Suchtstörungen und Suchttherapie im Kindesund Jugendalter Rainer Thomasius Der Kinder- und Jugendmediziner hat bei der Diagnostik, Frühintervention und Behandlungszuweisung von Kindern und Jugendlichen mit substanzbezogenen Störungen eine Schlüsselstellung. In der weiterführenden Suchttherapie werden neben somatischen und pharmakologischen Behandlungsansätzen verschiedene psycho-, körper-, sozial- und familientherapeutische sowie pädagogische Verfahren eingesetzt. SUBSTANZMISSBRAUCH IM KINDES- UND JUGENDALTER Der Konsum legaler und illegaler psychotroper Substanzen ist im Jugend- und jungen Erwachsenenalter weit verbreitet, stellt aber für die Mehrzahl der Jugendlichen ein passageres, auf die Adoleszenz zeitlich beschränktes Entwicklungsphänomen dar. Im Kindesalter kommen Substanzgebrauch und -missbrauch deutlich seltener vor. Die Adoleszenz ist wie kein anderer Lebensabschnitt mit Experimentierfreude und Risikobereitschaft verbunden. Jugendliche erwarten sich vom Konsum psychotroper Substanzen Glücksgefühle sowie Abbau von Hemmungen, Erhöhung ihres sozialen Status in der Peergroup und Entlastung von Alltagsproblemen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht kann der Substanzkonsum zur Lösung der für die Adoleszenz typischen Entwicklungsaufgaben beitragen. Beispielsweise demonstriert Substanzgebrauch Autonomie und eigenen Lebensstil, welche die Ablösung von den Eltern unterstützen. Der Substanzkonsum wird eingestellt, wenn keine psychischen oder sozialen Beeinträchtigungen aus der Kindheit die altersgerechte Entwicklung behindern und zusätzlich soziale Netzwerke protektiv auf diese einwirken („maturing out“). Nur ein relativ kleiner Teil unter den konsumerfahrenen Jugendlichen entwickelt relevante Missbrauchs- oder Abhängigkeitsmuster bzw. substanzbezogene Störungen. Bei den von Suchtstörungen betroffenen Jugendlichen treffen häufig lebensgeschichtlich früh einwirkende Risikofaktoren mit problematischen Folgen des Konsums zusammen. Epidemiologie und besondere Hintergründe Seelische Kindergesundheit DIAGNOSTIK UND ALTERSSPEZIFISCHES VORGEHEN In der Diagnostik substanzbezogener Störungen ist bei Jugendlichen eine offene und vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt und Patient von ausschlaggebender Bedeutung. Selbstauskünfte über den Substanzkonsum sind in diesem Fall meist zuverlässig zu erhalten. In Tabelle 1 werden diagnostisch zu berücksichtigenden Indikatoren benannt, die das Risiko für das Auftreten einer substanzbezogenen Störung im Jugendalter erhöhen und daher in der Anamnese- und Befunderhebung Berücksichtigung finden sollten. Tabelle 1: Diagnostisch zu berücksichtigende Indikatoren für eine substanzbezogene Störung im Jugendalter •Familienanamnese: Substanzmissbrauch der Eltern und Geschwister, Dissozialität in der Familie, gestörte Eltern-Kind-Beziehungen, psychische Erkrankungen in der Familie •Komorbide psychische Störungen: z. B. AD(H)S, Störung des Sozialverhaltens, affektive Störung, Angststörung, Suizidalität, Störung der Emotionsregulation •Erlebte negative (Entzug, „Craving“) und erhoffte positive (Statuszuwachs, Problemreduktion) Wirkungen und Folgen des Substanzkonsums, früher Tabakkonsum •Psychische Traumatisierung, Gewalterfahrung (auch in Zeugenschaft), frühe Sexualkontakte, frühe Schwangerschaft •Nachlassende Schulleistung, sozialer Rückzug, Schulabbruch •Dissoziales Verhalten (Erwachsene belügen, Eltern bestehlen), Delinquenz •Substanzkonsum und Delinquenz bei den Peers •Ökonomisch-soziale Benachteiligung, Zugehörigkeit zu „Randgruppen“, depriviertes Wohnumfeld und hohe Kriminalitätsrate Jugendliche mit substanzbezogenen Störungen weisen pathophysiologische und entwicklungspsychopathologische Eigenarten auf, die in der Behandlung berücksichtigt werden müssen. Der frühe Alkohol- und Drogenkonsum hat bereits im Jugendalter aufgrund der besonderen Vulnerabilität des pubertären Gehirns neurotoxische und neurodegenerative Auswirkungen. Eine Suchtmittelabhängigkeit entwickelt sich Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. 