) Schopenhauer: 5 10 15 Je edler und vollkommener eine Sache ist, desto später und langsamer gelangt sie zur Reife. Demgemäß ist auch die Vernunft des früher reifenden Weibes eine gar knapp gemessene. Durch die Vernunft unterscheidet sich der Mensch von dem bloß in der Gegenwart lebenden Tiere, indem er Vergangenheit und Zu-­‐
kunft übersieht und bedenkt, woraus dann seine Vorsicht, Sorge und häufige Beklommenheit entspringt. Der Vorteile, wie der Nachteile, die Dies bringt, ist das Weib in Folge seiner schwächeren Vernunft weniger teilhaft. Die Weiber kleben an der Gegenwart, sehen immer nur das Nächste, nehmen den Schein der Dinge für die Sache, sehen mit ihrem Verstande in der Nähe scharf, haben dagegen einen engen Gesichtskreis, in welchen das Entfernte nicht fällt [...]. Der intuitive Verstand, durch den die Weiber exzellieren, und ihre größere Nüch-­‐
ternheit eignet sie auch zu Ratgeberinnen in schwierigen Angelegenheiten. Fer-­‐
ner ist es aus der eigentümlichen, von der männlichen verschiedenen Geistes-­‐
begabung der Weiber abzuleiten, dass sie mehr Mitleid und daher mehr Menschenliebe und Teilnahme an Unglücklichen zeigen, als die Männer, hinge-­‐
gen im Punkte der Gerechtigkeit, Redlichkeit und Gewissenhaftigkeit diesen nachstehen. (P. II, 650-­‐653 / E. 215) Seneca: Ep. mor. 104 („Aus Liebe zu Paulina“) / 78 („Aus Liebe zu meinem Vater“) Schopenhauer: 5 10 15 Es liegt vielmehr ein vollkommener Widerspruch darin, leben zu wollen ohne zu leiden. Dieser Widerspruch offenbart sich schon dadurch, dass der Stoiker genötigt ist, seiner Anweisung zum glückseligen Leben eine Empfehlung des Selbstmordes einzuflechten, für den Fall nämlich, wo die Leiden des Körpers, die sich durch keine Sätze und Schlüsse wegphilosophieren lassen, überwie-­‐
gend und unheilbar sind, sein alleiniger Zweck, Glückseligkeit, also doch vereitelt ist, und nichts bleibt, um dem Leiden zu entgehen, als der Tod. (W. I, 108 fg.) Wenn die Erkenntnis in der Bekämpfung der Todesfurcht über den Willen zum Leben siegt und demnach der Mensch dem Tode mutig und gelassen entgegen-­‐
geht, so wird dies als groß und edel geehrt; wir feiern also dann den Triumph der Erkenntnis über den blinden Willen zum Leben, der doch der Kern unseres eigenen Wesens ist. Imgleichen verachten wir Den, in welchem die Erkenntnis in jenem Kampfe unterliegt, der daher dem Leben unbedingt anhängt. Wie könnte, lässt sich hier beiläufig fragen, die Grenzenlose Liebe zum Leben und das Bestreben, es auf alle Weise so lange als möglich zu erhalten, als niedrig und verächtlich betrachtet werden, wenn dasselbe das mit Dank zu erkennende Ge-­‐
schenk gütiger Götter wäre? Und wie könnte sodann die Geringschätzung des-­‐
selben groß und edel erscheinen? (W. II, 530 fg.) 13 Seneca: Ep. mor. 99 („Richtig trauern“) Schopenhauer: 5 Jeder Affekt (animi perturbatio) entsteht dadurch, dass eine auf unseren Willen wirkende Vorstellung uns so übermäßig nahe tritt, dass sie uns alles Übrige verdeckt und wir nichts mehr, als sie, sehen können, wodurch wir für den Augenblick unfähig werden, das Anderweitige zu berücksichtigen. (W. II, 164) Durch den Affekt wird die Fähigkeit der Überlegung und damit die Intellektuelle Freiheit in gewissem Grade aufgehoben. (W. II, 679) 14 Seneca: Ep. mor. 8 („Außer Dienst“) Schopenhauer: 5 10 Zu eigentlichen Geisteswerken, zu Gedanken, die als solche und an sich dauern-­‐
