FALLBESCHREIBUNG Mehr Show als Sicherheit: Audits und Zertifikate in der Textilindustrie Der Einsturz von Rana Plaza Mehr als 1.130 Tote und mindestens 1.800 Verletzte, aber kein einziges Unternehmen, das bisher die rechtliche Verantwortung für den Einsturz des Fabrikkomplexes Rana Plaza am 24. April 2013 in Dhaka (Bangladesch) übernommen hat. Die toten und verletzten Arbeiterinnen und Arbeiter waren kaum aus den Trümmern von Rana Plaza geborgen, da verwiesen viele der Firmen, die dort Textilien produzierten oder produzieren ließen, auf Zertifikate zu Sicherheits- und Arbeitsstandards. Damit wiesen die Hersteller, Labels, Importeure und Händler jegliche Verantwortung für die Katastrophe von sich. Grund des Einsturzes, so stellte einen Untersuchungsausschuss der Regierung in Dhaka fest, waren massive Baumängel: Eine gültige Genehmigung für den Einsatz als Textilfabrik hatte das Gebäude angeblich nicht. Die Zwischendecken und Stützen waren zu dünn, gleichzeitig aber die Fabrikmaschinen in den oberen Stockwerken zu schwer. Der Gebäudekomplex war ursprünglich als Einkaufszentrum geplant gewesen. Die Genehmigung für eine Aufstockung um mehrere Stockwerke und die Umwandlung in einen Industriekomplex scheint auf illegale Weise erreicht worden zu sein. Die Aufstockung um mehrere Stockwerke und die Umwandlung in einen Fabrikkomplex mit schweren Maschinen dürfte auch den örtlichen Baugesetzen und Sicherheitsbestimmungen nicht entsprochen haben. Wäre der Verstoß gegen Sicherheitsbestimmungen aufgedeckt worden, hätte das Unglück verhindert werden können. Exemplarisch zeigt sich am Rana Plaza-Einsturz, dass die Zertifikate in der Textilindustrie vor allem dem Image der Label, Hersteller und Händler in der Textilindustrie dienen. Den Arbeiterinnen und Arbeitern in den globalen Produktions- und Lieferketten nutzen die Zertifikate wenig. Zumal die Unternehmen, die die Produktionsstätten für solche Zertifikate prüfen, nicht für ihre Berichte haften. Der Prüfbericht des TÜV Rheinland zu Phantom Apparel Ltd. In dem achtstöckigen Rana Plaza-Gebäude befanden sich die Produktionsstätten von fünf Textilherstellern, die für den europäischen und den US-Markt produzierten: Phantom Apparels Ltd., Phantom Tec Ltd., Ether Tex. Ltd., New Wave Bottoms Ltd. und New Wave Style Ltd. Wenige Monate vor der Katastrophe – im Juni 2012 – prüfte der TÜV Rheinland die Produktionsstätte von Phantom Apparel Ltd. in Rana Plaza. Offensichtliche Baumängel oder andere Defizite bei dem Textilhersteller aus Bangladesch listete der Audit Report (Prüfungsbericht) des TÜV Rheinland nicht auf. Ob bei Phantom Apparel Ltd. Kinder arbeiteten und ob die Arbeitszeiten der Arbeiterinnen und Arbeiter zur Berechnung ihrer Sozialleistungen ausreichend dokumentiert wurden, hat TÜV Rheinland nicht mit der gebotenen Sorgfalt geprüft. Der TÜV Rheinland wurde von einem Mitglied der Business Social Compliance Initiative (BSCI) mit der Durchführung eines Audits beauftragt. Das deutsche Zertifizierungsunternehmen führte das Audit (Prüfungsprozess) nach dem SEDEX-Standard, den es selbst entwickelt hat, sowie nach den Vorgaben der BSCI durch. Die BSCI wurde 2003 als Initiative der Foreign Trade Association gegründet. Die Plattform, der mehr als 800 europäische Hersteller, Importeure und Einzelhändler angehören, beruft sich auf die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Die BSCI-Mitglieder verpflichten sich, die Sicherheits- und Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern zu überwachen und zu verbessern. Hierzu hat BSCI einen Code of Conduct entwickelt, zu dessen Einhaltung sich die Mitglieder verpflichten. TÜV Rheinland ist derzeit eines von 19 Zertifizierungsunternehmen, das die BSCI für die Durchführung von Audits empfiehlt und bezeichnet seine Leistungen sowie die Prüfungsberichte als „Ausweis für den Weltmarkt“. Sein Leitbild beschreibt das Unternehmen als Pflicht „das Leben sicherer“ zu machen. „Sicherheit, Qualität, Gesundheit, Effizienz und Compliance sind die Ergebnisse unserer Arbeit […]. Dies gilt für alle unsere Tätigkeiten, sowohl lokale als auch globale“ (http://www.indiamart.com/tuvrheinland/profile.html). Was der Prüfungsbericht von TÜV Rheinland nicht aufdeckte Nach der Analyse der Untersuchungsberichte zum Einsturz von Rana Plaza, sowie Interviews mit ehemaligen Beschäftigten und Angehörigen verstorbener Arbeiterinnen und Arbeiter von Phantom Apparel Ltd. geht das ECCHR davon aus, dass der TÜV Rheinland in der Produktionsstätte von Phantom Apparel Ltd. im Rana Plaza-Gebäude entscheidende Verstöße gegen die BSCI-Standards nicht erkannte. Der Audit Report vom 16/17/18 Juni 2012 lässt darauf schließen, dass die Auditors einige offensichtliche Verstöße gegen die Vorgaben – den Code of Conduct – der BSCI nicht feststellten: - Wenn es sich bestätigt, dass es keine gültige Baugenehmigung gab und die Dokumentation der Registrierung der Arbeitskräfte unzureichend war. (Regel 1 der Legal Compliance des Code of Conduct) - Wenn es sich bestätigt, dass es offensichtliche Mängel bei der Gebäudesicherheit und bei der Baustruktur gab. (Regel 6 des Workplace Health and Safety des Code of Conduct) - Wenn es sich bestätigt, dass unter den Arbeitskräften Kinder waren beziehungsweise, dass die „Young Workers“ Überstunden leisten mussten. (Regel 7 der Prohibition of Child Labor des Code of Conduct) - Wenn es sich bestätigt, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter weder den BSCI-Beschwerdemechanismus noch ihre Rechte, wie beispielsweise das Recht, ein offensichtlich baufälliges Gebäude nicht betreten zu müssen, kannten. (Terms of Implementation des Code of Conduct) Angaben zu den Standards für Prüfberichte enthalten neben dem Code of Conduct der BSCI auch das Management Manual, die Richtlinien für Verträge mit Zertifizierungsunternehmen sowie andere Dokumente zu Unternehmenspolitiken und sozialen Audits. Zertifizierungsunternehmen sollen allgemein (1) die besonderen Umstände des jeweiligen Landes berücksichtigen; (2) ein professionelles Maß an Skepsis anwenden und Informationen eingehend prüfen (3) über die einfache Überprüfung anhand einer Checkliste hinausgehen und eine eingehende und vollumfängliche Überprüfung vornehmen; (4) mit einem kompetenten und geschulten Team arbeiten und nicht zuletzt (5) Bewusstsein im Hinblick auf die Verletzlichkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter zeigen. Nach Ansicht des ECCHR hätte TÜV Rheinland, um diesen Standards als BSCIPrüfer Genüge zu tun, Informationen nicht als gegeben hinnehmen dürfen. Er hätte insbesondere überprüfen müssen, ob offizielle Angaben zutreffend waren und ob die vorgelegten Dokumente den gültigen gesetzlichen Vorgaben entsprechen konnten. Auch die Umsetzung des Plans zur Mängelbeseitigung hätte TÜV Rheinland für ein BSCI-Audit angemessen überprüfen müssen. Beschwerde des ECCHR beim BSCI Nach Ansicht des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) ergibt sich aus dem Audit Report (Prüfungsbericht) des TÜV Rheinland, dass einige Vorgaben des BSCI Code of Conduct nicht eingehalten wurden. Der TÜV Rheinland ist bei dem BSCI Audit nicht mit der erforderlichen Sorgfalt vorgegangen. Anders ist es nicht zu erklären, dass offensichtliche Gebäudemängel nicht erkannt wurden und in dem Audit Report nicht aufgeführt sind. Deswegen hat das ECCHR gemeinsam mit der Kampagne für Saubere Kleidung (CCC), medico international und dem Activist Anthropologist Collective aus Bangladesch Beschwerde bei der BSCI eingelegt. In der Beschwerde weisen die Organisationen beispielsweise darauf hin, dass es in dem TÜV-Bericht heißt: „Gebäude- und Maschinenlayout sind prozessorientiert, die Gebäudekonstruktion ist qualitativ hochwertig, ordnungsgemäß geprüft“. Aus Sicht des ECCHR hätten die Prüfer offensichtliche Mängel in der Gebäudesicherheit feststellen müssen, wenn sie das Rana Plaza-Gebäude angemessen geprüft hätten. Allein der Umstand, dass in Bangladesch schon mehrfach Textilfabrikgebäude eingestürzt waren, hätte erwarten lassen, dass die Prüfer des TÜV Rheinland auf die Gebäudesicherheit besonderes Augenmerk richteten. Der Code of Conduct der BSCI fordert seine Mitgliedsunternehmen ausdrücklich auf, „effektive Maßnahmen zu treffen, um Unfälle und Verletzungen der Beschäftigten, zu vermeiden … und dabei spezifische Kenntnisse über die jeweilige Industriebranche und besondere Gefahren zu berücksichtigen.