Afghanistan - das zweite Gesicht - Bundeszentrale für politische

Dossier
Afghanistan - das
zweite Gesicht
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
2
Einleitung
Kriege und Konflikte überschatten die Geschichte Afghanistans, vor allem in jüngerer Zeit. Sie
dominieren auch die Berichterstattung über das Land, das aus deutscher Perspektive noch Anfang
des 20. Jahrhunderts ein nahezu weißer Fleck auf der Landkarte war (http://www.bpb.de/
internationales/asien/afghanistan/48614/deutschlands-engagement). Afghanistan hat aber weit mehr
zu bieten als den anhaltenden Terror der Taliban. Im bunten kulturellen Leben dominierte früher ein
gelebter Islam, der seine Stärke vor allem aus einer "Kultur der Ambiguität" zog: Viele Gelehrte sahen
den unterschiedlichen Islamauffassungen und -praxen gelassen entgegen und richteten sich dabei
nach der bekannten Tradition des Propheten Mohammed, dass der Dissens muslimischer
Gemeinschaft ein Zeichen der Gottesgnade sei. Im traditionellen Handwerk und der Musik zeigten
sich der Reichtum und Vielfalt der afghanischen Kultur besonders deutlich. Es ist ein anderes, zweites
Gesicht Afghanistans, das afghanische Autoren hier von ihrem Land zeichnen.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
3
Inhaltsverzeichnis
1.
Der Islam in Afghanistan
4
2.
Die afghanische Jugend zwischen Tradition und Moderne
9
3.
Zeitgenössische afghanische Kunst
18
4.
Die Rolle der Stämme
23
5.
Das traditionelle Handwerk Afghanistans
33
6.
Afghanische Diaspora und Brain Drain
40
7.
Die Stimme vom Hindukusch
49
8.
Landschaftsarchitektur und Siedlungsbau
54
9.
Redaktion
59
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
4
Der Islam in Afghanistan
Das öffentliche Bild Afghanistans
Von Abbas Poya
22.11.2012
Dr. Abbas Poya war Mitarbeiter am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), School of History. Seit Januar 2013 leitet er
die Forschungsgruppe "Norms, Normativity and Norm Changes” an der Universität Erlangen.
Islamischer Fundamentalismus, eine rückwärtsgewandte Religiosität und mittelalterliche Denkund Lebensweisen bestimmen häufig das Bild von Afghanistan. Dabei hat das Land mittlerweile
eine Verfassung, einen direkt gewählten Präsidenten und ein demokratisch gewähltes
Parlament. Trotzdem können sich bestimmte religiöse Kräfte über das Gesetz stellen. Wie groß
ist ihr Einfluss? Wie wird der Islam in Afghanistan verstanden?
Am 12. August 2012 musste ein beliebter afghanischer Sänger, Shafiq Monir, sein seit langem geplantes
Konzert in der Stadt Herat absagen. Grund war der Aufruf einiger Gelehrter der Stadt, allen voran der
des populären Predigers Sheikh Mojib ar-Rahman Ansari. Ansari wollte das Konzert verhindern, weil
er es für unmoralisch hielt. Dem Druck Ansaris und seiner Befürworter folgend, strichen die Behörden
das Konzert schließlich. Das ist nicht das erste und wird wohl auch nicht das letzte Mal sein, dass
bestimmte religiöse Kräfte in Afghanistan eine eigenwillige Interpretation des Islam vornehmen und
sie den anderen aufzwingen. Auch vielen Afghanen diente der Vorfall als Beleg dafür, warum
Afghanistan in der allgemeinen Wahrnehmung als ein rückschrittliches und vormodernes Land gilt.
Mit Afghanistan werden seit mittlerweile über dreißig Jahren islamischer Fundamentalismus,
rückwärtsgewandte Religiosität und mittelalterliche Denk- und Lebensweisen assoziiert. Es gilt als ein
Land, in dem es keine Spur von Zivilität und Zivilisation gibt. Viele können vielleicht den politischen
Anarchismus und die damit einhergehende religiös legitimierte bzw. motivierte Gewalt in der Zeit des
Bürgerkrieges bis Ende 2001 noch nachvollziehen; es herrschte letztlich überall im Land Krieg und es
gab keine souveräne Zentralregierung, die für Gesetz und Ordnung sorgen konnte. Inzwischen hat
Afghanistan eine mit viel Aufwand verabschiedete Verfassung, einen vom Volk direkt gewählten
Präsidenten und ein demokratisch gewähltes Parlament. Trotzdem können bestimmte religiöse Kräfte
sich über das Gesetz stellen, ihre Meinung der Politik aufzwingen und letzten Endes die Souveränität
des Staates sabotieren. Wie groß ist der Einfluss religiöser Akteure? Wie wird der Islam in Afghanistan
verstanden?
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
5
Religiöse Akteure
Religiöse Akteure und insbesondere die offiziellen Träger des Islam, die ‘olama’, haben in der politischen
Geschichte Afghanistans immer wieder eine weitreichende Rolle gespielt. Diese Tatsache geht nicht
zuletzt darauf zurück, dass sie im Prozess der Meinungsbildung und der politischen Orientierung vieler
Menschen ein wichtiger Faktor sind. Die politische Klasse ist stets darum bemüht gewesen, für ihre
Regierungsbeschlüsse und -praktiken die Zustimmung der ‘olama’ zu gewinnen. Die ‘olama’ wurden
aber andererseits oft für bestimmte Politiken, die im Grunde mit eindeutigen Anforderungen des Islam
nicht konform waren, benutzt. Amir Abdorrahman Khan (reg. 1881-1901), der sogenannte Eiserne
Emir, konnte seine nationalistische Unterdrückungspolitik beispielsweise im Namen des Islam
durchführen. Legitimiert durch Fatwas der ‘olama’ ging er erbarmungslos gegen religiöse und ethnische
Minderheiten vor. Unterstützt durch einige ‘olama’ ließ er sogar religiöse Stiftungen in Beschlag
nehmen. Dem als Reformkönig geltenden Amanullah (1919-1929) dagegen verweigerten die ‘olama’
ihre Unterstützung. So gelang es ihm nicht, liberale Reformen durchzusetzen.
Nach einer Europareise in Begleitung seiner freizügig gekleideten Frau teilte Amanullah der "Großen
Ratsversammlung" (Loya Jirga) seine Pläne zur Modernisierung des Landes mit. Dazu gehörten das
Verbot der Sklaverei, die Religions- und Meinungsfreiheit und die Schulpflicht für Mädchen. Die
religiösen Akteure, allen voran der einflussreiche Fazl Omar Mojaddadi, bekannt als Hazrat-e Shur
Bazar, lehnten die Reformmaßnahmen ab und bezeichneten sie als nicht islamisch. Der anschließende
Volksaufstand gegen Amanullahs Modernisierungsvorhaben führte letztlich zu seinem Sturz. Trotz
derartiger Einflussnahmen wurden ‘olama’ nicht als eine politische Größe, sondern als eine religiöse
Instanz angesehen. Die politisch zentrale Bedeutung, die den ‘olama’ in der Zeit des Widerstandes
gegen die sowjetische Usurpation und des damit einhergehenden Bürgerkrieges zukam, war allerdings
eine ganz neue Erscheinung, die das Selbstverständnis der ‘olama’ und ihr Bild in der Gesellschaft
völlig veränderte. Diese neue gesellschaftspolitische Position religiöser Akteure ist u.a. auf die
großzügigen finanziellen und militärischen Zuwendungen der Länder zurückzuführen, die die
Widerstands- bzw. Bürgerkriegsparteien unterstützten. Die Führung dieser Parteien war zumeist in
den Händen religiöser Akteure. Bald beanspruchten die ‘olama’, welche gewohnt religiöse Orientierung
der Menschen bestimmten, auch die politische Führung. Während sie vor Kriegsbeginn allgemein auf
die Gnade der politischen Klasse angewiesen waren, stellten sie während des Kriegs selbst die
politische Führung dar. Diese Rolle wollen sie auch unter der neuen politischen Ordnung weiter
ausüben, solange sie sich nicht als zivile sondern als religiös legitimierte politische Akteure verstehen.
