Semestereröffnung: Immer mehr! - Wie weit können wir gehen? Vortrag von Dr. Holger Schlageter Aktienkurse, Elternschaft, Gesundheit, Beziehungserfolg und Karriere - für all das gilt: das geht noch besser! Alles muss ständig optimiert werden. Stagnation bedeutet Rückschritt. Mehr und mehr aber leiden Menschen unter dem Wahn, das perfekte Leben herstellen zu können. Und arbeiten sich daran ab bis zur völligen Erschöpfung. Denn wenn Glück das ultimative Ziel ist, bleibt Zufriedenheit auf der Strecke. Dr. Holger Schlageter spricht über den Drang zur permanenten Optimierung als Symptom einer ängstlichen Gegenwart, die sich zutiefst als defizitär erlebt. Und zeigt Wege zur Zufriedenheit ohne Stagnation. ___________________ KAPITEL 1 Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Was habt Ihr getan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt Die Ebbe dieser großen Flut sein? Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – Ein Seil über dem Abgrund. Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil der Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne des Bogens verlernt hat, zu schwirren! Friedrich Nietzsche, Zarathustras Vorrede in: Also sprach Zarathustra Was Friedrich Nietzsche hier in Zarathustras Vorrede beschreibt, darf nicht geschehen: Dass der Mensch auf dem Weg zum Übermenschen den Pfeil der Sehnsucht nicht mehr über jenen Abgrund schießt. Dass der Mensch nicht mehr sehnsuchtsvoll versucht hinüber zu gelangen. Über sich hinaus. Dass wir nicht mehr zum Übermenschen werden wollen. So sieht es offenbar nicht nur Friedrich Nietzsche. Die Optimierung des Menschen gilt uns heute als oberstes Gebot. Und mindestens zwar in drei Aspekten: Körperlich, geistig und emotional. Dazu die gängigen Begrifflichkeiten: Körperlich: Bewegung, Sport, Muskelaufbau, Ausdauer, Koordination und Dehnbarkeit, geschmeidige Faszien, weniger Fleisch, weniger Fett, weniger Kohlenhydrate, mehr Gemüse, Antioxidantien, super foods, Gentechnik, Schönheitsbehandlung, Brustvergrößerung, Botox und Filler. Geistig: Logopädie für Zweijährige, Sprachkurse für Kleinkinder, beste Schulen, teuerste Unis, Ritalin um Nächte durch zu lernen, Schrittmacher-Chips im Hirn, Lean Management und stetige Effizienzmaximierung. Seite 1 von 10 Emotional: Glücks-Diktat, Hochgefühlsverlängerung, Stimmungsstabilisatoren, Gefühlskontrolle, ständige Beherrschtheit, ressourcenorientierte Kommunikation und Resilienzpädagogik. Dahinter steht die unausgesprochene Überzeugung, dass alles gut wird, wenn wir alles richtig machen. Die Verheißung, dass wir fertig sind, rund, in uns stimmig, wenn wir Perfektion erreicht haben. Vorher sind wir nur Bruchstücke unserer Möglichkeit. Eines der neuen Schlagworte ist deshalb auch Enhancement („Verbesserung“). Ein Milliardenmarkt. Enhancement bedeutet technische Verbesserung normaler Eigenschaften beim Menschen. Das beginnt bei Schönheitsoperationen und geht über Ritalin und Kokain als Wachmacher, über Viagra zur Funktionserhöhung bis hin zur Implantierung künstlicher Gliedmaßen und Chips im Hirn, um Parkinson entgegenzuwirken oder in Zukunft auch die Denkleistung zu erhöhen. Dahinter steht der Glaube, wir alle, Sie und ich hier und heute seien nur schwache Abbilder dessen, was wir eigentlich sein könnten. Wir könnten besser sein, schlauer, leistungsfähiger, konsequenter, erfolgreicher, mutiger, fitter, dünner. Und