Kawasaki H2/H2R

Kawasaki H2/H2R
- Fahrbericht aus MOTORRAD 07/2015 -
Hölle! Zahlen geben nur die halbe Wahrheit wieder. Was ein Ritt auf Kawasakis
Kompressormonstern H2 und H2R bedeutet, können ihre Leistungsdaten nicht
annähernd ausdrücken.
Nein, ehrlich, zu beneiden sind sie nicht. Speckig-glänzend kommen unter den
Heizdecken, die die Mechaniker von den Kawasaki H2 abwickeln, nagelneue
Bridgestone V01-Slicks zum Vorschein. Lange werden sie nicht leben. Denn auf sie
wartet mit der Kawasaki H2 das erste kompressoraufgeladene Serienmotorrad. Mit
kräftigen Gasstößen bringen Mechaniker vier dieser Powermonster in der
Boxenanlage von Qatar auf Temperatur. In das mit steigender Drehzahl
anschwellende Grummeln und Fauchen mischt sich ein bedrohliches Zischeln und
Sirren, ein äolisches Pfeifen wie von überdimensionalen Zahnarztbohrern.
Lebensäußerungen des Laders.
Die in „mirror-coated black“, eine Art Schwarz-Chrom, lackierten Verkleidungen
lassen die Maschinen bedrohlich wirken. Mit der H2 wollte Kawasaki das Know-how
sämtlicher Konzernbereiche von Aerodynamik über Turbinen-, Lader-, Werkstoff- und
Fertigungstechnologie in einem Motorrad bündeln. Heraus kam das nur für die
Rennstrecke gebaute Monster H2R mit 310 PS, von dem dann die
straßenzugelassene H2 mit 200 PS abgeleitet wurde.
Nun haben findige Tüftler schon früher auf Serienmotorräder Turbolader wie
Kompressoren gepflanzt. Und aktuelle Serien-1000er bieten auch schon 200 PS.
Aber nicht in Kombination mit 133 Newtonmeter Drehmoment und einer vollfetten
Leistungskurve.
Von Anfang an wurde der Lader in die Motorkonstruktion miteinbezogen. So sind
Kühlung und Schmierung in die vorhandenen Kreisläufe integriert. Die Schmierung
erfolgt über die fünf Liter Motoröl. Über einen mächtigen, links um den Motor herum
geführten Ansaugkanal wird kühle Luft angesaugt, daher wird kein Ladeluftkühler
gebraucht.
Die Mechaniker schieben die Maschinen aus den Boxen. „The ride of your lifetime“
solle die H2 bieten, hatte Pressesprecher Martin Lambert am Vorabend erklärt. Nun
denn.
Doch zunächst überrascht die H2 mit einem komfortablen Arbeitsplatz. Die Lenker
sitzen 10 mm höher, die Rasten 10 mm weiter vorne als bei der ZX-10R. Dazu
schmale Tankflanken, ausreichend Bewegungsfreiheit auf dem Sitzpolster, dessen
hinteres Teil sich für optimales Abstützen beim Beschleunigen um 15 mm
verschieben lässt. Die Kupplung erfordert keinen Catchergriff, fühlt sich alles gar
nicht nach Monster an. Die ersten Kurven regiert noch die Vorsicht, man weiß ja nie.
Die Schaltvorgänge gehen überraschend knackig und mit sehr kurzen Wegen über
die Bühne. Verantwortlich zeichnet das aus dem Rennsport stammende sogenannte
Dog Ring-Getriebe. Hierbei verschieben die Schaltgabeln nicht die Gangräder. Die
bleiben auf der Getriebewelle an ihrem Platz. Verschiebbare Mitnehmerscheiben
stellen den Kraftschluss zwischen Getriebewelle und -zahnrad her.
