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Referat: Heimo Liebl
Theologische Grundlegung Evangelischer Jugendsozialarbeit
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung
aller staatlichen Gewalt“ (GG Art. 1, Abs. 1).
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,
seiner Heimat oder Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen
Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ (GG Art. 3, Abs. 3).
Diese Artikel des Grundgesetzes stehen als Leitlinie und Überschrift über dem
Positionspapier der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit Bayern vom September
1995, in welchem diese ihr eigenes Selbstverständnis zum Ausdruck bringt. Damit schöpft die
Landesarbeitsgemeinschaft aus den Quellen des Grundgesetzes und macht die Würde und das
Lebensrecht eines jeden Menschen zum Maßstab ihres Selbstverständnisses und Handelns.
Die Würde des Menschen zum Ausgangspunkt und Maßstab für das eigene Handeln zu
machen, bestimmt die Identität der Jugendsozial-arbeit auch aufgrund der spezifischen
gesetzlichen Vorgaben. Ihre Aufgabe besteht ja darin, jungen Menschen zu helfen, deren
Würde
immer wieder gefährdet ist, da sie aufgrund „sozialer Benachteiligungen“ oder „individueller
Beinträchtigungen“ in „erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind“ (vgl. § 13 Abs. 1
SGB VIII).
Evangelische Jugendsozialarbeit ist an die gleichen gesetzlichen Voraussetzungen gebunden
und findet sich in diesem Selbstverständnis wieder, was sich auch in dem „Grundlagen“Artikel der zukünftigen Satzung der Evangelischen Jugendsozialarbeit Bayern niederschlägt.
Zugleich bringt sie darüber hinaus mit dem profilierten Zusatz „evangelisch“ zum Ausdruck,
daß sie bei der Frage nach dem Grund ihres Handelns neben den gesetzlichen Quellen aus
noch tieferen Quellen schöpft und schöpfen kann; aus der Quelle christlichen Glaubens. Sie
fragt hinter das Grundgesetz zurück. Sie weiß, daß die Formulierungen über die Würde des
Menschen im Grundgesetz und deren Folgerungen etwa im SGB VIII für die
Jugendsozialarbeit aus langer christlicher Kultur und dem sie prägenden christlichen Geist
erwachsen sind.
Aus diesem christlichen Geist gewinnt sie ihre eigene, besondere Identität; sie weiß, daß die
Identität und Würde der jungen Menschen, für die sie sich einsetzt, durch das Evangelium
begründet ist. Sie hat sich in Bayern deshalb zum Ziel gesetzt, „das Evangelium von Jesus
Christus jungen Menschen in besonderen Lebenslagen“ zu bezeugen (Präambel der Satzung).
Es ist daher naheliegend, nach der theologischen Grundlegung evangelischer
Jugendsozialarbeit zu fragen.
1.
In der Jugendsozialarbeit zeigen sich unterschiedlichste Biographien und Schicksale. Sie
konfrontieren uns mit dem eigenen Menschsein, mit den Zumutungen und Verheißungen des
Lebens, mit dem Rätsel, das gerade ein junger Mensch sich selber sein kann. Sie
konfrontieren uns mit Glaube, mit Hoffnungen und mit Liebe. Aber Biographien und
Schicksale sind ihrer Natur nach nicht eindeutig.
Deshalb gehört zum Proprium, d. h. zum Wesentlichen, Evangelischer Jugendsozialarbeit,
sich in den anderen einzufühlen und ihn oder sie zu verstehen zu suchen. Das gehört geradezu
zur Qualität ihrer Arbeit. Wer bist du? Woher kommst du? Was ist dein Ziel? Was ist dein
Geheimnis? Indem die Mitarbeitenden so fragen, werden sie über die Lebensgeschichte eines
jungen Menschen mit den Brüchen, Gefährdungen und Hoffnungen des eigenen Menschseins
konfrontiert. Sie nähern sich einer Biographie und erkennen einen jungen Menschen als
Mitmenschen, mit derselben Freiheit und Würde wie sie selbst. In dieser Ganzheit ist der
junge Mensch einmalig. Der christliche Glaube sagt dies in seinen Worten: Der Mensch ist
Geschöpf.
Der Begriff „Geschöpf“ ist gleichsam das Urwort Evangelischer Sozialarbeit. Er hat einen
sozialen und zugleich theologischen Sinn, weil er die Beziehung zwischen mir und einem
anderen Menschen ein für allemal klärt. Wir sind Geschöpfe. Geschöpf-sein heißt: Ich bin
gewollt. Es hat einen guten Sinn, daß ich lebe, und entsprechend hat es denselben guten Sinn,
daß auch der andere lebt.