wir sind es nicht. Mist! Schon wieder gescheitert. Wenn wir nicht aufpassen, sind wir wirklich bald die Ebbe in der Flut. Es geht besser! Aber stimmt das uneingeschränkt? Ist die Natur verbesserungsbedürftig oder sakrosankt? Geht es wirklich immer besser? Können wir mehr? Auf der Arbeit, in der Beziehung, im Leben, in der Gesellschaft, in der Wirtschaft? Gibt es den wandernden Gipfel? Der nie einen Abstieg ankündigt? Wollen wir das? Und was sind unsere Alternativen? Lassen Sie uns diese Fragen in der nächsten halben Stunde ein wenig betrachten. KAPITEL 2 – Von den letzten Dingen Schneller, höher, stärker – der olympische Leitsatz – steckt ein hehres Ziel. Nur die Besten können es erreichen. Nur die Wenigsten. Das ist keine uferlose Forderung. Es ist bereits eine klare Begrenzung enthalten auf einen relativ überschaubaren Kreis. Und eine zweite Begrenzung kommt hinzu: der grammatikalische Komparativ, die Vergleichsform, deutet an, worin sie besteht: in der Bindung an Wettbewerb. Es heißt ja nicht einfach: „immer schneller, höher, stärker“. Sondern bedeutet vielmehr: „schneller als“, „höher als“, „stärker als“ jemand anderes. Gibt es niemanden, der schneller ist, ist die Grenze erreicht. Das Ende ist Platz 1. Das ist an sich schon ein Ziel, das naturgemäß nur einer erreichen kann. Danach ist Schluss. Eigentlich. Denn es genügt uns oft noch nicht, Erster zu sein. Wir wollen weiter. Wir kämpfen dann nicht mehr gegen andere, sondern gegen die Zeit. Usain Bolt läuft mittlerweile „gegen die Zeit“. Also gegen sich selbst. Noch eingängiger wird das, wenn wir vom Sport weg und hin zu den Letzten Dingen blicken. Auf Geburt und Tod. Auch hier sind wir bereits Erste: Nie wurden Menschen so alt und lebten so sicher wie zu unseren Zeiten in unserer Gesellschaft. Und dennoch muss es weiter gehen. Der erste Platz ist uns nicht genug. Bohnke schreibt Seite 2 von 10 Zur Optimierung haben wir eine ganze Reihe von Methoden entwickelt. Gentechnik, Präimplantationsdiagnostik, Sterbehilfe sollen Lebenspotenzial, Lebensanfang und Lebensende optimieren. Wir wollen nicht sterben, wir wollen nicht leiden, wir wollen nicht unglücklich sein. Unweigerlich führt uns der Apparat, den wir aufbauen, um Behinderung, Leid und Schmerz zu verhindern vor Augen, wie wenig wir grundsätzlich bereit sind, Grenzen, die wir als Einengung oder Belastung empfinden, als gegeben zu akzeptieren. Und wie erfolgreich wir darin sind, sie zu verschieben. Ich vermute, wir sind alle froh, dass heute ein bakterieller Infekt nicht mehr den Tod bedeutet, sondern lediglich den Gang zur nächsten Apotheke. Dass wir mit über 30 noch Zähne im Mund haben. Dass der Kinderwunsch erfüllt werden konnte. Dass sich in den letzten paar hundert Jahren unsere Lebenserwartung von 35 auf 85 verbessert hat. Ohne die unverfrorene Nichtanerkennung bestehender Grenzen wäre medizinischer Fortschritt nicht denkbar, eine Entwicklung nicht möglich. Dasselbe gilt für unsere eigene persönliche Entwicklung. Wir sind neugierig, wir wollen wissen. Wir würden nicht reifen, wenn wir nicht über Grenzen hinaus denken und handeln würden. Wer das nicht tut, wer bleiben will, wie er ist, den nennt Sloterdijk den „Finalen Spießer“. Der deutsche Philosoph hat ohnehin einiges zu sagen über die Tendenz des Menschen, sich nach oben zu strecken. Er nennt das