Der gelebte Islam
Wie überall in der islamischen Welt zeichnet sich der Islam in Afghanistan durch eine Vielzahl von
heterogenen Prägungen und Eigenheiten aus. Noch vor Kriegsbeginn wurde diese "Kultur der
Ambiguität" im Alltag gelebt. Trotz aller Diskriminierung lebten auch nichtmuslimische Gemeinschaften
wie Sikhs, Hindus, Juden neben schiitischen und sunnitischen Muslimen. Viele Gelehrte sahen den
unterschiedlichen Islamauffassungen und -praxen gelassen entgegen und richteten sich dabei nach
der bekannten Tradition des Propheten, dass der Dissens muslimischer Gemeinschaft ein Zeichen
der Gottesgnade sei (ekhtelaf-o ommati rahma) – eine Tradition, die in der islamischen Geschichte
vielerorts jahrhundertelang praktiziert wurde. Dieser Usus kennzeichnete die sogenannte Blütezeit der
muslimischen Kultur (750-1250) mit ihren Zentren wie Bagdad, in denen sich Kunst, Wissenschaft und
Forschung glanzvoll entfalten konnten. Schon in der frühislamischen Zeit gab es ganz legitim
nebeneinander existierende divergente Lesarten des Korans und damit der Scharia. Diese Tatsache
hat bis zum Aufkommen des ideologisierten Islam im 19. Jahrhundert kaum jemanden in der
islamischen Welt gestört. Mehrdeutigkeit sprach nicht gegen eine göttliche Herkunft des Korans oder
der Scharia. Wer kann schon behaupten, die Scharia gänzlich zu erfassen? Als Gelehrte hatte man
lediglich den bescheidenen Anspruch, eine eigene Interpretation der Scharia zu präsentieren und nicht
die Scharia. Daher hat man die Meinung eines Gelehrten als Ergebnis seiner individuellen
wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Scharia, als seinen ijtihad verstanden und nicht als
"den einen wahren Islam". Dementsprechend haben auch die meisten Gelehrten in Afghanistan andere
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
6
Meinungen und Praktiken respektiert.
Darüber hinaus weist der Islam in Afghanistan mystische Züge auf. Bis zum Aufbruch des
Widerstandskampfes gegen die sowjetische Usurpation und des damit einhergehenden Bürgerkrieges
hielt der mystische Islam Distanz zur Politik und forderte gemäß seines Selbstverständnisses Toleranz
von den Menschen. Erst in der Kriegszeit mischte er sich zunehmend in die Politik ein und kämpfte
wie die anderen Strömungen um mehr politischen Einfluss.
Eine der wichtigsten Bruderschaften in Afghanistan stellt die Naqshbandeyya dar. Der Orden geht auf
Muhammad Bahaoddin an-Naqshbandi (gestorben 1389) zurück und hat sich zunächst in Zentralasien
verbreitet. In Afghanistan hat die Nashbandeyya vor allem unter den Tadschiken der Großstädte, aber
auch unter einigen paschtunischen Stämmen im Süden und Südosten ihre Anhänger. Ein weiterer
mystischer Orden in Afghanistan ist die Qadereyya. Der Begründer der ebenfalls einflussreichen
Bewegung, Abd al-Qader Gilani (gestorben 1166), stammte aus Bagdad. Zu Beginn des 20.
Jahrhunderts kam die Bruderschaft nach Afghanistan. Im Gegensatz zu diesen beiden Orden, die vor
allem in der Hauptstadt präsent waren, hatte der Chishteyya-Orden seine Anhängerschaft
insbesondere in und um Herat, im Westen des Landes. Die Chisteyya wurde von Moinoddin Muhammad
Chishti (gestorben 1236) gegründet und hat sich über die Grenzen des heutigen Afghanistans hinaus
vor allem auf dem indischen Subkontinent verbreitet.
Viele Menschen haben zwar die ‘olama’ als offizielle Träger des Islam betrachtet, sie hatten aber
gleichzeitig ihre Beziehungen zu mystischen Bruderschaften und pflegten in ihrem Alltagsleben deren
in der Regel offene Haltung, z.B. zur Musik oder zum Verkehr mit anderen religiösen Gruppen. Man
legte ebenfalls viel Wert auf große zumeist mystisch orientierte Dichter. Ihre Gedichte wurden als
Interpretation der koranischen Botschaft angesehen, ihre Einstellungen zum Leben und zur Welt
wurden besonders geschätzt. Man nahm die Aufforderungen von Hafez (1320-1389) "In diesen beiden
Ausdrücken liegt der Schlüssel zum Frieden im Diesseits und Jenseits" und "Übe den Freunden
gegenüber Großmut und den Feinden gegenüber Toleranz" genauso ernst wie die Botschaft von Saadi
(1190-1283):
"Die Kinder Adams sind aus einem Stoff gemacht
als Glieder eines Leibs von Gott, dem Herrn, erdacht
Sobald ein Leid geschieht nur einem dieser Glieder
dann klingt sein Schmerz sogleich in allen wider."
Auch die Gedichte von Maulana Jalaloddin Balkhi (1207-1273) haben einen großen Platz im
Alltagsleben der Menschen gehabt. Maulana sah die Liebe als Hauptkraft des Universums und das
Universum als ein harmonisches Ganzes. Sein kultureller Kontext prägte selbstverständlich seine
Vorstellungen von Gott, sein Gott kannte aber keine religiösen oder sonstigen Grenzen:
"Was soll ich tun, o ihr Muslime? Denn ich kenn' mich selber nicht
Weder Christ noch bin ich Jude, und auch Pars und Muslim nicht
Nicht von Osten, nicht von Westen, nicht vom Festland, nicht vom Meer
Nicht stamm' ich vom Schoß der Erde und nicht aus des Himmels Licht."
Noch mehr als Hafez und Maulana wird in Afghanistan der große mystische Dichter Abdolqader Bidel
Dehlavi (1645-1721) verehrt und gelesen. Er lebte und wirkte im Mogulreich und gehörte dem
Qadereyya-Orden an. Seine Gedichte wurden von vielen Afghanen wie Koranverse rezitiert. Man
beschäftigte sich mit ihm und seiner Philosophie in Lesungen und Diskussionsrunden. Eine Abendreihe
über ihn unter dem Shab-e Aschoqan Bidel ("Abend der Bewunderer von Bidel") ist vielen Afghanen
immer noch in Erinnerung geblieben. Der Meister der afghanischen klassischen Musik, Ostad
Muhammad Hosain Sarahang (1923-1982), war der bekannteste Interpret der Dichtung von Bidel und
sorgte mit seiner faszinierenden Stimme für die Omnipräsenz von Bidels Gedanken im Alltag vieler
afghanischer Familien. Bidel wird als Anhänger einer gewissen pantheistischen Philosophie Vahdat
al-vojud ("Einheit der Existenz") bezeichnet, der in dem als sehr komplex angesehenen Indischen
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
7
Dichtungsstil dichtete. Indem er diese komplexe Ausdrucksweise pflegte, machte er doch die Ambiguität
des Seins deutlich.
"Solange die Einzelnen nicht zueinanderfinden, kann keine Gemeinschaft existieren."
"Eine Ähre ist keine, wenn die Körner nicht zusammenwachsen."
