Dossier Afghanistan - das zweite Gesicht bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 2 Einleitung Kriege und Konflikte überschatten die Geschichte Afghanistans, vor allem in jüngerer Zeit. Sie dominieren auch die Berichterstattung über das Land, das aus deutscher Perspektive noch Anfang des 20. Jahrhunderts ein nahezu weißer Fleck auf der Landkarte war (http://www.bpb.de/ internationales/asien/afghanistan/48614/deutschlands-engagement). Afghanistan hat aber weit mehr zu bieten als den anhaltenden Terror der Taliban. Im bunten kulturellen Leben dominierte früher ein gelebter Islam, der seine Stärke vor allem aus einer "Kultur der Ambiguität" zog: Viele Gelehrte sahen den unterschiedlichen Islamauffassungen und -praxen gelassen entgegen und richteten sich dabei nach der bekannten Tradition des Propheten Mohammed, dass der Dissens muslimischer Gemeinschaft ein Zeichen der Gottesgnade sei. Im traditionellen Handwerk und der Musik zeigten sich der Reichtum und Vielfalt der afghanischen Kultur besonders deutlich. Es ist ein anderes, zweites Gesicht Afghanistans, das afghanische Autoren hier von ihrem Land zeichnen. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 3 Inhaltsverzeichnis 1. Der Islam in Afghanistan 4 2. Die afghanische Jugend zwischen Tradition und Moderne 9 3. Zeitgenössische afghanische Kunst 18 4. Die Rolle der Stämme 23 5. Das traditionelle Handwerk Afghanistans 33 6. Afghanische Diaspora und Brain Drain 40 7. Die Stimme vom Hindukusch 49 8. Landschaftsarchitektur und Siedlungsbau 54 9. Redaktion 59 bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 4 Der Islam in Afghanistan Das öffentliche Bild Afghanistans Von Abbas Poya 22.11.2012 Dr. Abbas Poya war Mitarbeiter am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), School of History. Seit Januar 2013 leitet er die Forschungsgruppe "Norms, Normativity and Norm Changes” an der Universität Erlangen. Islamischer Fundamentalismus, eine rückwärtsgewandte Religiosität und mittelalterliche Denkund Lebensweisen bestimmen häufig das Bild von Afghanistan. Dabei hat das Land mittlerweile eine Verfassung, einen direkt gewählten Präsidenten und ein demokratisch gewähltes Parlament. Trotzdem können sich bestimmte religiöse Kräfte über das Gesetz stellen. Wie groß ist ihr Einfluss? Wie wird der Islam in Afghanistan verstanden? Am 12. August 2012 musste ein beliebter afghanischer Sänger, Shafiq Monir, sein seit langem geplantes Konzert in der Stadt Herat absagen. Grund war der Aufruf einiger Gelehrter der Stadt, allen voran der des populären Predigers Sheikh Mojib ar-Rahman Ansari. Ansari wollte das Konzert verhindern, weil er es für unmoralisch hielt. Dem Druck Ansaris und seiner Befürworter folgend, strichen die Behörden das Konzert schließlich. Das ist nicht das erste und wird wohl auch nicht das letzte Mal sein, dass bestimmte religiöse Kräfte in Afghanistan eine eigenwillige Interpretation des Islam vornehmen und sie den anderen aufzwingen. Auch vielen Afghanen diente der Vorfall als Beleg dafür, warum Afghanistan in der allgemeinen Wahrnehmung als ein rückschrittliches und vormodernes Land gilt. Mit Afghanistan werden seit mittlerweile über dreißig Jahren islamischer Fundamentalismus, rückwärtsgewandte Religiosität und mittelalterliche Denk- und Lebensweisen assoziiert. Es gilt als ein Land, in dem es keine Spur von Zivilität und Zivilisation gibt. Viele können vielleicht den politischen Anarchismus und die damit einhergehende religiös legitimierte bzw. motivierte Gewalt in der Zeit des Bürgerkrieges bis Ende 2001 noch nachvollziehen; es herrschte letztlich überall im Land Krieg und es gab keine souveräne Zentralregierung, die für Gesetz und Ordnung sorgen konnte. Inzwischen hat Afghanistan eine mit viel Aufwand verabschiedete Verfassung, einen vom Volk direkt gewählten Präsidenten und ein demokratisch gewähltes Parlament. Trotzdem können bestimmte religiöse Kräfte sich über das Gesetz stellen, ihre Meinung der Politik aufzwingen und letzten Endes die Souveränität des Staates sabotieren. Wie groß ist der Einfluss religiöser Akteure? Wie wird der Islam in Afghanistan verstanden? bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 5 Religiöse Akteure Religiöse Akteure und insbesondere die offiziellen Träger des Islam, die ‘olama’, haben in der politischen Geschichte Afghanistans immer wieder eine weitreichende Rolle gespielt. Diese Tatsache geht nicht zuletzt darauf zurück, dass sie im Prozess der Meinungsbildung und der politischen Orientierung vieler Menschen ein wichtiger Faktor sind. Die politische Klasse ist stets darum bemüht gewesen, für ihre Regierungsbeschlüsse und -praktiken die Zustimmung der ‘olama’ zu gewinnen. Die ‘olama’ wurden aber andererseits oft für bestimmte Politiken, die im Grunde mit eindeutigen Anforderungen des Islam nicht konform waren, benutzt. Amir Abdorrahman Khan (reg. 1881-1901), der sogenannte Eiserne Emir, konnte seine nationalistische Unterdrückungspolitik beispielsweise im Namen des Islam durchführen. Legitimiert durch Fatwas der ‘olama’ ging er erbarmungslos gegen religiöse und ethnische Minderheiten vor. Unterstützt durch einige ‘olama’ ließ er sogar religiöse Stiftungen in Beschlag nehmen. Dem als Reformkönig geltenden Amanullah (1919-1929) dagegen verweigerten die ‘olama’ ihre Unterstützung. So gelang es ihm nicht, liberale Reformen durchzusetzen. Nach einer Europareise in Begleitung seiner freizügig gekleideten Frau teilte Amanullah der "Großen Ratsversammlung" (Loya Jirga) seine Pläne zur Modernisierung des Landes mit. Dazu gehörten das Verbot der Sklaverei, die Religions- und Meinungsfreiheit und die Schulpflicht für Mädchen. Die religiösen Akteure, allen voran der einflussreiche Fazl Omar Mojaddadi, bekannt als Hazrat-e Shur Bazar, lehnten die Reformmaßnahmen ab und bezeichneten sie als nicht islamisch. Der anschließende Volksaufstand gegen Amanullahs Modernisierungsvorhaben führte letztlich zu seinem Sturz. Trotz derartiger Einflussnahmen wurden ‘olama’ nicht als eine politische Größe, sondern als eine religiöse Instanz angesehen. Die politisch zentrale Bedeutung, die den ‘olama’ in der Zeit des Widerstandes gegen die sowjetische Usurpation und des damit einhergehenden Bürgerkrieges zukam, war allerdings eine ganz neue Erscheinung, die das Selbstverständnis der ‘olama’ und ihr Bild in der Gesellschaft völlig veränderte. Diese neue gesellschaftspolitische Position religiöser Akteure ist u.a. auf die großzügigen finanziellen und militärischen Zuwendungen der Länder zurückzuführen, die die Widerstands- bzw. Bürgerkriegsparteien unterstützten. Die Führung dieser Parteien war zumeist in den Händen religiöser Akteure. Bald beanspruchten die ‘olama’, welche gewohnt religiöse Orientierung der Menschen bestimmten, auch die politische Führung. Während sie vor Kriegsbeginn allgemein auf die Gnade der politischen Klasse angewiesen waren, stellten sie während des Kriegs selbst die politische Führung dar. Diese Rolle wollen sie auch unter der neuen politischen Ordnung weiter ausüben, solange sie sich nicht als zivile sondern als religiös legitimierte politische Akteure verstehen. Der gelebte Islam Wie überall in der islamischen Welt zeichnet sich der Islam in Afghanistan durch eine Vielzahl von heterogenen Prägungen und Eigenheiten aus. Noch vor Kriegsbeginn wurde diese "Kultur der Ambiguität" im Alltag gelebt. Trotz aller Diskriminierung lebten auch nichtmuslimische Gemeinschaften wie Sikhs, Hindus, Juden neben schiitischen und sunnitischen Muslimen. Viele Gelehrte sahen den unterschiedlichen Islamauffassungen und -praxen gelassen entgegen und richteten sich dabei nach der bekannten Tradition des Propheten, dass der Dissens muslimischer Gemeinschaft ein Zeichen der Gottesgnade sei (ekhtelaf-o ommati rahma) – eine Tradition, die in der islamischen Geschichte vielerorts jahrhundertelang praktiziert wurde. Dieser Usus kennzeichnete die sogenannte Blütezeit der muslimischen Kultur (750-1250) mit ihren Zentren wie Bagdad, in denen sich Kunst, Wissenschaft und Forschung glanzvoll entfalten konnten. Schon in der frühislamischen Zeit gab es ganz legitim nebeneinander existierende divergente Lesarten des Korans und damit der Scharia. Diese Tatsache hat bis zum Aufkommen des ideologisierten Islam im 19. Jahrhundert kaum jemanden in der islamischen Welt gestört. Mehrdeutigkeit sprach nicht gegen eine göttliche Herkunft des Korans oder der Scharia. Wer kann schon behaupten, die Scharia gänzlich zu erfassen? Als Gelehrte hatte man lediglich den bescheidenen Anspruch, eine eigene Interpretation der Scharia zu präsentieren und nicht die Scharia. Daher hat man die Meinung eines Gelehrten als Ergebnis seiner individuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Scharia, als seinen ijtihad verstanden und nicht als "den einen wahren Islam". Dementsprechend haben auch die meisten Gelehrten in Afghanistan andere bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 6 Meinungen und Praktiken respektiert. Darüber hinaus weist der Islam in Afghanistan mystische Züge auf. Bis zum Aufbruch des Widerstandskampfes gegen die sowjetische Usurpation und des damit einhergehenden Bürgerkrieges hielt der mystische Islam Distanz zur Politik und forderte gemäß seines Selbstverständnisses Toleranz von den Menschen. Erst in der Kriegszeit mischte er sich zunehmend in die Politik ein und kämpfte wie die anderen Strömungen um mehr politischen Einfluss. Eine der wichtigsten Bruderschaften in Afghanistan stellt die Naqshbandeyya dar. Der Orden geht auf Muhammad Bahaoddin an-Naqshbandi (gestorben 1389) zurück und hat sich zunächst in Zentralasien verbreitet. In Afghanistan hat die Nashbandeyya vor allem unter den Tadschiken der Großstädte, aber auch unter einigen paschtunischen Stämmen im Süden und Südosten ihre Anhänger. Ein weiterer mystischer Orden in Afghanistan ist die Qadereyya. Der Begründer der ebenfalls einflussreichen Bewegung, Abd al-Qader Gilani (gestorben 1166), stammte aus Bagdad. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam die Bruderschaft nach Afghanistan. Im Gegensatz zu diesen beiden Orden, die vor allem in der Hauptstadt präsent waren, hatte der Chishteyya-Orden seine Anhängerschaft insbesondere in und um Herat, im Westen des Landes. Die Chisteyya wurde von Moinoddin Muhammad Chishti (gestorben 1236) gegründet und hat sich über die Grenzen des heutigen Afghanistans hinaus vor allem auf dem indischen Subkontinent verbreitet. Viele Menschen haben zwar die ‘olama’ als offizielle Träger des Islam betrachtet, sie hatten aber gleichzeitig ihre Beziehungen zu mystischen Bruderschaften und pflegten in ihrem Alltagsleben deren in der Regel offene Haltung, z.B. zur Musik oder zum Verkehr mit anderen religiösen Gruppen. Man legte ebenfalls viel Wert auf große zumeist mystisch orientierte Dichter. Ihre Gedichte wurden als Interpretation der koranischen Botschaft angesehen, ihre Einstellungen zum Leben und zur Welt wurden besonders geschätzt. Man nahm die Aufforderungen von Hafez (1320-1389) "In diesen beiden Ausdrücken liegt der Schlüssel zum Frieden im Diesseits und Jenseits" und "Übe den Freunden gegenüber Großmut und den Feinden gegenüber Toleranz" genauso ernst wie die Botschaft von Saadi (1190-1283): "Die Kinder Adams sind aus einem Stoff gemacht als Glieder eines Leibs von Gott, dem Herrn, erdacht Sobald ein Leid geschieht nur einem dieser Glieder dann klingt sein Schmerz sogleich in allen wider." Auch die Gedichte von Maulana Jalaloddin Balkhi (1207-1273) haben einen großen Platz im Alltagsleben der Menschen gehabt. Maulana sah die Liebe als Hauptkraft des Universums und das Universum als ein harmonisches Ganzes. Sein kultureller Kontext prägte selbstverständlich seine Vorstellungen von Gott, sein Gott kannte aber keine religiösen oder sonstigen Grenzen: "Was soll ich tun, o ihr Muslime? Denn ich kenn' mich selber nicht Weder Christ noch bin ich Jude, und auch Pars und Muslim nicht Nicht von Osten, nicht von Westen, nicht vom Festland, nicht vom Meer Nicht stamm' ich vom Schoß der Erde und nicht aus des Himmels Licht." Noch mehr als Hafez und Maulana wird in Afghanistan der große mystische Dichter Abdolqader Bidel Dehlavi (1645-1721) verehrt und gelesen. Er lebte und wirkte im Mogulreich und gehörte dem Qadereyya-Orden an. Seine Gedichte wurden von vielen Afghanen wie Koranverse rezitiert. Man beschäftigte sich mit ihm und seiner Philosophie in Lesungen und Diskussionsrunden. Eine Abendreihe über ihn unter dem Shab-e Aschoqan Bidel ("Abend der Bewunderer von Bidel") ist vielen Afghanen immer noch in Erinnerung geblieben. Der Meister der afghanischen klassischen Musik, Ostad Muhammad Hosain Sarahang (1923-1982), war der bekannteste Interpret der Dichtung von Bidel und sorgte mit seiner faszinierenden Stimme für die Omnipräsenz von Bidels Gedanken im Alltag vieler afghanischer Familien. Bidel wird als Anhänger einer gewissen pantheistischen Philosophie Vahdat al-vojud ("Einheit der Existenz") bezeichnet, der in dem als sehr komplex angesehenen Indischen bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 7 Dichtungsstil dichtete. Indem er diese komplexe Ausdrucksweise pflegte, machte er doch die Ambiguität des Seins deutlich. "Solange die Einzelnen nicht zueinanderfinden, kann keine Gemeinschaft existieren." "Eine Ähre ist keine, wenn die Körner nicht zusammenwachsen." Die Kriegszeit Krieg wurde in vielen Fällen der Religion halber geführt. So spricht man in der Geschichtswissenschaft vom "Religionskrieg" oder "Glaubenskrieg" oder auch vom "Konfessionskrieg". Krieg verändert gleichzeitig den Zugang zur Religion und deren Textgrundlagen. In der Kriegssituation duldet man keine Dissidenten und keinen Zweifel an eigenen, eindeutig formulierten und für absolut richtig gehaltenen Zielen. Auch die Religion soll im Dienste des Krieges und der mit ihm einhergehenden Gewalterscheinungen stehen und sie legitimieren. Auf diese Weise entsteht religiöser Fundamentalismus. So entstand er in der Geschichte des Christentums und so erschien er in der islamischen Geschichte. Der über dreißig Jahre andauernde Kriegszustand in Afghanistan hat kaum Platz fürs Weiterbestehen einer Kultur der Pluralität und Toleranz übrig gelassen. Vielmehr setzte sich ein einseitiges, für eindeutig gehaltenes und damit fundamentalistisches Verständnis des Islam durch. Bereits im "Jahrzehnt der Verfassung" (daha-ye qanun-e asasi) 1963-1973 haben sich vor allem in Kabul kleine islamistische Kreise gebildet. Ihr vordergründiges Anliegen war die Bekämpfung von marxistisch orientierten Gruppen, die über eine beachtliche Anhängerschaft unter den Studenten verfügten. Sie bezeichneten sich teils als "Jungmuslime" (javanan-e mosalman) und teils als "Islamische Gemeinschaft" (jameyyat-e islami) und wurden hauptsächlich von Persönlichkeiten geführt, die an der Al-Azhar-Universität in Kairo ausgebildet worden waren und mit dem Gedankengut der "Muslimbrüder" (ekhvan al-moslemin) vertraut waren. Zu den Führungskadern dieser Gruppen gehörten die Dozenten Gholam Muhammd Neyazi (gest. 1978) und Borhanoddin Rabbani (1940-2011) und die Studenten Golboddin Hekmatyar (geb. 1947) und Ahmad Shah Massud (1951-2001). Die drei Letzteren führten später nicht nur die wichtigsten Widerstandsparteien gegen die sowjetischen Truppen, sie lieferten sich auch gegenseitig blutige Kämpfe, die nach dem Rückzug der sowjetischen Armee noch erbitterter weitergeführt wurden. Die Logik des Krieges hat sich mit der Zeit fast aller religiösen Akteure und der mystischen Bruderschaften bemächtigt. Die herausragende Figur des Naqshbandeyya-Ordens Sebghatollah Mojaddadi (geb. 1925) mit seiner Partei Nationale Rettungsfront und der geistliche Führer des Qadereyya-Ordens Pir Sayyed Ahmad Gailani (geb. 1932) mit seiner Organisation Nationale Islamische Front und die Chishteyya-Bewegung in der Herat-Region waren nicht nur an dem Widerstandskampf beteiligt, sondern auch an den schmutzigen Brüderkriegen der Mujahidin. Die intellektuelle Nahrung der Gruppen waren nicht mehr und konnten auch nicht mehr die Gedichte von Maulana oder Bidel sein, sondern die Gedanken von den fundamentalistischen Vordenkern Sayyid Qutb (1906-1966) und Abu Ala Maududi (1903-1979). Die großzügigen finanziellen und militärischen Mittel, die die Kriegsparteien über Jahrzehnte erhielten, begünstigten und verfestigten die fundamentalistische Auffassung des Islam umso mehr. Fundamentalismus war schließlich der Marktrenner. Trotz einer einigermaßen demokratisch gewählten und halbwegs funktionierenden Zentralregierung herrscht weiterhin der Kriegszustand in Afghanistan und in den Köpfen einiger religiöser Akteure. Viele Menschen, insbesondere viele junge Männer und Frauen in den Großstädten, wollen dennoch zu einem normalen Leben zurückfinden. Geschäfte, wissenschaftliche Tätigkeiten, künstlerische Aktivitäten und literarisches Schaffen kehren in den Lebensalltag zurück und damit auch eine Kultur der Vielfalt. Wenn man einen Augenblick die kriegerischen Momente, die ebenfalls zum Alltag der Menschen gehören, ausblendet, spürt man in Kabul, in Herat, in Kandahar und in Mazar einen Hauch, einen sehr dünnen Hauch vom Bagdad des 10. Jahrhunderts voller Tüchtigkeit und Pluralität. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 8 Ausgewählte Literatur Anderson, Ewan W. (ed.): The cultural basis of Afghan nationalism, London 1990 Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011 Farhang, Mir Mohammad Sadiq: Afghanestan dar panj qarn-e akhir (Afghanistan in den letzten fünf Jahrhunderten), Qom 1992 Ghobar, Mir Gholam Mohammad: Afghanestan dar masir-e tarikh (Afghanistan im Laufe der Geschichte), Qom 1980 Grevemeyer, Jan-Heeren: Afghanistan: sozialer Wandel und Staat im 20. Jahrhundert, Berlin 1990 Kateb-e Hazara, Faiz Mohammad: Seraj al-tavarikh, 4 Volume, Teheran 1991 / Kabul 2011 Poya, Abbas: Afghanistan, in: Werner Ende & Udo Steinbach (Hrsg.), Islam in the World Today. A Handbook of Politics, Religion, Culture, and Society, Cornell University Press 2010, S. 256-269. Poya, Abbas: Perspektiven zivilgesellschaftlicher Strukturen in Afghanistan. Ethische Neutralität, ethnische Parität und Frauenrechte in der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan, in: Orient 44/2003, S. 367-384. Rasanayagam, Angelo: Afghanistan: a modern history; monarchy, despotism or democracy? The problems of governance in the Muslim tradition, London 2003 Saikal, Amin: Modern Afghanistan. A history of struggle and survival, London 2006 Schetter, Conrad: Kleine Geschichte Afghanistans, München 2004 Schetter, Conrad: Ethnizität und ethnische Konflikte in Afghanistan, Berlin 2003 bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 9 Die afghanische Jugend zwischen Tradition und Moderne Von Sayed Asef Hossaini 21.1.2013 ist Doktorand an der "Willy Brandt School of Public Policy" in Erfurt. Er studierte an der Kabuler Universität Philosophie und Soziologie und an der "Willy Brandt School of Public Policy" Public Policy. Während seines Studiums in Kabul war er politisch aktiv als Vorsitzender einer Studentenbewegung. In ländlichen afghanischen Gebieten herrscht nach wie vor das Patriarchat, Vater und Großvater entscheiden in allen wichtigen Angelegenheiten. Insbesondere die Mädchen sind bei der Ausbildung, Heirat und der Ausübung eines Berufes vom positiven Votum ihrer Väter abhängig. Afghanische Jugendliche beim 3. "Go Skateboarding Day" am 21. Juni 2011 in Kabul. (© picture-alliance/dpa) Der ehemalige Vorsitzende des "Afghanischen Friedensrates", Burhanuddin Rabbani, warnte am 1. März 2011, nur einige Monate vor seiner Ermordung, in einer öffentlichen Rede vor den Stammesführern und afghanischen Geistlichen davor, dass "die junge Facebook- und Internetgeneration die Führung der Gesellschaft und die künftige Entwicklung" übernimmt.[1] Rabbani war der erste und hochrangigste politisch-religiöse Führer, der klar und deutlich seine Sorge vor der Moderne zum Ausdruck brachte. Er wurde am 20. September 2011 nicht durch die "junge FacebookGeneration", sondern von seinen traditionsorientierten Mitdenkern, den Taliban, getötet. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 10 Warum fürchten sich die traditions- und religionsorientierten Anführer vor der Moderne? Sind ihre Befürchtungen ernstzunehmen? Wer sind die wichtigsten Akteure und Befürworter der Moderne in Afghanistan? Tradition, Moderne und Modernisierung Modernisierung wird meist mit der Industrialisierung in Verbindung gebracht und wird nach Elwell folgendermaßen definiert: Ein Prozess, der eine allgemeine gesellschaftliche Veränderung mit sich bringt, durch die Umwandlung der landwirtschaftlichen in die industrielle Produktion. Die kulturelle Komponente, die durch diese Entwicklung entstanden ist, wird als Moderne bezeichnet. Die wichtigsten Elemente der Modernisierung sind Aufklärung, Rationalität, Säkularisierung, liberale Demokratie, moderne Wissenschaft, technologische Innovation u.v.m. (Chirot,1986; Harrison, 1988; So, 1990; Giddens et al., 1994; Hall et al., 1996 and Kyong-Dong, 2005). Wir müssen zunächst zwischen den Begriffen "Tradition" und "Gewohnheiten und Sitten" unterscheiden. Tradition ist ein weiter Begriff, der Gegenstände, Anschauungen, Sitten und unterschiedliche Institutionen erfasst. "Gewohnheiten und Sitten" sind nur ein Teil der Tradition.[2] Mit anderen Worten umfasst die Tradition "alles, was von der Vergangenheit in die Gegenwart transferiert und übernommen worden ist".[3] Die Begriffe "Tradition" und "Gewohnheit" lassen sich in der afghanischen Sprache nur schwer unterscheiden. Beides wird unter "an-anah" (Überliefertes) subsumiert, obwohl "an-anah" eigentlich nur Gewohnheiten und Sitten umfasst, die eine Gesellschaft oder Volk von der Vergangenheit geerbt hat. Ähnlich dieser Beschreibung definiert auch Karl Deutsch (1961) den Übergang zur Moderne als einen "Prozess der sozialen Mobilisierung". Er definiert die Modernisierung so: "Es ist ein Prozess, in dem sich eine Reihe von großen alten sozialen, wirtschaftlichen und psychischen Verpflichtungen verändern oder zusammenbrechen und die Menschen sich für neue Sozialisations- und Verhaltensmuster vorbereiten."[4] Um Tradition und Moderne in Afghanistan zu untersuchen, lässt sich die afghanische Zeitgeschichte in drei Epochen einteilen: Die erste Phase beginnt 1919 und endet 1929; Die zweite Phase ist der Zeitraum zwischen 1929 und 1978, und die dritte Phase umfasst die Zeit zwischen 1978 bis 2001.