Trotz aller Unterschiede, was Herkunft und Schicksal betrifft, gibt es eine Analogie im
Fundamentalen zwischen mir und dem anderen Menschen. In meiner eigenen und in der
Geschöpflichkeit des anderen begegnet mir der Wille des Schöpfers. Evangelische
Jugendsozialarbeit wiederholt mit ihrem Handeln dieses Ja Gottes: „Du bist gewollt. Du bist
einzigartig und unendlich viel wert.“
Im Unverwechselbaren und Einzigartigen eines konkreten Menschenlebens liegt das
Geheimnis seiner Qualität und der Schlüssel für das Recht eines Geschöpfs auf Integrität und
die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.
Die eigene Persönlichkeit zu entfalten oder vielmehr erst in allen Facetten zu entdecken und
zu finden, davon sind junge Menschen durchdrungen und bestimmt. Dazu benötigen sie einen
Freiraum, der ihnen ermöglicht, sich auszuprobieren. Die Frage nach gelingendem und
erfülltem Leben wird gerade dann von jungen Menschen gestellt, wenn die eigene
Lebenssituation durch Arbeitslosigkeit, Behinderung oder aufgrund einer fehlenden Heimat
und völliger Neuorientierung in einer fremden Umwelt erschwerend hinzukommen.
Evangelische Jugendsozialarbeit wird daher die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen
und Jungen sowie die besonderen kulturellen Bedürfnisse und Eigenarten junger Menschen
und ihrer Familien berücksichtigen (§ 93 SGB VIII) und ihre Persönlichkeitsentwicklung
fördern und helfen, daß die Würde des Geschöpfs als Ebenbild seines Schöpfers bleibt.
2.
Gerade weil das Leben aber nicht geradlinig verläuft, weil es von Schicksalsschlägen bedroht
ist und sich in wesentlichen Bereichen der eigenen Machbarkeit und dem eigenen
Wunschdenken entzieht,
• weil das Leben von Paradoxien gekennzeichnet ist,
• mal materiell gesichert, mal von Arbeitslosigkeit bedroht,
• weil das Leben zum einen durch die Ambivalenz der eigenen Biographie, zum anderen
durch den subjektiven Eigensinn oder manchen Abgründen menschlichen Verhaltens
bestimmt ist,
• weil auch junge Menschen in Schuldzusammenhänge verstrickt sind,
• weil sie, ihre unterschiedlichen Startbedingungen und die Chancenungleichheit oft
überdeutlich erkennen und – so sie selbst von Schicksalsschlägen oder sozialen Belastungen
betroffen sind – darunter leiden,
darum ist eine zweite theologische Grundlegung neben der Geschöpflichkeit in seiner
Einmaligkeit und Besonderheit unabdingbar.
Die Rede ist von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott. Der Begriff „Evangelisch“
bringt manchen kirchlichen Insider diesen theologischen Begriff ins Gedächtnis. Und
Theologen zitieren die confessio augustana, bzw. den Art. IV CA, in der die Rechtfertigung
des Menschen vor Gott als „iustificentur propter christum per fidem“ ausgesagt wird, zu
deutsch: Rechtfertigung des Sünders um Christi willen durch den
Glauben.
Nicht nur die lateinische Sprache erschwert zu verstehen, was damit gemeint ist. Auch die
Sache selbst bleibt abstrakt, wenn sie nicht mit der eigenen Erfahrung und dem Bedürfnis,
sich selbst zu verstehen und eine Identität zu haben, in Einklang gebracht werden kann.
Heute wird der Begriff „Rechtfertigung“ neu verstanden und nicht selten mit „Legitimation“
gleichgesetzt (vgl. Odo Marquard zitiert in: Hans-Martin Barth: Rechtfertigung und Identität,
Pastoraltheologie 86, S. 96).
Sie leben heute unter dem besonderen Druck, sich für alles und jedes rechtfertigen zu müssen.
Dies spüren sie besonders, wenn sie sich nach der Schulzeit um eine Arbeitsstelle bewerben
und sie die Erfahrung machen, daß nur die vorzeigbare Leistung zählt.
Leistungseinschränkungen, die durch Krankheit oder Behinderung erwachsen, werden dabei
immer mehr zum privaten Problem der Betroffenen erklärt.