die „Vertikalspannung“, in der wir uns befinden und die uns stets nach oben, zum Licht hin, streben lässt. Auch ich habe in meiner wissenschaftlichen Arbeit immer wieder auf die Tendenz des Menschen hingewiesen, sich selbst zu transzendieren. Über sich hinaus zu wachsen. Mein Spiritualitätsbegriff fußt auf dieser Annahme. Dass nämlich der Mensch einem ihm innewohnenden spirituellen Bedürfnis folgend den Anderen, das Andere, das Transzendente, das Außerhalb-seiner-Selbst sucht. Diese zutiefst menschliche Grundbewegung zur Selbsttranszendenz sehe ich als Ursache jeder Beziehung und jeder Religion. Wir sind uns nicht genug. Wir brauchen den Anderen und das Andere. Ansonsten bleiben wir nicht nur ausschließlich selbstreferentiell und entwickeln uns nicht gesund, sondern versacken – wenn wir es überhaupt überleben – in der Mittelmäßigkeit. Wer raus will aus der Mittelmäßigkeit, wer kein „Finaler Spießer“ sein möchte, der muss zusehen, dass er über seine Beschränkungen hinauswächst. In der Psychologie bedeutet die Grenzüberschreitung immer auch eine Wachstumsmöglichkeit. Selbst, wenn sie Leid Seite 3 von 10 beinhaltet. Deshalb gilt gemeinhin das Durchleiden von schwierigen Situationen, deren Bearbeitung und die Auseinandersetzung mit ihnen als ein Weg zur Heilung und Reifung. Im Gegensatz zum Davonrennen, Vermeiden und Unterdrücken von Leid. Wer es schafft, seine schweren Erlebnisse im Leben anzunehmen und ihnen Sinn zu verleihen, sie also zu integrieren, geht als spürbar reifere Persönlichkeit aus ihnen hervor. Man könnte also sagen: Grenzen als fixe Linien zu verstehen, beschneidet Wachstum. Es scheint uns langfristig als Individuen und als Gemeinschaft weiter zu bringen, Grenzen zu testen, sie nicht als Fixa anzuerkennen und sie gegebenenfalls zu überschreiten. Während meines Philosophiestudiums begegnete mir oft die These, dass der Mensch sich die Unendlichkeit nicht vorstellen könne. Ich dagegen bin der Meinung, wir können uns das Gegenteil nicht vorstellen: die Endlichkeit. Wir können uns nicht vorstellen, dass es uns irgendwann einmal nicht mehr geben könnte und wie das sein soll. Deshalb schaffen wir uns eine Perspektive darüber hinaus hinein ins Ewige: Himmel und Hölle, Eingang ins Nirwana, Nachkommen, Gebäude, Werke, Grabsteine, Spuren, die auf uns hinweisen. Endlichkeit ist uns ein Rätsel. Wenn wir das Leben lieben, sogar eine Bedrohung. Auch innerhalb unseres Lebens. Dass etwas Gutes zu Ende kommt, macht uns Angst. Deshalb versuchen wir, es so lange nicht zum Ende kommen zu lassen wie möglich. Manchmal zu einem sehr hohen Preis. Und der Preis bringt uns von der Darstellung zur Bewertung. Grenzverschiebung kostet. Und da gibt es gute Preise und hohe. Im besten Fall kostet es mich nur Mut und Überwindung, eine Grenze hinter mir zu lassen. Etwa die Angst zu überwinden, sich auf eine Beziehung einzulassen. Oder den inneren Schweinehund – und doch noch mal ins Fitnessstudio zu gehen. So einen Preis zahlt man am Ende gern, weil er vergleichsweise gering ist zu dem, was ich dafür bekomme. Nämlich Liebe im ersten Fall und Gesundheit im zweiten. Aber es gibt Preise, die sind so hoch, dass man nicht mehr klar sagen kann, ob sie die Grenzüberschreitung wert sind. Sich auf der Arbeit so zu pushen, dass Freunde und Familie vernachlässigt werden. Mit so hohem Anspruch zu leisten, dass Erholungsphasen