Die Kriegszeit
Krieg wurde in vielen Fällen der Religion halber geführt. So spricht man in der Geschichtswissenschaft
vom "Religionskrieg" oder "Glaubenskrieg" oder auch vom "Konfessionskrieg". Krieg verändert
gleichzeitig den Zugang zur Religion und deren Textgrundlagen. In der Kriegssituation duldet man
keine Dissidenten und keinen Zweifel an eigenen, eindeutig formulierten und für absolut richtig
gehaltenen Zielen. Auch die Religion soll im Dienste des Krieges und der mit ihm einhergehenden
Gewalterscheinungen stehen und sie legitimieren. Auf diese Weise entsteht religiöser
Fundamentalismus. So entstand er in der Geschichte des Christentums und so erschien er in der
islamischen Geschichte. Der über dreißig Jahre andauernde Kriegszustand in Afghanistan hat kaum
Platz fürs Weiterbestehen einer Kultur der Pluralität und Toleranz übrig gelassen. Vielmehr setzte sich
ein einseitiges, für eindeutig gehaltenes und damit fundamentalistisches Verständnis des Islam durch.
Bereits im "Jahrzehnt der Verfassung" (daha-ye qanun-e asasi) 1963-1973 haben sich vor allem in
Kabul kleine islamistische Kreise gebildet. Ihr vordergründiges Anliegen war die Bekämpfung von
marxistisch orientierten Gruppen, die über eine beachtliche Anhängerschaft unter den Studenten
verfügten. Sie bezeichneten sich teils als "Jungmuslime" (javanan-e mosalman) und teils als
"Islamische Gemeinschaft" (jameyyat-e islami) und wurden hauptsächlich von Persönlichkeiten
geführt, die an der Al-Azhar-Universität in Kairo ausgebildet worden waren und mit dem Gedankengut
der "Muslimbrüder" (ekhvan al-moslemin) vertraut waren. Zu den Führungskadern dieser Gruppen
gehörten die Dozenten Gholam Muhammd Neyazi (gest. 1978) und Borhanoddin Rabbani (1940-2011)
und die Studenten Golboddin Hekmatyar (geb. 1947) und Ahmad Shah Massud (1951-2001).
Die drei Letzteren führten später nicht nur die wichtigsten Widerstandsparteien gegen die sowjetischen
Truppen, sie lieferten sich auch gegenseitig blutige Kämpfe, die nach dem Rückzug der sowjetischen
Armee noch erbitterter weitergeführt wurden. Die Logik des Krieges hat sich mit der Zeit fast aller
religiösen Akteure und der mystischen Bruderschaften bemächtigt. Die herausragende Figur des
Naqshbandeyya-Ordens Sebghatollah Mojaddadi (geb. 1925) mit seiner Partei Nationale Rettungsfront
und der geistliche Führer des Qadereyya-Ordens Pir Sayyed Ahmad Gailani (geb. 1932) mit seiner
Organisation Nationale Islamische Front und die Chishteyya-Bewegung in der Herat-Region waren
nicht nur an dem Widerstandskampf beteiligt, sondern auch an den schmutzigen Brüderkriegen der
Mujahidin. Die intellektuelle Nahrung der Gruppen waren nicht mehr und konnten auch nicht mehr die
Gedichte von Maulana oder Bidel sein, sondern die Gedanken von den fundamentalistischen
Vordenkern Sayyid Qutb (1906-1966) und Abu Ala Maududi (1903-1979). Die großzügigen finanziellen
und militärischen Mittel, die die Kriegsparteien über Jahrzehnte erhielten, begünstigten und verfestigten
die fundamentalistische Auffassung des Islam umso mehr. Fundamentalismus war schließlich der
Marktrenner.
Trotz einer einigermaßen demokratisch gewählten und halbwegs funktionierenden Zentralregierung
herrscht weiterhin der Kriegszustand in Afghanistan und in den Köpfen einiger religiöser Akteure. Viele
Menschen, insbesondere viele junge Männer und Frauen in den Großstädten, wollen dennoch zu
einem normalen Leben zurückfinden. Geschäfte, wissenschaftliche Tätigkeiten, künstlerische
Aktivitäten und literarisches Schaffen kehren in den Lebensalltag zurück und damit auch eine Kultur
der Vielfalt. Wenn man einen Augenblick die kriegerischen Momente, die ebenfalls zum Alltag der
Menschen gehören, ausblendet, spürt man in Kabul, in Herat, in Kandahar und in Mazar einen Hauch,
einen sehr dünnen Hauch vom Bagdad des 10. Jahrhunderts voller Tüchtigkeit und Pluralität.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
8
Ausgewählte Literatur
Anderson, Ewan W. (ed.): The cultural basis of Afghan nationalism, London 1990
Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011
Farhang, Mir Mohammad Sadiq: Afghanestan dar panj qarn-e akhir (Afghanistan in den letzten fünf
Jahrhunderten), Qom 1992
Ghobar, Mir Gholam Mohammad: Afghanestan dar masir-e tarikh (Afghanistan im Laufe der
Geschichte), Qom 1980
Grevemeyer, Jan-Heeren: Afghanistan: sozialer Wandel und Staat im 20. Jahrhundert, Berlin 1990
Kateb-e Hazara, Faiz Mohammad: Seraj al-tavarikh, 4 Volume, Teheran 1991 / Kabul 2011
Poya, Abbas: Afghanistan, in: Werner Ende & Udo Steinbach (Hrsg.), Islam in the World Today. A
Handbook of Politics, Religion, Culture, and Society, Cornell University Press 2010, S. 256-269.
Poya, Abbas: Perspektiven zivilgesellschaftlicher Strukturen in Afghanistan. Ethische Neutralität,
ethnische Parität und Frauenrechte in der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan, in: Orient
44/2003, S. 367-384.
Rasanayagam, Angelo: Afghanistan: a modern history; monarchy, despotism or democracy? The
problems of governance in the Muslim tradition, London 2003
Saikal, Amin: Modern Afghanistan. A history of struggle and survival, London 2006
Schetter, Conrad: Kleine Geschichte Afghanistans, München 2004
Schetter, Conrad: Ethnizität und ethnische Konflikte in Afghanistan, Berlin 2003
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
9
Die afghanische Jugend zwischen
Tradition und Moderne
Von Sayed Asef Hossaini
21.1.2013
ist Doktorand an der "Willy Brandt School of Public Policy" in Erfurt. Er studierte an der Kabuler Universität Philosophie und Soziologie
und an der "Willy Brandt School of Public Policy" Public Policy. Während seines Studiums in Kabul war er politisch aktiv als Vorsitzender
einer Studentenbewegung.
In ländlichen afghanischen Gebieten herrscht nach wie vor das Patriarchat, Vater und Großvater
entscheiden in allen wichtigen Angelegenheiten. Insbesondere die Mädchen sind bei der
Ausbildung, Heirat und der Ausübung eines Berufes vom positiven Votum ihrer Väter abhängig.
Afghanische Jugendliche beim 3. "Go Skateboarding Day" am 21. Juni 2011 in Kabul. (© picture-alliance/dpa)
Der ehemalige Vorsitzende des "Afghanischen Friedensrates", Burhanuddin Rabbani, warnte am 1.
März 2011, nur einige Monate vor seiner Ermordung, in einer öffentlichen Rede vor den
Stammesführern und afghanischen Geistlichen davor, dass "die junge Facebook- und
Internetgeneration die Führung der Gesellschaft und die künftige Entwicklung" übernimmt.[1] Rabbani
war der erste und hochrangigste politisch-religiöse Führer, der klar und deutlich seine Sorge vor der
Moderne zum Ausdruck brachte. Er wurde am 20. September 2011 nicht durch die "junge FacebookGeneration", sondern von seinen traditionsorientierten Mitdenkern, den Taliban, getötet.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
10
Warum fürchten sich die traditions- und religionsorientierten Anführer vor der Moderne? Sind ihre
Befürchtungen ernstzunehmen? Wer sind die wichtigsten Akteure und Befürworter der Moderne in
Afghanistan?
