Meditatives Gehen

Meditatives Gehen
Stehen und Gehen
Eine besondere Übung ist das meditative Gehen. Es wird im Osten in verschiedener Weise geübt. Eine
auch für uns lehrreiche und für den inneren Weg förderliche Form, genannt Kin-hin, wird in japanische
Klöstern zur Unterbrechung des Za-Zen geübt. Zeitdauer etwa zehn Minuten nach dreißig Minuten
Sitzen. Das Tempo wird variiert zwischen einem schnellen Gehen und einer Art Zeitlupengang. Ihm voran
geht zweckmäßigerweise das meditative Stehen.
Das ist eine eigene Übung. Weisung: Stehen! Kräftig hinstehen! Den Schwerpunkt in der Mitte, die Kraft
im Hara spüren! Von der Mitte aus nach unten und oben spüren. Nach unten zur Erde, nach oben über
den Scheitel zur Decke, zum Himmel hinspüren. Mit jedem Ausatem sich tiefer in die Erde hineinspüren.
Der Sinn fort-schreitenden Erdens ist das Wachsen nach oben. Im Atemrhythmus stehen. Unwillkürlich
schwingt der Leib beim Ausatem ein wenig nach vorn, den Schwerpunkt auf den Fußballen, beim
Einatem wieder zurück auf die Fersen. Ein leichtes Schwingen. Jeder Ausatem löst die Schultern noch
mehr. Die Arme scheinen länger zu werden, die Fingerspitzen den Boden zu fühlen. In alledem ein
Stehen in vollkommener Stille.
Dem Stehen folgt das Kin-hin: Erst richtig stehen, so als wollte man das meditative Stehen üben. Linke
Hand zur Faust schließen, Daumen in die geschlossene Hand, Faust mit leichtem Druck auf das
Brustbein, Fingerknöchel nach oben. Die rechte Hand liegt mit leichtem Druck des Handballens der
rechten Hand auf den Fingern der linken Hand, Unterarme hoch zur Waagerechten, Schultern gelöst
fallen lassen. So wird es im Soto-Zen geübt. Im Rinzai dagegen liegt der Mittelfinger der rechten Hand
auf der Herzgrube und der Daumen der linken Hand so in die rechte Hand geschoben, dass er die Mitte
des rechten Handtellers berührt. Die Ellenbogen hängen in natürlicher Weise herab.
Das Gehen als maximal langsames Gehen ist ein Zeitlupengang, eine Gleichgewichtsübung im
Rhythmus des Atems, eines ganz ruhigen Atems, der, wie wir ihn beim Sitzen kennenlernten, mindestens
für jeden Atemzug vier Sekunden dauern sollte (drei für den Ausatem, eine für den Einatem), dann je
nach Können statt 3:1 auch im Rhythmus von 7:1 oder sogar 11:1 vollzogen werden kann. In diesem
Rhythmus wird der Fuß aufgesetzt, abgerollt und abgestoßen in dem Augenblick, in dem der andere
aufsetzt. Die Schrittlänge beträgt mindestens einen halben Fuß, d. h.: mit dem linken Fuß beginnend,
setzt man die Ferse des linken Fußes auf der Höhe der Hälfte des rechten Fußes nieder. Man setzt den
Fuß mit dem Ausatem auf, verlagert langsam und stetig das Gewicht vom Absatz auf den Fußballen.
Sobald man auf der linken Ferse steht, beginnt die rechte Ferse sich zu heben. Ist das Gewicht dann am
Ende des Ausatems ganz auf den Ballen des linken Fußes verlagert, dann wird der rechte Fuß mit dem
Einatem hochgezogen und setzt sich mit Beginn des neuen Ausatems mit der Ferse auf der Höhe der
Hälfte des linken Fußes nieder. Das ist das Grundschema des Kin-hin. Kleine Abwandlungen betreffen
die Größe des Schrittes, das Tempo, die Verteilung des Atems auf die Schrittfigur. Beim Gehen darf der
übende keinen Bruchteil einer Sekunde stehen bleiben. Die innere Rhythmisierung der einzelnen Schritte
durch den Atem erleichtert die nie zu unterbrechende, stetige Vorwärtsbewegung.
Anfänglich ist es schwer, das Gleichgewicht ohne Schwankungen oder Zuckungen zu halten. Es hängt
wesentlich davon ab, dass der Übende beim Gehen seinen Schwerpunkt im Hara hat. Ein Buch auf dem
Kopf erleichtert die Einübung der rechten Haltung.
So wie es zweckmäßig ist, dem Gehen zwei Minuten stillen Stehens vorangehen zu lassen, so auch, dem
Gehen zwei Minuten Stehen nachfolgen zu lassen, ehe man sich zur Fortsetzung des Za-Zen wieder
niedersetzt. Das Niedersetzen wie auch das Aufstehen sollte immer in gleicher Weise erfolgen. Ein jeder
mag seine eigene Weise finden, doch diese eigene Weise des Niedersetzens und Aufstehens sollte eine
immer gleiche, vollendete Bewegung sein und sich so in die Übung des Za-Zen harmonisch einfügen. Die
Übung als ganze sollte zeremoniellen Charakter haben, den Charakter einer kultischen Übung, auch
wenn man sie alleine macht. Das Wort „kultisch“ sollte wie das Wort „transzendent“ dabei nicht den
Geschmack von was Irrealem, wogar Verstiegenem haben. Es sollte vielmehr den Sinn einer Handlung
andeuten, die der wahren Wirklichkeit des Seins dienend zugeordnet ist.