[5] Die erste ernstzunehmende Wende zum Modernisierung und zur Moderne begann in Afghanistan unter der Regierung von König Amanullah Khan. Er begann in den 1920er Jahren mit vielseitigen Reformen wie zum Beispiel einer Steuerreform, einer Landwirtschaftsreform, Bildungsreform und Emanzipation für Frauen, d.h Kopftuchverbot, und dem Verbot der Sklaverei. Seine Politik war von der Modernisierung in Europa beeinflusst. Nach dem ersten Weltkrieg wurde hier die "alte Weltordnung" geändert und das österreichische, ungarische, russische, deutsche und ottomanische Imperium kollabierte. Obwohl die Reformen Amanullahs relativ zeitgleich zu den Reformen im Iran und der Türkei durchgeführt worden sind, blieben sie ohne Erfolg. Verglichen mit der Dauer der Reformen in der Türkei, die von 1924 bis zum Tod Kemal Atatürks 1938 andauerten und Reza Shah´s Herrschaft im Iran (1926-1941), war der Zeitraum von Amanullahs Bestrebunge aber kürzer (1919-1929). Entgegen der herrschenden Meinung wurden die ersten Reformen Amanullahs (1919-1924) nicht von der afghanischen Bevölkerung abgelehnt, sondern rasch von den Menschen akzeptiert. Das Gros der Bevölkerung befürchtete großen Widerstand gegen die neuen Ideen. Daher war die anfängliche Bereitschaft diese anzunehmen, überraschend. Mir Ghulam Mohammad Ghobar 1897-1978), ein afghanischer Historiker und Politologe, schreibt in seinem Buch "Afghanistan im Laufe der Geschichte" (Afghanistan Dar Masire Tarikh): "Die Menschen in Afghanistan, die einen Fortschritt wollten, haben ernsthaft mit dem Staat zusammengearbeitet und haben alle Reformen begrüßt, so wie sie während des anglo-afghanischen Krieges mit ihrem Leben und ihrem Besitz für den Staat einstanden. Sie setzten sich für die Förderung bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 11 des neuen Bildungssystems ein und akzeptierten die Steuererhöhung, die für diese Reform genutzt werden sollte. Sie beteiligten sich freiwillig am Ausbau der Infrastruktur und unterstützten die moderne Industrie und das demokratische System." "Die Afghanen suchten ernsthaft den Fortschritt. Sie unterstützen die Politik der Regierung und befürworteten in der Tat die neuen Reformen. Genauso wie sie im Krieg gegen England ihr Leben und Gut eingesetzt hatten, unterstützen sie auch diese Maßnahmen. Um die moderne Bildung zu fördern, akzeptierten sie eine Zusatzsteuer (einige Peyssehs je Rupie) als "Bildungsbeitrag". Die Bevölkerung unterstützte freiwillig den Ausbau von Straßen, die moderne Industrie und das demokratische System." [6] Amanullah träumte nicht nur von einem modernen Afghanistan, sondern auch von einem modernen Islam. Er wollte mit seinen gesellschaftlichen Reformen eine Führungsrolle in der islamischen Welt übernehmen. Dennoch führten die Reformen in ihrer zweiten Phase ab 1927 in eine Sackgasse. Ghobar betont in seinem Buch, dass die Afghanen zu keiner Zeit einen Aufstand gegen Zivilisation und Kultur unternommen haben. Die Menschen bauten (trotz einer durch den England-Krieg einsetzenden Armut) unter Amanullah Straßen und Schulen; sie spendeten für den Ausbau der Bildung und nahmen höhere Steuern in Kauf.[7] Ghobar führt den Fehlschlag der Reformen auf "Missstände in der öffentlichen Verwaltung und Korruption" zurück. Auch habe der ausländische Feind die Unzufriedenheit der Bevölkerung für seine Interessen genutzt.[8] Es scheint aber, dass die rasante Durchsetzung mancher Reformmaßnahmen Ursache für diesen Fehlschlag war, worunter vor allem die Reform der Frauenrechte zählt. Amanullah wollte die Polygamie abschaffen, die Höhe der "Morgengabe" begrenzen, "Kinderverlobungen" verbieten. Insbesondere wollte er jene Sitte abschaffen, nach der bei Auseinandersetzungen anstatt "Blutgeld" ein Mädchen zur Wiedergutmachung angeboten wurde. Diese Reformen, begleitet von einer Landreform führten zur Konfrontation mit Paschtunen-Stämmen, die sozusagen für "Gold, Frau und Boden" (Zar, Zan, Zamin) Krieg führen. Sie fühlten sich in ihrer Tradition zu sehr beschnitten.[9] Nach den Modernisierungsplänen von Amanullah Khan, der die Tradition durch moderne Werte ersetzen wollte, gab es keine ernsthaften Modernisierungsschritte mehr. Obwohl Thomas Barfield, ein Anthropologe an der Boston Universität, die Meinung vertritt, dass die afghanischen Regierungen im 20. Jahrhundert die Modernisierung des Landes angestrebt haben, ist festzustellen, dass nach dem Sturz Amanullahs 1929 bis 1978 kein westlicher Modernisierungsschritt von Erfolg gekrönt war. Grund dafür war, dass die "Tradition" als wichtigstes Element der "Nation Building" in Afghanistan am meisten berücksichtigt und betont wurde. Zusätzlich unter der Annahme, dass die Reformen Amanullahs wegen ihrer Konfrontation mit der Tradition, insbesondere mit "Pashtunwali" (Verhaltenskodex der Paschtunen) und wegen der ablehnenden Haltung der Paschtunen erfolglos blieben, unterließen die Regierungen nach Amanullah jeden neuen Versuch, sich mit der Tradition anzulegen. Der 2. Modernisierungsversuch wurde in den 1970er Jahren von Mohammad Daud Khan und danach in den 1980er Jahren von der "Volksdemokratischen Partei" (PDPA) unternommen. Die PDPA ging bewusst oder unbewusst jenen Weg, der zum Sturz Amanullahs geführt hatte.[10] Der Punkt an dem Amanullah letzendlich scheiterte war, als die Kleriker seine Reformen als islamfeindlich titulierten. Das führte zu seinem Sturz im Jahr 1929. Die Modernisierung, die ein halbes Jahrhundert nur eine städtische Erscheinung geblieben war, wurde erneut in radikaler Form auf die Tagesordnung gesetzt und erlebte erneut mit dem Sturz des kommunistischen Regimes 1991 eine Niederlage.[11] Nach dem Kollaps des kommunistischen Regimes 1992 haben islamistische Mujahedin Gruppierungen die Macht an sich gerissen und später dann die Taliban. Seit den Neunzigern kamen die Modernisierungsbestrebungen ins Stocken. Seit 2001 gibt es wieder Bemühungen und Schritte in Richtung Fortschritt, obwohl die politische und wirtschaftliche Macht in großen Teilen noch in den Händen der traditionellen Führer liegt. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 12 Die traditionsorientierten politischen Systeme Afghanistans (insbesondere die königlichen Regime) haben immer die "Tradition" und die traditionellen Führer für den Fortbestand ihrer Macht instrumentalisiert. Die "Loya Jirga" ist immer noch das stärkste "Legitimationsorgan" des modernen afghanischen Staatsapparats, obwohl es auch gesetzgebende Organe wie Parlament und Senat gibt. Die Loya Jirga ist eine nationale große Ratsversammlung, bei der sich traditionelle und lokale Führer sowie Geistliche, die als einflussreich gelten, versammeln und Entscheidungen für das Land treffen. Basierend auf den vorherigen Definitionen von Moderne und Tradition ist festzuhalten, dass der Übergang zur Modernität in einer Gesellschaft mit einem Wandel des "sozialen Verhaltens" bzw. des "Wertesystems" einhergeht. Mit anderen Worten geschieht der Wandel von der "Tradition" zur "Moderne" auf zwei Ebenen: "Wandel der Institutionen" und des "Wertesystems", d.h. der "Verhaltensmuster". Die afghanische Jugend zwischen Tradition und Moderne Die Lage der afghanischen Jugend lässt im Übergangsprozess von der Tradition zur Moderne in zwei "Gerüsten" analysieren. Diese sind: "Institutionen" und "Wertesysteme". Afghanistan ist eine junge Gesellschaft. Nach Angaben des "Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen" (UNDP) sind ca. 68% der Menschen jünger als 25 Jahre. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt aber nur rund 44 Jahre.[12] Das neue soziale und politische Klima in Afghanistan nach dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 gab der Jugend neue Möglichkeiten in die Hand, so dass Sie mit neuen Instrumenten "Tradition" und "Moderne" begegnen konnte. Sie hatte durch Stipendien die Möglichkeit ins Ausland zu reisen, Zugang zu Internet, Büchern, Fernsehen und Telekommunikationsoptionen. Die afghanische Jugend lässt sich generell in zwei Kategorien einteilen: Städtische und ländliche Jugend. Die städtische Jugend lebt hauptsächlich in den fünf großen Städten Kabul, Mazare Sharif, Herat, Kandahar und Jalalabad. Dagegen lebt der größere Teil in ländlichen Dörfern. Die neuen Möglichkeiten haben mehr oder weniger beide Bevölkerungsgruppen beeinflusst. Die Jugend auf dem Land In der ländlichen Gegend sind noch die traditionellen Institutionen und Wertesysteme stark. In den Dörfern bestimmen vor allem zwei Institutionen das soziale Verhalten: Die "Religion" und der "Ältestenrat". Die Vertreter dieser Institutionen üben gleichzeitig ihren Einfluss auf andere sozialen Organisationen und Gruppen aus, und so werden Schulen, Bazar und familiäre Verhältnisse von ihren Entscheidungen geprägt. Die auf dem Land lebende Jugend hat de facto kaum Möglichkeiten dem Zwang des "an-anat" (Wertesystems) zu entkommen. Traditionelle Institutionen prägen ihr soziales Verhalten. Junge Menschen müssen sogar den Zeitpunkt ihrer Heirat mit diesen traditionellen Organen abstimmen. Die Kleriker repräsentieren aber nicht nur ein altes Wertesystem, sondern haben auch die Möglichkeit (je nach Erfordernissen der Zeit) neue Werte zu proklamieren, um in ihrem Einflussbereich neue Verhaltensweisen zu erzeugen. Dabei wird der neue Wert in das System der "an-anat" aufgenommen, um das neue Verhalten zu legitimieren. Mit anderen Worten werden unter den afghanischen Dorfbewohnern ständig Traditionen "reproduziert". Dies ist das, was Eric Hobsbawm[13] (1983) "Erfindung der Tradition" (Invention of tradition) nennt. Hobsbawm zufolge bedeutet die "Erfundene Tradition meint ein Bündel von Praktiken ritueller oder symbolischer Natur, die gewöhnlich von offen oder stillschweigend anerkannten Regeln bestimmt werden. Sie strebt danach, bestimmte Werte und Normen des Verhaltens durch Wiederholung einzuimpfen, was automatisch den Eindruck einer Kontinuität der Vergangenheit erweckt. Tatsächlich aber wird versucht, wo immer das möglich ist, den Anschluss an eine möglichst brauchbare Vergangenheit zu konstruieren.”[14] Man hat in manchen afghanischen Dörfern sogar die Beobachtung gemacht, dass traditionelle Führer bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 13 moderne technische Möglichkeiten wie Fernseher und Satelliten-Anlagen abgelehnt haben. Die Kleriker besitzen also die "Macht etwas zu definieren", so dass sie mit der Definition eines Phänomens Dinge akzeptieren oder verurteilen. Zum Beispiel kann ein Mullah ganz einfach die Satelliten-Anlagen als "religiöses Verbot" einstufen. Dies reicht aus, um den Kauf, Verkauf , Besitz und Nutzung solcher Anlagen als Verstoß gegen das "Wertesystem" zu deklarieren. Genauso können Mullahs bestimmen, dass die Weigerung der Verheiratung von minderjährigen Mädchen gegen die "an-anat" sei. Dadurch werden Familien gezwungen ihre Mädchen bereits im Kindesalter zu verheiraten. Wer sich gegen die Verbote auflehnt, hat mit Sanktionen und gesellschaftlichen Ausschluss zu rechnen. "An-anat" sind also eher ungeschriebene und unklare Verhaltensvorschriften, die von religiösen Führern definiert und redefiniert werden. Wie Gusfieldes [15]ausdrückt, greifen die Akteure zur Legitimierung ihres jetzigen Verhaltens auf Traditionen zurück. Gusfield schreibt: "Menschen greifen auf die Vergangenheit als Tradition zurück, um ihre jetzigen Handlungen auf eine legitime Grundlage zu stellen. Dabei wird die Tradition zu einer Ideologie und einem Programm für die Handlungen und funktioniert als ein Ziel oder Legitimationsmittel."[16] In der ländlichen afghanischen Gesellschaft basiert soziales Verhalten noch auf traditionellen Abmachungen wie dem Patriarchat. Das Patriarchat hat neben anderen anerkannten traditionellen Institutionen der Gesellschaft einen direkten und mächtigen Einfluss auf die Jugend. Das Patriarchat besitzt eine innere hierarchische Rangordnung, so dass mehrere Generationen (Sohn, Vater und Großvater) unter einem Dach zusammenleben, wobei der Großvater der Mächtigste von allen ist. Junge Menschen können nicht alleine entscheiden, sondern können ihre Wünsche nur vorbringen. Die eigentlichen Entscheidungsträger sind dann Vater und Großvater. Insbesondere die Mädchen sind bei der Ausbildung, Heirat und der Ausübung eines Berufes vom positiven Votum der Väter abhängig. Städtische Jugend In afghanischen Städten scheint der Kampf zwischen "Tradition" und "Moderne" viel heftiger ausgetragen zu werden. Traditionelle Organe, die in Dörfern eine konkurrenzlose Macht ausüben, werden in urbanen Zentren ständig von der "Moderne" herausgefordert. In den Städten haben zwei synchrone Erscheinungen stattgefunden: Wandel der Institutionen und des Wertesystems. Die neue afghanische Gesellschaft (Post-Taliban) ist stärker denn je zu einer Basis und Grundlage für das "Modernisierungstraining" geworden. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1974) ist der Ansicht, dass ein politisches System nach dem Modell einer westlichen Demokratie mit der Moderne kompatibel ist.[17] Das neue politische System und die modernen Kommunikationsmöglichkeiten führten dazu, dass die afghanische Jugend sich sehr leicht mit anderen Werten bekannt machen konnte. TV-Sender, Handys, Internet, soziale Netze, virtuelle Dialoge, Bücher und Auslandsreisen sind ein Teil der Möglichkeiten, die die städtische afghanische Jugend im neuen System kennengelernt hat. In der urbanen afghanischen Gesellschaft sind staatliche Einrichtungen und traditionelle Führer nicht die einzigen zivilgesellschaftlichen Institutionen. Daneben entstanden nach dem Sturz der Taliban zum ersten Mal in Afghanistan auch zivilgesellschaftliche Einrichtungen, die allmählich immer stärker wurden und der Tradition Einhalt gebieten konnten. Obwohl diese Einrichtungen nicht die traditionellen Institutionen ersetzen konnten, haben sie wenigstens [18]die "Wahlmöglichkeit" (range of alternatives) erweitert. Der Stiftung für Kultur und Zivilgesellschaft (FCCS- Foundation for Culture and Civil Society) zufolge, waren 2010 rund 2918 zivilgesellschaftliche Organisationen in allen Provinzen des Landes aktiv. Organisationen für den Schutz von Frauenrechten, Jugendorganisationen, Literaturkreise, Intellektuellen-Vereine und Studentenverbände sind einige dieser Einrichtungen, welche die Macht der traditionellen Institutionen etwas zurückdrängen. Die Organisation Young Women for Change (Junge Frauen für Wandel) setzt sich gegen Gewalt gegen Frauen ein und kämpft gegen das Patriarchat bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 14 in der afghanischen Gesellschaft. Mit Demonstrationen und Kampagnen im Internet versucht die Organisation die traditionelle Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft[19] zu verändern. Trotzdem nutzen die Vertreter der Tradition in den Städten Moscheen und gelegentlich staatliche Stellen, um auf die Gesellschaft und Jugend Einfluss zu nehmen. In Justizangelegenheiten sind es nicht mehr nur staatliche Stellen und Mullahs, welche Einfluss nehmen, sondern es treten auch zivilgesellschaftliche Organisationen auf die Bühne. Beispielsweise wurden 2005 zwei Studenten in Herat der "Apostasie" bezichtigt. Dagegen protestierten zivilgesellschaftliche Organisationen insbesondere die "Bewegung Afghanischer Studenten", so dass die beiden Studenten der Todesstrafe entkommen konnten. Neben der Entstehung von modernen Institutionen haben sich auch moderne Wertorientierungen entwickelt. Die afghanische Jugend lernte durch den Zugang zu Informationen aus dem Ausland neue Wertvorstellungen wie Menschenrechte, individuelle Freiheit, Meinungsfreiheit, Frauenrechte, Kinderrechte und Toleranz kennen. Hinzu kommt, dass neue Wertorientierungen auch die " Gesellschaftsverträge" beeinflusst haben. In den Städten gelten nicht mehr "einseitige patriarchale Verträge", vielmehr haben Wirtschaft und Kultur modernere soziale Vertragsformen auf den Weg gebracht. Ein in Kabul lebender berufstätiger junger Mann, der seine Familie versorgen muss, kann auch weitgehend selbst Entscheidungen treffen. Es gibt in den Städten auch junge Menschen, die auf der Suche nach einer neuen und unabhängigen Identität sind. Diese haben bewusst oder unbewusst den "Liberalismus" zu einen modernen Wert erklärt und praktizieren ihn. Beispielsweise haben junge Mitglieder eines Literaturkreises in Mazare Sharif sich Nachnamen zugelegt, obwohl es in Afghanistan nicht üblich ist, einen Nachnamen zu tragen. Stattdessen wird in Urkunden der Name des Vaters eingetragen. Dichter und Publizisten wählen aber unabhängig von ihren Vätern und den traditionellen Institutionen einen Nachnamen, auch wenn dieser in amtlichen Dokumenten nicht auftaucht. Neben wirtschaftlichen Faktoren, die das Patriarchat in Städten geschwächt haben, haben auch private afghanische Medien durch die Verbreitung einer modernen Kultur neue Wertorientierungen in die Familien hineingetragen. Viele Medien bieten Inhalte an, die die Nutzer mit modernen Werten konfrontieren, und tragen dazu bei, dass die Menschen sich weitgehend nicht mehr an "an-anat " orientieren. "An-anat" sind in der afghanischen Gesellschaft "heilig". Da sowohl Religion als auch nicht-religiöse Sitten unter dem Schirm der "an-anat" stehen, werden sogar nicht-religiöse Gewohnheiten für heilig erklärt. Somit wird jedes Antasten dieser Gewohnheiten als Angriff und Beleidigung der Religion verstanden und kann gefährlich werden. Beispielsweise hat eine Studentin in Mazare Sharif als Vegetarierin mit ihren Kommilitonen über die Nachteile des Fleischkonsums diskutiert. Dies rief heftige Widersprüche unter einigen religiösen Kommilitonen hervor. Diese jungen Menschen sagten ihr: "Gott hat den Fleischkonsum und Tieropfer erlaubt". Das ganze eskalierte und führte dazu, dass die Studentin von ihren Kommilitonen der Apostasie bezichtigt wurde. Fälle wie dieser zeigen, dass der Traditionalismus nicht nur eine Eingenart der älteren Generation der Afghanen ist. Auch ein Teil der Jugend scheint traditionsorientiert und neuen Ideen und Interpretationen des Islam gegenüber skeptisch zu sein. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 15 Fazit Die städtische afghanische Jugend besitzt gute Instrumente und Möglichkeiten, um den Übergang von der Tradition in die Moderne zu bewältigen. In den urbanen Zentren ersetzen allmählich moderne Institutionen und Wertvorstellungen die traditionellen Einrichtungen und Werte. Diese Transformation wird aber gelegentlich von schweren Spannungen begleitet. Massenmedien, Internet, virtuelle soziale Netze, das Erlernen von Fremdsprachen und Buchlektüre sind Faktoren, die der Jugend geholfen haben, die Außenwelt Afghanistans zu kennen und moderne Werte anzunehmen. Der ITU (International Telecommunication Union) zufolge gab es 2012 ca 1,5 Millionen Internet- User in Afghanistan.[20]Die Jugend ist bemüht, sich von der Tradition als einem " Heiligen Tabu" und "absoluter Entscheidungsinstanz" zu entfernen. In ländlichen afghanischen Gebieten herrschen nach wie vor – aufgrund mangelnder Kommunikation und wirtschaftlicher, politischer und sozialer Entwicklungen – die traditionellen Institutionen. Die Vorherrschaft der Tradition macht sich hier auf allen Ebenen des Lebens der Jugend bemerkbar. Der noch gültige "Gesellschaftsvertrag" ist hier das "Patriarchat". Dagegen gelten in den Städten auch andere "Gesellschaftsverträge", die das Patriarchat teilweise zurückgedrängt haben. Bibiliographie Barfield, T. (2010). Afghanistan; A Cultural and Political History. Princeton: Princeton University Press. Eric Hobsbawm, Terence Ranger. (1983). The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge University Press. Gusfield, J. R. (1967). Tradition and Modernity: Misplace Politics in the Study of Social Change. American Journal of Sociology , 72 (4), 351-362. Kyong-Dong, K. (2005). Modernization as a Politico-Cultural Response and Modernity as a Cultural Mixture: An Alternative view of Korean Modernization. DEVELOPMENT AND SOCIETY , 1-24. Moten, A. R. (2011). Modernity, tradition and modernity in tradition in Muslim societies. Intellectual Discourse , 1-13. Rabbani, B. (2011, 03). Youtube. Retrieved 06 03, 2012, from Youtube: http://www.youtube.com/watch? v=XrubUFmKPKI Shils, E. (1981). Tradition. Chicago: University of Chicago Press. Sirat, H. (2012, 04 15). Afghanistan. Retrieved 06 10, 2012, from Deutsche Welle Dari: http://www.dw. de/dw/article/0,,15883599,00.html UNDP. (2010). United Nations Development Programme Annual Report 2010. UN. Winter, Elisabeth. (2010). Civil Society Development in Afghanistan. NGPA, London School of Economics. , . . (1374). bpb.de (Vol. ). : . Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 16 Zitationen "Amanullah was keen to discourage plural marriages, restrict marriage payments, ban child engagement, and end the custom of setting blood feuds by an exchange of women….Pashtuns famously proclaimed that they fought for only three things, zar, zan, and zamin (gold, women and land). Barfield, 2010, p.185 "Tradition includes material objects, beliefs, images, practices and institutions". (Moten, 2011) Tradition "is anything which is transmitted or handed down from the past to the present". (Shils, 1981) "Modern generally means a national state characterized by a complex of traits including urbanization, extensive mechanization, high rate of social mobility and the like" (Moten, 2011, p.2) "The process in which major clusters of old social, economic and psychological commitments are eroded or broken and people become available for new patterns of socialization and behaviour" (Moten, 2011, p.2 ) "Invented tradition' is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past" (Hobsbawm 1983, p.1) Men refer to aspect of the past as tradition in grounding their present actions in some legitimating principle. In this fashion, tradition becomes and ideology, a program of action in which it functions as a goal or as a justificatory base (Gusfield 1967, p. 358). "a political system based upon a Western model of democracy [is] compatible with modernity" Moten, 2011, p.2 The old is not necessarily replaced by the new. The acceptance of a new product, a new religion, a new mode of decision-making does not necessarily lead to the disappearance of the older form. The new forms only increase the range of alternatives (Gusfield, 1967, p. 354). Fußnoten 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. Rabbani, 2011 Moten, 2011, Seite 1 Shils, 1981, Seite 12 Moten, 2011, Seite 2 Barfield, 2010, Seite 169 Ghobar, "Afghanistan dar masir-e tarik" (Afghanistan im Laufe der Geschichte), Teheran 2011 (1390), Seite 667 Ebda, 1374, Seite 668 Ebda, Seite 669 Barfield, 2010, Seite 185 Ebda, Seite 231 Ebda, Seite 339 UNDP, 2010 Eric Hobsbawm (1917-2012) ist ein britischer Historiker und Verfasser von "The Invention of Tradition" und "The Age of Extremes" Hobsbawm, Ranger, 1983, Seite 1 Joseph. R Gusfield ist ein emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Kalifornien. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 16. 17. 18. 19. 20. Gusfield 1967, Seite 358 Moten, 2011, Seite 2 Gusfield, 1967, Seite 354 Sirat, 2012 www.internetworldstats.com/asia/af.htm (http://www.internetworldstats.com/asia/af.htm) bpb.de 17 Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 18 Zeitgenössische afghanische Kunst Von Mohammad Ali Karimi 5.12.2012 war Dozent für Film und Theater an der Kabuler Universität. Er studierte Film und Theater an der Kabuler Universität (BA) und Kommunikationswissenschaften an der Universität von Ottawa (MA). Gleichzeitig war er Produzent und Journalist. Derzeit promoviert er in Kommunikationswissenschaften an der McGill Universität in Montreal. Die moderne Kunst in Afghanistan war immer ein westliches Projekt: In den 1920er Jahren verbreiteten die ersten afghanischen Künstler mit westlichem Wissen den europäischen Stil der Malerei in Afghanistan. 1983 wurde die erste afghanische Nationalgalerie mit 200 von den in Kabul residierenden westlichen Botschaften zur Verfügung gestellten Werken eröffnet. Nach den Taliban und ab 2001 ist es wieder der Westen, der die moderne Kunst in Afghanistan bekannt macht. Der erste Künstler, der den europäischen Malereistil in Afghanistan einführte, war Ghulam Mohammad Meimangi (1873-1935). Er war der berühmteste afghanische Maler des 20. Jahrhunderts und ein glückloser Usbeke aus dem Norden Afghanistans. Als er elf Jahre alt war, wurde sein Vater von Amir Abdul Rahman des Aufruhrs beschuldigt, von Meimaneh nach Kabul deportiert und enthauptet. Der Sohn wurde wegen seines Malereitalents in den Hof aufgenommen. Ghulam Mohammad lernte beim englischen Hofarzt John Alfred Gray und Mir Hesamuddin Rassam, der im königlichen Palast Wandmalereien durchführte. Nach dem Tode von Amir Abdul Rahman 1910 wurde die Situation von Ghulam Mohammad schlimmer. Amir Habibullah Khan (1901-1919), der Sohn und Thronfolger von Amir Abdul Rahman, inhaftierte Ghulam Mohammad Meimangi wegen seiner Beteiligung an einer politischen Bewegung, die abzielte auf die Einführung einer konstitutionellen Monarchie. Aber auch im Gefängnis hatte er keine Ruhe: Täglich brachten ihn die Soldaten mit Handfesseln in den Hof, wo er zum Malen gezwungen wurde. Der Amir befahl dem Gefangenen Maler gar, sein Porträt zu malen. Das von Ghulam Mohammad gemalte Porträt von Amir Habibullah wird bis heute in der Kabuler Nationalgalerie aufbewahrt. Als Amanullah Khan (1919-1929) als nächster afghanischer König 1919 an die Macht kam, ließ er Ghulam Mohammad Meimangi frei und schickte ihn 1921 zur Weiterbildung nach Berlin.[1] Ginge es nach der restriktiven Definition der Kunsthistoriker, dann ist die "Zeitgenössische Kunst" in Afghanistan ein ganz neues Phänomen. Mit "Zeitgenössischer Kunst" meint man die Stils und Genres, die nach dem 2. Weltkrieg in der Kunst entstanden sind. Als "Moderne Kunst" bezeichnet man die am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene Kunstbewegung. Die Moderne Kunst gibt jene "Schulen" wieder, die in Europa entstanden, und in diesem Sinne wird jeder Künstler einer "Schule" zugeordnet. Dagegen umfasst die "Zeitgenössische Kunst" ein weiteres Spektrum, und lässt sich nicht in eine bestimmte "Schule" pressen. Die "Zeitgenössische Kunst" hat heute ein Stadium erreicht, in dem die Grenze zwischen "Kunst" und "Unkunst" nicht mehr erkennbar scheint. In diesem Sinne kann alles ein Kunstmedium und jeder ein Künstler sein. Die größte Begegnung der "Zeitgenössischen Kunst" der Welt ist die Documenta, die 2012 zum 13. Mal stattfand. Neben ihrer Hauptausstellung in Kassel wurde 2012 ein Teil der Ausstellungsstücke nach Kabul gebracht. Vom 20. Juni bis zum 19. Juli 2012 fand die Ausstellung in "Baghe Bobor" (ein bekannter Garten in Kabul) statt. Die meisten der Stücke waren Werke von afghanischen Künstlern. Diese Ausstellung zeigte in hervorragender Weise die Veränderungen der afghanischen Kunstszene ein Jahrhundert nach der Einführung der europäischen Malkunst in Afghanistan. Sehr beachtlich war bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 19 in dieser Ausstellung der große Abstand der afghanischen Künstler von realistischen Gemälden von Ghulam Mohammad Meimangi am Anfang des Jahrhunderts. Von Hotel One bis zum Königlichen Palast 1971 reiste der italienische Konzeptkünstler Alighiero Boetti nach Kabul und verliebte sich in diese Stadt. Er kaufte hier ein Gebäude und machte daraus ein Hotel (Hotel One), das ihm neben der Bewirtung von Gästen auch als Kunstprojekt dienen sollte. Dieses Hotel war bis 1979 im Betrieb, also bis zum Beginn des Krieges, und Boetti arbeitete dort. Er schaffte dort moderne Kunstwerke auf der Grundlage des Handwerks von afghanischen Frauen. Er bestellte bei afghanischen Frauen gestickte Landkarten der Welt. Diese wurden später unter dem Begriff "Mappa" bekannt. Diese sind auch Jahre nach seinem Tode die wohl erfolgreichsten Werke des Künstlers. Er war der erste ausländische Künstler, der ernsthaft eine zeitgenössische Kunstrichtung in Kabul produzierte.[2] Einige Wohnblöcke vom "Hotel One" entfernt wohnte ein anderer Künstler hinter den Mauern des Königlichen Palastes: Es war der letzte afghanische König Mohammad Zahir und auch wohl der erste afghanischer Künstler des modernen Stils, der sich mit abstrakter Malerei und Photographie beschäftigte. Zahir Shah besuchte zwischen 1923 und 1929 in Paris die Lycée Johnson de Sailly und wohnte im Haus eines Abgeordneten des französischen Parlaments. Dieser nahm regelmäßig den Kronprinzen mit ins Parlament, um ihn mit der parlamentarische Demokratie bekanntzumachen. Zahir Shah lernte neben der Demokratie und Französisch in Paris auch die moderne Kunst kennen. In den 1920er Jahren war Paris Schauplatz der Avantgarde und der Bewegung der modernen europäischen Kunst. Wahrscheinlich wurde der junge Mann aus Afghanistan gerade deshalb von der modernen Kunst angezogen. 1929 kam der Kronprinz nach Kabul. Vier Jahre später, nach der Ermordung seines Vaters, bestieg er widerwillig den Thron. Mohammad Zahir Shah war der erste afghanische König, der in den 1960er Jahren Parlamentswahlen zuließ. Er war auch der erste Afghane, der abstrakte Bilder nach dem Stil der Pariser Moderne malte. Im Dokumentarfilm von Atiq Rahimi "Eine Monarchie im Exil" (2003) zeigt er seine Bilder.[3] Geschichte der Gegenwartskunst In Afghanistan gibt es nur eine Kunstgalerie, nämlich die Nationale Afghanische Kunstgalerie, die 1983 unter dem Namen "Negarkhaneh" (Haus des Betrachtens) mit 200 Kunstwerken ihre Arbeit begann. Diese Kunstwerke bestanden aus Gaben der westlichen Botschaften in Kabul. Bis 1991 wurden 820 Kunstwerke gesammelt. Als die Taliban an die Macht kamen, vernichteten sie 300 der Werke, die Lebewesen darstellten, und schlossen die Galerie. Die Angestellten der Galerie retteten aber unter den Taliban eine kleine Zahl der Werke und versteckten sie in einem Privathaus. Einige kostbare Stücke gingen in diesem Wirrwarr verloren. Um manche Bilder zu retten, übermalten die Angestellten diese mit Wasserfarbe und Landschaftsmotiven. Nach dem Sturz der Taliban wurde diese Farbe wieder weggewischt. Man kann die Geschichte der modernen Kunst in Afghanistan anhand der in der Nationalgalerie ausgestellten Werke erzählen. Das älteste Gemälde stammt von Ghulam Mohammad Meimangi und geht auf das Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Die Suche in den halbdunklen Gängen dieses dreistöckigen Hauses führt uns zu einer Einteilung der Gegenwartskunst in drei Perioden: In der ersten Phase brachte Ghulam Mohammad Meimangi den europäischen Realismus nach Afghanistan. Diese Phase umfasst die Zeit zwischen den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts und endet mit seinem Tod im Jahre 1935. Damals war die Photographie noch nicht verbreitet, die Menschen ließen sich von den Feinheiten und realistischen Zügen der Bilder von Ghulam Mohammad Meimangi und dessen Schülern in Kabul begeistern. Obwohl Meimangi als Vorreiter dieses Stils einen besonderen Rang genießt, war er im Vergleich zu seinen europäischen Zeitgenossen kein kreativer Maler. Er war bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 20 ein genialer Nachahmer, der vorhandene Motive wie Landschaften und Porträts auf Leinwand umsetzte. Viele Bilder dieses Stils sind noch in der afghanischen Nationalgalerie vorhanden. Ein Werk ist das Plagiat von "Sacred and Profane Love" des italienischen Malers Tizian des 16. Jahrhunderts. Dieses Werk ist deshalb wichtig, weil es als einziges Gemälde dieser Galerie eine nackte Frau darstellt. Es gibt auch ein bis zwei weitere Bilder mit nackten Menschen, die umgedreht in einer Ecke der Galerie stehen. Ursprünglich hatte Amanullah 1921 Ghulam Mohammad Meimangi nach Deutschland geschickt um die Lithographie zu erlernen. Er lernte aber stattdessen Malerei und kehrte 1923 nach Kabul zurück. 1924 gründete die Regierung die "Akademie der Bildenden Künste" (School of Fine Arts) in Kabul. Ghulam Mohammad arbeitete neben einigen ausländischen Lehrern als Leiter dieser Akademie und bildete eine Generation von afghanischen Malern und Künstlern aus, was einen bedeutsamen Schritt in der Kunstgeschichte Afghanistans darstellt. Der realistische Stil von Meimangi hat immer noch viele Anhänger. 1972 wurde in Kabul das Zentrum "Kunstschule Ghulam Mohammad Meimangi" gegründet, das den jungen Menschen die realistische Malerei nahebringt. Die zweite Phase der Geschichte der afghanischen Gegenwartskunst beginnt mit Abdul Qafour Bereshna (1907-1974). Bereshna wurde 1921 im Alter von 14 Jahren zusammen mit seinem Meister Ghulam Mohammad Meimangi von der Regierung nach Europa geschickt. Er ging erst nach Wuppertal, um dort Medizin zu studieren. Wie Ghulam Mohammad Meimangi wechselte auch er auf Kunst. Später sagte er dem damaligen Ministerpräsidenten Hashim Khan: "Afghanistan braucht anstatt eines schlechten Arztes einen guten Künstler." In Deutschland ließ er sich von modernen Kunstrichtungen inspirieren und neigte zum impressionistischen Stil, in dem er die meisten Bilder malte. Bereshna kehrte 1927 nach Kabul zurück und erhielt einen Lehrauftrag an der "Akademie der Bildenden Künste", deren Leiter er nach dem Tode von Ghulam Mohammad Meimangi wurde. Er bewirkte große Veränderungen am Lehrplan und in pädagogischer Hinsicht in dieser Akademie. Wie Meimangi zuvor mangelte es Bereshna an Kreativität. Seine Bilder sind realistische Landschaften mit einem impressionistischen Stil. Die einzige Neuheit in seinen Bildern war, dass er anstelle von Wäldern, Pferden, Seen und Sonnenuntergängen, die bei Meimangi immer vorkamen, die Gassen und Berge von Kabul zu seinen Motiven machte. Auch der Stil von Bereshna fand viele Anhänger. 1935 führte er als Leiter der Akademie auch andere Künste (Architektur, Bildhauerei und Keramik) in den Lehrplan ein. Vor Bereshna saßen die Schüler in der Klasse und malten nach Modellen. Er nahm die Kinder mit in die Gassen und Felder, um dort ihre Motive zu finden. Die von Bereshna und seinen Schülern gebliebenen Bilder können sehr gut als Bilddokumente der Kabuler Architektur angesehen werden. Unter den wichtigsten Schülern von Bereshna aus dieser Akademie können Ghulam Ali Omid und Ghausuddin genannt werden, die den Stil des Meisters fortsetzten.[4] Der erfolgreichste Schüler ist aber ohne Zweifel Akbar Khurassani, der sich wie Bereshna von der Stadt Kabul inspirieren ließ. Er ist ein ehemaliger Soldat der kommunistischen Armee Afghanistans und lebt heute in der Ukraine. Khurassani ist dem impressionistischen Stil ganz treu geblieben und hat beachtliche Arbeiten hervorgebracht. Er ist in der Ukraine ein bekannter Künstler und seine Werke werden als "orientalischer Impressionismus" bezeichnet.[5] Die dritte Phase der Zeitgenössischen Malerei beginnt in Afghanistan mit dem Sturz der Taliban 2001. In dieser Phase kam ein ganzes Heer von westlichen Künstlern zu kurzfristigen Trainings nach Kabul und zog das Interesse vieler afghanischer Jugendlicher auf sich. Diese ausländischen Künstler wurden meistens von ihren Landesvertretungen für kurze Zeit zum Unterricht an bestimmte Institutionen wie die Universität Kabul entsandt. Einer der ersten Künstler, der an der Universität Kabul einen Workshop organisierte, war die Deutsche Dagmar Demming, die 2003 an diese Universität kam. Ein anderer Künstler kam von der BauhausUniversität und veranstaltete einen Workshop für moderne Bildhauerei. 2004 kamen andere Künstler, die Gegenwartskunst lehrten. Zu ihnen gehören der Kanadier Philip Pocock und der Deutsche Michael bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 21 Saup. Die Durchführung von Workshops hat sich bis in den heutigen Tag fortgesetzt. Unter dessen kehrten nach dem Sturz der Taliban auch mehrere im Westen aufgewachsene afghanische Flüchtlinge zurück, die hier Kunst studiert hatten und wurden künstlerisch aktiv. Maryam Ghani (die Tochter des Sonderberaters von Karzai, Ashraf Ghani) war wohl die erste, die aus New York nach Afghanistan kam und Filmaufnahmen von den Ruinen der Altstadt machte. Ihr Film wurde später unter dem Titel "Kabul, 2, 3,4" (2002-2007) gezeigt. Lida Abdullah war eine weitere afghanische Künstlerin in den USA. Sie drehte einige VideoArts in Kabul und Bamian, für die sie 2006 den "Prince Claus Award" von Holland erhielt. Wie haben die Afghanen auf diese modernen Künste und seltsamen Namen reagiert? Innerhalb der Fakultät für Bildende Künste der Universität Kabul wurden Dozenten und Studenten in zwei Lager geteilt. Im ersten Lager finden sich ältere und traditionalistische Dozenten, die nicht bereit sind, sich mit neuen Richtungen und Begriffen wie Installation, Video Art, Performance Art, Conceptual Art und ähnlichen Kunstrichtungen zu beschäftigen. Für sie war und ist dies alles Unkunst. Eine zweite Gruppe zeigte schnell Interesse an der Gegenwartskunst. Einige von ihnen gründeten im August 2004 unter der Leitung des Malereidozenten der Universität Kabul Abdul Wase Rahrou Omarzad das "Centre for Contemporary Arts Afghanistan", in dem Kunst gelehrt und produziert wird. Eine Gruppe von Kunststudenten, die neu in die westlichen Workshops gekommen waren, veranstaltete 2005 die "trash art" Ausstellung an der Universität Kabul. Die Ausstellung wurde von vielen Besuchern mit Spott und Hohn aufgenommen und musste nach einigen Tagen schließen. Dies zeigt, dass ungewöhnliche und unbekannte Genres und Medien der Gegenwartskunst noch einen langen Weg vor sich haben, um von der afghanischen Gesellschaft voll akzeptiert und verstanden zu werden. Dennoch haben in vergangenen 10 Jahren innerhalb und außerhalb Afghanistans viele Künstler die Szene der zeitgenössischen Kunst betreten. Manche von ihnen waren auf der Documenta 13 in Kassel und Kabul anwesend. Wir können hoffen, dass diese jungen Künstler die Einstellung der afghanischen Bevölkerung gegenüber der Kunst beeinflussen. Einer der schöpferischsten zeitgenössischen Künstler ist Khadim Ali. Er ist ein Hazara, kommt aus Zentral-Afghanistan und studierte in Pakistan. 2001 war er Zeuge der Sprengung der Buddha-Statuen von Bamian durch die Taliban. Diese Statuen waren über Jahrhunderte der Stolz Afghanistans, insbesondere von den in Bamian lebenden Hazaras. Die Zerstörung erschütterte Khadim Ali zutiefst und brachte ihn zur Schöpfung einer Reihe von Miniaturen, die Buddha im Hintergrund und dessen leeren Platz in Bamian zeigten. Seine Bilder sind eine Mischung aus Miniatur, Kalligraphie, geometrischen Formen und mythischen Figuren aus der persischen Literatur, womit er in komplexer Weise die historische Erfahrung der Hazaras und seine persönlichen Eindrücke wiedergibt. Der Hauptbestandteil seiner Bilder sind Miniaturen, die zwar an den Stil von Behzad (siehe Resümee) orientiert sind, aber durch modernistische Stilisierung zu mehrdimensionalen Objekten werden. Die historisch-mythischen Hinwendung des heute in Australien lebenden Khadim Ali hat eine Reihe von Hazara-Künstlern in Kabul angespornt, in ihren Werken von schmerzvollen geschichtlichen Erfahrungen der Minderheit der Hazaras in Afghanistan zu erzählen und einen neuen Stil hervorzubringen, die von einem Autor mit "Hazarism School" bezeichnet wurde.[6] Die Aufnahme von sozialen, historischen und politischen Themen in die zeitgenössische Kunst kann die afghanischen Ansprechpartner davon überzeugen, dass diese Kunst nicht nur zur Unterhaltung von westlichen Beobachtern, sondern genuin der Bewusstseinserweiterung und Ausdehnung der Kulturbotschaft der traditionellen afghanischen Kunst dient. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 22 Resümee Im 15. und 16. Jahrhundert lebte und arbeitete unter den Timuriden in Herat Kamaluddin Behzad, der einer der berühmtesten Miniaturisten der islamischen Welt wurde. Er war ein Zeitgenosse von Leonardo da Vinci und Michelangelo und machte aus Herat ein Kunstzentrum des Timoresischen Imperiums. Nach dem Sturz der Timuriden wanderte er nach Tabriz aus. Nach seinem Weggang aus Herat trat nie wieder ein Künstler seines Kalibers in Herat hervor. Künstler seines Stils setzten aber seine Arbeit in Afghanistan fort. Die beiden aus Herat stammenden Maler Abdul Rauf Fekri Saljoughi (1909-1968) und Mohammad Saeed Mashal (1913-1997) waren wohl die letzten Maler dieser Generation. Dagegen war die moderne Kunst in Afghanistan immer ein westliches Projekt. In den 1920er Jahren verbreiteten die ersten afghanischen Künstler mit westlichem Wissen den europäischen Stil der Malerei in Afghanistan ein. 1983 wurde die erste afghanische Nationalgalerie mit 200 von den in Kabul residierenden westlichen Botschaften zur Verfügung gestellten Werken eröffnet. Nach den Taliban und ab 2001 ist es wieder der Westen, der die moderne Kunst unter die Afghanen bringt. Das Interesse des Westens an afghanischer Kunst muss in einem größeren Rahmen betrachtet werden. Dieser Rahmen ist in vergangenen Jahren neu geschaffen worden, so dass westliche Galerien und Ausstellungen sich auch mit nicht-westlichen Kunstwerken beschäftigen. Orientalisch-islamische Künstler, die mit westlicher Technik und Form ihre eigene Welt auf Bilder übertragen, haben eine beachtliche Entwicklung der Kunst in diesen Regionen hervorgebracht. Dieser Wandel ist in der künstlerischen Landschaft unserer Welt ein Novum, und er öffnet neue Tore des künstlerischen Dialogs unter verschiedenen Kulturen. Es ist sehr wichtig, dass sich Afghanistan nach einer langen Abwesenheit wieder an diesem Dialog beteiligt, ein Land, das zwar viele Märchen besitzt, aber keinen guten Märchenerzähler hervorgebracht hat. Fußnoten 1. 2. 3. 4. 5. 6. A. Shahrani, Sharh-e Ahwal wa Assar-e Professor Ghulam Mohammad Meimangi [Leben und Werke von Professor Ghulam Mohammad Meimangi], Peshawar, Al Azhar-Verlag 2005 Zum interessanten Leben dieses Italieners s. folgenden Beitrag im BBC (http://www.bbc.co.uk/ blogs/adamcurtis/2009/09/). Dort wird über die Verwandtschaft des Künslers mit einem antikolonialistischen Mullah des 18. Jahrhunderts namens Sheikh Mansour berichtet. Zahir Shah hat über sein privates und politisches Leben der BBC ein Interview (http://www.bbc. co.uk/persian/afghanistan/story/2005/09/050902_s-zahershah-pages.shtml) gegeben. Über Abdul Ghafour Bereshna gibt es nur sehr wenige Quellen, darunter ist der Beitrag: "Setarehyi dar haft Asseman-e Honar" [ein Stern in 7 Himmeln der Kunst] (http://da.azadiradio.org/content/ transcript/1932442.html), Radiosendung (16:57 Uhr); Adle, C. (2005). "Iran and Afghanistan". In Palat, M., K. and Tabyshalieva, A. (eds), History of Civilizations of Central Asia (vol. 6). Paris: UNESCO, pp. 757-785 http://akbar-art.com/ru/about/ (http://akbar-art.com/ru/about/) http://www.teheran.ir/spip.php?article716 (http://www.teheran.ir/spip.php?article716) bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 23 Die Rolle der Stämme Von Sayed Asef Hossaini 5.12.2012 ist Doktorand an der "Willy Brandt School of Public Policy" in Erfurt. Er studierte an der Kabuler Universität Philosophie und Soziologie und an der "Willy Brandt School of Public Policy" Public Policy. Während seines Studiums in Kabul war er politisch aktiv als Vorsitzender einer Studentenbewegung. Die Rolle der Ethnien und Stämme in der afghanischen Staatsbildung und Politik geht auf das 18. Jahrhundert zurück, als das Land im Anschluss an eine neuntägige "Dschirga" (traditionelle Versammlung der Stämme) gegründet wurde. Heute stellt die Loja Dschirga ein Parallelorgan zu anderen Institutionen wie Parlament und Senat dar – und verringert deren Einfluss. Männerrunde: Mehr als 2000 Stammes- und Regionalführer, Politiker, Militärs u.a. kamen am 17.11.2011 in Kabul zur Loja Dschirga zusammen. (© picture-alliance/dpa) bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 24 Einführung Bis Ende 2014 sollen etwa 140.000 ausländische Truppen Afghanistan verlassen. Nach 13 Jahren wird damit die politische Verantwortung der afghanischen Regierung übergeben, die seit dem Sturz der Taliban 2001 an der Macht ist. Dieser Text widmet sich der Frage nach einer gelungenen Staatenbildung in Afghanistan, der Rolle der verschiedenen ethnischen Gruppen im Prozess des Nationsbildung und ihrer Wechselbeziehung mit der afghanischen Regierung. Zudem diskutiert er die Rolle der Stämme im Prozess der Staatsbildung. In der Anthropologie wird ein Stamm definiert als "eine symbolische soziale Gruppe, die auf Untergruppen basieren und zeitwilligen oder dauerhaften politischen Schutz innehaben. Die Gruppen haben eine Tradition die auf gemeinsame Vorfahren, deren Sprache, Kultur und Ideologie beruht." (Britannica 2012). Stamm bezeichnet eine wenig komplexe gesellschaftliche Organisationsform, deren Mitglieder durch das Verständnis von einer gemeinsamen Abstammung und durch gegenseitige Verwandtschaftsbeziehungen zusammengehalten werden. Dieser Vorstellung eines Stammes stellten die Politikwissenschaft und die Ethnologie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die als höherwertig postulierte Ordnungsstruktur des Staates gegenüber. Dagegen besitzt in der Ethnologie eine Definition von Stamm, die sich an der Selbstidentifikation sowie der kulturellen, religiösen und ethnischen Identität der jeweiligen sozialen Gruppe orientiert, weiterhin Bedeutung. Die Untergruppen der Stämme werden auch als Clan bezeichnet. In diesem Beitrag soll die Rolle der "Clans" im Prozess der Staatsbildung und Nationsbildung in knapper Form untersucht werden. In der Ethnologie und Anthropologie bezeichnet man als Clan eine Verwandschaftsgruppe , die sich auf einen gemeinsamen Ahn bezieht, ohne dabei jedoch die Abstammung lückenlos herleiten zu können. Eine genauere Definition von Clan, die sich in der englisch- und deutschsprachigen Forschungsliteratur durchgesetzt hat, geht auf den US-amerikanischen Anthropologen George P. Murdock (1897–1985) zurück. Murdock bezeichnet eine Verwandtschaftsgruppe, die gemeinsam auf einem Territorium zusammen lebt, als Clan. Eingeschlossen werden hier die angeheirateten Ehepartner, ausgeschlossen die wegheiratenden. Die Zugehörigkeit wird durch die Patrilinearität bestimmt. Diese Definition trifft auch auf Afghanistan zu. Eine Ethnie ist eine Gruppe von Menschen, denen eine kollektive Identität zugesprochen wird. Zuschreibungskriterien können Herkunftssagen, Abstammung, Geschichte, Kultur, Sprache, Religion, die Verbindung zu einem spezifischen Territorium sowie ein Gefühl der Solidarität sein.