Fallbeschreibung_TUeV Rheinland_RanaPlaza_20150707

FALLBESCHREIBUNG
Mehr Show als Sicherheit:
Audits und Zertifikate in der Textilindustrie
Der Einsturz von Rana Plaza
Mehr als 1.130 Tote und mindestens 1.800 Verletzte, aber kein einziges
Unternehmen, das bisher die rechtliche Verantwortung für den Einsturz des
Fabrikkomplexes Rana Plaza am 24. April 2013 in Dhaka (Bangladesch)
übernommen hat. Die toten und verletzten Arbeiterinnen und Arbeiter waren
kaum aus den Trümmern von Rana Plaza geborgen, da verwiesen viele der
Firmen, die dort Textilien produzierten oder produzieren ließen, auf Zertifikate
zu Sicherheits- und Arbeitsstandards. Damit wiesen die Hersteller, Labels,
Importeure und Händler jegliche Verantwortung für die Katastrophe von sich.
Grund des Einsturzes, so stellte einen Untersuchungsausschuss der Regierung in
Dhaka fest, waren massive Baumängel: Eine gültige Genehmigung für den
Einsatz als Textilfabrik hatte das Gebäude angeblich nicht. Die Zwischendecken
und Stützen waren zu dünn, gleichzeitig aber die Fabrikmaschinen in den oberen
Stockwerken zu schwer. Der Gebäudekomplex war ursprünglich als
Einkaufszentrum geplant gewesen. Die Genehmigung für eine Aufstockung um
mehrere Stockwerke und die Umwandlung in einen Industriekomplex scheint auf
illegale Weise erreicht worden zu sein. Die Aufstockung um mehrere
Stockwerke und die Umwandlung in einen Fabrikkomplex mit schweren
Maschinen dürfte auch den örtlichen Baugesetzen und Sicherheitsbestimmungen
nicht entsprochen haben. Wäre der Verstoß gegen Sicherheitsbestimmungen
aufgedeckt worden, hätte das Unglück verhindert werden können.
Exemplarisch zeigt sich am Rana Plaza-Einsturz, dass die Zertifikate in der
Textilindustrie vor allem dem Image der Label, Hersteller und Händler in der
Textilindustrie dienen. Den Arbeiterinnen und Arbeitern in den globalen
Produktions- und Lieferketten nutzen die Zertifikate wenig. Zumal die
Unternehmen, die die Produktionsstätten für solche Zertifikate prüfen, nicht für
ihre Berichte haften.
Der Prüfbericht des TÜV Rheinland zu Phantom Apparel Ltd.
In dem achtstöckigen Rana Plaza-Gebäude befanden sich die Produktionsstätten
von fünf Textilherstellern, die für den europäischen und den US-Markt
produzierten: Phantom Apparels Ltd., Phantom Tec Ltd., Ether Tex. Ltd., New
Wave Bottoms Ltd. und New Wave Style Ltd.
Wenige Monate vor der Katastrophe – im Juni 2012 – prüfte der TÜV Rheinland
die Produktionsstätte von Phantom Apparel Ltd. in Rana Plaza. Offensichtliche
Baumängel oder andere Defizite bei dem Textilhersteller aus Bangladesch listete
der Audit Report (Prüfungsbericht) des TÜV Rheinland nicht auf. Ob bei
Phantom Apparel Ltd. Kinder arbeiteten und ob die Arbeitszeiten der
Arbeiterinnen und Arbeiter zur Berechnung ihrer Sozialleistungen ausreichend
dokumentiert wurden, hat TÜV Rheinland nicht mit der gebotenen Sorgfalt
geprüft.
Der TÜV Rheinland wurde von einem Mitglied der Business Social Compliance
Initiative (BSCI) mit der Durchführung eines Audits beauftragt. Das deutsche
Zertifizierungsunternehmen führte das Audit (Prüfungsprozess) nach dem
SEDEX-Standard, den es selbst entwickelt hat, sowie nach den Vorgaben der
BSCI durch.
Die BSCI wurde 2003 als Initiative der Foreign Trade Association gegründet.
Die Plattform, der mehr als 800 europäische Hersteller, Importeure und
Einzelhändler angehören, beruft sich auf die Standards der Internationalen
Arbeitsorganisation (ILO). Die BSCI-Mitglieder verpflichten sich, die
Sicherheits- und Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern zu überwachen
und zu verbessern. Hierzu hat BSCI einen Code of Conduct entwickelt, zu
dessen Einhaltung sich die Mitglieder verpflichten.
TÜV Rheinland ist derzeit eines von 19 Zertifizierungsunternehmen, das die
BSCI für die Durchführung von Audits empfiehlt und bezeichnet seine
Leistungen sowie die Prüfungsberichte als „Ausweis für den Weltmarkt“. Sein
Leitbild beschreibt das Unternehmen als Pflicht „das Leben sicherer“ zu machen.