67 aufgrund der erhöhten neurobiologischen Ansprechbarkeit des sogenannten Suchtgedächtnisses in der Pubertät besonders rasch. Reifungsstörungen der Hirnentwicklung, Identitätsstörungen und andere komorbide psychischen Störungen erfordern ein hohes Maß an störungs- und altersspezifischer Orientierung. Neben den psychosozialen und suchtmedizinischen Umständen und Auswirkungen des Missbrauchs psychoaktiver Substanzen müssen die alterstypischen Entwicklungsphasen des Jugend- und jungen Erwachsenenalters im Rahmen entwicklungspsychiatrischer Diagnostik und Behandlung angemessen berücksichtigt werden: THERAPIEPLANUNG UND -GESTALTUNG Für Jugendliche mit substanzbezogenen Störungen werden ambulante, stationäre und (selten) teilstationäre Behandlungsformen angeboten. In der Suchttherapie unterscheidet man zwischen der Akut- und Postakutbehandlung. In der Akutbehandlung ist die qualifizierte Entzugsbehandlung von Bedeutung. Sie dauert 2 bis 4 Wochen und wird von medizinischen Leistungserbringern durchgeführt. Ziele der qualifizierten Entzugsbehandlung sind medizinische Diagnostik, Behandlung von Entzugssymptomen und somatischen Begleiterkrankungen, kinder- und jugendpsychiatrische, neuropsychologische und psychosoziale Diagnostik, Förderung von Einsicht in die Problematik des Substanzkonsums und Motivationsförderung für die Inanspruchnahme weiterführender Therapie. Die Ziele der sich anschließenden Postakutbehandlung sind die Festigung von Abstinenz, die Einleitung weiterführender Suchttherapie mit psychoedukativen und rückfallpräventiven Inhalten und die ursächliche Behandlung komorbider psychischer Störungen. Die Dauer der Postakutbehandlung ist je nach Setting sehr unterschiedlich. Sie beträgt indikationsgeleitet 8 bis 16 Wochen in einem Suchtschwerpunkt der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie. Manche Bundesländer halten in Deutschland für Jugendliche mit Suchtstörungen spezielle Rehabilitationseinrichtungen vor, in denen eine Behandlungsdauer von 12 bis 18 Monaten sichergestellt ist. Die Angebote werden anteilig aus Krankenkassen (SGB V) und Hilfen zur Erziehung bzw. der Jugendhilfe (SGB VIII) finanziert. Suchttherapie bei Jugendlichen ist in aller Regel hoch strukturiert und angemessen einsichtsorientiert. Ausgehend von einer biopsychosozialen entwicklungsorientierten Perspektive ist ein multimodales interdisziplinäres Therapiekonzept unter Einbeziehung verschiedener Behandlungselemente notwendig. Das Spektrum der einzelnen Interventionen umfasst neben den somatischen und pharmakologischen Behandlungsverfahren sowohl psychotherapeutische und körpertherapeutische Verfahren als auch sozialtherapeutische Maßnahmen. Psychotherapeutische Ansätze (Einzel- und Gruppentherapie, Familientherapie, Rückfallpräventionstraining, sog. Boostersessions) werden durch komplementäre Therapieformen ergänzt (Bewegungs- und Körpertherapie, Ergotherapie und Musiktherapie). Pädagogische, schulische und berufsvorbereitende Förderung sind ebenfalls notwendig. Das Behandlungsteam zeichnet sich durch fundierte Kenntnis der 68 Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. suchtspezifischen Kommunikationsmuster aus. Es muss hochgradig belastbar sein und erhält regelmäßig externe Supervision. In