[1] Die Rolle der Ethnien und Stämme in der afghanischen Staatsbildung und Politik geht auf eine Zeit zurück, als Afghanistan im 18. Jahrhundert im Anschluss an eine neuntägige "Jirga" (traditioneller Stammtisch) gegründet und die Regierung von Ahmad Shah Abdali konstituiert wurde. Der Chronist der afghanischen Geschichte Mir Mohammad Ghobar schreibt, dass diese "Jirga" sich aus Khans (Stammesfürsten) der Gheljaeis, Usbeken, Hazaras, Belutschen und Tajiken zusammensetzte.[2] Nach der Machtübernahme durch die Paschtunen wurde die Rolle andere "Ethnien" in der Geschichte Afghanistans unbedeutender. Die Paschtunen versuchten, den neuen Staat alleine zu prägen. Der deutsche Afghanistan-Experte Conrad Schetter schreibt: "Die herrschende paschtunische Familie, welche durch 'Britisch Indien' an die Macht gekommen war, favorisierte paschtunische Elemente bei ihrem Konzept von 'Staat und Nation' […] Die Politik der herrschenden Familie setzte die eigenen ethnischen Muster ein, um öffentliche Güter und die Verwaltung unter ihre Kontrolle zu bringen."[3] Die nicht-paschtunischen Ethnien, d.h. Tajiken, Hazaras und Uzbeken, verloren allmählich unter dem Druck der herrschenden Ethnie an Einfluss. Der Prozess der "Staats- und Nationsbildung" beschränkte sich damit auf Aktionen und Reaktionen zwischen der Zentralregierung in Kabul und paschtunischen Stämmen. Aber auch zwischen den paschtunischen Stämmen gab es ständig Kämpfe und politische Rivalitäten. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 25 Der iranische Soziologe Hossein Boshiria meint: "Die wichtigsten politischen Spannungen ereigneten sich unter paschtunischen Stämmen selbst; insbesondere zwischen Durranis und Barekzais gab es immer politische Rivalitäten."[4] Man kann also sagen, dass der Prozess der "Staats- und Nationsbildung" mit oder ohne Erfolg untrennbar mit der Rolle der Paschtunen in Bezug auf die Zentralregierung im Zusammenhang stand. Ein afghanischer dem Feld bei Shahran-e-Khash. Das KonzeptBauer derauf Staatsund Nationsbildung Obwohl die Begriffe "Staatsbildung" (state-building) und "Nationsbildung" (nation-building) oft synonym verwendet werden, gibt es inhaltliche Unterschiede: "Staatsbildung" steht der "Staatsführung" oder der Kunst der "staatlichen Administration" nahe, während die Nationsbildung ein weitergehender Begriff ist, in dem Elemente wie Identität eine größere Rolle spielen. Mit anderen Worten: "'Staatsbildung' steht mit Strategien in Beziehung, mit denen Institutionen und Staatsapparat wie Bürokratie in einem Land gebildet werden. Dagegen geht die 'Nationsbildung' weiter und bezieht sich ausdrücklich auf Bildung einer `kulturellen Identität' in einem geografischen Raum."[5] Nach Scott sind viele Wissenschaftler der Auffassung, dass eine "erfolgreiche Staatsbildung" die Basis einer "Nationsbildung" ist, und dass ein "effektiver Staat" die unabdingbare Voraussetzung zur Bildung einer Nation darstellt. Ein weiterer Unterschied zwischen Staats- und Nationsbildung ist, dass die "Staatsbildung" zwar auch durch ausländische Intervention erreicht werden kann, aber die Nationsbildung nur durch die betreffende Gesellschaft selbst vollzogen werden kann.[6] Eine Reihe von Analytikern vertreten die Meinung, dass die Staatsbildung in Afghanistan in der gegenwärtigen Phase sogar trotz der Intervention der Weltgesellschaft und internationalen Kräfte nicht erfolgreich gewesen ist, dass der Staat in Afghanistan gescheitert oder fehlgeschlagen (failed state) sei und nach Abzug der ausländischen Truppen im Jahre 2014 das Land nicht funktionsfähig sei. Ist also der Prozess der "Staatsbildung" in Afghanistan gescheitert? Ein gescheiterter Staat wird u.a. so definiert: "Ein gescheiterer Staat ist dann vorhanden, wenn öffentliche Institutionen nicht in der Lage sind, den Bürgern positive politische Güter zu liefern, bis zu dem Punkt, dass die Legitimation und die Existenz der Regierung unterminiert wird."[7] Nach dieser Definition ist festzustellen, dass der afghanische Staat bei der Etablierung der politischen Stabilität in den vergangenen Jahren nicht erfolgreich war, da sie nicht in der Lage war politische Güter zu liefern. Die wichtigsten Punkte, die zu den politischen Gütern zählen, sind "die Bereitstellung von Sicherheit, eine Rechtssystem, dass in Streitfällen ein Urteil fällt, die Bereitstellung der Infrastruktur für Ökonomie und Kommunikation, Sozialhilfeleistungen und die Möglichkeit einer zunehmenden Teilnahme (der Bürger) in den politischen Prozess."[8] Hinzu kommt, dass eine weitverbreitete korrupte Verwaltung dafür gesorgt hat, dass die alte Bürokratie nicht effektiv funktioniert. Nach dieser Definition müssen wir den afghanischen Staat als eine "uneffektive" Institution, einen "failed state" bezeichnen. Da die Staatsbildung eine Bedingung der Nationsbildung ist, kann in Afghanistan auch die Nationsbildung als erfolglos bezeichnet werden. Ein Zeichen der Erfolglosigkeit der Nationsbildung ist das Fehlen einer einheitlichen Identität unter den Bürgern eines geografischen Raumes. Mit anderen Worten wird "der Zustand einer uneffektiven und gescheiterten Nationsbildung in einer multiethnischen Gesellschaft weiter verschärft. In solchen Gesellschaften definiert sich jede Einheit aufgrund ihrer Religion, Schicht, Sprache oder Ethnie getrennt von anderen."[9] Individuen und Gruppen definieren ihre Identität aufgrund von regionalen, ethnischen, sprachlichen und örtlichen Zugehörigkeiten. Schetter schreibt: "Die afghanische Geschichte wurde immer mit einer bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 26 paschtunischen Lesart geschrieben."[10] Dies bedeutet, dass auch im Prozess der Nationsbildung versucht wurde, die ethnischen Muster der Paschtunen heranzuziehen, um die Nationsbildung zu bestimmen. Dazu gehören z. B. "nationaler Tanz" (Atan) und "nationale Tracht"(Pirahan Tunban). Vor diesem Hintergrund kann vielleicht festgestellt werden, dass der Bürgerkrieg der 1990er Jahre ein weiterer Versuch der afghanischen Völker war, ihre eigene Identität wiederzufinden. Es waren Ethnien, die im Laufe der Geschichte an den Rand gedrückt worden waren und nach dem Sturz vom Präsidenten Najibullah die Gelegenheit für eine neue unabhängige Identitätsbildung nutzten. Stämme als Hindernis der Staatsbildung Der italienische Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi meint, dass Spannungen zwischen regionalen Fürsten und der Zentralregierung geschichtliche Wurzeln haben.[11] Diese Spannungen lassen sich in verschiedenen Phasen der afghanischen Geschichte beobachten: Amir Abdul Rahman Khan (Regierungszeit 1880 bis 1901) ist der erste afghanische Herrscher, der große Anstrengungen zur Stärkung der Nation und Errichtung einer Zentralregierung unternahm. Er ging dabei so grausam vor, dass man ihm den Titel "eiserner Emir" gab.[12]Abdul Rahman Khan siedelte Bevölkerungsteile um und setzte Paschtunen an ihre Stelle. Trotzdem konnte er die Prozesse der Staats- und Nationsbildung nicht vorantreiben, denn einerseits unterdrückte er wichtige afghanische Ethnien, und andererseits gelang es ihm nicht mit den Stammesfürsten der ländlichen Regionen eine produktive Beziehung herzustellen. Barfield schildert diese Situation so: "Mit der Unterdrückung von Rivalen innerhalb seines Clans, der religiösen Bewegungen und ländlichen Unruhen durch Abdul Rahman Khan, entstand in Afghanistan eine Schicht der 'politischen Elite', die sich zunächst aus wenigen Personen zusammensetzte, aber großen Einfluss durch die Regierung von Abdul Rahman Khan hatte. Da diese Elite ihre ethnischen und ländlichen Bindungen abgelegt hatten, spielten die autonomen regionalen Stammesfürsten eine Vermittlungsrolle zwischen der Kabuler Zentralregierung und dem Volk. Die Loyalität dieser Stammesfürsten basierte auf deren ethnischen, regionalen, religiösen Netzwerken und Stammesrivalitäten. Die Loyalität ihrer Anhänger galt an erster Stelle diesen Stammesführern und erst an zweiter Stelle der Zentralregierung."[13] Nach Abdul Rahman Khan versuchte Amanullah Khan mit einer unterschiedlichen Art und sanfter Annäherung den Prozess der Staats- und Nationsbildung voranzutreiben. Er unterdrückte andere Ethnien nicht und schaffte die bis dahin geltende Versklavung der Hazaras ab. Auch die Anstrengungen Amanullahs blieben ohne Ergebnis. Erschöpft vom Krieg gegen England widmete er sich der Modernisierung Afghanistans. Scheinbar hatte er es aber versäumt, tiefgehende Beziehungen zu Paschtunen herzustellen. Er hat versucht sensible Punkte der paschtunischen Tradition, wie das Verbot der Heirat von Minderjährigen, das Verbot der Polygamie und Bildung für Frauen uvm. zu etablieren. Das war für die Paschtunen ein rotes Tuch. Gerade diese Unzulänglichkeit war ein Grund für das Scheitern der Modernisierung und den Prozess der Staats-und Nationsbildung. Jules Stewart[14] erklärt beispielsweise, wie die paschtunischen Stämme Amanullah provozierten. Im Dezember 1927 unternahm der König auf Einladung der italienischen Regierung eine Europareise. Er kam im Juni 1928 wieder zurück und begann, inspiriert von seiner Eindrücken, mit neuen Reformen. Die Engländer verteilten indessen ein Bild von Königin Soraya unter den paschtunischen Stämmen; in diesem Bild war sie ohne Kopftuch zu sehen während eines gemeinsamen Essens mit ausländischen Männern, wobei der französische Präsident ihr die Hand küsst. Dies war der Grund, warum Amanullah gleich bei seiner Rückkehr nach Afghanistan mit einer schweren Welle der Unruhe unter den Stämmen und Geistlichen konfrontiert wurde, die ihn am Ende, ein Jahr später, seine Herrschaft kostete.[15] Die Stammesfürsten kontrollierten unter Amanullah nicht nur ihre eigenen Stämme, sondern übten über einen "Stämmebund" Einfluss auf das Land aus und widersetzten sich der Modernisierung des bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 27 Landes. Die "Loya Jirga" widersetzte sich dem Wunsch Amanullahs das Mindestalter für die Heirat bei Mädchen auf 18 und bei Männern auf 21 festzulegen und die Polygamie abzuschaffen. Die Regierung Amanullahs stand kurz vor dem Sturz.[16] Den beschriebenen Stämmebund bezeichnet Ibn-e Khaldoun als "asabieyeh". Es ist jene strategische Koalition unter Mitgliedern eines Stammes oder mehrerer Stämme, die sie in einer Krisensituation zusammenbindet. Diese Form des Widerstandes (asabieyeh) ist alteingesessen und wird immer wieder dann ins Leben gerufen, wenn die Traditionen und Religion gefährdet wird. Im Fall Amanullahs haben sich Stammesführer, Geistliche und Feudalherren bereits 1924 erstmalig in Paghman getroffen, um gegen die Reformen des Königs vorzugehen (Ghobar).[17] Nach dieser Erfahrung Amanullahs verfolgte die afghanische Zentralregierung eine vorsichtige und konservative Politik gegenüber den Stämmen, die bis heute anhält. Die Kabuler Zentralregierung konnte zu keiner Zeit das staatliche Verwaltungswesen (Bürokratie) als Machtinstrument und das staatliche Gewaltmonopol in die afghanischen Stämme hineintragen. Ganz im Gegenteil: Auch die Regierung nahm allmählich "stammesmäßige" und "ländliche" Züge an. Stamm als "politische Einheit" in Afghanistan? Wie bereits erwähnt basierte der Prozess der Staats- und Nationsbildung in Afghanistan auf vorgegebenen Mustern der paschtunischen Stämme. Mit anderen Worten setzte die herrschende Ethnie die Strukturen und Elemente ihres Stammes ein, um die Herrschaft zu etablieren und fortzusetzen (s.o. "asabieyeh"). Deshalb bezeichnen die meisten Politiker und manche Anthropologen Afghanistan als ein stammesorientiertes Land. Anscheinend war die jeweils herrschende Ethnie bei der Vertreibung anderer Ethnien aus der politischen Bühne und deren Vereinheitlichung in den letzten zwei Jahrhunderten erfolgreich. Gusfield zufolge waren traditionelle Werte bei diesem Prozess mächtig: "Die Rolle von traditionellen Werten bei der Formierung von [unterschiedlichen] Elementen der Loyalität und der Grundzüge der Machtlegitimation spielen für das Verständnis der Möglichkeit der Etablierung einer einheitlichen und stabilen Politik auf nationaler Ebene eine sehr wichtige Rolle."[18] Die Präsenz von großen afghanischen Ethnien wie Tajiken, Hazaras und Uzbeken ist ein neues Phänomen in der Politik. Diese Völker sind erst in den 1980er Jahren auf die politische Bühne getreten, als sie zum Kampf gegen die ehemalige Sowjetunion mobilisiert wurden. Jede Gruppierung mobilisierte sich von innen heraus. In dieser Phase wurden Tajiken, Hazaras und Uzbeken wieder zu politischen Akteuren. Dennoch führte diese Partizipation für Politik und Staatsbildung – dieser politische Prozess hatte historisch ohne Beteiligung dieser Völker stattgefunden – zu keinem positiven Ergebnis. Nach dem Sturz der Sowjets 1992 eilten afghanische Mudjahedin in die Hauptstadt Kabul. Die verschiedenen ethnischen Gruppierungen versuchten die Macht in dem neuen islamischen Regime an sich zu reißen. Dies führte dann zu einem blutigen Bürgerkrieg in den 1990er Jahren. Nach dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 konzentrierte sich die westliche Politik auf die Bildung einer "multiethnischen Regierung auf breiter Basis". Hamid Karzai, der zum Durrani-Stamm der Paschtunen gehört, übernahm die Führung der Übergangsregierung. In seinem 30-köpfigen Kabinett waren 11 paschtunische, 8 tajikische, 5 hazarische, 3 usbekische und 3 Minister aus anderen Ethnien vertreten. Mit dem Einzug anderer Ethnien in die politischen Entscheidungsprozesse verlor der Stamm als "politische Einheit" in Afghanistan an Bedeutung. Die Behauptung, Afghanistan sei ein stammesorientierter Staat, in dem die kleinste gesellschaftliche Einheit bzw. der Stamm die Politik bestimmt, ist also so nicht aufrecht zu erhalten. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und geografischen Bedingungen der Stämme prägen ihre Formierung als "politische Einheit" mit. Zum Beispiel ist die soziale Struktur von Hazaras nicht stammesorientiert und nicht homogen und pyramidenförmig. In der Gesellschaft von Hazaras hat nicht ein einziger die politische Macht in der Hand. Vielmehr bildet eine Gruppe von Menschen, die unter sich Rivalen sind, ein Machtnetz. Die bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 28 Macht legitimiert sich unter dieser Volksgruppe nicht aufgrund von "Blutsverwandtschaft" und "Abstammung", sondern aufgrund des religiösen Ansehens. Auch unter den Tajiken ist die politische Einheit nicht der Stamm. Die Tajiken treffen politische Entscheidungen aufgrund ihrer Lebenssituation. Zum Beispiel nennen sich die Tajiken zu ihrer Differenzierung "Tajik von Panjsher" oder " Tajik von Badakhshan", was relativ unterschiedliche politische Neigungen beinhaltet. So konnten die Tajiks von Panjsher 2004 bewirken, dass ihr Gebiet von einem Bezirk in eine Provinz umgewandelt wurde (ca. 100 km nördlich von Kabul gelegen). Die Tajiks von Panjshir machen ihre Entscheidungen immer von der strategischen Relevanz für die Zentralregierung abhängig. Loya Jirga als stammesorientierte politische Institution und die bilaterale Legitimation Der afghanische Staat war nie in der Lage, den zentralen Verwaltungsapparat als Instrument und Hebel der staatlichen Gewalt in die Stämme und Dörfer hineinzutragen. Dennoch ist die Loya Jirga ein sehr wichtiges Organ der politischen Aktion und Reaktion zwischen der Zentralregierung und den Stämmen. "In Afghanistan hatte generell jeder Stamm eine Jirga als administrativ-politische Ratsversammlung. Der Nationalstaat hatte mit den Stammes-Jirgas eine organische Verbindung und konnte somit als Verlängerung der Jirga gesehen werden."[19] Die afghanischen Regierungen nach Amanullah versuchten, die Loya Jirga als ein nationales politisches Organ zu definieren, um eine eine besondere Funktionen zu erfüllen: Es sollte eine Art "Vertrauensbildung" zwischen Stammesführern und traditionellen Dorfvorstehern einerseits und der Zentralregierung andererseits erreicht werden. Und die Regierung sollte durch sie ihre Legitimität festigen, was erheblich wichtiger war. Die Loya Jirga bewahrte sogar unter modernen politischen Systemen wie unter dem kommunistischen Regime in den 1980er Jahren ihre Funktion. Präsident Najibullah wurde beispielsweise nach Babrak Karmal 1987 von diesem Organ zum Staatspräsident gewählt.[20] Auch unter dem gegenwärtigen politischen System wurden seit 2001 mehrfach Loya Jirgas konstituiert: Im Juni 2002 gab es eine außerordentliche Loya Jirga, im September 2003 kam eine Loya Jirga wegen der Verfassung zusammen; im November 2011 schien die Berufung einer "traditionelle" Loya Jirga (an-anawi) trotz vorhandener Gesetzesorgane wie Senat und Parlament unangebracht, dennoch ordnete der Präsident die Versammlung an. Gerade die Existenz solcher gesetzgebender Parallelorgane, deren Legitimationsbasis nur durch die örtliche Bevölkerung gegeben ist, führt zu einem Widerspruch in den Machtstrukturen. Loya Jirga hat die Verbreitung der zentralen Bürokratie unter den Stämmen und ländlichen Regionen verhindert, aber auf der anderen Seite dient sie der Fortsetzung der pyramidenförmigen Machtstruktur in abgelegen Gebieten. Mit anderen Worten: Wenn regionale Anführer und Stammesoberhäupter zur Teilnahme an der Loya Jirga nach Kabul eingeladen werden, sind sie die legitimen Vertreter ihrer Stämme und werden auch als solche wahrgenommen. Ihre Präsenz geht auch gleichzeitig mit der Anerkennung der Zentralregierung einher. Die Zentralregierung nimmt dies im Gegenzug wahr und sieht ihre Legitimität gefestigt. Somit ist die Loya Jirga ein politisches Instrument, um sich gegenseitig zu legitimieren (Stammesführer und Regierung). Diese Anführer und Oberhäupter werden dann in ihren Regionen nicht nur als traditionelle Anführer, sondern auch als Vertreter der Zentralregierung angesehen. Das führt zu einer ständigen Stärkung der regionalen Machtstrukturen und dem Machtverlust der zentralen Regierung. Die "bilaterale Legitimation" ist eine unbeschriebene Konvention zwischen der Zentralregierung und den Anführern von ländlichen Regionen und Stämmen. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 29 Schlussfolgerung Afghanistan ist entgegen der herrschenden Auffassung kein stammesorientierter Staat. Vielmehr ist der "Stamm" nur die "politische Einheit" eines Teils von Afghanistan und bezieht sich auf die Paschtunen. Nations- und Staatsbildung sind in den vergangenen 100 Jahren in einer Wechselbeziehung zwischen der Zentralregierung und Stämmen aus zwei wesentlichen Gründen misslungen: a) Der Widerstand der Stämme gegenüber dem "modernen Staat". b) Die "ineffiziente" Politik der Zentralregierungen gegenüber den Stämmen und die mangelnde Verbreitung des Verwaltungsapparates in den Stämmen und ländlichen Regionen. Um die Nations- und Staatsbildung in Afghanistan zu verwirklichen, müssen alle "politischen Einheiten" berücksichtigt und in einem weiteren Schritt die Art ihrer Beziehung zut Zentralregierung definiert werden. In der gegenwärtigen Phase, nach 2001, sind im Prozess der Nations- und Staatsbildung zwar auch andere politische Gruppierungen auf die Bühne getreten, die zu verschiedenen Ethnien gehören, d.h aber nicht das sie auch die Interessen ihrer Ethnie vertreten, da sie nicht demokratisch gewählt worden sind. Beispielsweise bedeutet die Präsenz von nicht-paschtunischen Stammesfürsten nicht zwangsläufig, dass sie ihren eigenen Stamm vertreten. Es muss deshalb in Kabul eine politische Struktur entstehen, an der sich in natürlicher Form verschiedene politische Einheiten beteiligen können. In der jetzigen Situation ist die Macht in Form von "Kontingentierung" unter bestimmte Personen verteilt worden, und zwar unter der Annahme, dass die jeweiligen Personen einen Stamm repräsentieren. Das führt zur Unterdrückung der politischen Dynamik in den Ethnien und dazu, dass politische Akteure einer Ethnie gezwungen sind, zur Teilnahme an politischen Entscheidungen den Führer des jeweiligen Stammes als Brücke zu nutzen. So muss z. B. eine neu unter den Uzbeken entstandene politische Einheit zu ihrer Bestand- und Beteiligungssicherung auf der politischen Landschaft von General Dostum genehmigt werden. Dostum ist seit den Neunziger Jahren der Anführer der usbekischen Miliz. Nach dem Sturz der Taliban 2001 hat er an Macht gewonnen und ist der Anführer aller Usbeken. Daher muss jeder Usbeke, der sich politisch engagieren will, die Linie Dostums einhalten. Weiter lässt sich feststellen, dass ein moderner Staat auch moderne Strukturen verlangt. Die Loya Jirga stellt ein Parallelorgan zu anderen Institutionen wie Parlament und Senat dar und verringert deren Einfluss. Darüber hinaus verstärkt sie die Legitimation von Anführern in Stämmen und ländlichen Regionen. Dies wiederum bewirkt eine Stärkung der traditionellen Institutionen und Schwächung des staatlichen Verwaltungsapparates in diesen Regionen. Moderne Institutionen müssen in den zentralen Blickwinkel der Regierung rücken, damit durch ihre Stärkung die politische Struktur rational und effizient gestaltet werden kann. Bibliographie A. von Bogdandy; R. Wolfrum, (eds). (2005). State-Building, Nation-Building, and Constitutional Politics in Post-Conflict Situations: Concepts Clarifications and an Appraisal of Different Approaches. In Max Plank Yearbook of United Nations Law (pp. 579-613). Netherlands: Koninklijke Brill . Afghanpaper. (n.d.). Dr. Najibullah. Retrieved June 28, 2012, from Afghanistan's Information Network (http://www.afghanpaper.com/info/saran%20siasi/najibolah.htm) Barfield, T. (2010). Afghanistan; A Cultural and Political History. Princeton and Oxford: Princeton University Press. Boshiria, H. (2011). Political Sociology; the role of social forces in political life (Vol. 19). Tehran: Nashre Nei. Britannica Encyclopedia. Retrieved November 8, 2012, from Britannica Encyclopedia. (http://www. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 30 britannica.com/search?query=tribe) Ghobar, M. G. (2011). Afghanistn in the path of history (New Edition ed., Vol. 2). Tehran: Erfan. Ghosh, H. A. (2003). Yesterday and Tomorrow: Women in Afghanistan. Journal of International Women's Studies , 1-14. Giustozzi, Antonio (2008) Afghanistan: Transition without End. An Analytical Narrative on Statemaking. Crisis States Research Centre Working Paper 40. November 2008. Gusfield, J. R. (1967). Tradition and Modernity: Misplace Politics in the Study of Social Change. American Journal of Sociology , 72 (4), 351-362. Kottak, Conrad P. (2008). Cultural Anthropology, Retrieved November 8, 2012, from McGraw-Hill Higher Education (http://highered.mcgraw-hill.com/sites/0072500506/student_view0/glossary.html) Schetter, C. Ethnicity and the Politics Reconstruction in Afghanistan. Bonn: Center for Development Studies (ZEF), University of Bonn. Scott, Z. (2007). Literature Review on State-Building. Brimingham: University of Brimingham, International Development Department. Siddique, A. (2012). Afghanistan's Ethnic Divides. CIDOB POLICY RESEARCH PROJECT. Zitationen "The ruling family of the Pashtuns, enthroned by British India, favored Pashtun elements in their concept of the nation-state […] the politics of the ruling family employed the ethnic patterns which came into existence in order to regulate access to public goods and offices" (Schetter, 2002, p.3) A swift American- led military victory routed the Taliban and a much slower-and flawed- political intervention focused on delivering a "broad-based and multi-ethnic" government. Hamid Karzai, a Durrani Pashtun leader from Kandahar, was picked to lead the first transitional administration. The 30member cabinet he led included 11 Pashtuns, 8 Tajiks, 5 Hazaras, 3 Uzbeks and 3 members of other ethnic minorities (Siddique, 2012, p.5). Amir Abdur Rahman (ruled from 1880 -1901), was the first ruler to attempt consolidation of the nation into a centralized state. He ruled with a ruthless hand that led to him being termed 'Iron Amir' (Ghosh, 2003, p.3) Presumebly, the British distributed picturs of Sorya without a veil, dining with foreign men, and having her hand kissed by the leader of France among tribal regions of Afghanistan (Stewart, 1973). Conservative Mullahs and regional leaders took the images and details from the royal family's trip to be flagrant betrayal of Afghan culture, religion and 'honor' of wormn (Ghosh, 2003, p.5) Tribal leaders controlled not only their regions, but through inter-tribal unity, held sway over most of nation in resisting attempt at modernization. The Loya Jirga, finally put their foot down when marriage age of girls was raised to 18 years and for men to 21 years, and polygamy was abolished (Ghosh, 2003, p.5). The new national political elite had a much narrower social, political and regional base than those of nineteenth-century Afghanistan. Leaders then were politically autonomous and served as intermediaries in their people's dealings with the central government in Kabul. Such loyalties might be bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 31 based on tribal ties, regional affiliations, religious networks, or decent from rival dynastic lines. Their followers were loyal to them first and Kabul second (if at all) (Barfield, 2010, p.166) Giustozzi, the leading expert on the development of the state in Afghanistan, reminds us that the tensions between local leaders and the central government in Afghanistan have a historical basis (2008, and Tapper 1983). The role of traditional values in the form of segmental loyalties and principles of legitimate authority are of great importance in understanding the possibilities for the occurrence of unified and stable politics at a national level (Gusfield, 1967, p. 357). There is much confusion over the terms ‘state-building’ and ‘nation-building’ (Hippler 2004, Goldsmith 2007). Some authors use the terms inter-changeably, some with completely different meanings. In general, most people use ‘state-building’ to refer to interventionist strategies to restore and rebuild the institutions and apparatus of the state, for example the bureaucracy. In contrast, ‘nation-building’ also refers to the creation of a cultural identity that relates to the particular territory of the state. Most theorists agree that a well-functioning state is a requirement of the development of a nation, and therefore most would also agree that state-building is a necessary component of nation-building. Several authors argue that whilst state-building is something that external actors can engage in, the development of a cultural nation is inherently something only the emerging society can itself shape. Using this line of thinking, it seems most appropriate for development actors to limit themselves to using the terminology of statebuilding (Scott, 2007, p.3) Nation failure is an aggravated form of state failure particularly relevant to multi-community state. The individual communities may define themselves by shared religion, class, language, or ethnicity, different to that of the other communities (A. von Bogdandy; R. Wolfrum, (eds), 2005, p.285). "State failure can be defined as the failure of public institutions to deliver positive political goods to citizens on a scale likely to undermine the legitimacy and the existence of the state itself". (R.I.Rotberg, 2003 and A. von Bogdandy; R. Wolfrum, (eds), 2005, p.580) "…the provision of security, a legal system to adjudicate disputes, provision of economic and communication infrastructures, the supply of some form of welfare policies, and ncreasingly also opportunities for participation in the political process". (R.I.Rotberg, 2003 and A. von Bogdandy; R. Wolfrum, (eds), 2005, p.580) Fußnoten 1. Georg Elwert: Ethnie, in: Christian F. Feest, Hans Fischer und Thomas Schweizer (Hrsg.), Lexikon der Völkerkunde, Dietrich Reimer Verlag, Stuttgart 1999, S. 99 f. 2. Ghobar, 2011, Seite 14 3. Schetter, 2002, Seite 3 4. Boshiria, 2011, Seite 287 5. Scott, 2007, Seite 3 6. Ebda, Seite 3 7. R. I. Rotberg, 2003 und A. von Bogdandy; R. Wolfrum, ebda, 2005, Seite 580 8. Ebda. 9. A. von Bogdandy; R. Wolfrum, ebda, 2005, Seite 285 10. Schettler, 2002, Seite 3 11. 2008 und Tapper 1983 bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 32 12. Ghosh, 2003, Seite 3 13. Barfield, 2010, Seite 166 14. Jules Stewart ist ein erfahrener Journalist auf dem Gebiet der anglo-afghanischen Kriege. Er hat vier Bücher veröffentlicht zum Thema, u.a. "On Afghanistan´s Plains" und "The story of Britain's Afghan Wars" 15. Ghosh, 2003, S. 5 16. Ebda, 2003, S. 5 17. Ghobar. S. 701-702 18. Fusfield, 1967 19. Boshiria, 2011, Seite 288 und Clifford, 1989 20. Afghanpaper, 2012 bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 33 Das traditionelle Handwerk Afghanistans Von Mohammad Ali Karimi 5.12.2012 war Dozent für Film und Theater an der Kabuler Universität. Er studierte Film und Theater an der Kabuler Universität (BA) und Kommunikationswissenschaften an der Universität von Ottawa (MA). Gleichzeitig war er Produzent und Journalist. Derzeit promoviert er in Kommunikationswissenschaften an der McGill Universität in Montreal. Reichtum und Vielfalt der afghanischen Kultur zeigen sich am deutlichsten im traditionellen Handwerk des Landes. Teppiche, Filzerzeugnisse, Stickerei und Nadelmalerei machten einst mit ihrer bunten Pracht die afghanischen Basare zu den lebhaftesten Orten auf der Route der Seidenstraße. Heute ist nichts mehr von jener goldenen Zeit geblieben. Dabei könnte gerade das traditionelle Handwerk helfen, die wirtschaftliche Situation vieler Haushalte zu verbessern und damit insgesamt zur Stabilisierung des Landes beitragen. Keramikgefäße im National Museum in Kabul. (© picture-alliance/AP) Die Afghanen umschreiben scherzhaft die Technikgeschichte ihres Landes mit dem Satz: "Die Afghanen produzierten Nadeln, konnten sie aber nicht löchern!" Das interessante an diesem Scherz ist sein Wahrheitsgehalt, denn Afghanistan konnte trotz aller Versuche den Anschluss an die industrielle Welt nicht finden. Wohl gemerkt: Auch wenn dieses Land Nadeln nicht löchern konnte, kann es auf eine sehr lange und prächtige Tradition des Handwerks zurückblicken. Afghanistan war eine der wichtigsten Zwischenstationen auf der alten Handelsroute "Seidenstraße". bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 34 Städte wie Balkh, Bamian und Herat spielten eine wichtige Rolle beim Transitverkehr der Handelsgüter zwischen Osten und Westen. Die Seidenstraße intensivierte nicht nur die Kontakte zwischen der afghanischen Bevölkerung und fernen Ländern, sondern schaffte auch Bekanntschaft mit Handelswaren und kulturellen Erzeugnissen dieser Länder. Die Kontakte mit nahen und fernen Ländern durch Handelsbeziehungen, aber auch durch Kriege, sind mit ein Grund für die noch heute bestehende vielfältige und bunte einheimische Kultur Afghanistans. Reichtum und Vielfalt der afghanischen Kultur zeigen sich am deutlichsten im traditionellen Handwerk dieses Landes. Diese Erzeugnisse machten einst mit ihrer bunten Pracht die afghanischen Basare zu den lebhaftesten Orten auf der Route der Seidenstraße. Als im 16. Jahrhundert der mongolische Prinz Babur nach Kabul kam, fand er eine Stadt vor sich, deren Basare voller Waren aus Khorasan, Irak, Anatolien und China waren. Die Geschäftsleute waren nur dann zufrieden, wenn sie einen Gewinn von mindestens 300% bis 400% machten.[1] Heute ist nichts mehr von jener goldenen Zeit geblieben. Afghanistan ist gekennzeichnet von politisch motivierter Gewalt, einer unfähigen Regierung, einer landwirtschaftlich orientierten, nichtindustrialisierten Wirtschaft und einer stammesorientierten Gesellschaft, die immer noch darauf wartet, dass andere jene Nadeln löchern, die es proudziert hat, um sich an die industrialisierte Welt anzunähern. Lapis Lazuli aus der Provinz Badachschan (Afghanistan) Lizenz: cc by-sa/3.0/ (Wikimedia, Lysippos) Heute sind die weltbekanntesten afghanischen Produkte Opium und Terrorismus. Das Land hat aber auch andere bekannte Produkte wie handgeknüpfte Teppiche und Halsketten aus Lasurstein (Lapislazuli). bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 35 Kleopatra und Badakhshan Die ägyptische Königin Kleopatra benutzte für ihre blau farbigen Augenschatten ein Pulver, das aus dem Lasurstein von Badakhshan gewonnen wurde. Lange Zeit vor ihr, etwa 4.000 Jahre vor Christus, bauten die Sklaven der ägyptischen Pharaonen mit diesem Produkt aus Badakhshan Stempel und dekorierten damit ihre Masken. Historische Zeugnisse belegen, dass der Lasurstein, der seit 7000 Jahren im grünen Tal von Badakhshan gewonnen wird, Könige, Königinnen und Künstler weltweit fasziniert hat.[2] Die dunkelblaue Farbe dieses Steines verwendete Michelangelo beispielsweise bei den Malereien in der Sixtinischen Kapelle. In der Nähe dieser weltgrößten Lasursteinmine, im Zentrum von Badakhshan, gibt es einen Markt, in dem Handwerker mit Lasursteinen und Achat aus ihrer Gegend Juwelen und sehr feine Dekorationen herstellen, welche in ganz Afghanistan Absatz finden. In Afghanistan wird der Lasurstein vielfältig verarbeitet, als Damenschmuck, für dekorative Figuren und andere Zwecke. Trotz reicher Bodenschätze und langer Tradition des Handwerks konnten diese Produkte nicht der Konkurrenz der maschinellen ausländischen Erzeugnisse standhalten. Die traditionellen afghanischen Künstler und Handwerker haben generell versäumt, ihr Handwerk an die Erfordernisse der modernen Welt anzupassen. Eine erfolgreiche Ausnahme bildet die traditionelle afghanische Kleidung, die sich dem Geschmack und Interessen der modernen Mode angepasst hat und ihren Platz auf dem Modemarkt behaupten konnte. Dieser Erfolg geht auf das Jahr 1959 zurück. Damals war die amerikanische Fluggesellschaft PAN AM an der afghanischen Fluggesellschaft ARIANA beteiligt. Die Frauen der amerikanischen Piloten gründeten in Kabul eine Schneiderei, an der Frauen aus Kabul die Herstellung von westlichen Kleidern erlernten. Eine dieser amerikanischen Frauen, Jeanne Beeher, setzte sich dafür ein, dass die Modezeitschrift Voque kostenlos hunderte von Schnittmustern an afghanische Frauen lieferte. Diese Schule war so erfolgreich, dass zum ersten Mal eine Modeausstellung in Kabul stattfand, und so konnten die Kabuler Frauen aus nächster Nähe die moderne westliche Kleidungskultur kennenlernen.[3] Ende der 60er Jahre reiste ein Team von Vogue nach Kabul und erstellte eine Bildreportage über die Mode in Kabul, die im Dezember 1969 veröffentlicht wurde. Zu dieser Zeit arbeitet nur eine afghanische Modedesignerin, Safieh Tarzai, die inspiriert von Hand genähter afghanischer Tracht westliche Kleidungen herstellte.Die Mischung zwischen traditioneller Kultur mit dem modernen westlichen Design verlieh ihrem Werk einen einzigartigen und besonderen Stil. Die Kabuler Modeszene entwickelte sich bis in die 80er Jahre, also bis zum Bürgerkrieg weiter. Millionen von Afghanen gingen wegen dieser Konflikte für mehrere Jahrzehnte in die Flucht. Als sie aber nach 2001 zurückkehrten, begann der Prozess der Vermischung zwischen einheimischer und westlicher Kultur weiter. In diesen Jahren wurden viele Versuche unternommen, traditionelle afghanische Kleidung mit westlicher Mode angereichert auf den internationalen Markt zu bringen. In Kabul wurden dafür einige Modezentren gegründet. Eines davon ist Zarif Design, das von der in den USA lebenden afghanischen Designerin Zuleikha Sherzad ins Leben gerufen wurde. Daneben sind auch Asem (Awesome) und einige anderen Firmen auf diesem Gebiet aktiv. Die Modebranche ist in Afghanistan ein Beispiel für erfolgreichen Einsatz der traditionellen Kunst und des Handwerks, um wirtschaftliche Ziele zu erreichen und die Kultur zu verbreiten. Präsident Hamed Karzai, der mit seiner Karakul-Pelzmütze und seinem usbekischem Gewand die Welt bereist, zeigt damit permanent traditionelle afghanische Kleidung auf internationaler Bühne. Karakulpelz gehört zu ältesten und stark gewinnbringenden Exportartikeln Afghanistans.1946 konnte die Regierung unter Zahir Shah aus dem Export von Karakul – größtenteils nach New York – 100 Millionen Dollar erzielen. Durch diese Einnahmen konnte die Regierung einen Vertrag mit dem amerikanischen Bauunternehmen Marrison Knudsen schließen für den Bau des großen Staudamms "Kajaki" in der Provinz Helmand. Dies war eines der größten staatlichen Projekte zur Modernisierung des Landes.[4] Die Kriegsjahre (1978-2001) vernichteten vieles, staatliche Unterstützung des traditionellen Handwerks gibt es nicht mehr. In diesem Zusammenhang ist auch die Produktion von Karakul in Afghanistan inzwischen stark zurückgegangen. Vor 1978 hat die Regierung sich bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 36 dahingehend engagiert neue Märkte für afghanische Produkte zu finden. Handwerk Der Begriff "traditionelles Handwerk" ist ein Produkt der Moderne. Im Gegensatz zu industriellen Erzeugnissen der Moderne gehen traditionelle Handwerksprodukte nicht auf Erfindungen einer Person zurück, sondern gehören zu einem ganzen Volk oder einer ganzen Region. Niemand hat hier ein bestimmtes Erzeugnis erfunden. Die Produkte des traditionellen Handwerks sind wie Sprichworte, Mythen und Volksmärchen während der Jahrhunderte und Generationen entstanden. Diese kollektive Eigenart des traditionellen Handwerks verleiht ihm eine besondere ethnologische und kulturelle Bedeutung. Das Handwerk erlaubt einen Einblick in die Kultur und Geschichte eine Landes. Afghanistan kann auf ein reichhaltiges und historisch vielfältiges kulturelles Erbe zurückblicken. Von buddhistischen Tempeln über islamische Moscheen bis hin zu großen Basaren und militärischen Festungen: Sie alle geben Zeugnis darüber ab, dass in diesem Land Kultur, Kunst, Politik und Wirtschaft in einander übergegangen sind und sich gegenseitig befruchtet haben. Insbesondere Architektur und traditionelles Handwerk sind zwei Bereiche, die in bester Weise den Reichtum des materiellen kulturellen Erbes zum Ausdruck bringen. Das traditionelle Handwerk Afghanistans gehört aber auch zum "immateriellen kulturellen Erbe" dieses Landes. Es sind nicht nur die regionalen Erzeugnisse, sondern auch die traditionellen Kunstfertigkeiten und das Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Diese immaterielle Seite des Handwerks hat in den langen Jahren des Krieges den schwersten Schaden genommen und ist am geringsten beachtet worden. Das Wissen um diese Fähigkeiten und ihre Erhaltung sind von großer Bedeutung. Im Jahre 2003 verabschiedete UNESCO eine Konvention zum Schutz des Kulturerbes, wonach das traditionelle Handwerk als eine der fünf Bereiche des kulturellen Erbes anerkannt wurde. Die Mitgliedsstaaten wurden aufgefordert diesen Bereich zu fördern und zu schützen.[5] 2007 gründete der spätere britische Parlamentsabgeordnete Rory Stuwart zusammen mit einigen internationalen Organisationen die Stiftung "Türkis-Berg" (Turkuoise Mountain Foundation), die den Schutz und Wiederbelebung des traditionellen afghanischen Handwerks zum Ziel hat. Diese Stiftung verfügt heute auch über eine Lehranstalt, an der hunderte von jungen Menschen im Bereich von "Juwelenbearbeitung", "Steinmetzen", "Holzbearbeitung", "Kalligraphie", "Keramik-Kunst" und "Kunstmalerei" ausgebildet werden. Die in diesen Werkstätten produzierten Erzeugnisse werden auf dem internationalen Markt angeboten, was bis heute 5 Millionen US Dollar erbracht hat. Diese Stiftung will die Kunstfertigkeiten der traditionellen afghanischen Handwerker in Erinnerung behalten und diese Kunst an die nächste Generation weitergeben. Schüler und Meister Die "Türkis-Berg Stiftung" suchte vor einigen Monaten nach einem Meister für Holzschnitzerei nach altem islamischen Stil. Nach längeren Bemühungen fand man einen alten Mann in Kabul, der wahrscheinlich der letzte noch lebender Meister dieses Handwerks ist. Der heute 80-jährige Abdul Hadi ist heute stark schwerhörig und lehrt Gravierung, Holz-Perforation, Inkrustation (Marketerie, Einlegearbeiten aus Holz oder anderen Materialien; Anm. d. Red.) und andere feinen historisch überlieferten Kunstfertigkeiten auf Holz. Wir haben heute den Fortbestand des traditionellen Handwerks jenen Künstlern und Handwerkern zu verdanken, die ihre Fähigkeiten von einer zur anderen Generation weitergegeben haben. Das traditionelle afghanische Handwerk gründet sich auf dieses Meister-Gesellen-Verhältnis. Diese traditionelle Methode der Weitergabe wird bis heute in Afghanistan praktiziert. Traditionell hat ein Meister 1 bis 3 Gesellen, die er aus dem Kreis seiner Kinder, der Verwandten und auch in seltenen Fällen fremden Personen zusammensetzt. Diese Schüler arbeiten bis zu 10 Jahren bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 37 beim Meister und übernehmen damit seine Kunstfertigkeit. In der Regel lehrt der Meister seine Schüler nicht, insbesondere wenn es nicht seine eigenen Kinder sind. Der Schüler muss sich das Wissen und die Erfahrungen von seinem Meister "abschauen". Dem Meister fällt es schwer, dem Schüler sein Können zu vermitteln, aber gelegentlich will er im Sinne seiner eigenen Bekanntheit bestimmte Schüler so erziehen, dass sie seinen Stil auch nach seinem Tode weiterführen. In der Musik ist es heute ein Brauch, dass der Meister seinen Familiennamen auch seinen Schülern gibt. Der Neid des Meisters gegenüber den Schülern hat in Afghanistan eine lange Geschichte und wird inzwischen als Gegebenheit akzeptiert. Dieser Neid geht manchmal so weit, dass der Meister keinen Schüler aufnimmt. Ein gutes Beispiel ist der Kalligraph Abdul Aziz Vakili Foufalzai (1919-2008), der nach Mohammad Ali Attar Herawi (1919-1992) der berühmteste Kalligraph Afghanistans im 20. Jahrhundert war. Er weigerte sich lebenslang, seine Kunst an andere weiterzugeben. Die von ihm stammenden Kalligraphien der Koran-Verse glänzen auf den Kacheln auf den Wänden der "Pole Kheshti" Moschee von Kabul und waren mehrere Jahrzehnte der offizielle Kalligraph des afghanischen Staates. Von ihm stammen die Schriften von amtlichen Urkunde, Dekreten, Zeugnissen, Buchtiteln und anderen Veröffentlichungen. Er hinterließ keinen einzigen Schüler, so dass man kaum einen anderen Künstler in Afghanistan finden kann, der in der Lage wäre, die islamische Kalligraphie seines Könnens auf Kacheln zu verewigen.