ausgelassen werden, Ernährung verkommt und Bewegung ausfällt. Sich in Leben, Liebe oder Arbeit so überfordern zu lassen, dass man ausbrennt. So dass man sich am Ende fragt: war es das wert? Und hier kündigt sich die Problematik der Grenzüberschreitung an: Die Nichtanerkennung von Grenzen, ein schneller, höher, stärker kann gut sein und wichtig. Es kann aber auch genau das Gegenteil bewirken: Es kann schaden. Die Frage ist immer: welchen Preis zahle ich? Und die muss ich selbst und situativ beantworten. Antworten können nicht einfach von Mensch zu Mensch oder auch nur von Situation zu Situation kopiert werden. Wichtig sind deshalb aufrichtige Selbstreflexion und Offenheit für Rückmeldungen geschätzter Menschen. KAPITEL 3: Grenze und Maß Wir weigern uns in weiten Teilen unseres Lebens, Grenzen anzuerkennen. Wir kämpfen dagegen. Nach der Krebsdiagnose ebenso wie um eine gewollte, aber scheiternde Beziehung Seite 4 von 10 oder die Aussage, unsere Kinder seien für das Gymnasium nicht geeignet. Wir weigern uns, Grenzen einfach und ungeprüft anzuerkennen. Und das ist Zeichen unserer Kraft. Denn ohne Kraft könnten wir nicht kämpfen. Ohne Mut, ohne Hoffnung und Möglichkeit des Gewinnens würden wir gesetzte Grenzen nicht hinterfragen. Und deshalb stimmt das von mir benutzte kollektive „Wir“ auch immer nur teilweise: Nicht alle von uns haben das Glück und die Gnade der Kraft. Und jedem von uns kann sie zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens abhanden kommen. Es müssen nur genug Katastrophen passieren. Wenn wir aber Kraft haben, dann lässt sie uns Grenzen überspringen und Ketten sprengen, die uns unten und klein halten wollen. Entwicklung im Sinne von „höher, schneller, stärker“ geht also nur, wenn Kraft, wenn Gesundheit besteht. Im Sport ist das überdeutlich. Es gilt aber auch im Psychologischen. Die englische Sozialpsychologin Marie Jahoda hat vor einem halben Jahrhundert bereits die sechs Merkmale psychischer Gesundheit herausgearbeitet. Eines davon ist: Realistisches Selbstbewusstsein und Selbstakzeptanz. „Realistisches Selbstbewusstsein“ bedeutet, dass ich einerseits meine Stärken kenne. Dass ich weiß, was ich kann und daraus meine Kraft schöpfe. Dass ich mich auf meine Talente und Fähigkeiten verlasse. „Realistisches Selbstbewusstsein“ bedeutet andererseits, dass ich meine Schwächen kenne, meine Grenzen. Dass ich weiß, was ich nicht kann. Wo ich nicht gut bin. Und mich dann selbst so akzeptiere. Also nicht versuche, meine Schwächen zu eliminieren, mich zu perfektionieren. Sondern mich mit meinen Stärken und mit meinen Schwächen anzunehmen, bildlich gesprochen zu umarmen und wertzuschätzen, mich in diesem Sinne zu „lieben“. Folgt man dieser psychologischen Sicht, kann man stark vereinfacht sagen: Selbstoptimierung ist gesund. Selbstperfektionierung ist ungesund, überfordert und ist immer zum Scheitern verurteilt. Und damit zeigt sich, was m. E. die Psychologie in ihrem Wesen auszeichnet: Sie ist die Wissenschaft des guten Maßes. Ein Übermaß ist genauso schädlich wie ein Mangel. Gar kein Drang zur Selbstverbesserung assoziiert sich mit Depression. Der überzogene Drang zur Selbstverbesserung mit Zwangsstörung. Halten wir also fest: Grenzen überspringen wir nur mit ausreichend psychischer Gesundheit und Kraft. Man könnte auch anders sagen: Nur so lange uns die Kraft reicht, überspringen