Tradition, Moderne und Modernisierung
Modernisierung wird meist mit der Industrialisierung in Verbindung gebracht und wird nach Elwell
folgendermaßen definiert: Ein Prozess, der eine allgemeine gesellschaftliche Veränderung mit sich
bringt, durch die Umwandlung der landwirtschaftlichen in die industrielle Produktion. Die kulturelle
Komponente, die durch diese Entwicklung entstanden ist, wird als Moderne bezeichnet. Die wichtigsten
Elemente der Modernisierung sind Aufklärung, Rationalität, Säkularisierung, liberale Demokratie,
moderne Wissenschaft, technologische Innovation u.v.m. (Chirot,1986; Harrison, 1988; So, 1990;
Giddens et al., 1994; Hall et al., 1996 and Kyong-Dong, 2005).
Wir müssen zunächst zwischen den Begriffen "Tradition" und "Gewohnheiten und Sitten"
unterscheiden. Tradition ist ein weiter Begriff, der Gegenstände, Anschauungen, Sitten und
unterschiedliche Institutionen erfasst. "Gewohnheiten und Sitten" sind nur ein Teil der Tradition.[2] Mit
anderen Worten umfasst die Tradition "alles, was von der Vergangenheit in die Gegenwart transferiert
und übernommen worden ist".[3] Die Begriffe "Tradition" und "Gewohnheit" lassen sich in der
afghanischen Sprache nur schwer unterscheiden. Beides wird unter "an-anah" (Überliefertes)
subsumiert, obwohl "an-anah" eigentlich nur Gewohnheiten und Sitten umfasst, die eine Gesellschaft
oder Volk von der Vergangenheit geerbt hat.
Ähnlich dieser Beschreibung definiert auch Karl Deutsch (1961) den Übergang zur Moderne als einen
"Prozess der sozialen Mobilisierung". Er definiert die Modernisierung so: "Es ist ein Prozess, in dem
sich eine Reihe von großen alten sozialen, wirtschaftlichen und psychischen Verpflichtungen verändern
oder zusammenbrechen und die Menschen sich für neue Sozialisations- und Verhaltensmuster
vorbereiten."[4]
Um Tradition und Moderne in Afghanistan zu untersuchen, lässt sich die afghanische Zeitgeschichte
in drei Epochen einteilen: Die erste Phase beginnt 1919 und endet 1929; Die zweite Phase ist der
Zeitraum zwischen 1929 und 1978, und die dritte Phase umfasst die Zeit zwischen 1978 bis 2001.[5]
Die erste ernstzunehmende Wende zum Modernisierung und zur Moderne begann in Afghanistan
unter der Regierung von König Amanullah Khan. Er begann in den 1920er Jahren mit vielseitigen
Reformen wie zum Beispiel einer Steuerreform, einer Landwirtschaftsreform, Bildungsreform und
Emanzipation für Frauen, d.h Kopftuchverbot, und dem Verbot der Sklaverei. Seine Politik war von
der Modernisierung in Europa beeinflusst. Nach dem ersten Weltkrieg wurde hier die "alte Weltordnung"
geändert und das österreichische, ungarische, russische, deutsche und ottomanische Imperium
kollabierte. Obwohl die Reformen Amanullahs relativ zeitgleich zu den Reformen im Iran und der Türkei
durchgeführt worden sind, blieben sie ohne Erfolg. Verglichen mit der Dauer der Reformen in der
Türkei, die von 1924 bis zum Tod Kemal Atatürks 1938 andauerten und Reza Shah´s Herrschaft im
Iran (1926-1941), war der Zeitraum von Amanullahs Bestrebunge aber kürzer (1919-1929).
Entgegen der herrschenden Meinung wurden die ersten Reformen Amanullahs (1919-1924) nicht von
der afghanischen Bevölkerung abgelehnt, sondern rasch von den Menschen akzeptiert. Das Gros der
Bevölkerung befürchtete großen Widerstand gegen die neuen Ideen. Daher war die anfängliche
Bereitschaft diese anzunehmen, überraschend. Mir Ghulam Mohammad Ghobar 1897-1978), ein
afghanischer Historiker und Politologe, schreibt in seinem Buch "Afghanistan im Laufe der Geschichte"
(Afghanistan Dar Masire Tarikh):
"Die Menschen in Afghanistan, die einen Fortschritt wollten, haben ernsthaft mit dem Staat
zusammengearbeitet und haben alle Reformen begrüßt, so wie sie während des anglo-afghanischen
Krieges mit ihrem Leben und ihrem Besitz für den Staat einstanden. Sie setzten sich für die Förderung
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
11
des neuen Bildungssystems ein und akzeptierten die Steuererhöhung, die für diese Reform genutzt
werden sollte. Sie beteiligten sich freiwillig am Ausbau der Infrastruktur und unterstützten die moderne
Industrie und das demokratische System."
"Die Afghanen suchten ernsthaft den Fortschritt. Sie unterstützen die Politik der Regierung und
befürworteten in der Tat die neuen Reformen. Genauso wie sie im Krieg gegen England ihr Leben und
Gut eingesetzt hatten, unterstützen sie auch diese Maßnahmen. Um die moderne Bildung zu fördern,
akzeptierten sie eine Zusatzsteuer (einige Peyssehs je Rupie) als "Bildungsbeitrag". Die Bevölkerung
unterstützte freiwillig den Ausbau von Straßen, die moderne Industrie und das demokratische System."
[6]
Amanullah träumte nicht nur von einem modernen Afghanistan, sondern auch von einem modernen
Islam. Er wollte mit seinen gesellschaftlichen Reformen eine Führungsrolle in der islamischen Welt
übernehmen. Dennoch führten die Reformen in ihrer zweiten Phase ab 1927 in eine Sackgasse.
Ghobar betont in seinem Buch, dass die Afghanen zu keiner Zeit einen Aufstand gegen Zivilisation
und Kultur unternommen haben. Die Menschen bauten (trotz einer durch den England-Krieg
einsetzenden Armut) unter Amanullah Straßen und Schulen; sie spendeten für den Ausbau der Bildung
und nahmen höhere Steuern in Kauf.[7]
Ghobar führt den Fehlschlag der Reformen auf "Missstände in der öffentlichen Verwaltung und
Korruption" zurück. Auch habe der ausländische Feind die Unzufriedenheit der Bevölkerung für seine
Interessen genutzt.[8] Es scheint aber, dass die rasante Durchsetzung mancher Reformmaßnahmen
Ursache für diesen Fehlschlag war, worunter vor allem die Reform der Frauenrechte zählt. Amanullah
wollte die Polygamie abschaffen, die Höhe der "Morgengabe" begrenzen, "Kinderverlobungen"
verbieten. Insbesondere wollte er jene Sitte abschaffen, nach der bei Auseinandersetzungen anstatt
"Blutgeld" ein Mädchen zur Wiedergutmachung angeboten wurde. Diese Reformen, begleitet von einer
Landreform führten zur Konfrontation mit Paschtunen-Stämmen, die sozusagen für "Gold, Frau und
Boden" (Zar, Zan, Zamin) Krieg führen. Sie fühlten sich in ihrer Tradition zu sehr beschnitten.[9]
Nach den Modernisierungsplänen von Amanullah Khan, der die Tradition durch moderne Werte
ersetzen wollte, gab es keine ernsthaften Modernisierungsschritte mehr. Obwohl Thomas Barfield, ein
Anthropologe an der Boston Universität, die Meinung vertritt, dass die afghanischen Regierungen im
20. Jahrhundert die Modernisierung des Landes angestrebt haben, ist festzustellen, dass nach dem
Sturz Amanullahs 1929 bis 1978 kein westlicher Modernisierungsschritt von Erfolg gekrönt war. Grund
dafür war, dass die "Tradition" als wichtigstes Element der "Nation Building" in Afghanistan am meisten
berücksichtigt und betont wurde. Zusätzlich unter der Annahme, dass die Reformen Amanullahs wegen
ihrer Konfrontation mit der Tradition, insbesondere mit "Pashtunwali" (Verhaltenskodex der
Paschtunen) und wegen der ablehnenden Haltung der Paschtunen erfolglos blieben, unterließen die
Regierungen nach Amanullah jeden neuen Versuch, sich mit der Tradition anzulegen.