Bis 6000, 8000 Umdrehungen fühlt sich noch alles halbwegs normal an, wie bei einer
ziemlich kräftigen Serien-1000er. Doch dann beginnt der Spaß. Die Kawa holt tief
Luft und sprintet ansatzlos wie mit Siebenmeilenstiefeln davon. Der Schub ist enorm,
unerschöpflich, egal wie hoch die Drehzahl steigt. Untermalt vom Sirren und
Zwitschern des Laders zieht die H2 mit einem Affenzahn die Fahrbahn unter sich
durch. Der Punch ist heftig. In einem lang gezogenen Linksbogen wird vom zweiten
bis in den vierten voll durchgeladen. Die Gewalt des Motors knetet Reifen und
Federbein mächtig durch, das Heck pumpt unter der Anstrengung. SetupÄnderungen können immerhin weitgehend Ruhe in die Hinterhand bringen. Die
unwiderstehliche Art und Weise, wie der aufgeladene 1000er seinem Leistungsgipfel
entgegenstürmt, ist einzigartig: wuchtig, aber gleichmäßig. So gleichmäßig, dass
man sich durchaus mal bei knapp 14.000/min im Begrenzer verfängt und dann hastig
per Schaltautomaten (nur zum Hochschalten ausgelegt) den nächsten Gang
nachlegt. Was folgt, ist Schub, Schub, Schub. Nach einigen Runden stehen am Ende
der ein Kilometer langen Zielgeraden 299 km/h auf dem Tacho. Der Bremsencocktail
aus 5,5 mm starken 330er-Scheiben, Brembo-Vierkolbenzangen und Radialpumpe
fängt die H2 Runde für Runde ohne Fading ein. Die Brembo-Komponenten müssen
besonders enge Toleranzvorgaben einhalten, um es in die H2 zu schaffen. Die
Abstimmung der Stopper geriet nicht übertrieben bissig, der Druckpunkt eher weich.
Obwohl vollgetankt immerhin 238 Kilo schwer (Werksangabe), taucht die H2
erstaunlich willig in die Kurven, vielleicht nicht ganz so zwingend auf der engen Linie
wie ein reinrassiger Supersportler. Aber wer auf das letzte Zehntel beim Zeitenfeilen
aus ist, für den gibt es die ZX-10R. Zeitenjagd ist nicht die Bestimmung der H2,
brachiales Beschleunigen schon. Stabilität, Zielgenauigkeit, Handling bewegen sich
dennoch auf ordentlichem Niveau. Die Gasannahme allerdings geriet ziemlich hart,
fast aggressiv. In Zweiter-Gang-Kehren etwas zu motiviert ans Gas gegangen, und
die H2 schnappt gewaltig nach vorne und der Puls mächtig in die Höhe. Ein bisschen
Thrill gehört zum „ride of your lifetime“ wohl auch dazu.
Aber der echte Wahnsinn wartet ja noch in den Boxen. Der hört auf den Namen H2R.
310 PS, 165 Newtonmeter. Da bekommen selbst abgebrühte Tester feuchte Hände.
Bevor die Techniker die Maschinen zum Leben erwecken, verteilen sie Ohrenstöpsel
und Ohrschützer. Dann bricht die Hölle los. Mit barbarischem, kaum gedämpftem
Gebrüll aus ihren Volltitan-Auspuffanlagen erwachen die H2R zum Leben. Die
Eingeweide beben bei jedem Gasstoß, in einer MotoGP-Box geht es nicht lauter zu.
Und zu den feuchten Händen gesellt sich ein Kloß im Hals.
Die erste Runde wird mit gehörigem Respekt in Angriff genommen. Doch schon da
deutet die H2R an, dass sie einen ungleich gewaltigeren Hammer schwingt als ihre
straßentaugliche Schwester. Saugt die H2 nur durch eine Öffnung in der
Verkleidungsnase Frischluft ein, sind bei der H2R beide Nüstern frei. Schärfere
Nockenwellen, andere Kopfdichtung und – neben der offenen Auspuffanlage – eine
ECU mit angepasstem Mapping entfesseln den Vierzylinder. Dann ist erstmals die
Zielgerade erreicht – und der Hammer fällt. Der von einem Planetengetriebe
angetriebene Lader rotiert mit 9,2-facher Kurbelwellendrehzahl und operiert mit
maximal 2,4 bar Ladedruck. Er saugt sich pro Sekunde 200 Liter Luft mit einer
Geschwindigkeit von 100 m/s in sein Verdichtergehäuse. Das Fünf- bis Zehnfache
eines Saugmotors.