wir Grenzen. Denn wenn sie zu ihrem Ende kommt, wäre ein weiteres Überspringen maßlos geworden. So setzt im Grunde das Maß unserer Kraft und unserer Gesundheit den Endpunkt unserer Grenzerweiterung. Platt gesagt: Wir können uns nur im Rahmen unserer Möglichkeiten entwickeln. Das ist auch der Grund, warum ich seriöserweise nicht generell sagen kann, ob und in welchem Maß Grenzensprengung – weiter, höher, stärker – gesund und gut ist. Ich weiß ja nicht, wie viel Kraft Sie haben. Ich weiß es ja bei mir selbst nicht wirklich. Meine Kraft reicht... bis sie zur Neige geht. Bis dahin aber schöpfen wir alle vermeintlich aus dem Vollen. Patienten mit Burnout berichten das übereinstimmend: Es ist erst im Nachhinein, dass sie erkennen, über die eigene Kraft gelebt, geliebt, gearbeitet zu haben. Währenddessen war es ihnen nicht klar. Sie dachten, es ginge noch ein Stück. Und es ging auch noch ein Stück. Und noch ein Stück. Und es ging noch. Und noch ein Stück. Und dann war „plötzlich“ Ende. Vermeintlich plötzlich. Denn es war natürlich nicht plötzlich. Und Seite 5 von 10 Menschen, die nahe stehen, haben es kommen sehen – Partner, Freunde, Verwandte. Die Betroffenen selbst aber meistens nicht. Es ist typischerweise erst nach der BurnoutTherapie, dass den Patienten klar ist, wie sich das nahende Kraftende ankündigt: Körperliche Symptome, Schlafstörung, Schmerzen, Konzentrations-Blackouts, Arbeits- oder Leistungsunfähigkeit. Es scheint wohl wahr: wir müssen die Grenze erleben, um sie zu kennen. Hörensagen und Rat von anderen helfen da nicht. Denn Deine Grenze mag nicht meine sein. Grenzen sind hochindividuell. Und ehe ich sie nicht weiß, kann ich sie nicht akzeptieren. Das scheint menschliche Natur zu sein. KAPITEL 4: Die Arbeit Wenn Grenzüberschreitung zur menschlichen Natur gehört, ist es kein Wunder, dass der Grundsatz „schneller, höher, weiter“ auch für den Bereich gilt, der uns am meisten Möglichkeiten zur Grenzerweiterung, zur Freiheit, eröffnet: Besitz, Reichtum, Geld und damit der Handel. Also die Wirtschaft. Und in ihr: unsere Arbeit als Voraussetzung dazu. Im klassischen Calvinismus, der neben der Schweiz auch ganz Kontinentaleuropa und vor allem die US-amerikanische Kultur stark geprägt hat, stehen Besitz und weltlicher Erfolge für jenseitige Erwähltheit. Wer reich ist, ist etwas Besonderes – von Gott auserwählt. Zwar beinhaltet dieses Denken durchaus ein Legitimationselement. Nach dem Motto: „Ich bin reich, habe mich an anderen bereichert, aber ich darf das, denn ich bin ja etwas Besonderes.“ Eine Auserwähltenhaltung, die wir im Übrigen auch bei gänzlich nichtcalvinistischen Steuerhinterziehern oft entdecken. Das calvinistische Denken beinhaltet aber auch umgekehrt eine Motivation zur Hochleistung. Denn nur, wenn ich Erfolg habe, kann ich auch sicher sein, auserwählt, etwas Besonderes zu sein. Das ist ein sehr perfider Gedanke – denn er verbindet Erfolg mit Selbstwert. Etwas wert bin ich nur, wenn ich leiste. Und das kennen die meisten von uns. Wir sind in diesem Glauben erzogen. Mein Mutter hat immer gesagt: „Vor den Preis haben die Götter den Schweiß gesetzt.