den Wert haben, ist der gewöhnliche Mensch nie, und das Genie nur in seltenen Augenblicken fähig. Daher ist jedes seinsollende Geisteswerk misslungen und dem Untergange bestimmt, wenn der Autor nur die normalen Geisteskräfte hat-­‐
te und auch, wenn er es als fortlaufende Arbeit schrieb, an die er ging, wie er jedes Mal war, sich hinsetzend mit dem Gedanken: “nun will ich schreiben”. Denn da schreibt er bloß aus der Erinnerung und zwar aus einer ganz allgemei-­‐
nen, von vielen verschiedenartigen Anschauungen abstrahierten Erinnerung; bloße Begriffe sind ihm gegenwärtig. Hingegen im begeisterten Moment schreibt er aus einer gegenwärtigen Anschauung, einem neuen frischen Aper-­‐
cu1, vor welchem ihm die übrige Welt verschwindet. (H. 470) 1 Apercu = Einblick Seneca: Ep. mor. 14 („Der richtige Umgang mit Mächtigen“) Schopenhauer: 5 10 In Republiken wird es den überlegenen Köpfen schwerer, zu hohen Stellen und dadurch zu unmittelbarem politischen Einfluss zu gelangen, als in Monarchien. Denn gegen solche Köpfe sind nun einmal überall und immer sämtliche bor-­‐
nierte, schwache und gewöhnliche Köpfe instinktmäßig verbündet. Ihrer stets zahlreichen Schar nun wird es bei einer republikanischen Verfassung leicht ge-­‐
lingen, die überlegenen zu unterdrücken und auszuschließen, um ja nicht von ihnen überflügelt zu werden. In der Monarchie dagegen ist diese überall natür-­‐
liche ligue1 der bornierten gegen die bevorzugten Köpfe doch nur einseitig vor-­‐
handen, nämlich bloß von unten; von oben hingegen haben hier Verstand und Talent natürliche Fürsprache und Beschützer. In Monarchien hat der Verstand immer noch viel bessere Chancen gegen seinen unversöhnlichen und allgegen-­‐
wärtigen Feind, die Dummheit, als in Republiken. Dieser Vorzug aber ist ein großer. (P. II, 270 fg.) 2 ligue (frz.) = Gruppe 15 Die gerade vorgestellte Auswahl mag für eine Unterrichtseinheit genügen. Wenn weitere Vergleichstexte erwünscht sind, kann auf diese nach Stichworte geordneten Sammlun-­‐
gen zurückgegriffen werden:  http://www.schopenhauers-­‐kosmos.de/  Spiering, V.: Kleines Schopenhauer-­‐Lexikon, Stuttgart 2010. Vielleicht ist die Lehrkraft selbst kein Schopenhauer-­‐Experte. Dann helfen die folgenden Darstellungen, um sich einen guten Überblick zu verschaffen:  Spiering, V.: Arthur Schopenhauer zur Einführung, Hamburg 42015.  Safranski, R.: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie, Frankfurt a. M. 72001. 5. Seneca hätte es so gewollt Senecas Briefe sind paränetisch und doch keine Predigt: Die Monologe sind Dialoge mit dem philosophisch gebildeten Leser. Lucilius steht stellvertretend für ein Gegenüber, das von ihm lernt. Er befindet sich in der Rolle des selbstbewussten Schülers – wie auch wir. Der Dialog erstreckt sich aber noch weiter: Seneca kommuniziert intertextuell mit ande-­‐
ren Philosophen: am liebsten mit Epikur. Er ist sein Sparringspartner besonders in den ersten Briefen. Die Kommunikation mit ihm und anderen Denkern erfolgt auf Augenhö-­‐
he und diskursiv. Als ein solcher Diskussionspartner muss auch Schopenhauer erschei-­‐
nen: Seneca hätte in ihm einen ebenbürtigen Freund entdeckt und vielleicht sogar einen Weisen, immerhin aber einen Menschen, der sein Leben ganz und gar der Philosophie widmet. 16