Der 2. Modernisierungsversuch wurde in den 1970er Jahren von Mohammad Daud Khan und danach
in den 1980er Jahren von der "Volksdemokratischen Partei" (PDPA) unternommen. Die PDPA ging
bewusst oder unbewusst jenen Weg, der zum Sturz Amanullahs geführt hatte.[10] Der Punkt an dem
Amanullah letzendlich scheiterte war, als die Kleriker seine Reformen als islamfeindlich titulierten. Das
führte zu seinem Sturz im Jahr 1929. Die Modernisierung, die ein halbes Jahrhundert nur eine städtische
Erscheinung geblieben war, wurde erneut in radikaler Form auf die Tagesordnung gesetzt und erlebte
erneut mit dem Sturz des kommunistischen Regimes 1991 eine Niederlage.[11]
Nach dem Kollaps des kommunistischen Regimes 1992 haben islamistische Mujahedin Gruppierungen
die Macht an sich gerissen und später dann die Taliban. Seit den Neunzigern kamen die
Modernisierungsbestrebungen ins Stocken. Seit 2001 gibt es wieder Bemühungen und Schritte in
Richtung Fortschritt, obwohl die politische und wirtschaftliche Macht in großen Teilen noch in den
Händen der traditionellen Führer liegt.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
12
Die traditionsorientierten politischen Systeme Afghanistans (insbesondere die königlichen Regime)
haben immer die "Tradition" und die traditionellen Führer für den Fortbestand ihrer Macht
instrumentalisiert. Die "Loya Jirga" ist immer noch das stärkste "Legitimationsorgan" des modernen
afghanischen Staatsapparats, obwohl es auch gesetzgebende Organe wie Parlament und Senat gibt.
Die Loya Jirga ist eine nationale große Ratsversammlung, bei der sich traditionelle und lokale Führer
sowie Geistliche, die als einflussreich gelten, versammeln und Entscheidungen für das Land treffen.
Basierend auf den vorherigen Definitionen von Moderne und Tradition ist festzuhalten, dass der
Übergang zur Modernität in einer Gesellschaft mit einem Wandel des "sozialen Verhaltens" bzw. des
"Wertesystems" einhergeht. Mit anderen Worten geschieht der Wandel von der "Tradition" zur
"Moderne" auf zwei Ebenen: "Wandel der Institutionen" und des "Wertesystems", d.h. der
"Verhaltensmuster".
Die afghanische Jugend zwischen Tradition und Moderne
Die Lage der afghanischen Jugend lässt im Übergangsprozess von der Tradition zur Moderne in zwei
"Gerüsten" analysieren. Diese sind: "Institutionen" und "Wertesysteme". Afghanistan ist eine junge
Gesellschaft. Nach Angaben des "Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen" (UNDP) sind ca.
68% der Menschen jünger als 25 Jahre. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt aber nur rund
44 Jahre.[12]
Das neue soziale und politische Klima in Afghanistan nach dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 gab
der Jugend neue Möglichkeiten in die Hand, so dass Sie mit neuen Instrumenten "Tradition" und
"Moderne" begegnen konnte. Sie hatte durch Stipendien die Möglichkeit ins Ausland zu reisen, Zugang
zu Internet, Büchern, Fernsehen und Telekommunikationsoptionen. Die afghanische Jugend lässt sich
generell in zwei Kategorien einteilen: Städtische und ländliche Jugend. Die städtische Jugend lebt
hauptsächlich in den fünf großen Städten Kabul, Mazare Sharif, Herat, Kandahar und Jalalabad.
Dagegen lebt der größere Teil in ländlichen Dörfern. Die neuen Möglichkeiten haben mehr oder weniger
beide Bevölkerungsgruppen beeinflusst.
Die Jugend auf dem Land
In der ländlichen Gegend sind noch die traditionellen Institutionen und Wertesysteme stark. In den
Dörfern bestimmen vor allem zwei Institutionen das soziale Verhalten: Die "Religion" und der
"Ältestenrat". Die Vertreter dieser Institutionen üben gleichzeitig ihren Einfluss auf andere sozialen
Organisationen und Gruppen aus, und so werden Schulen, Bazar und familiäre Verhältnisse von ihren
Entscheidungen geprägt. Die auf dem Land lebende Jugend hat de facto kaum Möglichkeiten dem
Zwang des "an-anat" (Wertesystems) zu entkommen. Traditionelle Institutionen prägen ihr soziales
Verhalten. Junge Menschen müssen sogar den Zeitpunkt ihrer Heirat mit diesen traditionellen Organen
abstimmen.
Die Kleriker repräsentieren aber nicht nur ein altes Wertesystem, sondern haben auch die Möglichkeit
(je nach Erfordernissen der Zeit) neue Werte zu proklamieren, um in ihrem Einflussbereich neue
Verhaltensweisen zu erzeugen. Dabei wird der neue Wert in das System der "an-anat" aufgenommen,
um das neue Verhalten zu legitimieren. Mit anderen Worten werden unter den afghanischen
Dorfbewohnern ständig Traditionen "reproduziert". Dies ist das, was Eric Hobsbawm[13] (1983)
"Erfindung der Tradition" (Invention of tradition) nennt. Hobsbawm zufolge bedeutet die "Erfundene
Tradition meint ein Bündel von Praktiken ritueller oder symbolischer Natur, die gewöhnlich von offen
oder stillschweigend anerkannten Regeln bestimmt werden. Sie strebt danach, bestimmte Werte und
Normen des Verhaltens durch Wiederholung einzuimpfen, was automatisch den Eindruck einer
Kontinuität der Vergangenheit erweckt. Tatsächlich aber wird versucht, wo immer das möglich ist, den
Anschluss an eine möglichst brauchbare Vergangenheit zu konstruieren.”[14]
Man hat in manchen afghanischen Dörfern sogar die Beobachtung gemacht, dass traditionelle Führer
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
13
moderne technische Möglichkeiten wie Fernseher und Satelliten-Anlagen abgelehnt haben. Die
Kleriker besitzen also die "Macht etwas zu definieren", so dass sie mit der Definition eines Phänomens
Dinge akzeptieren oder verurteilen. Zum Beispiel kann ein Mullah ganz einfach die Satelliten-Anlagen
als "religiöses Verbot" einstufen. Dies reicht aus, um den Kauf, Verkauf , Besitz und Nutzung solcher
Anlagen als Verstoß gegen das "Wertesystem" zu deklarieren. Genauso können Mullahs bestimmen,
dass die Weigerung der Verheiratung von minderjährigen Mädchen gegen die "an-anat" sei. Dadurch
werden Familien gezwungen ihre Mädchen bereits im Kindesalter zu verheiraten. Wer sich gegen die
Verbote auflehnt, hat mit Sanktionen und gesellschaftlichen Ausschluss zu rechnen.