den Behandlungsleitlinien der Fachgesellschaften werden für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit substanzbezogenen Störungen Behandlungsziele und -prinzipien wie folgt definiert: •Die Behandlung soll intensiv und lang genug sein, um eine dauerhafte Beendigung des Substanzmissbrauchs sowie eine Verbesserung der assoziierten Verhaltens- und emotionalen Probleme zu erzielen. •Intensität und Dauer der Behandlung sollen an den individuellen Voraussetzungen ausgerichtet werden (bezüglich Substanzmissbrauch, Behandlungsmotivation, komorbider psychische Störungen, psychosozialem und beruflichem Förderbedarf). •Die Interventionen sollen möglichst alle dysfunktionalen Lebensbereiche des Jugendlichen abdecken. • In die Behandlung soll die Herkunftsfamilie des Patienten einbezogen werden. •Die Eltern sollen in ihrer erzieherischen Kompetenz gestärkt werden; eventuelle Suchtprobleme der Eltern sollen erkannt und ebenfalls behandelt werden. •Die Behandlung soll den Adoleszenten und seine Familie dabei unterstützen, einen von Suchtmitteln abstinenten Lebensstil zu entwickeln, wozu auch die Vermittlung sinnvoller Freizeitaktivitäten mit abstinenten Gleichaltrigen gehört. •Der Besuch von Selbsthilfegruppen soll angeregt werden. •Die Behandlung soll sich auf die sozioökonomischen und kulturellen Voraussetzungen der Patienten einstellen; benachteiligten Familien sollen soziale Hilfen vermittelt werden. •Das Behandlungsprogramm soll mit anderen örtlichen psychosozialen Versorgungseinrichtungen vernetzt sein. VERSORGUNGSNETZWERK FÜR KINDER UND JUGENDLICHE In Deutschland greifen bei der Beratung, Betreuung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit substanzbezogenen Störungen üblicherweise verschiedene Maßnahmen der Jugendhilfe, Suchtkrankenhilfe, Schülerhilfe, Straffälligenhilfe, Polizei und Selbsthilfe mit den Angeboten der medizinischen Versorgung ineinander. Neben häufig beklagten Schnittstellenproblemen an den Übergangsbereichen von behördlicher oder institutioneller Zuständigkeit (Suchthilfe, Jugendhilfe, Schule, medizinische Versorgung) trifft man teilweise auch innerhalb einzelner Versorgungssysteme auf unzureichende Vernetzung und Synergie. Darüber hinaus mangelt es in vielen Regionen Deutschlands nach wie vor an speziellen ambulanten und stationären Behandlungsplätzen für behandlungsbedürftige Kinder und Jugendliche mit substanzbezogenen Störungen. Die Bereitstellung von qualifizierten Entzugsbehandlungsplätzen ist für Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland zurzeit unzureichend; in vielen Regionen fehlt ein entsprechendes Angebot vollends. Suchtkranke Minderjährige werden in Suchthilfeeinrichtungen für Erwachsene nicht adäquat versorgt. Tatsächlich ist die gemeinsame Behandlung von Kindern und Jugendlichen sowie Erwachsenen aber noch heute gang und gäbe. Erwachsene Suchtkranke beeinflussen Kinder und Jugendliche mit einem Substanzmissbrauch ungünstig. Notwendig ist daher ein eigenes Behandlungssetting für Minderjährige, das dem Entwicklungsstand und den schulischen sowie pädagogischen Entwicklungsanforderungen junger Menschen und dem vielfach aufgrund von psychischer Komorbidität bestehenden kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsbedarf Rechnung trägt. Epidemiologie und besondere Hintergründe Seelische Kindergesundheit ■ Prof. Dr. med. Rainer Thomasius Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Deutsches Zentrum für Suchtfragen des Kindes- u. Jugendalters (DZSKJ) Martinistraße 52 20246 Hamburg Literaturangaben unter: Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. 69
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