“ Folgt man diesem Grundsatz, denkt man irgendwann: Wenn es nicht weh tut, habe ich mich nicht genug angestrengt. Aus einem solchen Denken heraus entsteht Hochleistung – aber auch Überforderung. Und mit diesen ungünstigen Verknüpfungen von Leistung mit Selbstwert haben wir als Gesellschaft seit Jahrzehnten zu kämpfen. Jüngst im Rahmen der BurnoutProblematik. Ich kann aus meiner eigenen Praxis berichte. Seit Jahren ist die Burnout-Prävention im Schlageter Institut unser größter Geschäftsbereich, obwohl wir als psychologisches Institut ursprünglich etwas ganz anderes gemacht haben, nämlich Management Assessment und Führungskräftetraining. Aber als um 2010 die ersten Berichte über Burnout nach Deutschland kamen, wandten sich unsere Kunden – allesamt global agierende Unternehmen – an uns, weil sie seriöse und wirksame Programme entwickeln wollten, um dem Burnout ihrer Mitarbeiter/innen vorzubeugen. Fünf Jahre später ist das Problem der Stressbelastung mittlerweile so stark in allen Bereichen vorhanden oder im Bewusstsein, dass mehr als die Hälfte unsere Programme sich mit ihrer Prävention oder Heilung beschäftigen. Und im Grunde, wenn man alles auf einen Punkt verdichtet – unsere Seminare, unsere Programme, und jede Form der Burnout-Therapie – geht es immer darum, die eben besprochene unselige Seite 6 von 10 Verknüpfung zwischen Selbstwert und Leistung zu entdecken und sie aufzulösen. Zur Überzeugung zu führen: Ich bin gut vor aller Leistung und trotz aller Fehler. Wer das sagen und zutiefst glauben kann, hat kein Problem mit Stress mehr. Er kann gelassen und höchst rhetorisch fragen: Stress, wo ist Dein Stachel?! KAPITEL 5: Gesundung Und ein zweiter Punkt ist wichtig, um dem Stress seinen Stachel zu ziehen. Neben der Entkopplung von Leistung muss man Grenzen setzen. Und zwar die eigenen. Man muss definieren, wann „schneller, höher, stärker“ für einen selbst aufhört gültig zu sein. Das darf, kann und muss ich selbst entscheiden. Ich bin dabei meine oberste Autorität. Und da hilft, wie oben besprochen, die Erfahrung der Grenze. Menschen nach einem Burnout und nach guter therapeutischer Behandlung wissen ganz genau, wo diese Grenze für sie verläuft. Das ist der große Vorteil, den Burnout-Überlebende anderen voraushaben. Sie haben auf die heiße Herdplatte gegriffen und wissen, wie weh das tut. Sie können besser wissen, wann sie die Reißleine ziehen müssen und wann es Zeit ist, sich zu begrenzen. Das ist die innere Grenzziehung. Die Begrenzung meines eigenen Anspruchs an mich selbst. Zusätzlich muss man Grenzen außen ziehen. Die Begrenzung der Erwartungen anderer an mich. Das bedeutet Nein-Sagen, ablehnen, nicht machen, sein lassen, enttäuschen. Und damit leben lernen. Aber wie verhält sich das mit der Rede vom Übermenschen? Wie geht die Notwendigkeit zum Wachstum und zur Weiterentwicklung zusammen mit der Notwenigkeit der Be- und Abgrenzung? Sind das nicht widersprüchliche Bewegungsrichtungen? Ist das nicht ein Entweder - Oder? Ich meine nicht. Ich meine vielmehr, es ist notwendig, beides gleichzeitig zu tun. Grenzerweiterung und Begrenzung. Sowohl als auch. Sowohl sich voll bis an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten zu entwickeln – die eine oder andere dabei unvermeidliche Grenzübertretung inbegriffen. Und gleichzeitig die begriffenen, erfahrenen Grenzen in Zukunft zu heiligen Orten zu erklären, die aus Ehrfurcht vor dem eigenen Wert nicht mehr betreten werden. Und dann ist ein weiterer Aspekt wichtig, um die Idee des Übermenschen, des „über sich hinaus strebenden Menschen“ für uns heute nutzbar zu