[6] Vor diesem Hintergrund ist der Meister für Holzschnitzerei Abdul Hadi mit großen Herausforderungen konfrontiert. Einerseits muss er sich mit einer großen Gruppe von Jugendlichen auseinandersetzen, die ihn wie einen Schullehrer behandeln, und andererseits muss er sein Können innerhalb von 3 Jahren an sie vermitteln. Obwohl die Schüler sich über seinen "Neid" beim Übertragen seines Könnens beklagen, hat er trotzdem fähige Schüler für klassische Arbeiten auf Holz in der "Türkis-Berg Stiftung" ausgebildet. Der klassische Holzbearbeitungsstil ist eine islamische Kunstrichtung, die seit den Timuriden (Herrschergeschlecht im 15. Jahrhundert) in verschiedenen Teilen Afghanistans verbreitet war. In diesem Stil werden in der Regel Motive aus Blumen, Blättern, Schriften und auch Bildern auf das Holz übertragen. Die Erzeugnisse werden in Architektur und Dekorationsarbeiten verwendet. In der "Türkis-Berg Stiftung" wird auch eine andere Richtung gelehrt, der als "Nurestani" bekannt ist. Hier haben 90% der Motive geometrische Dimensionen, was in der einheimischen Kultur von Nurestan eine gesellschaftliche Bedeutung hat. Da Nurestan in einem abgelegenen Tal in einem Waldgebiet liegt, bildet das Holz den Hauptbaustoff für Architektur, Innendekoration, Gebetsräumen und sogar Götzen. Von daher existiert in Nurestan eine uralte Tradition der Holzverabeitung. Saidjan Nurestani ist ein 63-jähriger Meister, der in dieser Stiftung den Stil von Nurestan lehrt. Er übermittelt seinen Schülern sein Können mit mehr Großzügigkeit als viele andere Meister. Die Zukunft des Handwerks bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 38 Afghanische Mädchen beim Sticken in einem Waisenhaus in Kabul am 9. November 2009. (© picture-alliance/dpa) Auf den afghanischen Basaren produzieren die traditionellen Handwerker Erzeugnisse, die man im städtischen Leben benötigt. Gold-, Kupfer-, und Eisenschmiede, Seidensticker und Leute, die Glas verarbeiten, arbeiten immer noch im "Tcharsough Bazar" von Herat nach altem Stil. Auch landwirtschaftliche Werkzeuge werden dort hergestellt. Da die Wirtschaft agrarisch geprägt ist, kommen die Bauern aus umliegenden Dörfern in den Basar, um dort ihre landwirtschaftlichen Produkte anzubieten und gleichzeitig benötigte Waren zu erwerben. Afghanistan braucht zur Erhaltung des Handwerks einen Plan, denn sogar in kleinen Städten kann das Handwerk sich nicht gegen den Ansturm der Importe schützen, insbesondere deshalb, weil Afghanistan wegen der unsicheren Lage und dem Mangel an nötiger Infrastruktur nicht im stande ist, große Auslandsinvestitionen zur Entwicklung seiner Industrie zu gewinnen. Von daher ist das traditionelle Handwerk der einzige Zweig, mit dessen Förderung der Staat den Haushalten helfen und den Kleinhandel in Städten und Dörfern fördern kann. Die Agha Khan Stiftung hat seit einigen Jahren neben ihrem Ökotourismus-Projekt ein kleines Projekt auf diesem Gebiet in Angriff genommen, das auch positive Ergebnisse gebracht hat. Eine gewinnbringende Branche des traditionellen Handwerks kann die Teppich-Produktion sein. Der afghanische Teppich ist einer der besten dieser Region, aber aus Mangel an Möglichkeiten werden Teppiche zur Verarbeitung nach Pakistan geschickt, und von dort werden sie als pakistanische Teppiche nach Westen exportiert.[7] Dies geschieht, obwohl der afghanische Teppich in seiner Kunst und Qualität eine besondere Stellung hat und 2011 und 2012 auf der Teppich-Ausstellung in Dubai den ersten Preis gewinnen konnte.[8] Die meisten traditionellen Handwerksprodukte wie Teppiche, Kelim-, und Filzerzeugnisse, Stickerei, Nadelmalerei u.a. werden von Frauen in mühevoller Arbeit erzeugt. Die Förderung und Vermarktung dieser kleinen traditionellen Produkte könnte den Frauen helfen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dadurch würde die wirtschaftliche Situation der Haushalte verbessern und die Unabhängigkeit und Selbstversorgung der afghanischen Frauen vorangebracht. Deshalb ist das traditionelle Handwerk für afghanische Frauen nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch eine zukunftsorientierte politische Angelegenheit. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 39 Man sollte aber auch von der Regierung nicht allzu viel erwarten. Die städtische Elite, die im vergangenen Jahrhundert die Regierungen stellte, schaut auf alles Traditionelle diskriminierend herab. Diese Elite wollte das Land rasch in die Moderne führen. Die Afghanen haben König Amanullah nicht vergessen. Er zwang die afghanischen Männer in den 1920er Jahren, ihre weite traditionelle Hose und den Turban abzulegen und mit westlichem Anzug und Filzhut in der Öffentlichkeit aufzutreten. Dieses Experiment war zum Scheitern verurteilt. Die afghanischen Politiker müssen sich vom Komplex der nicht gelöcherten Nadel befreien und einen anderen Weg suchen, um Afghanistan in die Moderne zu führen. Die Vernichtung der Tradition ist der falsche Weg. Fußnoten 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Babur (2002). The Baburnama: Memoires of Babur, Prince and Emperor (Thackston, W. M., trans. & ed.). New York: Random House Bowersox, G. W. (2004). The Gem Hunter: True Adventures of an American in Afghanistan. Honolulu: Geovision Inc. pp. 46-47 Vleck, J. V. (2009). An airline at the crossroads of the world: Ariana Afghan Airlines, modernization, and the global Cold War. History and Technology. Vol. 25, No. 1, pp. 3–24 Cullathe, N. (2002). Damming Afghanistan: Modernization in a Buffer State. The Journal of American History. Vol. 89, No. 2, pp. 512-537 Kennedy, T. (2010). Safeguarding traditional craftsmanship : a project demonstrating the revitalisation of intangible heritage in Murad Khane, Kabul. International Journal of Intangible Heritage. Vol. 5-6, pp. 73-85 H. Sadegh, "Khattat-e Haft Ghalam" [Kalligraph mit 7 Federn], in "Gahnameh-ye Honar" [Kunst Periodica], Jahrgang 6, Nr. 6, Seite 12-15 F. Ajand, 8. Aghrab 1390: 90% der afghanischen Teppiche werden in die Nachbarstaaten exporiert, 8 Uhr (http://www.8am.af/index.php?option=com_content&view=article&id=22300:90---------&catid=110:1389-11-18-04-55-07&Itemid=562) ToloNews (Feb 6, 2012). Afghan Carpet Holds First at Dubai Annual Exhibition. (http://www. tolonews.com/en/business/5262-afghan-carpet-holds-first-at-dubai-annual-exhibition) bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 40 Afghanische Diaspora und Brain Drain Von Sayed Asef Hossaini 21.1.2013 ist Doktorand an der "Willy Brandt School of Public Policy" in Erfurt. Er studierte an der Kabuler Universität Philosophie und Soziologie und an der "Willy Brandt School of Public Policy" Public Policy. Während seines Studiums in Kabul war er politisch aktiv als Vorsitzender einer Studentenbewegung. Nach wie vor kommen die meisten Flüchtlinge aus Afghanisten: Rund 2,7 Millionen Afghanen leben außerhalb ihres Herkunftslandes. In den vergangenen 30 Jahren kam es in Afghanistan immer wieder zu einer Abwanderung von Menschen mit relativ höherer Bildung, die hauptsächlich durch Kriege und Wechsel von politischen Systemen verursacht wurde. Afghanische Ärztin bei der Arbeit. Lizenz: cc by/2.0/ (CC, U.S. Army) bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 41 Einleitung Das Hohe Kommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) gab am 18. Juni 2012 bekannt, dass nach wie vor die meisten Flüchtlinge aus Afghanistan kommen – weltweit 2,7 Millionen. Der überwiegende Teil der Flüchtlinge lebt in Pakistan und Iran.[1] Diese "Diasporagemeinde" entstand insbesondere in den afghanischen Nachbarstaaten allerdings nicht erst im Rahmen des jüngsten Afghanistankonflikts, sondern in verschiedenen Perioden mit unterschiedlichen Ursachen. "Diaspora" wird unterschiedlich definiert. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet "Zerstreuung". Damit bezeichnete man ursprünglich die auf der Welt zerstreuten jüdischen Gemeinden und deren Kultur. Gegenwärtig leben wegen des Arbeitsmarktes und ökonomischer Veränderungen große Massen von Menschen außerhalb ihrer Heimat. So lebt beispielsweise die Hälfte der 12 Millionen zählenden Sikhs außerhalb von Indien.[2] "Diaspora" kann wie folgt definiert werden: Erstens handelt es sich um Menschen, die von ihrer geographischen Heimat getrennt sind. Zweitens haben die Mitglieder dieser Gemeinde noch "emotionale Bindungen" zu ihrer Heimat, die sie als Quelle ihrer Werte und Identität sehen und denen sie treu bleiben wollen. Drittens gibt es noch eine Grenze zwischen diesen Gemeinden und dem Gastgeberland.[3] Auch für Brain Drain gibt es verschiedene Definitionen, aber generell versteht man darunter die "Abwanderung der Intelligenz und des Humankapitals" aus einem Land.: "'Brain Drain' zeigt den internationalen Transfer von Ressourcen in Form von Humankapital. Damit meint man generell die Abwanderung von Menschen mit relativ höherer Bildung von einem Entwicklungsland in entwickelte Länder."[4] Verschiedene Phasen der Auswanderung aus Afghanistan In den vergangenen 30 Jahren verließen Flüchtlinge Afghanistan in verschiedenen Phasen. Die erste große Auswanderungswelle erfolgte Ende der 1970er Jahre nach der Machtübernahme der Kommunisten (DVPA) im Jahre 1978 und der darauffolgenden Besetzung Afghanistans durch die Sowjetunion 1979. Allerdings lebten schon vor dieser Zeit Gruppen von Afghanen zu Studien- und Geschäftszwecken im Ausland, darunter auch in Deutschland. In dieser ersten Phase war der Westen den Migranten bekannt, sie gehörten zur studierten Elite, hatten in Afghanistan hohe Ämter inne oder waren renommierte Kaufleute. Dieser Kreis emigrierte häufig in den Westen.[5] Allmählich wanderten aber auch einfache Menschen aus, häufiger aus ländlichen Gebieten, in die Nachbarstaaten Iran und Pakistan. Mitte der 1980er Jahre lebten 6,5 Millionen afghanische Flüchtlinge in den Nachbarstaaten. Dies war die höchste Flüchtlingsrate weltweit.[6] Mit dem Sturz des kommunistischen Regimes 1992 kehrten viele Flüchtlinge aus dem Iran und Pakistan in ihre Heimat zurück. Kurz danach flammte aber ein Bürgerkrieg unter den Mujahedin auf, sodass wieder eine große Zahl von Flüchtlingen Afghanistan verließ. In dieser zweiten Phase kamen die Flüchtlinge aus zwei Kategorien: Städtischer Mittelschicht, bestehend vor allem aus Beamten des alten Regimes und Flüchtlinge, die nach dem Sturz des kommunistischen Regimes aus Iran und Pakistan zurückkehrten.[7] Die dritte Flüchtlingswelle begann 1996 nach der Machtergreifung der Taliban. Zu ihnen gehörten vor allem Minderheiten (Hazaras, Schiiten, Ismailiten, Hindus und Sikhs), die von den Taliban bedroht wurden.[8] Nach der Etablierung des gegenwärtigen politischen Systems und dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 begann eine neue Auswanderungsphase. Generell lassen sich die afghanischen Flüchtlinge in zwei Kategorien teilen: In Flüchtlinge in den Nachbarstaaten und im Westen. Dieser Beitrag behandelt nicht das Thema der Binnenflüchtlinge. Flüchtlinge in den Nachbarstaaten bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 42 In allen drei genannten Phasen ließen sich die meisten afghanischen Flüchtlinge in Pakistan und Iran nieder. Sie wählten je nach ihrer kulturellen, religiösen und sprachlichen Zugehörigkeit eines dieser beiden Länder. Die Flüchtlinge im Iran waren meistens farsi-sprachig, schiitisch und häufig Hazaras. Von den Flüchtlingen in Pakistan waren die meisten paschtu-sprachig, sunnitisch und aus ethnischer Sicht paschtunisch bzw. tadschikisch geprägt. Etwa 70% der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan waren Paschtunen.[9] Auch stammten die meisten der Flüchtlinge in beiden Ländern aus ländlichen Gebieten. Die meisten Flüchtlinge in Pakistan wurden im Norden des Landes in Camps untergebracht, dagegen lebten im Iran nur wenige Afghanen in Flüchtlingscamps. Die meisten von ihnen lebten hier am Rande von Städten und in Dörfern und wurden auf das ganze Land verteilt. Die afghanischen Flüchtlinge kamen in einer Zeit in den Iran, als das Land sich im Krieg mit dem Irak befand und zudem noch unter den Folgen der Revolution von 1979 litt. Iran betrachtete die afghanischen Einwanderer als aktive und billige Arbeitskräfte. Afghanische Flüchtlinge, die meistens aus Dörfern stammten und eher ungebildet waren, fanden auf dem iranischen Arbeitsmarkt oft nur Beschäftigung auf unterem Niveau. Deshalb hatte die afghanische "Diasporagemeinde" im Iran kaum eine Möglichkeit, soziale Institutionen zu bilden. Vielmehr gründeten sich mit iranischer Unterstützung diverse politische Parteien. Diese Flüchtlinge hielten in den 1980er Jahren auf zwei Ebenen mit ihrer Heimat Kontakt: Finanzielle Hilfe und politisch-militärische Aktivitäten gegen die ehemalige Sowjetunion. Gebildete Flüchtlinge blieben oft nicht im Iran, da sie dort als Ärzte, Ingenieure und Kaufleute keine Arbeitserlaubnis bekamen. Sie verließen das Land und gingen in den Westen. In Pakistan waren die Flüchtlinge mit einer ähnlichen Situation konfrontiert. Auch dort etablierten sich verschiedene politische Parteien gegen das kommunistische Regime in Kabul. Trotzdem gestattete Pakistan internationalen Hilfsorganisationen, die afghanischen Flüchtlinge zu versorgen. Hunderte westliche Organisationen konzentrierten ihre Aktivitäten auf afghanische Flüchtlinge; solche Vorhaben wurden aber von der iranischen Regierung nicht zugelassen. Flüchtlinge im Westen In allen genannten drei Phasen flüchteten Hunderttausende von Menschen in den Westen. Diese kamen meistens aus gebildeten und städtischen Schichten. Der größte Teil hatte unter einem der Regime gedient und musste nach dem jeweiligen Regimewechsel das Land verlassen. Die meisten dieser Einwanderer ließen sich in Deutschland, den USA, Kanada und Russland nieder. Nach Statistiken des deutschen Ministeriums für Entwicklung und Zusammenarbeit leben ca. 100.000 afghanische Migranten in Deutschland.[10] 2009 wurde die Zahl der afghanischen Migranten in Deutschland auf 126.334 beziffert, wovon 49.081 die deutsche und 77.253 die afghanische Staatsangehörigkeit haben.[11] Unter dessen formierte sich eine der größten afghanischen Gemeinden in Russland. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes ließen sich etwa 150.000 Afghanen in Russland nieder. Aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit entschieden sich auch viele afghanische Sikhs und Hindus nach Indien zu gehen.[12] Die meisten afghanischen Flüchtlinge, die in den Westen kamen, gehörten zur afghanischen Mitteloder Oberschicht, waren mit westlichen Verhältnissen vertraut und hatten vorher aus Studien- und geschäftlichen Gründen mit diesen Ländern Kontakt. Viele mussten aber nach ihrem Asyl in Deutschland allmählich einen sozioökonomischen Abstieg in Kauf nehmen.[13] Die im Westen ansässigen afghanischen Migranten versuchten (insbesondere in Deutschland) aktive Organisationen zu bilden und ihren Kontakt mit Afghanistan aufrechtzuerhalten. Ende der 1970er Jahre gründeten sie zum ersten Mal eine Hilfsorganisation für die Opfer der Flutkatastrophe in ihrer Heimat. Danach wurden mehrere Studenten- und Frauenorganisationen gegründet. Anfang der 1990er Jahre wurden mit Hilfe der Bundesregierung nicht-staatliche afghanische Organisationen (NGOs) gebildet. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 43 So wurden von der "Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit" (GTZ) Projekte zur Qualifikationsförderung der in Deutschland lebenden Afghanen initiiert, damit diese nach dem Sturz des kommunistischen Regimes die Entwicklung in Afghanistan voranbringen .[14] Auch unter dem gegenwärtigen politischen System nach 2001 gründeten im Westen ansässige afghanische Migranten diverse NGOs und fokussierten ihre Aktivitäten auf Afghanistan. Da diese Menschen mit dem Leben im Westen vertraut sind und eine Fremdsprache sprechen, konnten sie leicht mit Entwicklungsprojekten der Weltgemeinschaft beauftragt werden und übernahmen in Abwesenheit einer starken staatlichen Bürokratie ersatzweise die Durchführungsfunktion dieser Projekte. Diese Vorhaben waren allerdings von Unzulänglichkeiten begleitet: Gebildete Afghanen, die mit ihren Projekten nach Afghanistan kommen, haben eher Schwierigkeiten, mit Menschen an der Basis in Beziehung treten. Die lange Abwesenheit vom politischen und gesellschaftlichen Leben Afghanistans hat eine große "Verständigungs-Kluft" zwischen den Projektherren und den "Hilfsberechtigten" geschaffen. Diese Kluft hat oft dazu geführt, dass die internationale Hilfe nicht effizient eingesetzt werden konnte. Die neue Migrationswelle Trotz gewaltiger internationaler finanzieller Zuwendungen und Etablierung eines neuen politischen Systems nach dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 verlassen immer noch eine Reihe von afghanischen Bürgern ihr Land. Obwohl diese neue Auswanderungswelle nicht den Umfang der genannten drei Phasen hat, ist sie dennoch sehr bedenklich, insbesondere deshalb, weil der neue Migrationsschub das typische Bild von "Brain Drain" liefert. Die neue Migrationsgeneration besitzt zwei Haupteigenschaften: Sie gehört zur Elite des Landes und ihr Auswanderungsziel sind entwickelte Industrienationen. Wie die UNO bekannt gab, stellten weltweit in den ersten 11 Monaten von 2011 mehr als 30.000 afghanische Bürger Asylanträge. Diese Zahl liegt 25% höher gegenüber 2010.[15] Diese Menschen sind hauptsächlich gebildete Menschen, unter ihnen Diplomaten, Journalisten, Kaufleute, Studenten und Künstler. Der neue Auswanderungsschub steht im umgekehrten Verhältnis zur Zahl der Rückkehrer. Nach 2011 kehrte zwar eine beträchtliche Zahl von Migranten aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück, aber dieser Prozess verlangsamte sich im Laufe der Zeit: So kehrten 2010 etwa 110.000 Afghanen aus Pakistan zurück, aber die Zahl verringerte sich 2011 auf 50.000.[16] Schuld an der neuen Auswanderungswelle sind vor allem der Mangel an Sicherheit und die Arbeitslosigkeit. Das Fehlen von Sicherheit war in allen Phasen ein wichtiger Grund für die Auswanderung. Man kann zwar die Auswanderer laut "Internationaler Organisation für Migration" in Kabul (IOM) heute nicht als "Flüchtlinge" und "Verfolgte" bezeichnen[17], aber fest steht, dass die Zahl der Asylsuchenden und Flüchtlinge mit der zunehmenden Unsicherheit, insbesondere seit 2005, sprunghaft gestiegen ist, was die direkte Korrelation zwischen Unsicherheit und Auswanderung in Afghanistan zum Ausdruck bringt. Arbeitslosigkeit ist ein weiterer Auswanderungsgrund der gegenwärtigen Phase. Die afghanische Wirtschaft lebt von den Hilfsmitteln der internationalen Gemeinschaft. Milliardenbeträge werden von nicht-staatlichen Organisationen in Afghanistan verwendet. Die afghanische Regierung schätzt, dass im Jahr 2009 ca. 77 % der Hilfsgelder an der afghanischen Regierung vorbei direkt an NGOs gingen.[18] Staatliche und nicht-staatliche Institutionen als Leiter von Aufbauprojekten haben in vergangenen 10 Jahren direkt oder indirekt Tausende von Arbeitsplätzen für die Afghanen bereitgestellt. Nach Angaben der UNO sind ca. "483.000 Menschen in Afghanistan in 22 Programmen der Nationalen Priorität (National Priority Programms) beschäftigt.[19] "Die Menschen in Afghanistan befürchten, dass nach Abzug von internationalen Kräften aus Afghanistan die internationale Hilfe nachlässt und damit die Zahl der Organisationen und Arbeitsplätze zurückgeht. Warum aber haben Tausende von Entwicklungsprogrammen nicht dauerhafte Arbeitsplätze und eine dynamische Wirtschaft gebracht? Eine mögliche Antwort ist die, dass es staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen in den bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 44 vergangenen 10 Jahren nicht gelang, geeignete Fachkräfte auszubilden, obwohl manche Programme wie das "Nationalisierungsprojekt" (National Institution Building Project) zur Erweiterung der Fachkräfte innerhalb und außerhalb der Regierung vorhanden waren.[20] Kurzfristige Projekte konnten aber nur kurzfristige Arbeitsplätze entstehen lassen. Nach Aussage von Sher Verick, Experte der Internationalen Arbeitsorganisation, "besteht das Hauptproblem des afghanischen Arbeitsmarktes darin, dass viele Arbeitsplätze in Afghanistan in den vergangenen 10 Jahren durch internationale Geberländer geschaffen wurden. Diese Beschäftigungsgelegenheiten waren meistens vorübergehender Natur. Wir müssen uns auf nachhaltige Beschäftigungschancen konzentrieren."[21] Kapazitätsbildung erfolgt auf zwei Ebenen: Institutionelle und individuelle Kapazitäten. Es scheint, dass individuelle Kapazitäten bis zu einem akzeptablen Umfang weiterentwickelt sind, insbesondere deshalb, weil das "Humankapital", also die junge, ausgebildete und qualifizierte Generation aus dem Iran, Pakistan und sogar aus dem Westen in ihre Heimat zurückgekehrt ist. Aber die Unfähigkeit der institutionellen Kapazitäten verhindert die Integration dieser Kräfte in den administrativen und ökonomischen Apparat. Hinzu kommt, dass die Schwäche der institutionellen Kapazitäten einerseits und die Besetzung dieser durch ungeeignete Personen einen weiteren Druck auf die afghanische Fachelite darstellt. Unqualifizierte Kräfte gelangen aufgrund von ethnischen, sprachlichen, politischen und sogar regionalen Präferenzen ohne Berücksichtigung von Wettbewerbs- und Anstellungsregeln in staatliche und nicht-staatliche Institutionen.Die Beschränktheit der institutionellen Kapazitäten in Afghanistan und der langsame Rückgang von internationalen Hilfsleistungen haben die Arbeitslosigkeit in Afghanistan verschärft. Nach einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation verfügt Afghanistan über 11 Millionen Arbeitskräfte, von denen 7,9% arbeitslos sind. Jährlich kommen 400.000 neue Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt.[22] Man muss daran erinnern, dass die neuen Auswanderer zumeist Migranten der zweiten Generation aus Pakistan und Iran sind. Auch wenn die erste Generation der Auswanderer größtenteils aus Dorfbewohnern und weniger gebildeten Personen bestand, ist die zweite Generation eher städtisch und gebildet.[23]Wenn diese Menschen nach Afghanistan zurückkommen, haben sie kein Interesse in das väterliche Dorf zu gehen und bevorzugen das Leben in Großstädten wie Kabul, Mazare Sharif, Herat, Kandahar und Jalalabad. Die Beziehung der Migranten zu ihrem Herkunftsland Obwohl gegenwärtig der Reiseverkehr zwischen Afghanistan und seinen Nachbarstaaten bzw. den westlichen Ländern intensiver als je zuvor geworden ist, lebt eine beträchtliche Zahl dieser Migranten noch in den Gastgeberländern. Wie halten sie Kontakt mit ihrer Heimat? Direkter Kontakt Ein Teil der afghanischen Rückkehrer nach dem Sturz der Taliban gehörte zur wirtschaftlichen Elite, die das Land aus dem Blickwinkel von günstigen wirtschaftlichen Gelegenheiten betrachteten. Das Fehlen eines funktionierenden Steuersystems, billige Rohstoffe und Arbeitskräfte und eine Flut von Auslandshilfen waren Gründe für das Interesse der wirtschaftlichen Elite an Afghanistan. Diese Personen kamen in der Regel aus entwickelten Industriestaaten nach Afghanistan und waren selbstständige Investoren. Weitere Fachleute aus nicht-wirtschaftlichen Sektoren (Ärzte, Ingenieure, Krankenschwester u.a.) wurden durch NGOs, die sich um Migranten kümmerten und auch durch Arbeitsagenturen nach Afghanistan geschickt. So war die "Internationale Organisation für Migration" (IOM) eine der Institutionen, die für die Rückkehr von Fachkräften (brain gain) nach Afghanistan sehr aktiv war. Die meisten im Westen ansässigen Investoren, Inhaber von nicht-staatlichen Organisationen und qualifizierte Kräfte verlassen Afghanistan nach Abschluss der Projekte, bei Minderung der Hilfsmittel oder Kürzung ihrer Gehälter. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 45 Abgesehen davon gibt es aber eine Reihe von Migranten, die in ihre Stadt oder in ihr Dorf zurückkehren und in der Regel auch langfristige Investitionen tätigen. Diese Investitionen konfrontieren die Einheimischen mit neuen Ideen und einem neuen Lebensstil. Es ist wichtig zu wissen, dass der Anbieter hier nicht eine staatliche oder nicht-staatliche Organisation ist, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Der in Italien lebende Regisseur Razi Mohebbi sagt: Manche Rückkehrer gehen nicht nach Kabul, weil ihre Präsenz dort nicht "effektiv" ist und sie sich dort "unterfordert" fühlen. Sie gingen deshalb in ihren Geburtsort und tragen eine "andere Kultur und Wirtschaftsleben" in diese Orte hinein – insbesondere die aus der ersten Generation. Hinzu kommt, dass manche Organisationen und Institutionen der afghanischen Migranten im Westen noch ihre traditionellen Kontakte mit ihrer Heimat aufrechterhalten haben. Diese Organisationen initiieren Programme und sammeln Spenden, die sie direkt nach Afghanistan schicken. Dazu gehört zum Beispiel der "Afghanischer Frauenverein e.V." in Osnabrück, der jährlich im Rahmen von Veranstaltungen mit Unterhaltung und Kultur Spenden für den Aufbau von Schulen und anderen gemeinnützigen Projekten in Afghanistan sammelt. Die virtuelle Präsenz Mit der Ausweitung von Kommunikationsmöglichkeiten ist auch der Kontakt von afghanischen Migranten im Ausland zu ihrer Heimat besser geworden. Telefon, Internet und soziale Netze haben die Distanz zwischen Migranten und den Bewohnern in Afghanistan deutlich verringert. Vor dem Sturz der Taliban war schon der telefonische Kontakt extrem schwierig. Der Kontakt zwischen Migranten und ihren Angehörigen in Afghanistan lief über Briefwechsel oder Audio-Kassetten, die manchmal Monate brauchten, um anzukommen. Die neuen Kommunikationsmittel haben erreicht, dass afghanische Migranten leichter Aktivitäten entfalten können. Solche Aktivitäten sind häufig freiwillig und ehrenamtlich und geschehen aus zwei Gründen: Sammeln von materiellen Hilfsmitteln über das Netz und Management von Entwicklungsprojekten in Afghanistan. Der in Italien lebende Ethnologie-Student Hamed Ahmadi schreibt beispielsweise, dass er über Facebook dabei ist, Spenden für den Bau einer Schule in der Region "Paye Kohe Mikh" (Bezirk Waras) im Zentrum Afghanistans zu sammeln. Hamed hat diese Region noch nie gesehen, aber es ist der Geburtsort seines Vaters. Hamed meint, dass ein Netz von Freiwilligen, jeweils im Ausland und Inland, den Bau dieser Schule sehr gut vorantreiben könne. Hamed sagt, dass freiwillige und ehrenamtliche Initiativen zum Wiederaufbau Afghanistans für den Westen fremd sind. Er meint, eine neue Schule könne mit freiwilliger Unterstützung nur mit 15.000 Euro gebaut werden. Dagegen kostet die Durchführung des gleichen Projektes durch NGOs mehrere Hunderttausend Euro. Manche Migranten beraten die Bewohner ihrer Heimatregionen, wie sie Spenden sammeln können, welche Projekte wichtig sind und wie man diese durchführen kann. Resümee In den vergangenen 30 Jahren kam es in Afghanistan immer wieder zu einem "brain drain", der hauptsächlich durch Kriege und Wechsel von politischen Systemen verursacht wurde. Immer wenn ein neues Regime an die Macht kam, verließen Beamte und Politiker des alten Regimes zusammen mit einer großen Zahl von einfachen Menschen das Land. Die Entwicklungen nach 2011 sorgten für die Rückkehr mancher Eliten der ersten Generation und einer Reihe von jungen ausgebildeten Menschen der 2. Generation. Der Mangel an institutionellen Kapazitäten und das Fehlen von langfristigen Programmen waren Gründe dafür, dass diese allmählich das Land wieder verließen. Es kommt die Unsicherheit hinzu, dass die Zahl der arbeitsschaffenden Organisationen mit dem Abzug von internationalen Kräften zurückgeht. Die Präsenz der internationalen Streitkräfte hat eine gewisse Sicherheit geboten, die bisher ausreichend war, um die Arbeit der NGOs zu gewährleisten. Wenn diese wegfällt, wird die Arbeit dieser Organisationen schwieriger, wenn sie nicht ohnehin abziehen. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 46 Wie die Verantwortlichen der "Internationalen Organisation für Migration" in Kabul meinen, flüchten die neuen Auswanderer aus Afghanistan nicht wegen der unsicheren Lage ins Ausland. Vielmehr sind sie auf der Suche nach einer sicheren Zukunft.[24] Die Herstellung einer relativen Sicherheit, die politische Stabilität und Entwicklung von institutionellen Kapazitäten sind wesentliche Voraussetzungen, um den "brain drain" aus Afghanistan zu verhindern und umgekehrt erfahrene und ausgebildete Kräfte wieder ins Land zu holen. Die modernen Kommunikationsmittel haben die Teilnahme von afghanischen Migranten am Geschehen in Afghanistan auch in abgelegenen Gemeindendeutlich verbessert. Diese Beziehungen führten zur Bildung von aktiven sozialen Netzen, die sich auf freiwilliger Basis für die Entwicklung Afghanistans einsetzen. Bibiliographie Braakman, M. (2005). Roots and Routes; Questions of Home, Belonging and Return in an Afghan Diaspora (M.A. Thesis). Leiden - Netherlands: Leiden University. Brubaker, R. (2005). The 'diaspora' diaspora. Ethnic and Racial Studies , 1-19. Bundesamt fuer Fluechtlinge und Migration, Dr. Habil. Sonja Haug Stephanie Muessig, M.A.Dr. Anja Stichs (Hrsg): Muslimisches Leben in Deutschland, 2009: page 76, chart 5. Deutsche Welle. (2012, June 18). Dari. Retrieved July 2012, from Deutsche Welle (http://www.dw.de/ dw/article/0,,16033145,00.html) DW. (2012, June 06). Dari. Retrieved July 08, 2012, from Deutsche Welle (http://www.dw.de/dw/ article/0,,16001049,00.html) Frederic Docquier; Hillel Rapoport. (2006). The Brain Drain. In New Palgrave Dictionary of Economics (p. 2). palgrave. Groot, Richard and Paul van Molen, Eds. (2000): Workshop on Capacity Building in Land Administration for Developing Countries-Final Report. ITC, Enchede, The Netherlands, 12-15 November 2000 IOM. (2012, May). Afghanistan. Retrieved July 09, 2012, from International Organization for Migration (IOM) (http://www.iom.int/jahia/Jahia/afghanistan) Nicholas Abercrombie; Stephen Hill, Bryan Turner. (2006). Dictionary of Sociology. London: Penguin Reference . Poole, Lydia.(2011). Afghanistan; Tracking Major Resources Flows 2002-2010. p.9. Refugee Cooperation. (2011, Feb 9). Middle East Institute, Afghanistan . Retrieved Dec 12, 2012, from Refugee Cooperation (http://www.refugeecooperation.org/publications/Afghanistan/05_jalal.php) Tatjana Bauralian; Michael Bommes; Heike Daume; Tanja El-Cherkeh; Florin Vdean. (2006). Egyptian, Afghan, and Serbian Diaspora Communities in Germany: How do they Contribute to Their Country of Origin? Eschborn: Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenartbeit (GTZ) GmbH. Telegraph. (2012, January). Afghanistan. Retrieved July 2012, from The Telegraph (http://www. telegraph.co.uk/news/worldnews/asia/afghanistan/9030969/Afghan-asylum-seekers-at-highest-numbersfor-a-decade.html#) UN. (2012, February). UN News Centre. Retrieved July 2012, from UN (http://www.un.org/apps/news/ story.asp?NewsID=41121&Cr=afghan&Cr1=refugee) bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 47 UNDP. (2010). UNDP Afghanistan Annual Report 2010. Kabul: UNDP. World Bank. (2011). Capacity Development Resources Center. Retrieved July 10, 2012, from The World Bank (http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/TOPICS/EXTCDRC/0,,contentMDK:20461439~ menuPK:64169181~pagePK:64169212~piPK:64169110~theSitePK:489952,00.html) Zitationen The term ”brain drain” designates the international transfer of resources in the form of human capital and mainly applies to the migration of relatively highly educated individuals from developing to developed countries. (Frederic Docquier; Hillel Rapoport, 2006; p.2) Twenty two National Priority Programmes have been developed and subsequently endorsed by the Kabul process and nearly 483,000 people have benefited from employment opportunities as a result of implementation of community development and infrastructure projects (UNDP, 2010, p.7) While capacity development is an integral part of all the development efforts, UNDP through the National Institution Building Project (NIBP) is working with the Government of Afghanistan to focus on the capacity development of select government institutions through advisory support and twinning arrangement. (UNDP, 2010, p.16) Fußnoten 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. Deutsche Welle, 2012 Abercrombie, et al., 2006 Brubaker, 2005, S. 5-6 Docquier and Raporto, 2006, S. 2 Bauralin; Bommes, et al., 2006, S. 9 UNHCR; Braakmann, 2005, S. 7 Bauralin; Bommes, et al., 2006, S. 10 Bauralin; Bommes, et al., 2006, S. 10 Braakmann, 2005, S. 8; Immig und Van Heugten, 2000 Bauralin; Bommes, et al., 2006, S. 39 Bundesamt fuer Fluechtlinge und Migration, Dr. Habil. Sonja Haug Stephanie Muessig, M.A.Dr. Anja Stichs (Hrsg.): Muslimisches Leben in Deutschland, 2009: page 76, chart 5. Braakmann, 2005, S. 8-9 Ebda, S. 23 Bauralin; Bommes, et al., 2006, S. 29 Telegraph, 2012 UN, 2012 Telegraph, 2012 Poole, Lydia.(2011). Afghanistan; Tracking Major Resources Flows 2002-2010, S.9. UNDP, 2010, S. 7 UNDP, 2010, S. 16 DW, 2012 DW, 2012 Refugee Cooperation. (2011, Feb 9). Middle East Institute, Afghanistan . Retrieved Dec 12, 2012, from Refugee Cooperation (http://www.refugeecooperation.org/publications/Afghanistan/05_jalal. php) Telegraph, 2012 bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) bpb.de 48 Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 49 Die Stimme vom Hindukusch Die traditionelle Musik Afghanistans Von Mohammad Ali Karimi 21.1.2013 war Dozent für Film und Theater an der Kabuler Universität. Er studierte Film und Theater an der Kabuler Universität (BA) und Kommunikationswissenschaften an der Universität von Ottawa (MA). Gleichzeitig war er Produzent und Journalist. Derzeit promoviert er in Kommunikationswissenschaften an der McGill Universität in Montreal. Die traditionelle afghanische Musik ist bislang nicht ausreichend untersucht worden. Dabei ist sie für die Afghanen mehr als Unterhaltung. Afghanistan besitzt eine "orale Kultur", die schriftliche Fixierung und Erfassung spielt eine untergeordnete Rolle. Die Musik ist deshalb eine reiche Quelle der Geschichte und des kollektiven Gedächtnisses des afghanischen Volkes. Das älteste Zeugnis über die Musik in Afghanistan ist eine Wandmalerei in einer der Höhlen in der Nähe der ehemaligen Buddha-Statuen in Bamian. Das Bild zeigt zwei Harfe spielende Frauen. Vor dem Islam war die Religion eine Antriebskraft für die Entwicklung und Verbreitung der Musik. Dagegen brach nach dem Eindringen des Islam in das Gebiet des heutigen Afghanistan die Bindung zwischen Musik und Religion ab. Es kam sogar zu einer Kriegserklärung der Religion gegen die Musik.[1] Das am nächsten liegende Beispiel sind die Taliban: Als sie 1996 an die Macht kamen, verbaten sie diese uralte Kunst, schikanierten die Musiker, und als sie 2001 die Buddha-Statuen sprengten, vernichteten sie auch die 1500 Jahre alte Wandmalerei der buddhistischen Musikanten. Trotz der langen Auseinandersetzungen und Feindschaften zwischen Musik und Religion konnte die Musik auch unter schwierigsten Bedingungen ihre Existenz behaupten und den Menschen in den tiefen Tälern des Hindukusch und in abgelegenen afghanischen Dörfern Wärme spenden. Die Afghanen haben ihre Bindung zur Musik, insbesondere zur Folklore-Musik, nie verloren, obwohl die fundamentalistischen Mullahs Jahre lang von den Kanzeln gegen Musik und Fröhlichkeit predigten. Vielleicht kann man behaupten, dass nach dem Wettkampf und der Dichtung die Musik die dritte Lieblingsbeschäftigung der Afghanen ist. Währen des jahrhundertelangen andauernden Kampfes des Islam gegen die Musik waren es drei Gruppen, die diese "verbotene Kunst" vor der Vernichtung schützten: Regionale Folklore-Musiker, Hofmusiker und Sufis. Diese drei Gruppierungen bestehen alle aus unteren gesellschaftlichen Schichten. Von ihnen erbrachten die Folklore-Musiker das größte Opfer, und sie waren es, die die größte Anstrengung zur Erhaltung des traditionellen musikalischen Erbes auf sich nahmen. Sie erduldeten Beleidigungen, Erniedrigungen und Armut, legten aber ihre Instrumente nicht zur Seite. In allen afghanischen Regionen ist Musik ein Synonym für diskriminierende Beschimpfungen. Musiker werden mit "Jat" (Zigeuner), "gharibzadeh" (vaterlos), "dallak" (dallak ist die abwertende Bezeichnung für traditionelle Körperbehandlung in Badeanstalten oder auf den Straßen.) "sazandeh" ("Klangerzeuger") und ähnlichen Dingen beleidigt. Örtliche Folklore-Musiker kommen in der Regel aus armen Familien und haben einen sehr niedrigen sozialen Rang. Diese wurden nur Musiker, um in öffentlichen und privaten Veranstaltungen der Reichen zu singen und zu spielen. Die meisten von ihnen laufen von Ort zu Ort. Die Musiker rasieren auch Haare ab, beschneiden die Jungs und ziehen Zähne, um sich ein Zubrot zu verdienen. Diese Kategorie von Musikern ist in vergangenen Jahren bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 50 durch Urbanisierung und Zugang von Menschen zu Radio und Fernsehen kleiner geworden. Volksmusik Heute lässt sich die Musik in Afghanistan in drei Kategorien einteilen[2]: a. Die als "klassisch" bezeichnete Musik indischen Ursprungs, die von professionellen Künstlern in Städten ausgeübt wird. b. Pop-Musik, die nach der Gründung von Radio Kabul 1920 in Afghanistan Fuß fasste und im Prinzip eine städtische Erscheinung ist. c. Die traditionelle afghanische Musik, die man als "Volksmusik" bezeichnet und auf die alten regionalen Kulturen der einzelnen afghanischen Provinzen zurückgeht und sehr vielfältig ist. Obwohl die afghanische Musik von zentralasiatischer, iranischer und indischer Kultur beeinflusst ist, besitzt sie eine unverkennbare Eigenart, so dass der Hörer leicht ihre Besonderheit spürt. Einer der ersten Europäer, der auf die Eigenart und Besonderheit der afghanischen Musik aufmerksam wurde, war der Franzose J. Delor, der seine Gefühle darüber 1946 in einem Artikel niederschrieb. Er sagt: "Die afghanische Musik ist von zwei Welten und verbindet den Osten und Westen miteinander. Diese fremde Musik glänzt mit ihrer Eigenart. Man spürt nichts von einer Monotonie der arabischen Musik oder Lahmheit der iranischen Musik."[3] In vielen afghanischen Provinzen gehört die Musik zur täglichen Kultur. So findet man in Badakhshan und Herat in jedem Teehaus ein Musikinstrument (z.B. "Dotar", "Robab", "Danbourah"(Saiteninstrumente) und "Reitchak" (Blechschwinginstrument),. Jeder Besucher, der hineingeht, kann damit spielen, wenn er das Instrument beherrscht. Manchmal singen Volksmusiker regelmäßig auf öffentlichen Plätzen. Trotzdem ist die Volksmusik dabei, ihre Originalität zu verlieren. So hat sie in Herat nur noch in Dörfern ihre Echtheit bewahrt und besitzt noch Spuren der khorasanischen Mugham-Musik. Aber die "regionale Volksmusik", die von städtischen Künstlern gespielt wird, ist mehr von der indischen Musik und Pop-Musik beeinflusst und hat weniger Ähnlichkeiten mit der traditionellen Musik von Herat.[4] Es wird in Afghanistan als selbstverständlich angesehen, dass die traditionelle oder regionale Volksmusik nur in abgelegen Orten gespielt werden kann. Was aber in den Städten als echte afghanische Musik präsentiert wird, ist stark von indischer Musik und iranischer Pop-Musik beeinflusst. Die traditionelle afghanische Musik ist bislang nicht ausreichend untersucht worden. Einige westliche Ethnomusikologen haben über bestimmte Regionen gearbeitet: So hat J. Baily[5] wertvolle Untersuchungen über die traditionelle Musik von Herat herausgegeben. Auch H. L. Sakata[6] hat die Musiktradition in Badakhshan, Daikendi und Herat untersucht. Mark Slobin[7] hat die traditionelle Musik des Nordens unter die Lupe genommen. Auch die Afghanen selbst haben einige unvollständige Arbeiten über die traditionelle Musik in Afghanistan geleistet. Man kann von Abdul Wahab Madadi[8], Enayatullah Shahrestani[9] und Asadullah Shoour sprechen. Eine systematische Arbeit über die Ursprünge der traditionellen afghanischen Musik und deren Gattungen ist aber bis heute noch nicht geleistet worden. Was die Erhaltung und Archivierung der traditionellen Musik angeht, haben sowohl die Afghanen, als auch ausländische Forscher beachtliche Anstrengungen unternommen. In den 1960er Jahren war Jalil Zaland Musikdirektor des afghanischen Rundfunks. Er bat jeden, der ein Lied kannte, in die Funkanstalt zu kommen und es gegen ein Honorar vorzusingen. Es meldeten sich hunderte von Menschen aus verschiedenen Regionen und sangen Lieder aus ihrer Gegend vor, die archiviert wurden. Später wurden diese Lieder von professionellen afghanischen Künstlern im Orchester reproduziert. Mit diesem bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 51 Schritt wurde die städtische Pop-Musik mit Folklore-Musik angereichert, was bis heute in der afghanischen Musik spürbar ist. Auch heute sind die populärsten Stücke der Pop-Musik diejenigen, die nach regionalen Liedern produziert sind. Dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass die gesamte afghanische Musik gesammelt worden ist. Viele Stile und Genres der afghanischen Musik sind immer noch unbekannt. Dazu gehört vor allem die Musik von Gegenden, die von Städten und touristischen Zentren entfernt sind. Die dänischen Forscher Klaus Ferdinand und Lennart Edelberg waren wohl die ersten Wissenschaftler, die 1953 im Rahmen ihrer ethnologischen Forschungen in Nourestan und Hazarajat die regionale Musik dieser Gebiete erfassten. Diese beiden Forscher reisten auch 1964 und 1970 nach Afghanistan und setzten die Erfassung der afghanischen Musik fort.[10] In den 1960er und 1970er Jahren beschäftigten sich mehrere ausländische Ethnologen mit Forschung und Erfassung der traditionellen afghanischen Musik. Als 1970 der afghanische Sänger Abdul Wahab Madadi als Praktikant zum WDR kam, machte er die Deutschen auf seine Heimatsmusik aufmerksam. Darauf hin schickte der WDR mit Hilfe von Madadi ein Team nach Afghanistan, das in verschiedenen Teilen des Landes mit der Sammlung und Erfassung der Musik begann. Das Ergebnis wurde 1995 auf einer CD (Afghanistan- A Journey to an Unknown Musical World) veröffentlicht. Es sind bis jetzt mehrere andere Musiksammlungen für den Weltmarkt der Musik im Westen herausgegeben worden, die sich an Liebhaber der Folklore-Musik ferner Kulturen wenden. Das Kollektivgedächtnis Die Traditionsmusik ist für die Afghanen mehr als eine Unterhaltung. Afghanistan besitzt eine "orale Kultur", die schriftliche Fixierung und Erfassung spielt eine untergeordnete Rolle. So werden Musik und Geschichten, die sie wiedergibt, von einer Generation an die andere weitergegeben. Diese sind reiche Quellen der Geschichte und des kollektiven Gedächtnisses des afghanischen Volkes. Insbesondere die langen Kämpfe haben die afghanische Musik stark geprägt. Epische, romantische und religiöse Geschichten in der traditionellen afghanischen Musik sind Ausdruck von Glaubensinhalten, Ideen und Wertorientierungen der Menschen dieses Landes. Die Beschäftigung mit der regionalen Musik offenbart die historischen Erfahrungen der jeweiligen Bevölkerung. Die Hazaras in Zentral-Afghanistan waren stets eine unterdrückte Minderheit und wurden in vergangenen 150 Jahren mehrfach Opfer von Massakern. Diese bitteren Erfahrungen gießen sie in ihre Gesänge, die von Damburah begleitet werden. Sie singen von den Massakern und von dem heldenhaftem Widerstand ihres Volkes. Obwohl Damburah auch in Nord-Afghanistan verbreitet ist, ist es meistens mit den Hazaras verbunden. In Nord-Afghanistan wird das Damburah in der Regel von einem anderen Instrument wie dem Reitchak begleitet, aber bei Hazaras dient es als Soloinstrument, neben dem man nur den Gesang hört. Obwohl das Damburah der Hazaras wie der Dotar der Heratis nur zwei Saiten hat, hat es bei den Hazaras einen anderen Klang und wird auch anders gespielt. Das Damburah der Hazaras hat einen trockenen und melancholischen Klang und gibt die Eigenart der Geschichte, der Natur und die vergessene Bevölkerung dieser Gegend wieder. Die Taliban waren die hartnäckigsten Feinde der Musik in der afghanischen Geschichte. Als sie 1996 Kabul eroberten, nannten sie Radio Kabul in "Sharia Radio" um und verbaten die Ausstrahlung jeglicher Musik. Musik war nicht nur im Radio verboten, sondern auch in der Öffentlichkeit, im Basar, Zuhause oder in Autos. Aber sogar die Taliban konnten nicht ohne Musik auskommen. Sie strahlten aus dem Radio "Taranehs" (Gesang) aus, die ohne Musikinstrumente von einem Mann oder einem Männerchor gesungen wurden. Thomas Johnson und Ahmad Waheed haben einen Teil der "Taranehs" der Taliban untersucht. Sie kommen zum Ergebnis, dass die Taliban ihre grausame Ideologie mit Texten ihrer Lieder verbreiten wollten.[11] Ob die "Mukhtes" (Klagelieder) der Hazaras, die "Falak" Lieder aus Badakhshan oder die "Taranehs" der Taliban, alle diese Gattungen sind verschiedene Formen der regionalen afghanischen Musik. Alle bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 52 sind eine geeignete Quelle für das Erkennen der Folklorekultur und beinhalten das kollektive Gedächtnis dieser Volksgruppen. Es sind Inhalte, die man in regulären Textsammlungen nicht finden kann. Auswanderung Als Amanullah Khan 1927 seine historische Europa-Reise unternahm, waren in seinem Gepäck auch einige Schallplatten mit Liedern von Ustad Ghasem Afghan. Die afghanische Musik war für den König auf der Reise das einzige Bindeglied zwischen ihm und dem Hindukusch-Gebirge. Er schreibt selbst, dass er in der Zugfahrt von Berlin nach Russland die Musik von Ustad Ghasem Afghan hörte und beim Gedanken an die Heimat weinte.