"An-anat" sind also eher ungeschriebene und unklare Verhaltensvorschriften, die von religiösen
Führern definiert und redefiniert werden. Wie Gusfieldes [15]ausdrückt, greifen die Akteure zur
Legitimierung ihres jetzigen Verhaltens auf Traditionen zurück. Gusfield schreibt: "Menschen greifen
auf die Vergangenheit als Tradition zurück, um ihre jetzigen Handlungen auf eine legitime Grundlage
zu stellen. Dabei wird die Tradition zu einer Ideologie und einem Programm für die Handlungen und
funktioniert als ein Ziel oder Legitimationsmittel."[16]
In der ländlichen afghanischen Gesellschaft basiert soziales Verhalten noch auf traditionellen
Abmachungen wie dem Patriarchat. Das Patriarchat hat neben anderen anerkannten traditionellen
Institutionen der Gesellschaft einen direkten und mächtigen Einfluss auf die Jugend. Das Patriarchat
besitzt eine innere hierarchische Rangordnung, so dass mehrere Generationen (Sohn, Vater und
Großvater) unter einem Dach zusammenleben, wobei der Großvater der Mächtigste von allen ist.
Junge Menschen können nicht alleine entscheiden, sondern können ihre Wünsche nur vorbringen.
Die eigentlichen Entscheidungsträger sind dann Vater und Großvater. Insbesondere die Mädchen sind
bei der Ausbildung, Heirat und der Ausübung eines Berufes vom positiven Votum der Väter abhängig.
Städtische Jugend
In afghanischen Städten scheint der Kampf zwischen "Tradition" und "Moderne" viel heftiger
ausgetragen zu werden. Traditionelle Organe, die in Dörfern eine konkurrenzlose Macht ausüben,
werden in urbanen Zentren ständig von der "Moderne" herausgefordert. In den Städten haben zwei
synchrone Erscheinungen stattgefunden: Wandel der Institutionen und des Wertesystems.
Die neue afghanische Gesellschaft (Post-Taliban) ist stärker denn je zu einer Basis und Grundlage für
das "Modernisierungstraining" geworden. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1974) ist der
Ansicht, dass ein politisches System nach dem Modell einer westlichen Demokratie mit der Moderne
kompatibel ist.[17]
Das neue politische System und die modernen Kommunikationsmöglichkeiten führten dazu, dass die
afghanische Jugend sich sehr leicht mit anderen Werten bekannt machen konnte. TV-Sender, Handys,
Internet, soziale Netze, virtuelle Dialoge, Bücher und Auslandsreisen sind ein Teil der Möglichkeiten,
die die städtische afghanische Jugend im neuen System kennengelernt hat.
In der urbanen afghanischen Gesellschaft sind staatliche Einrichtungen und traditionelle Führer nicht
die einzigen zivilgesellschaftlichen Institutionen. Daneben entstanden nach dem Sturz der Taliban zum
ersten Mal in Afghanistan auch zivilgesellschaftliche Einrichtungen, die allmählich immer stärker
wurden und der Tradition Einhalt gebieten konnten. Obwohl diese Einrichtungen nicht die traditionellen
Institutionen ersetzen konnten, haben sie wenigstens [18]die "Wahlmöglichkeit" (range of alternatives)
erweitert. Der Stiftung für Kultur und Zivilgesellschaft (FCCS- Foundation for Culture and Civil Society)
zufolge, waren 2010 rund 2918 zivilgesellschaftliche Organisationen in allen Provinzen des Landes
aktiv.
Organisationen für den Schutz von Frauenrechten, Jugendorganisationen, Literaturkreise,
Intellektuellen-Vereine und Studentenverbände sind einige dieser Einrichtungen, welche die Macht
der traditionellen Institutionen etwas zurückdrängen. Die Organisation Young Women for Change
(Junge Frauen für Wandel) setzt sich gegen Gewalt gegen Frauen ein und kämpft gegen das Patriarchat
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
14
in der afghanischen Gesellschaft. Mit Demonstrationen und Kampagnen im Internet versucht die
Organisation die traditionelle Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft[19] zu verändern.
Trotzdem nutzen die Vertreter der Tradition in den Städten Moscheen und gelegentlich staatliche
Stellen, um auf die Gesellschaft und Jugend Einfluss zu nehmen.
In Justizangelegenheiten sind es nicht mehr nur staatliche Stellen und Mullahs, welche Einfluss
nehmen, sondern es treten auch zivilgesellschaftliche Organisationen auf die Bühne. Beispielsweise
wurden 2005 zwei Studenten in Herat der "Apostasie" bezichtigt. Dagegen protestierten
zivilgesellschaftliche Organisationen insbesondere die "Bewegung Afghanischer Studenten", so dass
die beiden Studenten der Todesstrafe entkommen konnten.
Neben der Entstehung von modernen Institutionen haben sich auch moderne Wertorientierungen
entwickelt. Die afghanische Jugend lernte durch den Zugang zu Informationen aus dem Ausland neue
Wertvorstellungen wie Menschenrechte, individuelle Freiheit, Meinungsfreiheit, Frauenrechte,
Kinderrechte und Toleranz kennen. Hinzu kommt, dass neue Wertorientierungen auch die "
Gesellschaftsverträge" beeinflusst haben. In den Städten gelten nicht mehr "einseitige patriarchale
Verträge", vielmehr haben Wirtschaft und Kultur modernere soziale Vertragsformen auf den Weg
gebracht. Ein in Kabul lebender berufstätiger junger Mann, der seine Familie versorgen muss, kann
auch weitgehend selbst Entscheidungen treffen.
Es gibt in den Städten auch junge Menschen, die auf der Suche nach einer neuen und unabhängigen
Identität sind. Diese haben bewusst oder unbewusst den "Liberalismus" zu einen modernen Wert
erklärt und praktizieren ihn. Beispielsweise haben junge Mitglieder eines Literaturkreises in Mazare
Sharif sich Nachnamen zugelegt, obwohl es in Afghanistan nicht üblich ist, einen Nachnamen zu tragen.
Stattdessen wird in Urkunden der Name des Vaters eingetragen. Dichter und Publizisten wählen aber
unabhängig von ihren Vätern und den traditionellen Institutionen einen Nachnamen, auch wenn dieser
in amtlichen Dokumenten nicht auftaucht.
Neben wirtschaftlichen Faktoren, die das Patriarchat in Städten geschwächt haben, haben auch private
afghanische Medien durch die Verbreitung einer modernen Kultur neue Wertorientierungen in die
Familien hineingetragen. Viele Medien bieten Inhalte an, die die Nutzer mit modernen Werten
konfrontieren, und tragen dazu bei, dass die Menschen sich weitgehend nicht mehr an "an-anat
" orientieren. "An-anat" sind in der afghanischen Gesellschaft "heilig". Da sowohl Religion als auch
nicht-religiöse Sitten unter dem Schirm der "an-anat" stehen, werden sogar nicht-religiöse
Gewohnheiten für heilig erklärt. Somit wird jedes Antasten dieser Gewohnheiten als Angriff und
Beleidigung der Religion verstanden und kann gefährlich werden. Beispielsweise hat eine Studentin
in Mazare Sharif als Vegetarierin mit ihren Kommilitonen über die Nachteile des Fleischkonsums
diskutiert. Dies rief heftige Widersprüche unter einigen religiösen Kommilitonen hervor. Diese jungen
Menschen sagten ihr: "Gott hat den Fleischkonsum und Tieropfer erlaubt". Das ganze eskalierte und
führte dazu, dass die Studentin von ihren Kommilitonen der Apostasie bezichtigt wurde.