Was hier zur Unterbrechung des Za-Zen geübt wird, ist ein Modell bewussten Gehens überhaupt. Zum
Alltag als Übung gehört es, jedes Gehen als eine Gelegenheit des sich Übens wahrzunehmen. Der
Mensch unserer Zeit kennt das Gehen nur als ein zielstrebiges Gehen. Er geht irgendwo hin, aber hat es
vergessen, dass es auch ein „sich Ergehen“ gibt. So gehört zu den Übungen, die ein initiatisch gelebter
Tag enthalten müsste, immer wieder das Sich-Ergehen. Das ist ein Gehen, darin der Gehende versucht,
wirklich sich langsam vom eigenen Rhythmus vorantragen zu lassen, nicht also zielstrebig voran zu
gehen. Es dauert immer eine Weile, bis das stets vorwärtsdrängende Ich sich zurücknehmen lässt und
der Übende von seinem Gehen gleichsam getragen wird. Dann kann das Er-gehen zu einem besonderen
Er-fahren werden.
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Die Übung des langsam passiven Gehens ist eine Weise des zu sich selbst Hinfühlens und zu sich selbst
Hinkommens. Es ist eine Weise, das zwanghafte Gerichtetsein auf und durch irgendein nach außen hin
orientiertes Leistungsziel abzulösen durch eine Wendung nach innen, die, wenn sie gelingt, anstatt einer
Leistung zu dienen, das innere Werden fördert und so der initiatischen Grundeinstellung entspricht, sie
sowohl bewährt, als auch fördert.
(Karfried Graf Dürckheim: Meditieren – wozu und wie, S. 165 ff.)
Das Schreiten
Täglich ziehen die Mönche feierlich zum Chorgebet ein. Das langsame bewusste Schreiten ist eine
Gebetsgebärde. Wir üben im Schreiten ein, dass wir immer auf dem Weg sind und auf Gott zugehen. Mit
jedem Schritt kommen wir Gott näher. Wir erfahren uns als Pilger, aber zugleich als Menschen, die
gehend sich wandeln, die hineingenommen werden in den Weg Jesu, der über das Kreuz zur
Auferstehung führt. Das Schreiten wird als Gebetsgebärde noch in den Prozessionen geübt, die die
Liturgie kennt und die in der Volksfrömmigkeit so beliebt sind. In der Prozession begleiten wir Jesus
Christus und folgen ihm als unserem Herrn nach. Im Gehen üben wir uns ein in seine Nachfolge.
Wir können auch bewusst schreiten, wenn wir zum Gottesdienst die Kirche betreten. Dann ist unser
Gehen ein Gehen auf Gott zu. Wir treten an ihn heran, wir kommen ihm näher, wir betreten bewusst
seinen Bereich. Früher war dieser Aspekt im Stufengebet noch lebendig: „Zum Altare Gottes will ich
treten, zu Gott, der meine Jugend erfreut.“ (Ps 43,4) Eine Form des Schreitens wäre auch der Gang zur
Kommunion. Wir gehen nicht einfach zur Kommunionbank, um dort zu sein, sondern wir schreiten
bewusst zur Begegnung mit Christus. Wie die Kranken im Evangelium gehen wir auf Jesus zu, um von
ihm Heil und Heilung zu erwarten. Wir gehen aus uns heraus, wir werfen wie der blinde Bartimäus unsern
Mantel, unsere Rolle ab, um uns so, wie wir sind, ganz Jesus zuzuwenden, der allein unsere Wunden zu
heilen vermag.
(Anselm Grün: Gebetsgebärden, S. 53 f.)
Gehen
Nach längerem Innehalten in einer Gebärde ist es wohltuend, einfach nur zu gehen, ohne besondere
Struktur: das Abrollen der Füße frei im Raum oder in der freien Natur; unter den Füßen die
unterschiedlichen Qualitäten von Boden zu spüren (auch durch Schuhsohlen hindurch möglich). Es ist
auch ein schnelleres Gehen möglich, Laufen, Hüpfen, etc. Schwingen der Arme. –
Langsam wieder eine Form finden:
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Sich nach links richten, im Uhrzeigersinn gehen – einen Kreis bilden, so dass ungefähr gleich viel
Abstand zwischen den Personen ist.
Das Gehen verinnerlichen. – Bei sich sein.
Der Atem. – Die rechte Hand über die linke etwa auf die Leibesmitte legen, so dass die Unterarme in
der Horizontalen sind.
Aufrechtes Gehen. – Schritt für Schritt. – Das Abrollen der Füße.
Die Augen halb geöffnet. – Aus dem Bei-sich-Sein die Person vor sich wahrnehmen und im selben
Abstand weitergehen. – Mit allen Sinnen gleichsam den Raum um sich wahrnehmen.
Es ist kein Gehen, um irgendwo anzukommen, es ist ein Gehen um des Gehens willen.
Wenn du gehst, dann geh, als seist du schon angekommen. Denn wo du bist, ist alles, was du brauchst.
(Hadjara, arabische Mystikerin)
(Willigis Jäger / Beatrice Grimm: Der Himmel in dir, S. 124)
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