machen. Die Frage nach dessen Ausformung und Gestalt. Ist der Übermensch für uns einer, der wie Superman (Engl.: für Übermensch!) praktisch unverwundbar ist und immer gewinnt? Oder einer, der wie meine Großmutter am Abend ihrer Tage Dankbarkeit, Zufriedenheit, Freude und Menschenliebe ausdrückte? Wonach also sehnen wir uns, wenn wir über den Abgrund schauen, den Nietzsche malt? Wie sieht er für uns aus, der über sich hinausgewachsene Mensch? Wie sieht mein eigenes Sehnsuchtsbild von mir selbst aus? Es kann, so meine ich, nur eines sein: Der reife, glückliche, besser: zufriedene und in sich ruhende Mensch. Schauen wir uns also zum Schluss noch in Aspekten an, was Reife, Glück, Zufriedenheit und innere Ruhe psychologisch bedeuten: Seite 7 von 10 KAPITEL 6: Glück und Zufriedenheit Gordon Allport, der große amerikanische Psychologe, Mitbegründer der humanistischen Psychologie, überzeugter Anhänger der Freiheit des Menschen, widerspricht Sartres These nicht direkt, nach der Freiheit eine Geisel sei, weil wir dauernd wählen müssten. Aber er macht deutlich, dass Freiheit und Befreiung für uns immer möglich sind. Und dass die Wahl, die aus der Freiheit resultiert, nicht Wahlpflicht, sondern Wahlmöglichkeit ist. Dass Freiheit keine Geisel, sondern im Gegenteil Voraussetzung zum Glück ist. Nur der Sehnsuchtsvolle ist glücklich. Der Mensch, der strebt und Möglichkeiten wählt, der sich von Ziel zu Ziel bewegt, das sich ihm selbst zu setzen erlaubt war, dieser Mensch ist glücklich. Wer keine Ziele mehr hat, die er ersehnt, ist buchstäblich oder im übertragenen Sinne tot. Glück ist Zielsehnsucht. Fritz Perls, ein weiterer großer deutsch-amerikanischer, jüdischer, Psychologe, Begründer der Gestalttherapie, definiert Glück noch weiter und dauerhafter als: Zufriedenheit. Und beschreibt die als das völlige Sein im Hier und Jetzt. Wir sind jetzt alle hier. Sie sind hier. Es geht Ihnen gut, Sie atmen, Sie leben, Ihr Herz schlägt, es ist sicher hier, friedlich und beschützt. Es ist alles gut. Im Hier und Jetzt ist alles gut. Das ist glückliche Zufriedenheit. Wenn wir so empfinden, ruhen wir in uns selbst. Wer im Hier und Jetzt voll lebt, ist zufrieden. Carl Gustav Jung, mit seiner analytischen Psychologie Gründer der zweiten Wiener Schule, beschreibt die Reifung des Menschen als die Auflösung – oder das ineinander Fallen – der Gegensätze. Wer im Jungschen Sinne reif ist, weiß und empfindet, dass es im Leben und in der Psyche kein Entweder - Oder gibt, sondern nur sowohl als auch. Kein Schwarz oder Weiß, sondern beides. Kein Gut ohne Böse, kein Frieden ohne Krieg, keine Sicherheit ohne Gefahr. Niemand und nichts ist nur dunkel oder hell. Auch Deutschland nicht. Auch Sie nicht, auch ich nicht. Wir sind immer beides. Das als Eines zu erkennen, sich nicht abzugrenzen von den Bösen, den Schwachen, den Fremden, den Anderen, sondern zu realisieren, dass auch wir Böses in uns tragen, Schwäche, Fremdes und Anderes. Und darin gleichen. Diese Haltung ermöglicht uns erst Gerechtigkeit, Toleranz und Mitgefühl. Oder in der Bildersprache Jungs ausgedrückt: Nur wer den eigenen Schatten integriert, wer das eigene Dunkel anerkennt, verlässt die Spirale des Hasses. Reife bedeutet Anerkenntnis des Anderen. Sie merken, Reife, Glück, Zufriedenheit sind in der Geisteswissenschaft ziemlich gut beschrieben und das schon seit über