Fälle wie dieser zeigen, dass der Traditionalismus nicht nur eine Eingenart der älteren Generation der
Afghanen ist. Auch ein Teil der Jugend scheint traditionsorientiert und neuen Ideen und Interpretationen
des Islam gegenüber skeptisch zu sein.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
15
Fazit
Die städtische afghanische Jugend besitzt gute Instrumente und Möglichkeiten, um den Übergang
von der Tradition in die Moderne zu bewältigen. In den urbanen Zentren ersetzen allmählich moderne
Institutionen und Wertvorstellungen die traditionellen Einrichtungen und Werte. Diese Transformation
wird aber gelegentlich von schweren Spannungen begleitet.
Massenmedien, Internet, virtuelle soziale Netze, das Erlernen von Fremdsprachen und Buchlektüre
sind Faktoren, die der Jugend geholfen haben, die Außenwelt Afghanistans zu kennen und moderne
Werte anzunehmen. Der ITU (International Telecommunication Union) zufolge gab es 2012 ca 1,5
Millionen Internet- User in Afghanistan.[20]Die Jugend ist bemüht, sich von der Tradition als einem "
Heiligen Tabu" und "absoluter Entscheidungsinstanz" zu entfernen.
In ländlichen afghanischen Gebieten herrschen nach wie vor – aufgrund mangelnder Kommunikation
und wirtschaftlicher, politischer und sozialer Entwicklungen – die traditionellen Institutionen. Die
Vorherrschaft der Tradition macht sich hier auf allen Ebenen des Lebens der Jugend bemerkbar. Der
noch gültige "Gesellschaftsvertrag" ist hier das "Patriarchat". Dagegen gelten in den Städten auch
andere "Gesellschaftsverträge", die das Patriarchat teilweise zurückgedrängt haben.
Bibiliographie
Barfield, T. (2010). Afghanistan; A Cultural and Political History. Princeton: Princeton University Press.
Eric Hobsbawm, Terence Ranger. (1983). The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge University
Press.
Gusfield, J. R. (1967). Tradition and Modernity: Misplace Politics in the Study of Social Change.
American Journal of Sociology , 72 (4), 351-362.
Kyong-Dong, K. (2005). Modernization as a Politico-Cultural Response and Modernity as a Cultural
Mixture: An Alternative view of Korean Modernization. DEVELOPMENT AND SOCIETY , 1-24.
Moten, A. R. (2011). Modernity, tradition and modernity in tradition in Muslim societies. Intellectual
Discourse , 1-13.
Rabbani, B. (2011, 03). Youtube. Retrieved 06 03, 2012, from Youtube: http://www.youtube.com/watch?
v=XrubUFmKPKI
Shils, E. (1981). Tradition. Chicago: University of Chicago Press.
Sirat, H. (2012, 04 15). Afghanistan. Retrieved 06 10, 2012, from Deutsche Welle Dari: http://www.dw.
de/dw/article/0,,15883599,00.html
UNDP. (2010). United Nations Development Programme Annual Report 2010. UN.
Winter, Elisabeth. (2010). Civil Society Development in Afghanistan. NGPA, London School of
Economics.
, . . (1374).
bpb.de
(Vol.
).
:
.
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
16
Zitationen
"Amanullah was keen to discourage plural marriages, restrict marriage payments, ban child
engagement, and end the custom of setting blood feuds by an exchange of women….Pashtuns
famously proclaimed that they fought for only three things, zar, zan, and zamin (gold, women and land).
Barfield, 2010, p.185
"Tradition includes material objects, beliefs, images, practices and institutions". (Moten, 2011)
Tradition "is anything which is transmitted or handed down from the past to the present". (Shils, 1981)
"Modern generally means a national state characterized by a complex of traits including urbanization,
extensive mechanization, high rate of social mobility and the like" (Moten, 2011, p.2)
"The process in which major clusters of old social, economic and psychological commitments are
eroded or broken and people become available for new patterns of socialization and behaviour" (Moten,
2011, p.2 )
"Invented tradition' is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted
rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour
by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally
attempt to establish continuity with a suitable historic past" (Hobsbawm 1983, p.1)
Men refer to aspect of the past as tradition in grounding their present actions in some legitimating
principle. In this fashion, tradition becomes and ideology, a program of action in which it functions as
a goal or as a justificatory base (Gusfield 1967, p. 358).
"a political system based upon a Western model of democracy [is] compatible with modernity" Moten,
2011, p.2
The old is not necessarily replaced by the new. The acceptance of a new product, a new religion, a
new mode of decision-making does not necessarily lead to the disappearance of the older form. The
new forms only increase the range of alternatives (Gusfield, 1967, p. 354).
Fußnoten
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
Rabbani, 2011
Moten, 2011, Seite 1
Shils, 1981, Seite 12
Moten, 2011, Seite 2
Barfield, 2010, Seite 169
Ghobar, "Afghanistan dar masir-e tarik" (Afghanistan im Laufe der Geschichte), Teheran 2011
(1390), Seite 667
Ebda, 1374, Seite 668
Ebda, Seite 669
Barfield, 2010, Seite 185
Ebda, Seite 231
Ebda, Seite 339
UNDP, 2010
Eric Hobsbawm (1917-2012) ist ein britischer Historiker und Verfasser von "The Invention of
Tradition" und "The Age of Extremes"
Hobsbawm, Ranger, 1983, Seite 1
Joseph. R Gusfield ist ein emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Kalifornien.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
16.
17.
18.
19.
20.
Gusfield 1967, Seite 358
Moten, 2011, Seite 2
Gusfield, 1967, Seite 354
Sirat, 2012
www.internetworldstats.com/asia/af.htm (http://www.internetworldstats.com/asia/af.htm)
bpb.de
17
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
18
Zeitgenössische afghanische Kunst
Von Mohammad Ali Karimi
5.12.2012
war Dozent für Film und Theater an der Kabuler Universität. Er studierte Film und Theater an der Kabuler Universität (BA) und
Kommunikationswissenschaften an der Universität von Ottawa (MA). Gleichzeitig war er Produzent und Journalist. Derzeit promoviert
er in Kommunikationswissenschaften an der McGill Universität in Montreal.
Die moderne Kunst in Afghanistan war immer ein westliches Projekt: In den 1920er Jahren
verbreiteten die ersten afghanischen Künstler mit westlichem Wissen den europäischen Stil
der Malerei in Afghanistan. 1983 wurde die erste afghanische Nationalgalerie mit 200 von den
in Kabul residierenden westlichen Botschaften zur Verfügung gestellten Werken eröffnet. Nach
den Taliban und ab 2001 ist es wieder der Westen, der die moderne Kunst in Afghanistan bekannt
macht.
Der erste Künstler, der den europäischen Malereistil in Afghanistan einführte, war Ghulam Mohammad
Meimangi (1873-1935). Er war der berühmteste afghanische Maler des 20. Jahrhunderts und ein
glückloser Usbeke aus dem Norden Afghanistans. Als er elf Jahre alt war, wurde sein Vater von Amir
Abdul Rahman des Aufruhrs beschuldigt, von Meimaneh nach Kabul deportiert und enthauptet. Der
Sohn wurde wegen seines Malereitalents in den Hof aufgenommen. Ghulam Mohammad lernte beim
englischen Hofarzt John Alfred Gray und Mir Hesamuddin Rassam, der im königlichen Palast
Wandmalereien durchführte. Nach dem Tode von Amir Abdul Rahman 1910 wurde die Situation von
Ghulam Mohammad schlimmer.
Amir Habibullah Khan (1901-1919), der Sohn und Thronfolger von Amir Abdul Rahman, inhaftierte
Ghulam Mohammad Meimangi wegen seiner Beteiligung an einer politischen Bewegung, die abzielte
auf die Einführung einer konstitutionellen Monarchie. Aber auch im Gefängnis hatte er keine Ruhe:
Täglich brachten ihn die Soldaten mit Handfesseln in den Hof, wo er zum Malen gezwungen wurde.
