Die medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten ohne Krankenversicherung - Sachstand, Probleme und Perspektiven Hannover, 24. September 2015 (Mylius/Meyer) - Der Zugang zur Gesundheitsversorgung gehört nach dem Völkerrecht und dem EU-Vertrag zu den Grundrechten. Das Menschenrecht auf Gesundheit ist ein Recht, das sich "aus der dem Menschen innewohnenden Würde" (UN-Sozialpakt; Präambel) herleitet und ihm daher weder zugesprochen noch aberkannt werden kann. Dennoch ist nicht jedem in Deutschland lebendem Menschen ein Zugang zu medizinischer Versorgung tatsächlich möglich. So steht beispielsweise Asylsuchenden nach deutschem Gesetz keine Versorgung nach medizinischer Indikation, sondern nur die Behandlung akuter Erkrankungen, Schmerzzustände und einiger Vorsorgemaßnahmen zu. Weitere gesundheitliche Versorgung fällt in den Interpretationsbereich der zuständigen Sozialämter. Auch bei Bürgerinnen und Bürgern aus anderen EU-Ländern, die sich in Deutschland aufhalten, kann ein Anspruch auf eine Krankenversicherung bestehen. Jedoch ist tatsächlich oftmals unklar, wer die Kosten einer medizinischen Behandlung übernimmt. Für Menschen ohne geklärten Aufenthaltsstatus ist die Gesundheitsversorgung selbst in diesen Fällen mit erheblichen Barrieren verbunden, da jegliche Inanspruchnahme medizinischer Behandlung die Gefahr einer Abschiebung birgt. Eine Abschiebung kann fatale Konsequenzen für die Betroffenen haben, die mitunter seit Jahren in Deutschland leben und arbeiten. Das begünstigt faktisch das Hinausschieben von Krankenbehandlungen und führt immer wieder zu schwierigen Situationen, sowohl für die Betroffenen als auch für Ärztinnen und Ärzte. Ärztinnen und Ärzte haben auf der einen Seite mit ihrer Berufsordnung eine berufsethische Auffassung anerkannt, die eine Unterscheidung in der Zuwendung ärztlicher Hilfe nach bestimmten Kriterien ausdrücklich ablehnt. Auf der anderen Seite sind sie konfrontiert mit einer schwierigen Gesetzgebung, die regelhaft die Exklusion spezifischer Subgruppen tatsächlich zur Folge hat. Es besteht viel rechtliche Unsicherheit. Selbst im medizinischen Notfall kommt es vor, dass Menschen ohne Papiere trotz ärztlicher Schweigepflicht der Polizei gemeldet werden. Die ärztliche Schweigepflicht ist allerdings berufs- und strafrechtlich besonders geschützt und erstreckt sich auch auf die "berufsmäßig tätigen Gehilfen von Ärztinnen und Ärzten" (AVV zum Aufenthaltsgesetz). Außerdem "verlängert" sie sich beispielsweise bis zum Krankenhausverwaltungspersonal. Damit besteht für Krankenhäuser die Möglichkeit, ohne Meldung der Betroffenen im Nachhinein die Kosten vom Sozialamt erstattet zu bekommen. Auf Seiten der Ärztinnen, Ärzte, Krankenhausverwaltungspersonal und anderen im Gesundheitssektor Tätigen stellen sich daher viele Fragen: Wie weit reicht meine ärztliche Schweigepflicht? Wie gehe ich in der Notaufnahme mit dieser Situation um? Gibt es eine Meldepflicht? Was sollte ich behandeln? Mache ich mich strafbar, wenn ich Patientinnen und Patienten ohne Papiere behandle? Zur Frage der Strafbarkeit hatte der Gesetzgeber bereits 2007 die Bedeutung der Gesundheit und des ärztlichen Auftrages hervorgehoben, in dem er klarstellte, dass "Ärzte und sonstiges medizinisches Personal, das medizinische Hilfe leistet" sich "nicht strafbar" macht. Und weiter: "Ärzte, medizinisches Personal, Hebammen usw. sind zur medizinischen Hilfe in Notfällen verpflichtet." (Bundesministerium des Innern 2007, Prüfauftrag). Die Versorgungslücke für Migrantinnen und Migranten ohne Papiere und ohne Krankenversicherung wird derzeit durch ehrenamtliche Initiativen wie die bundesweit etablierten Medizinischen Flüchtlingshilfen, die Malteser-Migranten-Medizin oder die Diakonie mit einem Netz von teilnehmenden niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten abgemildert. In nun drei Bundesländern (Bremen, Hamburg und neuerdings NRW) sowie in einigen Kommunen erhalten Asylbewerberinnen und Asylbewerber mittlerweile kurz nach der Antragstellung eine elektronische Gesundheitskarte kooperierender Krankenkassen, über die dann die medizinische Versorgung mit Ausnahme antragspflichtiger Leistungen abgerechnet wird. Für die Versorgung von Papierlosen wird im Rahmen von Modellprojekten in wenigen Kommunen die Ausgabe eines "Anonymen Krankenscheins" erprobt. Ein solches Projekt soll nun auch an zwei Standorten in Niedersachsen - und zwar in Göttingen und Hannover - unter Einbeziehung der dortigen Medizinischen Flüchtlingshilfen an den Start gehen. Autoren: Maren Mylius, Medinetz Hannover PD Dr. med. Sven Meyer, Medizinische Flüchtlingsberatung e.V. Medizinische Flüchtlingshilfe Göttingen e.V. Die Medizinische Flüchtlingshilfe Göttingen e.V. (MFH) gründete sich als Reaktion auf die faktische Abschaffung des Asylrechtes und die Diskriminierung von Asylsuchenden durch den sogenannten "Bonner Asylkompromiss" von 1992. Während in Deutschland Mordanschläge auf vermeintlich Nicht-Deutsche verübt wurden, verschärfte die damalige Bundesregierung mit den Stimmen der SPD das Asylrecht, um den "sozialen Frieden" in Deutschland zu wahren. Die Auswirkungen dieser Diskriminierungen sind heute leider nach wie vor das Betätigungsfeld der MFH. Sie unterstützt illegalisierte Menschen, Geflüchtete und Migranten/innen bei der Wahrnehmung einer adäquaten medizinischen Versorgung und vermittelt zu Ärzten/innen und in Krankenhäuser. Zudem hilft die MFH bei der Besorgung von Medikamenten und begleitet bei Arztbesuchen. Die Vermittlung ist anonym. Neben der medizinischen Arbeit, versucht die MFH seit mittlerweile 10 Jahren einen anonymisierten Krankenschein in Göttingen und darüber hinaus zu etablieren. Dieser soll es Menschen ohne Papieren ermöglichen, die ihnen gesetzlich zustehende medizinische Versorgung anonym und ohne Angst vor Strafverfolgung wahrzunehmen. MFH versteht sich als Teil einer antirassistischen Bewegung, die auf vielfältige Weise strukturellen und gesellschaftlichen Rassismus angeht. S. Kratz, September 2015
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