Tausenden von Jahren (die ganz Alten, Sokrates, Platon, Aristoteles habe ich jetzt mal weggelassen). Kombinieren wir diese Elemente gelungenen Lebens, mit unserem „schneller, höher, stärker“, bekommt es eine völlig andere, endlich gesunde, Richtung. Es bedeutet dann nämlich nicht mehr: „schneller, höher, stärker LEISTEN“, sondern „schneller, höher, stärker zum GELUNGENEN LEBEN“. Und das hat wesentlich mehr mit Gelassenheit, Loslassen und Anerkennung unserer Grenzen zu tun als mit Leistungssteigerung. Aber eben nicht nur. Die Wissenschaft und die menschliche Weisheit wissen: Wir brauchen beides. Leistung und Ruhe, Licht und Schatten, Sehnsucht und Überdruss, Selbstverwirklichung und Zurückstecken, Grenzsprengung und Grenzsetzung. Plus und Minus gehören zum Leben notwendig dazu. Und wir können nicht, wenn wir die „andere“, vielleicht „ungeliebte“ Seite erleben, wie Kleinkinder ängstlich brüllen – im Internet oder auf der Straße –, sondern müssen uns wie die reifen Persönlichkeiten, die wir sind, in Gelassenheit üben und reif Seite 8 von 10 handeln. Die Pflicht zur Gelassenheit halte ich daher in dieser Zeit in unserem Land für die größte und wichtigste Aufgabe für alle denkenden, für alle reifen Persönlichkeiten – für alle Erwachsenen. Im Alltag erkennt man Erwachsene vor allem daran, dass sie Angst nicht mit Hass verwechseln. Angst macht still... Wer brüllt, hat keine Angst. Brüllen dürfen nur die Kleinen. Wer es mit über Zwanzig noch tut, sollte sich im Hinblick auf seine Reife den olympischen Grundsatz sehr zu Herzen nehmen und richtig schnell und richtig stark daran arbeiten, höher zu steigen auf der Reifeskala. Was am Ende also bleibt, ist wie so oft die Erkenntnis: Das Leben ist komplexer als Schwarz und Weiß. Wer die Weisheitsliteraturen der Menschheit anschaut, findet zahllose Texte darüber. Die Erkenntnis ist so alte wie die Menschheit – sie ist nicht eben erst relevant geworden. Heute wird ein neues Schuljahr begonnen. Deshalb möchte ich Ihnen am Ende meines kleinen impulshaften Mäanderns durch die Täler der Leistungsgesellschaft noch einen Text mit auf den Weg geben, der in unübertroffener Weise die manchmal verstörende Komplexität des Lebens ausdrückt und zur inneren Ruhe ermutigt. Möge er Ihnen als Orientierung dienen, wenn die Panik wieder hochkommt. Es schreibt Kohelet in Bibel und Torah: Alles hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit; Pflanzen hat seine Zeit, Ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; Töten hat seine Zeit, Heilen hat seine Zeit; Abbrechen hat seine Zeit, Bauen hat seine Zeit; Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit; Klagen hat seine Zeit, Tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; Umarmen hat seine Zeit, Trennen hat seine Zeit; Suchen hat seine Zeit, Verlieren hat seine Zeit; Behalten hat seine Zeit, Wegwerfen hat seine Zeit; Seite 9 von 10 Zerreißen hat seine Zeit, Zunähen hat seine Zeit; Lieben hat seine Zeit, Hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit; Reden hat seine Zeit, Schweigen hat seine Zeit. Vielen Dank! Dr. Holger Schlageter Geschäftsführer | Owner Schiersteiner Straße 26 6 5 1 8 7 WIESBADEN Deutschland | Germany Fon: + 49 611 205 93 18 Fax: + 49 611 205 93 17 www.schlageter-institut.de www.schlageter-institute.com Seite 10 von 10
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