So mag es nicht verwundern, wenn sich junge Menschen, die keine Chance bekommen, in das
gesellschaftliche Leben integriert zu werden, unter dem Druck stehen, gar ihre eigene
Existenz rechtfertigen zu
müssen.
Sie erleben freilich damit keine Ausnahme. Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Obdachlose,
Flüchtlinge, Kranke, alte Menschen müssen sich mehr und mehr rechtfertigen, daß sie uns
wert und teuer sind.
Geraten sozial benachteiligte Menschen in solche Existenznot, weil sie nicht den hohen
Leistungserwartungen genügen können, kann psychologische, therapeutische oder
seelsorgerliche Hilfe vonnöten werden.
Geschulte Berater und Seelsorger werden darauf achten, das Vertrauen in die eigenen
Möglichkeiten zu stärken und das eigene Lebensrecht in Anspruch zu nehmen. Doch können
und wollen auch sie nicht sagen, woher dieses Lebensrecht zu nehmen ist. Auch erfahrene
Berater und Seelsorger müssen solche Gespräche behutsam führen, damit der positive Impuls,
für sich selbst aktiv zu werden, von diesen jungen Menschen nicht als weitere Forderung
verstanden wird, die gleich einer hohen Latte nicht übersprungen werden kann.
Am eigenen Lebensrecht weder aufgrund der eigenen Licht- und Schattenseiten als
menschlichem Geschöpf irre zu werden, noch unter dem von außen kommenden
Legitimations- und Leistungsdruck dieses Lebensrecht sich erst erarbeiten oder erkämpfen zu
müssen, dazu kann die Botschaft von der Rechtfertigung entscheidend helfen.
Schon der Hinweis, den Menschen als Geschöpf Gottes zu verstehen, dem Gott das Leben
verbürgt, macht menschliche Würde deutlich. Daß diese Annahme des Menschen durch Gott
auch unter den selbstverschuldeten und von außen verursachten Belastungen gilt, wird durch
das Leben, Sterben und Auferstehen Christi zugesprochen.
Dieser Zuspruch „Gott nimmt dein Leben um Christi willen gerade angesichts des eigenen
Versagens und angesichts anderer, die einem die eigene Existenz absprechen wollen, an“,
wirkt unendlich befreiend, wo immer diese Botschaft „pro me“ als eben „für mich“
gesprochen erfahren wird und weckt Vertrauen, Glauben und Hoffnung.
Wo die Botschaft von der Rechtfertigung so zur eigenen Erfahrung wird und das eigene Ich,
die eigene Identität zutiefst bestimmt, entsteht „Leben und Seeligkeit“ (M. Luther).
Denn die Botschaft von der Rechtfertigung bietet einen Legitimationsgrund, der allen
zerstörenden Selbstzweifeln und allen Leistungs- und Legitimationsanforderungen
entgegensteht und von diesen enthebt (vgl. Hans-Martin Barth: Rechtfertigung und Identität,
S. 97).
3.
So bedingungslos und ohne Anforderungen sich angenommen zu wissen, „sich selbst zu
vergessen“ und dem Zuspruch vertrauend „zu sich selbst zu kommen“ und seine tiefste
Identität zu finden, dies setzt Menschen frei, „selbstvergessen“ Verantwortung für sich und
andere zu übernehmen.
Wo Menschen aus der Rechtfertigung leben, wo sie sich von dem freimachenden Geist des
Evangeliums leiten lassen, haben sie eine innere Motivation, sich immer wieder neu auch für
andere Menschen, für ihr Lebensrecht und ihre Würde einzusetzen. Sie brauchen sich die
Annahme Gottes oder anderer Menschen nicht mehr zu verdienen. Daher können sie der
Gefahr, auf die Wolfgang Schmidbauer aufmerksam gemacht hat, ausschließlich aus der
Suche um Anerkennung einen Helferberuf zu ergreifen und so zum „Hilflosen Helfer“ zu
werden, leichter entgehen.
So ihrer selbst gewiß, können sie sich an der Gemeinschaft mit anderen freuen und sich für
andere stark machen. Evangelische Jugendsozialarbeit lebt aus dieser Quelle und kann so
„evangelisch – politisch – notwendig“ handeln.
• Dies tut sie in den ihr eigenen Arbeitsbereichen. Die evangelische Industriejugend- und
Berufsschülerarbeit weiß um die Freiheit eines Christenmenschen und nimmt dies in die
Gestaltung ihrer politischen Bildungsansätze auf. Jugendliche, die mit niedrigeren
Schulabschlüssen eine Ausbildung anstreben, werden nicht nur unter dem Aspekt der
Funktionalität gesehen. Die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit soll in gleicher Weise
anerkannt werden.
