„Schulnoten sind überflüssig“

ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTLER PROF. HANS BRÜGELMANN
„Schulnoten sind überflüssig“
Die Schule stecke im 19. Jahrhundert fest, Schüler würden auf Pisa-Tests dressiert
Prof. Hans Brügelmann ging selbst trotz sehr guter Noten nicht gern zur Schule. Als Fachreferent des
Grundschulverbandes zeigt er auf, was Schulen besser machen können hat mit seinen pädagogischen Ideen
den Lese- und Schreibunterricht reformiert. In seinem neuen Buch „Vermessene Schulen – standardisierte
Schüler“ rechnet Hans Brügelmann (68) mit dem Test-Wahn an Deutschlands Schulen ab.
BILD am SONNTAG: Was läuft an unseren Schulen schief?
HANS BRÜGELMANN: Tests werden viel zu wichtig genommen. Seit Pisa wird Leistung immer stärker
daran gemessen, ob unter Zeitdruck die richtige Antwort gegeben wird. Schüler werden zunehmend
darauf „dressiert“, in Tests gut abzuschneiden. Über ihre eigentlichen Fähigkeiten sagt das aber wenig
aus.
Bei Pisa werden alle drei Jahre in über 60 Ländern 15- bis 16-jährige Schüler in einem
standardisierten Verfahren in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften geprüft. Was ist falsch
daran, Leistung vergleichbar zu machen?
Da werden Äpfel mit Birnen verglichen. Wenn zwei Schüler zur selben Lösung kommen, kann das ganz
unterschiedliche Gründe haben. Beim Lernen geht es nicht nur um Ergebnisse, sondern um die Frage,
wie Schüler zu einer Lösung gekommen sind. Wissen und Denken lassen sich nicht genau so
vergleichen wie etwa die Leistung von technischen Geräten.
Ein Beispiel?
Drei Kinder schreiben das Wort Kino, zwei davon richtig. Das erste schreibt es richtig, weil in seinem
Wohnumfeld ein Kino ist, es das Wort also oft sieht. Das zweite hat jedem Laut einen Buchstaben
zugeordnet – in diesem Fall mit dem richtigen Ergebnis, aber ohne Rechtschreibwissen. Das dritte Kind
hat „Kieno“ geschrieben, weil es bereits weiß, dass ein langes „i“ meist „ie“ geschrieben wird. Es ist also
eigentlich weiter als die anderen beiden, liegt in diesem Fall aber trotzdem falsch. Wichtig sind das
Denken und seine Entwicklung, nicht nur das Ergebnis.
Halten Sie deshalb auch Schulnoten für überflüssig?
Ja, auch die sind zu oberflächlich. Schulnoten halten ihr eigenes Versprechen nicht. In Wirklichkeit sind
sie nicht vergleichbar – ein Kind aus Klasse A kann in Klasse B mit derselben Leistung eine völlig andere
Note bekommen. Sie sind subjektiv – wie ich abschneide, hängt stark von meinem Lehrer ab. Sie sind
nicht hilfreich – weil sie keine Informationen darüber geben, wo genau jemand Probleme hat und wo er
Fortschritte gemacht hat. Als Zahlen täuschen sie Objektivität und Klarheit nur vor!
Und was soll im Zeugnis stehen?
Förderlicher als Ziffernzeugnisse wären gemeinsame Gespräche zwischen Lehrern, Eltern und Kind, in
denen miteinander geklärt wird, wo das Kind steht und wohin es sich entwickeln soll. Einige Schulen
machen das bereits – orientiert an gemeinsamen Bildungsstandards.
Muss Schule Kinder nicht auch darauf vorbereiten, dass Scheitern und Frustration zum Leben
gehören?
Als die Kleinen erleben Kinder schon genug Niederlagen. Das Bild der überbeschützenden
Helikoptereltern trifft in Wirklichkeit nur auf wenige zu. Die Schule muss die Stärken der Kinder
anerkennen und ihnen dort, wo sie etwas nicht können, zeigen, wie sie besser werden können. Wenn
eine Hungersnot bevorsteht, lässt man Kinder doch auch nicht hungern, um sie auf die schwere Zukunft
vorzubereiten. Man stärkt sie, damit sie mit den Einschränkungen zurechtkommen.
Das klingt ein bisschen nach: Es ist wichtiger, dass Schüler lernen gefühlvoll ihren Namen zu
tanzen als eine 1 in Deutsch zu schaffen . . .
Nein, absolut nicht. Es geht nicht um Gefühlsduselei oder Kuschelpädagogik, sondern darum, dass
Kinder an passenden Anforderungen wachsen. Aber das gelingt nicht, indem sie sich oberflächlich
anpassen, sondern indem sie das, was sie lernen sollen, eigenständig verarbeiten. Und das bedeutet
immer auch, dass man Fehler macht. Die sind notwendig als Zwischenschritte.
Fast alle Kinder freuen sich auf den ersten Schultag. Nach ein bis zwei Schuljahren freuen sie
sich meist nur noch auf die Ferien. Warum verlernen so viele die Lust am Lernen?
Weil Schule immer noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts steht, in der Schüler auf Gehorsam und
Anpassung getrimmt wurden. Wir müssen die UNKinderrechtskonvention ernster nehmen! Zum Beispiel
hat der Unterricht zu wenig mit den Alltagserfahrungen und Interessen der Kinder zu tun. Das merkt
man, wenn man Kinder als „Experten“ über ihr Lieblingsthema sprechen lässt, zum Beispiel Pferde oder
Weltraum. Da zeigen viele Kinder Kompetenzen und einen Lerneifer, den die Lehrer sonst nicht so
erleben.
Gestritten wird auch um den Unterrichtsbeginn. Sollte die Schule generell eine Stunde später
anfangen?
Einheitslösungen bringen nichts. Auch unter Schülern gibt es Lerchen und Eulen. Momentan sind die
Langschläfer benachteiligt, umgekehrt wären es die Frühaufsteher. Warum nicht einen „gleitenden
Schulanfang“? Alle Kinder starten gleichzeitig, können sich aber in der ersten Zeit selbst ihre Aufgaben
heraussuchen. Die gemeinsame Arbeit beginnt dann später.
Machen Privatschulen die Bildungslandschaft besser?
Vor zehn Jahren hätte ich diese Frage noch bejaht. Weil es gut ist, in einem stark reglementierten
System Oasen zu haben, in denen etwas Neues probiert wird. In letzter Zeit beobachte ich aber mit
Sorge, dass Eltern der Mittel- und Oberschicht Privatschulen zunehmend nutzen, ihre Kinder aus dem
staatlichen Bildungssystem herauszunehmen. Dadurch entsteht eine gefährliche Entmischung der
Gesellschaft.
Was befürchten Sie konkret?
Schule ist auch ein sozialer Lernraum. Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Milieus lernen andere
Sichtweisen kennen und Konflikte friedlich zu lösen. Nur so kann eine Demokratie wachsen. Dies wird
umso wichtiger, als unsere Gesellschaft immer vielfältiger wird. Wenn da bestimmte Schichten ihre
Kinder aus der gemeinsamen Schule herausziehen, kann sie diese Funktion nicht mehr erfüllen.
Was ist Ihr wichtigster Rat an Eltern, deren Kinder jetzt in die Schule kommen?
Helfen Sie Ihrem Kind, aus seinen Möglichkeiten das Beste zu machen. Setzen Sie es nicht unter den
Druck Ihrer Erwartungen!