„Sicherheit, Qualität, Gesundheit, Effizienz und Compliance sind die Ergebnisse
unserer Arbeit […]. Dies gilt für alle unsere Tätigkeiten, sowohl lokale als auch
globale“ (http://www.indiamart.com/tuvrheinland/profile.html).
Was der Prüfungsbericht von TÜV Rheinland nicht aufdeckte
Nach der Analyse der Untersuchungsberichte zum Einsturz von Rana Plaza,
sowie Interviews mit ehemaligen Beschäftigten und Angehörigen verstorbener
Arbeiterinnen und Arbeiter von Phantom Apparel Ltd. geht das ECCHR davon
aus, dass der TÜV Rheinland in der Produktionsstätte von Phantom Apparel Ltd.
im Rana Plaza-Gebäude entscheidende Verstöße gegen die BSCI-Standards nicht
erkannte.
Der Audit Report vom 16/17/18 Juni 2012 lässt darauf schließen, dass die
Auditors einige offensichtliche Verstöße gegen die Vorgaben – den Code of
Conduct – der BSCI nicht feststellten:
-
Wenn es sich bestätigt, dass es keine gültige Baugenehmigung gab und
die Dokumentation der Registrierung der Arbeitskräfte unzureichend
war.
(Regel 1 der Legal Compliance des Code of Conduct)
-
Wenn es sich bestätigt, dass es offensichtliche Mängel bei der
Gebäudesicherheit
und
bei
der
Baustruktur
gab.
(Regel 6 des Workplace Health and Safety des Code of Conduct)
-
Wenn es sich bestätigt, dass unter den Arbeitskräften Kinder waren
beziehungsweise, dass die „Young Workers“ Überstunden leisten
mussten.
(Regel 7 der Prohibition of Child Labor des Code of Conduct)
-
Wenn es sich bestätigt, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter weder den
BSCI-Beschwerdemechanismus noch ihre Rechte, wie beispielsweise das
Recht, ein offensichtlich baufälliges Gebäude nicht betreten zu müssen,
kannten.
(Terms of Implementation des Code of Conduct)
Angaben zu den Standards für Prüfberichte enthalten neben dem Code of
Conduct der BSCI auch das Management Manual, die Richtlinien für Verträge
mit
Zertifizierungsunternehmen
sowie
andere
Dokumente
zu
Unternehmenspolitiken und sozialen Audits.
Zertifizierungsunternehmen sollen allgemein (1) die besonderen Umstände des
jeweiligen Landes berücksichtigen; (2) ein professionelles Maß an Skepsis
anwenden und Informationen eingehend prüfen (3) über die einfache
Überprüfung anhand einer Checkliste hinausgehen und eine eingehende und
vollumfängliche Überprüfung vornehmen; (4) mit einem kompetenten und
geschulten Team arbeiten und nicht zuletzt (5) Bewusstsein im Hinblick auf die
Verletzlichkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter zeigen.
Nach Ansicht des ECCHR hätte TÜV Rheinland, um diesen Standards als BSCIPrüfer Genüge zu tun, Informationen nicht als gegeben hinnehmen dürfen. Er
hätte insbesondere überprüfen müssen, ob offizielle Angaben zutreffend waren
und ob die vorgelegten Dokumente den gültigen gesetzlichen Vorgaben
entsprechen konnten. Auch die Umsetzung des Plans zur Mängelbeseitigung
hätte TÜV Rheinland für ein BSCI-Audit angemessen überprüfen müssen.
Beschwerde des ECCHR beim BSCI
Nach Ansicht des European Center for Constitutional and Human Rights
(ECCHR) ergibt sich aus dem Audit Report (Prüfungsbericht) des TÜV
Rheinland, dass einige Vorgaben des BSCI Code of Conduct nicht eingehalten
wurden. Der TÜV Rheinland ist bei dem BSCI Audit nicht mit der erforderlichen
Sorgfalt vorgegangen. Anders ist es nicht zu erklären, dass offensichtliche
Gebäudemängel nicht erkannt wurden und in dem Audit Report nicht aufgeführt
sind. Deswegen hat das ECCHR gemeinsam mit der Kampagne für Saubere
Kleidung (CCC), medico international und dem Activist Anthropologist
Collective aus Bangladesch Beschwerde bei der BSCI eingelegt.
In der Beschwerde weisen die Organisationen beispielsweise darauf hin, dass es
in dem TÜV-Bericht heißt: „Gebäude- und Maschinenlayout sind
prozessorientiert, die Gebäudekonstruktion ist qualitativ hochwertig,
ordnungsgemäß geprüft“. Aus Sicht des ECCHR hätten die Prüfer
offensichtliche Mängel in der Gebäudesicherheit feststellen müssen, wenn sie
das Rana Plaza-Gebäude angemessen geprüft hätten. Allein der Umstand, dass in
Bangladesch schon mehrfach Textilfabrikgebäude eingestürzt waren, hätte
erwarten lassen, dass die Prüfer des TÜV Rheinland auf die Gebäudesicherheit
besonderes Augenmerk richteten. Der Code of Conduct der BSCI fordert seine
Mitgliedsunternehmen ausdrücklich auf, „effektive Maßnahmen zu treffen, um
Unfälle und Verletzungen der Beschäftigten, zu vermeiden … und dabei
spezifische Kenntnisse über die jeweilige Industriebranche und besondere
Gefahren zu berücksichtigen.“.