“. Die Organisationen fordern von der BSCI, ihrer Verantwortung zum Erhalt der Qualität des Zertifikats gerecht zu werden, indem die Plattform einerseits Klagemöglichkeiten für die Geschädigten schafft und andererseits TÜV Rheinland als zertifizierendes Unternehmen wegen der Pflichtverstöße sanktioniert. Die Berichte von TÜV Rheinland und anderen zu Rana Plaza müssen veröffentlichet und die Rahmenbedingungen für die Prüfungsberichte grundlegend geändert werden. Nach Ansicht des ECCHR sollten die Arbeiterinnen und Arbeiter ausdrücklich und eingehend einbezogen werden. Vor allem aber müssen Zertifizierungsunternehmen haftbar gemacht werden können, denn sie spielen eine Schlüsselrolle in den Produktions- und Lieferketten der globalen Textilindustrie. Die „Industrie“ der Audits und Zertifikate Transnationale Textilfirmen und –händler fordern von ihren lokalen Produzenten und Zulieferern oft Zertifikate über die Arbeitsbedingungen und die Einhaltung von Sicherheitsstandards. In vielen Produktionsländern der globalen Textilindustrie jedoch fehlt es an Behörden, an Mitteln und Personal, um die Produktionsstätten stichhaltig zu kontrollieren. Vor diesem Hintergrund ist eine regelrechte „Prüfungs- und Zertifizierungs-Industrie“ entstanden, in der kommerzielle Privatunternehmen dominieren. Diese Prüfungs-Unternehmen (Auditors) erhalten – meist von den lokalen Herstellern oder von internationalen Herstellungsketten international bekannter Marken und Händlern – den Auftrag, bestimmte Fabriken zu inspizieren und zu zertifizieren. Ihre Berichte sind zugleich Bedingung als auch Grundlage für so genannte Compliance-Zertifikate wie den SA 8000 oder den der BSCI. Wie wenig aussagekräftig viele dieser Prüfungsberichte und Zertifikate sind, zeigt sich nicht nur an der Rana Plaza-Katastrophe, sondern auch an anderen Unglücken in der Textilindustrie. So war die Fabrik Ali Enterprises in Pakistan, die vorwiegend für den deutschen Textilhändler KiK produzierte, kurz vor dem verheerenden Brand im September 2012 konform der SA 8000 Standards zertifiziert worden. Gründe für die mangelhaften oder unzureichenden Prüfungsberichte gibt es etliche: In vielen Fällen folgen private Audits lediglich vorgefertigten Fragebögen, sie beinhalten keine Interviews mit Arbeiterinnen und Arbeitern außerhalb der Fabrik, wo diese frei über ihre Arbeitsbedingungen sprechen könnten. Die Fabrikbesitzer hingegen werden oftmals im Voraus über das Datum der geplanten Audits informiert, was ihnen ermöglicht, die Bedingungen in der Fabrik zu steuern wenn nicht gar zu manipulieren. Immer wieder gibt es auch Berichte über korrupte Zertifizierer. Obwohl diese Mängel längst und hinlänglich bekannt sind, erwarten die internationalen Marken und Händler von ihren lokalen Produzenten entsprechende Zertifikate – denn sie ermöglichen den Firmen, sich auf dem Markt in Europa und den USA als Unternehmen zu präsentieren, die sozial- und menschenrechtlich verantwortungsvoll handeln. Der BSCI mit ihren mehr als 800 Mitgliederunternehmen kommt eine besondere Verantwortung zu: Wenn eine Plattform für sich beansprucht, dass ihre Mitgliedsunternehmen auf die Einhaltung bestimmter Standards besonderen Wert legen und auch Prozesse sowie Zertifizierungsunternehmen empfiehlt, um diese Standards zu erreichen, dann muss sie auch dafür sorgen, dass Zertifizierungsunternehmen für unzureichende oder mangelhafte Berichte rechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Audits, die BSCIStandards verfehlen, sollten dazu führen können, die Zusammenarbeit mit einem Zertifizierungsunternehmen zu beenden. Wenn das BSCI Inhalte und Methoden der Prüfberichte nicht grundlegend ändert, sollte es die Zertifizierungen, die viel versprechen und wenig halten, gänzlich abschaffen. Stand: Juni 2015 European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) e.V. www.ecchr.eu
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