Beschleunigung ist, wenn die Tränen der Ergriffenheit waagrecht nach hinten
abfließen, hat Rallye-Legende Walter Röhrl einmal gesagt. Er hätte an der H2R seine
helle Freude gehabt. Wie vom Katapult abgefeuert, schießt die H2R ihren Piloten die
Gerade hinunter. Da müsste sich selbst eine MotoGP-Maschine beim Sprintduell
warm anziehen. Bei Höchstdrehzahl rotiert das CNC-gefräste Verdichterrad des
Laders mit 13.0000/min – weit mehr als Schallgeschwindigkeit.
Und genauso fühlt sich der Fahrer auch! Der Puls hämmert, keine Zeit, auf
irgendwas links oder rechts zu achten, Boxenmauer und Tribünen wischen vorbei,
den Blick starr auf die Bremszone gerichtet. Und natürlich viel zu früh in die Eisen
gelangt. Doch bereits jetzt stehen da 320 km/h auf der Uhr. Beim Bremsen bleibt die
H2R stabil in der Spur, wedelt nur leicht mit dem Hintern. Die Anti-Hopping-Kupplung
leistet in Zusammenarbeit mit der elektronisch geregelten, einstellbaren Motorbremse
ganze Arbeit. Das rotzige Brabbeln im Schiebebetrieb und das Pfeifen des Laders
liefern den passenden Soundtrack zu dem Wahnsinn, der sich auf den Geraden
abspielt.
Spürbar williger, präziser und direkter als die H2 lenkt die H2R ein. Etwas härtere
Federn, geringfügig straffere Dämpfung und 22 Kilo weniger schärfen Handling,
Präzision und Rückmeldung deutlich. Die Gasannahme ist ein wenig milder. Und am
Kurvenausgang schiebt die Traktionskontrolle Überstunden. Dennoch dauert es ein,
zwei Runden, bis der Autor Beschleunigung, Bremspunkt und seine Nerven so weit
im Griff hat, um mit anständig Schwung auf Start/Ziel einzubiegen, was sich am
Bremspunkt in 332 km/h auf dem Display niederschlägt. Danach tickt das
abschaltbare Bosch-ABS (H2: nicht abschaltbar) ein, zwei Mal sacht gegen den
Handbremshebel. Hinter vorgehaltener Hand erfährt man, dass die H2R bereits mit
über 370 km/h gemessen wurde. Das genügt Passagierflugzeugen bereits zum
Abheben. Die Aerodynamik-Abteilung von Kawasaki hat offensichtlich ganze Arbeit
geleistet.
Der Motor ist ein Tier, wütet mit grimmigem Druck bei jeder sich bietenden
Gelegenheit. Alle gewohnten Bremspunkte sind hinfällig, und eine Runde, in der man
vor Herzklopfen nicht mindestens einen Bremspunkt verpatzt, gelingt bis zum Ende
nicht. Selbst wenn man am Kurvenausgang zwei Gänge hintereinander hochschaltet,
um den endlosen Punch abzurufen, kommt man mit dem Denken zwischen zwei
Kurven kaum hinterher.