Die Organisationen fordern von der BSCI, ihrer Verantwortung zum Erhalt der
Qualität des Zertifikats gerecht zu werden, indem die Plattform einerseits
Klagemöglichkeiten für die Geschädigten schafft und andererseits TÜV
Rheinland als zertifizierendes Unternehmen wegen der Pflichtverstöße
sanktioniert. Die Berichte von TÜV Rheinland und anderen zu Rana Plaza
müssen veröffentlichet und die Rahmenbedingungen für die Prüfungsberichte
grundlegend geändert werden. Nach Ansicht des ECCHR sollten die
Arbeiterinnen und Arbeiter ausdrücklich und eingehend einbezogen werden. Vor
allem aber müssen Zertifizierungsunternehmen haftbar gemacht werden können,
denn sie spielen eine Schlüsselrolle in den Produktions- und Lieferketten der
globalen Textilindustrie.
Die „Industrie“ der Audits und Zertifikate
Transnationale Textilfirmen und –händler fordern von ihren lokalen Produzenten
und Zulieferern oft Zertifikate über die Arbeitsbedingungen und die Einhaltung
von Sicherheitsstandards. In vielen Produktionsländern der globalen
Textilindustrie jedoch fehlt es an Behörden, an Mitteln und Personal, um die
Produktionsstätten stichhaltig zu kontrollieren. Vor diesem Hintergrund ist eine
regelrechte „Prüfungs- und Zertifizierungs-Industrie“ entstanden, in der
kommerzielle Privatunternehmen dominieren.
Diese Prüfungs-Unternehmen (Auditors) erhalten – meist von den lokalen
Herstellern oder von internationalen Herstellungsketten international bekannter
Marken und Händlern – den Auftrag, bestimmte Fabriken zu inspizieren und zu
zertifizieren. Ihre Berichte sind zugleich Bedingung als auch Grundlage für so
genannte Compliance-Zertifikate wie den SA 8000 oder den der BSCI.
Wie wenig aussagekräftig viele dieser Prüfungsberichte und Zertifikate sind,
zeigt sich nicht nur an der Rana Plaza-Katastrophe, sondern auch an anderen
Unglücken in der Textilindustrie. So war die Fabrik Ali Enterprises in Pakistan,
die vorwiegend für den deutschen Textilhändler KiK produzierte, kurz vor dem
verheerenden Brand im September 2012 konform der SA 8000 Standards
zertifiziert worden.
Gründe für die mangelhaften oder unzureichenden Prüfungsberichte gibt es
etliche: In vielen Fällen folgen private Audits lediglich vorgefertigten
Fragebögen, sie beinhalten keine Interviews mit Arbeiterinnen und Arbeitern
außerhalb der Fabrik, wo diese frei über ihre Arbeitsbedingungen sprechen
könnten. Die Fabrikbesitzer hingegen werden oftmals im Voraus über das Datum
der geplanten Audits informiert, was ihnen ermöglicht, die Bedingungen in der
Fabrik zu steuern wenn nicht gar zu manipulieren. Immer wieder gibt es auch
Berichte über korrupte Zertifizierer.
Obwohl diese Mängel längst und hinlänglich bekannt sind, erwarten die
internationalen Marken und Händler von ihren lokalen Produzenten
entsprechende Zertifikate – denn sie ermöglichen den Firmen, sich auf dem
Markt in Europa und den USA als Unternehmen zu präsentieren, die sozial- und
menschenrechtlich verantwortungsvoll handeln.
Der BSCI mit ihren mehr als 800 Mitgliederunternehmen kommt eine besondere
Verantwortung zu: Wenn eine Plattform für sich beansprucht, dass ihre
Mitgliedsunternehmen auf die Einhaltung bestimmter Standards besonderen
Wert legen und auch Prozesse sowie Zertifizierungsunternehmen empfiehlt, um
diese Standards zu erreichen, dann muss sie auch dafür sorgen, dass
Zertifizierungsunternehmen für unzureichende oder mangelhafte Berichte
rechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Audits, die BSCIStandards verfehlen, sollten dazu führen können, die Zusammenarbeit mit einem
Zertifizierungsunternehmen zu beenden. Wenn das BSCI Inhalte und Methoden
der Prüfberichte nicht grundlegend ändert, sollte es die Zertifizierungen, die viel
versprechen und wenig halten, gänzlich abschaffen.
Stand: Juni 2015
European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) e.V.
www.ecchr.eu