[12] Die zehn Millionen Afghanen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten in Folge von Kriegen ihre Heimat verlassen haben, machen eine ähnlich Erfahrung wie Amanullah. Wo sie hingegangen sind, haben sie ihre Musik und ihre Reisespeisen (wie Qabolipalau, gebräunter Reis mit Lammfleisch, Möhren und Rosinen) mitgenommen. Das erste als geistige und das zweite als körperliche Nahrung. Musik ist die Stimme und Qabolipalau der Geschmack der fernen Heimat. Für Millionen von Afghanen ist es der Klang von Damburah, Dotar und Robab, der sie mit ihrer Heimat und den Tälern im Hindukusch verbindet. Man könnte sagen, dass dies für Flüchtlinge aller Nationen gilt, dennoch ist die Bindung der Afghanen an ihre traditionelle Musik viel enger. Sie möchten in der Musik Zuflucht suchen, um in Vorstellungen ihr verloren gegangenes Haus wieder lebendig machen. Mit Musik verbinden sie Nostalgie und Kontemplation. Die Musik hat die afghanische Kultur stark geprägt. Viele geflüchtete afghanische Künstler sind dazu übergegangen, sich von der afghanischen Musik ganz zu verabschieden und sich der westlichen Popmusik zu widmen. Dagegen hat eine andere Gruppe auch im Ausland weiter afghanische Folkloremusik produziert, CDs herausgegeben und sich durch Konzerte um Zugang zum internationalen Markt bemüht. J. Baily hat wertvolle Forschungen über die afghanische traditionelle Musik in Diaspora unternommen.[13] Nach den Taliban Nach 2001 war auf einmal das Klima in Afghanistan von populärer Musik beherrscht.Die Stimme der traditionellen afghanischen Musik war kaum hörbar. Als Reaktion auf diese Welle der populistischen Strömung wurden von afghanischen und internationalen Institutionen Anstrengungen zum Erhalt und Entwicklung der Traditionsmusik unternommen. So wurde im Sommer 2010 mit ausländischer Unterstützung und unter der Leitung von Nasser Sarmast das "Nationale Afghanische Musikinstitut" ins Leben gerufen. In diesem Institut soll mit Hilfe von europäischen und afghanischen Dozenten eine neue Generation von afghanischen Musikern ausgebildet werden. 50% der Schüler dieses Instituts sind Straßenkinder, und die Schüler lernen auch traditionelle afghanische Instrumente. In der Zeit davor hatte 2003 die Agha Khan Stiftung Musikkurse für die traditionelle afghanische Musik in Kabul und Herat gegründet, die auch heute im Betrieb sind. Ein weiteres Ausbildungszentrum ist die Musik-Fakultät der Universität Kabul, an der vorrangig westliche und indische Musik unterrichtet wird. Inoffiziell sind die Viertel "Gozare Kharabat" und "Shorbazar" der Altstadt von Kabul immer noch Zentren, in denen alte Musikmeister arbeiten und leben. Dort befinden sich immer noch einige Werkstätten für den Bau von Musikinstrumenten und einige Kurse für traditionelle Musik, die von noch in Kabul lebenden Musikmeistern betreut werden. Die afghanische Traditionsmusik hat nicht mehr die alten Musiker und Zuhörer. Die legendären afghanischen Musiker sind entweder gestorben oder geflüchtet. Die neue Generation neigt eher zur Popmusik und elektrischen Musikinstrumenten. Auch das einfache Volk hat sich von der Traditionsmusik entfernt. Die neue Generation wuchs mit Musik aus UKW-Sendern und bunten bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 53 Videoclips der TV-Sender auf und hat weder ein Interesse für die Traditionsmusik, noch hört oder kennt sie diese Musikrichtung. Die traditionelle Musik wird in den Städten eher von einer kleinen Elite bevorzugt oder lebt auf an abgelegenen Orten und unterhält eine von der Moderne getrennte Bevölkerung. Die afghanische Traditionsmusik gewann nach mehreren Jahrhunderten den Kampf gegen die Scharia und ließ sich nicht in die Knie zwingen. Kann sie nun auch den Lärm der Popmusik überleben? Fußnoten 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. A.A. Kahzad, Afghanistan dar Parto-e Tarikh [Afghanistan im Licht der Geschichte], Teheran, Donya-ye Ketab, 2010 Diese Einteilung gilt natürlich dann, wenn wir die Musik nach Einschätzung der Afghanen nur als das Spielen eines Instrumentes definieren. Wie Sakata (s. Fußnote Nr. 6) vermerkt, gilt für die Afghanen die Vokalmusik nicht als Musik, und deshalb wurden dagegen keine religiösen Einwände erhoben. In Klostern, Moscheen und bei religiösen Zeremonien wird oft die Vokalmusik eingesetzt. Diese warden als “naat” (Lobgesang für einen Heiligen), “hamd”(Lobpreisung Gottes) “manghabat” (Lobeshymnen für Imame) und “nowheh” (Klagelieder) bezeichnet. Delor, J. (1946). Musique afghane. Afghanistan. 3, Seite 24-29 Ghasemi u.a. Zir wa Bam [“Hoch und Tief”], eine Untersuchung über die Traditionelle Musik in Bdakhshan, Herat, Badgheis, Kabul, Bonyad-e Armanshahr Verlag 2011 Baily, J. (1989). Music of Afghanistan: Professional Musicians in the City of Herat. Cambridge: Cambridge University Press Sakata, H., L. (1983). Music in the Mind: The Concept of Music and Musician in Afghanistan. Kent: Kent State University Press Slobin, M. (1976). Music in the Culture of Northern Afghanistan. Tucson: University of Arizona Press Madadi, Sargozashte Mousighi Moaser-e Afghanistan [Geschichte der Gegenwartsmusik in Afghanistan], 2. Auflage, Teheran-Kabul, Erfan-Verlag 2011 A. Shahrani, Instrumentalmusik und Gesang in Afghanistan (2 Bände), Kabul, Beihaghi-Verlag, 2010 Irgens-Moller, C. (2005). Remnants of the Kafir music of Nuristan - a historical documentation. Danish Society of Central Asia's Electronic Quarterly. No 2. pp. 57-68 Johnson, T., H. & Waheed, A. (2011). Analyzing Taliban taranas (chants): an effective Afghan propaganda artifact. Small Wars & Insurgencies. Vol. 22, No. 1, pp. 3–31 A. Popalzai u.a., Safarhaye Ghazi amanullah Shah da dawazdah Keshware Asia wa Oroupa 1306-1307 [Die Reisen von König Amanullah in zwölf asiatische und europäische Länder, 1927/28], Kabul, Staatsdruckerei, 1985 Baily, J. (2010).Two Different Worlds: Afghan Music for Afghanistanis and Kharejis. Ethnomusicology Forum. Vol. 19, No. 1, pp. 69-88 bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 54 Landschaftsarchitektur und Siedlungsbau Die Geschichte des Siedlungswesens in Afghanistan Von Hamid Faruqui 21.1.2013 ist Diplom-Ingenieur, Gründer des Förderverein Darul-Aman e.V. und der Darul-Aman Stiftung Kabul. Hamid Faruqui gründete 1985 das Architekturbüros Hamid Faruqui & Partner in Bad Homburg. Nach dem Sturz der Taliban machte er eine Bestandsaufnahme und erarbeitete einen Masterplan für den Stadtteil Darul-Aman. Derzeit arbeitet Faruqui an einer Publikation zu dem Thema "Einfluss der europäischen Architektur auf die Stadtentwicklung in Afghanistan". Die massive Zerstörung der großen Zentren einerseits und die hohe Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsexplosion im ländlichen Raum anderseits haben in Afghanistan zu einer gewaltigen Verstädterung geführt: Lebten beispielsweise vor dem Krieg schätzungsweise 500.000 Menschen in Kabul, sind es heute wohl 4,5 Millionen. Afghanistan verfügt über eine lange Geschichte städtischer Siedlungen. Unter bestimmten Dynastien erblühten kleinere Städte und wurden zu mächtigen Reichs- und Kulturzentren. Ehemals bedeutende Städte sanken zu Provinzstädten herab oder verschwanden fast völlig von der Landkarte. Ein Beispiel für Ersteres ist etwa die Geschichte Ghaznis – 120 km westlich von Kabul – unter den Ghaznaviden im 11. und 12. Jahrhundert. Ein Beispiel für die zweite Entwicklung bietet Balkh, das bis zu seiner Zerstörung durch Dschingis Khan im 13. Jahrhundert zu den blühenden Städten gehörte, sich aber nach seiner Zerstörung bis heute jedoch nicht wieder erholt hat. Die Entwicklung des afghanischen Städtewesens lässt sich nicht als lineares Wachstum begreifen. Sie basiert vielmehr den kulturgeografischen Bedingungen des Landes und der Abhängigkeit von klimatischen und natürlichen Gegebenheiten. Als weitgehend gebirgiges Wüsten- und Halbwüstenland boten lediglich jene Gebiete oder Oasen günstige Voraussetzungen für das Wachsen von Städten, die die städtische Bevölkerung aus dem Umland mit Nahrung versorgen konnten. Das heißt sie mussten über genügend ausgedehntes Ackerland mit entsprechender Bewässerung verfügen. Derartige Gebiete gibt es im Westen um die Stadt Herat herum, im Süden zwischen Lashkargah, Kandahar und Kalat-e Ghilzai. Im Osten umfassen sie das Kabul-Tal und Jalalabad sowie im Norden die turkmenische Tiefebene. Die erst im 20. Jahrhundert zu Städten gewordene Ansiedlungen wie etwa Baghlan oder Kunduz im Norden des Landes sind über Jahrtausende Zentren dieser Gebiete gewesen.Die Reichsgründung der Paschtunen im 18. Jahrhundert vereinigte sämtliche dieser Gebiete erstmals seit dem 12. Jahrhundert wieder unter einer einheimischen Reichsherrschaft mit Kandahar und ab 1772 Kabul als Hauptstadt. Die koloniale Politik der Großmächte Russland und England im 19. Jahrhundert reduzierte – neben internen Fehden – das ehemalige Großreich auf die heutigen Grenzen und klammerte das Land zugleich aus Fortschritt und Entwicklung aus. Ende des 19. Jahrhunderts lebten in Kabul ca. 60.000 bis 80.000 Menschen, in Kandahar und Herat jeweils ca. 10.000 bis 15.000. Städtische Siedlungen wie Jalalabad, Mazar-e Sharif oder Ghazni zählten etwa 1.000 bis 5.000 Einwohner. Mit dem Erhalt der vollen staatlichen Souveränität 1919 und dem Beginn einer allgemeinen Modernisierungspolitik seit den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die dann nach dem Zweiten Weltkrieg durch bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 55 internationale Entwicklungshilfe entscheidend angekurbelt wurde, erfuhr das Städtewesen einen langsamen Aufschwung. Durch stetiges Bevölkerungswachstum, den Ausbau staatlicher Dienstleistungssektoren sowie die allmähliche Sesshaftigkeit der Nomaden erhielten die traditionell bedeutenden Städte teilweise neue Funktionen und wurden zum Ausgangspunkt der Modernisierungsmaßnahmen. Diese Maßnahmen trafen die einzelnen Städte allerdings sehr unterschiedlich: Kabul als Hauptstadt und Sitz der Regierung bekam den Löwenanteil aller Investitionen im Infrastrukturbereich. Herat und Kandahar, die beiden nächst wichtigen Provinzzentren, erlebten vor allem auch aufgrund der Bemühungen einer einheimischen Beamten- und Händleroberschicht einen kontinuierlichen Aufschwung. Jalalabad profitierte vor allem von seiner Lage an der Hauptstraße zum indischen Südkontinent. Mazar-e Sharif wurde durch das Interesse der Kabuler Zentralregierung an einer engeren Anbindung der nördlichen Provinzen an Kabul aufgewertet und gewann seit den sechziger Jahren vor allem als Zentrum abbauwürdiger Gasvorkommen an Bedeutung. An der unterschiedlichen Geschichte dieser fünf Städte lässt sich paradigmatisch die Kontinuität des afghanischen Städtewesens ablesen und anhand ihres Ausbaus der Wandel bis heute erfassen. Nach 25 Jahren Bürgerkrieg sind diese großen Zentren jedoch zerstört und die Kontinuität kaum mehr zu erkennen. Erst durch die Vertreibung des Taliban-Regimes wurde die Chance für eine Neugründung einer städtebaulichen Neuorientierung als Vision geboren. Allen Fehlentwicklungen, die vor der Zerstörung auch in der Stadtentwicklung vorhanden waren, wird durch ein Gesamtkonzept (Masterplan) und gezielter fachlicher Planung entgegengewirkt.Im Gegensatz zu den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts aber konnte die wirtschaftliche Hilfe der Geberländer, die 2002 in Tokio beschlossen wurde, das Stadtwesen in Afghanistan nicht verbessern. Die massive Zerstörung der großen Zentren einerseits und die hohe Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsexplosion im ländlichen Raum anderseits haben dazu geführt, dass viele Menschen ihr gewohntes Umfeld verlassen mussten, um in den großen Städten Wohnraum und Arbeit zu finden. Die Zentralregierung in Kabul hat die Risiken einer Verstädterung nicht rechtzeitig erkannt und somit dazu beigetragen, dass die großen Städte, insbesondere die Hauptstadt Kabul, eine Bevölkerungsexplosion erfahren haben, die in der Geschichte Afghanistans einmalig ist.[1] Aufgrund knapper Baugrundstücke und mangelhafter Planung haben sich viele Zuwanderer illegale Notunterkünfte an den Berghängen gebaut. Diese Entwicklung hat in den vergangenen zehn Jahren rapide zugenommen und die Stadt Kabul, die in ihrer Expansion ohnehin aus topografischen Gründen eingeschränkt ist, zu einem Kessel werden lassen, der sich unkontrolliert weiter füllt, bis er überläuft. Kabul in den Jahren 1965-72 Es gibt zwar Lösungsansätze, um das Problem des unkontrollierten Wachstums langfristig in den Griff zu bekommen. Die Verantwortlichen sind oaber ft Laien und haben keine Vorstellung davon, wie man solche Probleme mit gezielten städtebaulichen Plänen beheben kann. Alles, was in Kabul oder anderen Städten in den vergangenen zehn Jahren gebaut wurde, entbehrt jeglichen Grundlagen städtebaulicher Entwicklung. Das Ministerium für Städtebau und Siedlungswesen verwendet beispielsweise immer noch den alten Masterplan von 1965, der von den Russen für die Stadt Kabul entwickelt wurde, als Grundlage für die Stadtentwicklung. Anstatt für die aktuellen Probleme der Stadt Kabul Lösungen anzubieten, werden oft die gleichen Fehler wiederholt, obwohl es auch Alternativvorschläge gibt. Das Hauptproblem der Stadt Kabul ist die Kanalisation. Obwohl verschiedene technische Möglichkeiten bestehen, einen unterirdischen Kanal für das Abwasser zu bauen, setzt man immer noch auf die obsoleten offenen Entwässerungsgräben, die nie richtig funktionieren. Die Kosten von zwei Wassergräben entlang der Straße sind genauso hoch wie der Bau von einem geschlossenen unterirdischen Abwasserkanal. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 56 Nach aktuellen Informationen leben in der Stadt Kabul ca. fünf Millionen Menschen, für die zu wenig Wohnraum und eine ungenügende Infrastruktur vorhanden ist. Es mangelt an primären Grundlagen wie einem Bebauungsplan, einer Kataster-Registrierung für Grundstücke und funktionierenden Vermessungseinrichtungen. Es fehlen ferner Baunormen und eine Standardisierung der Baustoffe. Aus westlicher Sicht kann man ohne diese Angaben überhaupt nicht arbeiten. In Afghanistan ist das Alltag. Es wird sehr viel gebaut, und zwar ohne die oben erwähnten Grundlagen. Viele Exil-Afghanen aus den USA und Europa versuchten Vorschläge zur Verbesserung der städtebaulichen Entwicklung für die Stadt Kabul zu unterbreiten, bislang allerdings ohne Erfolg. Beispielsweise fand 2003 im Lycée Esteqlal Kabul (französische Schule) eine Veranstaltung statt, zu der ca. 300 Experten weltweit eingeladen wurden. Sie haben Vorschläge zur Urbanisierung von Kabul, Herat, Mazar-e – Sharif und Kandahar unterbreitet. Sie landeten jedoch in der Schublade und wurden nie realisiert.[2] Die Geberländer, die in den vergangenen zehn Jahren Milliarden in den Wiederaufbau Afghanistans investiert haben, machten dies zum großen Teil ohne ein klares Konzept oder eine klare Analyse. Die Mittel, die für die Projekte bereit gestellt wurden, haben nicht den afghanischen Bedürfnisse entsprochen. Sie haben sogar zu massiven neuen Problemen geführt, die Afghanistan in Zukunft zu bewerkstelligen hat, wie z.B. Bodenspekulationen und Preissteigerungsraten. Trotz der fehlenden Infrastruktur sind die Baulandpreise in Kabul mit denen in westlichen Industrienationen vergleichbar. Durch die Präsenz der Nichtregierungsorganisationen, die ein höheres Budget haben, sind die Preise in die Höhe geschnellt, vor allem da, wo sie sich niedergelassen haben. Im Stadtzentrum sind die Preise deshalb am höchsten. Der Grundstückspreis für eine Bebauung (ohne Erschließung) kostete in Kabul im 2010 ca. 600-800 USD/qm. In Frankfurt am Main kostete zu dem Zeitpunkt der Quadratmeter 300-500 € (voll erschlossen). Die Bauprojekte sind ohne Ausschreibungen an einflussreiche Afghanen vergeben worden, obwohl sie keinerlei Kompetenzen vorweisen konnten.[3] Diese haben die Projekte wiederum an andere verkauft und sich bereichert. Die Korruption im Bauwesen hat schwerwiegende Konsequenzen und ist kaum zu bekämpfen. Die Situation in Afghanistan ähnelt einem Kranken, der ohne Untersuchung Medikamente verabreicht bekommt, unabhängig davon, ob diese Medikamente für das Problem geeignet sind oder nicht. Da die Afghanen die Chance nicht genutzt haben, Projektvorschläge an die Geberländer zu stellen, wurde diese Lücke durch geschäftstüchtige Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Afghanistan in den ersten sieben Jahren nach 2003 gefüllt. Die Projekte, die durch die NRO in Afghanistan realisiert wurden, sind zum großen Teil Schulprojekte, die von der Kostenaufteilung ca. 20% der Gesamtmittel beansprucht haben. 80% der Mittel wurden für die eigenen Ausgaben der jeweiligen NRO ausgegeben. An diesem Beispiel wird eindrucksvoll sichtbar, warum Afghanistans Probleme bis heute nicht gelöst wurden. Vielmehr wachsen die Probleme täglich an. Von einer Kontinuität im afghanischen Städtewesen kann nicht gesprochen werden. Die Hauptstadt Kabul und andere Zentren leiden massiv unter der Luftverschmutzung und dem Mangel an Fachkräften. Die Probleme der Stadtentwicklung können ohne Impulse aus dem Ausland alleine nicht bewerkstelligt werden. Auch die kollektive Verantwortungslosigkeit der Entscheidungsträger Afghanistans ist ein Hindernis, das ein gesundes Wachstum der Städte behindert. Es bleibt zu hoffen, dass die im Juli 2012 auf der Tokio-Konferenz versprochenen 14 Milliarden US-Dollar sinnvoller als bisher ausgegeben werden. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 57 Geschichte der Gärten und ihrer Entwicklung in Afghanistan am Beispiel Kabul Baghe Babur Garten in Kabul Lizenz: cc by-nc-sa/2.0/ (bicylemark) Die Geschichte des Gartenbaus hat unmittelbar mit der Einführung des Islams in Afghanistan zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Im Koran wird sehr oft von "Baghe Behescht" (Garten des Paradieses) gesprochen. Aufgrund seiner geographischen Lage und der sauberen Luft wurde Kabul von einigen Herrschern aus Indien genutzt, um dort Sommerresidenzen zu errichten. Baghe Babor beispielsweise ist der bekannteste Garten in Kabul und spielt bis heute eine wichtige Rolle wenn es darum geht, das Land nach außen zu präsentieren. In diesem Jahr fand dort ein Kunstausstellung statt, die in Kooperation mit der Documenta entstand. Baghe Babor ist einer der wichtigsten Wiederaufbauprojekte. Dieser Garten ist sowohl für die Bevölkerung als auch für Stadtverwaltung Kabuls ein vielgenutzter Ort, sowohl an Wochenenden und Feiertagen oder für o.g. Veranstaltungen. Es gibt in Kabul nichts vergleichbares. Anhand des Gartenbaus lässt sich die hohe handwerkliche Entwicklung der Bevölkerung Afghanistans erkennen. Es wurden weit mehr als 200 Gärten von den Königen und Geschäftsleuten in Afghanistan gebaut. Die bekanntesten Gärten sind in der Zeit der mongolischen Könige angelegt worden. In der Zeit von Algh Bek (Herrschaft der Mongolen im 13. Jahrhundert) waren dies: Baghe Sharara (FrauenGarten), Baghe Nurzeiy (Name der Königin), Baghe Behesht (Garten des Paradieses), Baghe Khlwat (Garten der Ruhe), Baghe Nur (Garten des Lichtes), Baghe Maktab (Garten der Schule), Baghe Khiaban (Garten am Straßenkreuz), Baghe Babor (Garten des Königs), Baghe Nawab (Garten von Nawab (Ortsname). Die Gartenbaukunst in Afghanistan, insbesondere in den Großstädten wie Kabul, hat traditionell eine wichtige Bedeutung für die Gestaltung der Städte und trägt somit erheblich zur Interaktion in der afghanische Gesellschaft bei. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 58 Bedeutung der öffentliche Gartenanlage für die Bevölkerung In den Großstädten wie Kabul, Nangahar und Mazar-e- Scharif spielen die öffentlichen Gärten für die Bevölkerung als Kommunikationsplattform und Erholungszone an den Feiertagen eine sehr wichtige Rolle. Afghanistan ist aufgrund der klimatischen Bedingungen für die Bevölkerung in den Sommermonaten unerträglich heiß. Temperaturen bis zu 40 Grad Celsius sind während dieser Zeit alltäglich. Die Menschen suchen tagsüber unter den schattigen Bäumen Schutz. Die Gärten werden damit zu Begegnungsstätten für die Bevölkerung. Sie bieten allen Bevölkerungsgruppen einen Raum für Begegnung und Kommunikation. Als traditionelles Handwerk mit wichtiger Funktion darf der Gartenbau deshalb bei der zukünftigen Städtebauentwicklung Afghanistans auf keinen Fall vernachlässigt werden. Die meisten Gärten wurden durch den 25-jährigen Krieg völlig zerstört. Bisher wurde noch nicht einmal ein Bruchteil davon wieder aufgebaut. Anstatt der Gärten haben nun die Straßen an Bedeutung gewonnen. Eine Stadt wie Kabul, die aufgrund ihrer Kapazität vielleicht für 80.000 Fahrzeuge Platz bietet, muss nun den Anforderungen von Millionen von Fahrzeugen, die zum Teil nicht straßenverkehrstauglich sind, gerecht werden. Das Problem wird zwar von den Verantwortlichen registriert, aber bis heute nicht gelöst. Es gibt für die Großstädte Kabul, Herat, Mazare Scharif immer noch keine städtebaulichen Konzeptionen, in denen sich das Verhältnis von bebauten Flächen und Grünflächen ausgleicht. Es existieren keine aktuellen Bebauungspläne, die das Verhältnis von Nutzungsflächen von Wohnen, Gewerbe und Industrie zu definieren. Die Stadtverwaltung nutzt immer noch die Pläne der Russen aus der Sechziger Jahren. Der Wiederaufbau der öffentlichen Grünanlagen ist aber eine wichtige städtebauliche Aufgabe, die die Verantwortlichen möglichst schnell realisieren sollte, bevor die Städte wegen der zunehmenden weiter kollabieren und Kabul vollends im Chaos versinkt. Fußnoten 1. 2. 3. Vor dem Krieg hatte Kabul max. 500.000 Einwohner. Die Schätzung geht jetzt auf 4,5 Mio. Einwohner. http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Laender/ Afghanistan.html Der Autor ist seit 2003 regelmäßig in Afghanistan und hat zahlreiche Konzepte eingereicht. Näheres: "Über die Autoren" Der Autor ist seit 2003 regelmäßig vor Ort und bezieht sich auf eigene Erfahrungen. bpb.de Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015) 59 Redaktion 19.3.2013 Herausgeber Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn © 2013 Verantwortlich gemäß § 55 RStV: Thorsten Schilling Redaktion Matthias Jung Externe Redaktion Homeira Heidary Online-Dossier http://www.bpb.de/internationales/asien/afghanistan-das-zweite-gesicht/ Impressum Diensteanbieter gemäß § 5 Telemediengesetz (TMG) Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86 53113 Bonn [email protected] bpb.de
© Copyright 2025 ExpyDoc