Besser verkraftet das Gitterrohrchassis die Strapazen. Es wirkt filigran. Doch es
funktioniert – und zwar ausgezeichnet! Dazu ermöglicht es bessere Wärmeabfuhr als
die üblichen Alu-Brückenrahmen mit mächtigen Seitenprofilen, weshalb der Kühler
relativ klein ausfallen kann. Außerdem ist das Chassis mit seinen traumhaften, teils
von Hand gezogenen Schweißnähten eine Augenweide. Handwerkskunst sollen H2
und H2R verkörpern. In der Tat ist ihre Verarbeitung bis ins Detail tadellos und
wunderschön anzusehen. Damit der Motor den Stress übersteht, trägt er als erstes
Kawa-Aggregat einen Klopfsensor, und sein Gehäuse ist auf die eineinhalb- bis
zweifache Belastung eines Saugmotors ausgelegt. Die Ventile werden per
Tassenstößel betätigt. Die Auslassventile bestehen aus einem Stahlschaft, der mit
einem Ventilteller aus extrem hitzebeständigen Inconel, einer Nickel-ChromLegierung, reibungsverschweißt wird.
Und damit der Fahrer den Stress übersteht, stehen ihm neben dem ABS LaunchControl, elektronisch gesteuerte, einstellbare Motorbremse, elektronisch geregelter
Öhlins-Lenkungsdämpfer und eine Traktionskontrolle, die statt Schräglagen- oder
Beschleunigungssensoren komplexe Berechnungsalgorithmen nutzt, zur Seite.
Sie hält das Hinterrad weitgehend im Zaum, doch sind Slides am Kurvenausgang
ständiger Begleiter, die beim forschen Gasaufziehen schon mal in veritable
Quersteher münden können. Deshalb sollte der Pilot hellwach sein. Was auch bei
Wheelies gilt. Denn wenn die Gewalt des Motors beim harten Beschleunigen die
Oberhand behält und das Vorderrad schneller in die Höhe zerrt, als die TC eingreifen
kann, ist eine flinke Gashand gefordert.
Die H2R ist eben der pure Wahnsinn. Martin Lambert hatte recht: The ride of your
lifetime – etwas Vergleichbares gibt es nicht.
Technische Daten Kawasaki H2 [H2R]
Motor
Wassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor mit Kompressor, zwei obenliegende, kettengetriebene
Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, Tassenstößel, Nasssumpfschmierung, Einspritzung, 4 x Ø 50 mm, geregelter
Katalysator, Lichtmaschine 420 W, Batterie 12 V/8,6 Ah, hydraulisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung,
Sechsganggetriebe, Kette, Sekundärübersetzung 44:18 [42:18].
Bohrung x Hub: 76,0 x 55,0 mm
Hubraum: 998 cm³
Verdichtungsverhältnis: 8,5:1 [8,3:1]
Nennleistung: 147,2 kW (200 PS) bei 11.000/min; [228 kW (310 PS) bei 14.000/min]
Max. Drehmoment: 133 Nm bei 10.500/min; [165 Nm bei 12.500/min]
Fahrwerk
Gitterrohrrahmen aus Stahl, Upside-down-Gabel, Ø 43 mm, elektrohydraulischer Lenkungsdämpfer, verstellbare
Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Einarmschwinge aus Aluminium, Zentralfederbein mit Hebelsystem,
verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 330 mm, VierkolbenFestsattel, Scheibenbremse hinten, Ø 250 mm, Zweikolben-Festsattel, Traktionskontrolle, ABS.
Alu-Gussräder:3.50 x 17; 6.00 x 17
Reifen: 120/70 ZR 17; 200/55 ZR 17; [120/60 ZR 17; 190/65 ZR 17]
Maße und Gewicht
Radstand 1455 mm, Lenkkopfwinkel 65,5 Grad, Nachlauf 103 mm, Federweg v/h 120/135 mm, Sitzhöhe 825 [830] mm,
Gewicht fahrfertig 238 [216] kg, zulässiges Gesamtgewicht 343 kg [k.A.], Tankinhalt 17,0 Liter.
Preis und Garantie
Garantie: zwei Jahre (nur H2)
Gewährleistung: [zwei Jahre]
Serviceintervalle: 6000 km (nur H2)
Farbe: Schwarz
Preis: 25.000 [50.000] Euro
Nebenkosten: 180 Euro
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