Evangelische Industriejugend- und Berufsschülerarbeit kann daher zurecht ein Umdenken
fordern, ein „neues Denken“, das dem Evangelium entspricht und für eine solidarische
Gesellschaft eintritt, die auch Schülern mit Sonderschulabschluß, die Möglichkeit bietet,
einen anerkannten Platz in der Gesellschaft zu finden.
• Berufsbezogene Jugendhilfe weiß um die Einmaligkeit jedes jungen Menschen. Aus der
Perspektive des Evangeliums akzeptiert sie die individuelle Lebensgeschichte junger
Menschen, die auf den Arbeitsmarkt drängen und setzt sich für schwer vermittelbare
Jugendliche ein. Daher kann sie auch unterschiedliche Startpositionen junger Menschen bei
ihrem Versuch, einen Arbeitsplatz zu finden, wahrnehmen und auf sie aufmerksam machen.
Mit Beschäftigung, Bildung, Beratung, Wohnen und Nachbetreuen begleitet sie den Weg
dieser Jugendlichen in Jugendwerkstätten, Beratungsstellen und anderen Einrichtungen.
• Offene Behindertenarbeit geschieht aus dem Wissen, daß alle Menschen von Gott gewollte
Geschöpfe sind. Sie sucht daher, Menschen mit Behinderungen aus der Isolation zu führen
und sie in eine Gemeinschaft zu integrieren.
Indem sie Beratung und Hilfe gewährt, nimmt sie die jeweilige Lebenssituation ernst; indem
sie auf Vorurteile zwischen Behinderten und Nichtbehinderten aufmerksam macht, fördert sie
gegenseitiges Verstehen und hilft, den äußeren Legitimationsdruck, dem gerade Menschen
mit Behinderungen ausgesetzt sind, zu mindern.
• Migrationsarbeit, die im Rahmen Evangelischer Jugendsozialarbeit geschieht, nimmt alle
Menschen gleich welcher Hautfarbe oder Herkunft als gleichwertig an, da sie alle Menschen
als von Gott Angenommene verstehen kann. Sie vollzieht mit ihrer Annahme nach, was vor
Gott längst schon gilt. Daher sucht sie, Flüchtlingen Schutz zu gewähren vor Krieg und
Verfolgung und Menschen aus anderen Herkunftsländern in unsere Gesellschaft zu
integrieren.
• Mit dem „Freiwilligen Sozialen Jahr“ bietet Evangelische Jugendsozialarbeit jungen
Menschen eine Chance, sich für soziale Arbeit zu interessieren und sich freiwillig zu
engagieren. Damit nehmen sie junge Menschen in ihrem Versuch, sich ungezwungen
auszuprobieren, ernst. Dabei lernen diese, Verantwortung zu übernehmen, und sie gewinnen
Einblick in Arbeitsbereiche von Diakonie und Kirche. Nicht wenige von ihnen wählen im
Anschluß daran einen sozialen Beruf oder engagieren sich danach als Ehrenamtliche in
Initiativen oder in Einrichtungen.
Wo sich Evangelische Jugendsozialarbeit auf die eigene Quelle besinnt, wo sie sich der
eigenen theologischen Wurzel bewußt wird, sprudeln stets frische Ideen und sie gewinnt neue
Impulse, die Würde und das Lebensrecht sozial benachteiligter Menschen auch unter immer
schwieriger werdenden gesellschaftlichen Bedingungen zu schützen.
Ich fasse zusammen, worin ich die theologische Grundlegung Evangelischer
Jugendsozialarbeit sehe:
• Sie nimmt jeden jungen Menschen als Geschöpf ernst und wahrt und fördert ihn in seiner
Einmaligkeit und vom Schöpfer verliehenen Ganzheit bei aller Rätsel- und
Fragmenthaftigkeit.
• Sie nimmt jeden jungen Menschen um Christi willen so, wie er ist, weil jeder Mensch Gott
so recht ist, wie er ist. Sie vermittelt die Freiheit, sich nicht rechtfertigen und legitimieren zu
müssen.
• Sie nimmt junge Menschen in die Verantwortung, in Gemeinschaft eigenes und fremdes
Leben zu gestalten.
Darin ist sie evangelisch – politisch – not-wendend.