Der Amir befahl dem Gefangenen Maler gar, sein Porträt zu malen. Das von Ghulam Mohammad
gemalte Porträt von Amir Habibullah wird bis heute in der Kabuler Nationalgalerie aufbewahrt.
Als Amanullah Khan (1919-1929) als nächster afghanischer König 1919 an die Macht kam, ließ er
Ghulam Mohammad Meimangi frei und schickte ihn 1921 zur Weiterbildung nach Berlin.[1]
Ginge es nach der restriktiven Definition der Kunsthistoriker, dann ist die "Zeitgenössische Kunst" in
Afghanistan ein ganz neues Phänomen. Mit "Zeitgenössischer Kunst" meint man die Stils und Genres,
die nach dem 2. Weltkrieg in der Kunst entstanden sind. Als "Moderne Kunst" bezeichnet man die am
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene Kunstbewegung. Die Moderne Kunst
gibt jene "Schulen" wieder, die in Europa entstanden, und in diesem Sinne wird jeder Künstler einer
"Schule" zugeordnet. Dagegen umfasst die "Zeitgenössische Kunst" ein weiteres Spektrum, und lässt
sich nicht in eine bestimmte "Schule" pressen. Die "Zeitgenössische Kunst" hat heute ein Stadium
erreicht, in dem die Grenze zwischen "Kunst" und "Unkunst" nicht mehr erkennbar scheint. In diesem
Sinne kann alles ein Kunstmedium und jeder ein Künstler sein.
Die größte Begegnung der "Zeitgenössischen Kunst" der Welt ist die Documenta, die 2012 zum 13.
Mal stattfand. Neben ihrer Hauptausstellung in Kassel wurde 2012 ein Teil der Ausstellungsstücke
nach Kabul gebracht. Vom 20. Juni bis zum 19. Juli 2012 fand die Ausstellung in "Baghe Bobor" (ein
bekannter Garten in Kabul) statt. Die meisten der Stücke waren Werke von afghanischen Künstlern.
Diese Ausstellung zeigte in hervorragender Weise die Veränderungen der afghanischen Kunstszene
ein Jahrhundert nach der Einführung der europäischen Malkunst in Afghanistan. Sehr beachtlich war
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
19
in dieser Ausstellung der große Abstand der afghanischen Künstler von realistischen Gemälden von
Ghulam Mohammad Meimangi am Anfang des Jahrhunderts.
Von Hotel One bis zum Königlichen Palast
1971 reiste der italienische Konzeptkünstler Alighiero Boetti nach Kabul und verliebte sich in diese
Stadt. Er kaufte hier ein Gebäude und machte daraus ein Hotel (Hotel One), das ihm neben der
Bewirtung von Gästen auch als Kunstprojekt dienen sollte. Dieses Hotel war bis 1979 im Betrieb, also
bis zum Beginn des Krieges, und Boetti arbeitete dort. Er schaffte dort moderne Kunstwerke auf der
Grundlage des Handwerks von afghanischen Frauen. Er bestellte bei afghanischen Frauen gestickte
Landkarten der Welt. Diese wurden später unter dem Begriff "Mappa" bekannt. Diese sind auch Jahre
nach seinem Tode die wohl erfolgreichsten Werke des Künstlers. Er war der erste ausländische
Künstler, der ernsthaft eine zeitgenössische Kunstrichtung in Kabul produzierte.[2]
Einige Wohnblöcke vom "Hotel One" entfernt wohnte ein anderer Künstler hinter den Mauern des
Königlichen Palastes: Es war der letzte afghanische König Mohammad Zahir und auch wohl der erste
afghanischer Künstler des modernen Stils, der sich mit abstrakter Malerei und Photographie
beschäftigte. Zahir Shah besuchte zwischen 1923 und 1929 in Paris die Lycée Johnson de Sailly und
wohnte im Haus eines Abgeordneten des französischen Parlaments. Dieser nahm regelmäßig den
Kronprinzen mit ins Parlament, um ihn mit der parlamentarische Demokratie bekanntzumachen. Zahir
Shah lernte neben der Demokratie und Französisch in Paris auch die moderne Kunst kennen.
In den 1920er Jahren war Paris Schauplatz der Avantgarde und der Bewegung der modernen
europäischen Kunst. Wahrscheinlich wurde der junge Mann aus Afghanistan gerade deshalb von der
modernen Kunst angezogen. 1929 kam der Kronprinz nach Kabul. Vier Jahre später, nach der
Ermordung seines Vaters, bestieg er widerwillig den Thron. Mohammad Zahir Shah war der erste
afghanische König, der in den 1960er Jahren Parlamentswahlen zuließ. Er war auch der erste Afghane,
der abstrakte Bilder nach dem Stil der Pariser Moderne malte. Im Dokumentarfilm von Atiq Rahimi
"Eine Monarchie im Exil" (2003) zeigt er seine Bilder.[3]
Geschichte der Gegenwartskunst
In Afghanistan gibt es nur eine Kunstgalerie, nämlich die Nationale Afghanische Kunstgalerie, die 1983
unter dem Namen "Negarkhaneh" (Haus des Betrachtens) mit 200 Kunstwerken ihre Arbeit begann.
Diese Kunstwerke bestanden aus Gaben der westlichen Botschaften in Kabul. Bis 1991 wurden 820
Kunstwerke gesammelt. Als die Taliban an die Macht kamen, vernichteten sie 300 der Werke, die
Lebewesen darstellten, und schlossen die Galerie. Die Angestellten der Galerie retteten aber unter
den Taliban eine kleine Zahl der Werke und versteckten sie in einem Privathaus. Einige kostbare
Stücke gingen in diesem Wirrwarr verloren. Um manche Bilder zu retten, übermalten die Angestellten
diese mit Wasserfarbe und Landschaftsmotiven. Nach dem Sturz der Taliban wurde diese Farbe
wieder weggewischt.
Man kann die Geschichte der modernen Kunst in Afghanistan anhand der in der Nationalgalerie
ausgestellten Werke erzählen. Das älteste Gemälde stammt von Ghulam Mohammad Meimangi und
geht auf das Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Die Suche in den halbdunklen
Gängen dieses dreistöckigen Hauses führt uns zu einer Einteilung der Gegenwartskunst in drei
Perioden:
In der ersten Phase brachte Ghulam Mohammad Meimangi den europäischen Realismus nach
Afghanistan. Diese Phase umfasst die Zeit zwischen den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts und endet
mit seinem Tod im Jahre 1935. Damals war die Photographie noch nicht verbreitet, die Menschen
ließen sich von den Feinheiten und realistischen Zügen der Bilder von Ghulam Mohammad Meimangi
und dessen Schülern in Kabul begeistern. Obwohl Meimangi als Vorreiter dieses Stils einen besonderen
Rang genießt, war er im Vergleich zu seinen europäischen Zeitgenossen kein kreativer Maler. Er war
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
20
ein genialer Nachahmer, der vorhandene Motive wie Landschaften und Porträts auf Leinwand
umsetzte. Viele Bilder dieses Stils sind noch in der afghanischen Nationalgalerie vorhanden. Ein Werk
ist das Plagiat von "Sacred and Profane Love" des italienischen Malers Tizian des 16. Jahrhunderts.
Dieses Werk ist deshalb wichtig, weil es als einziges Gemälde dieser Galerie eine nackte Frau darstellt.
Es gibt auch ein bis zwei weitere Bilder mit nackten Menschen, die umgedreht in einer Ecke der Galerie
stehen.
Ursprünglich hatte Amanullah 1921 Ghulam Mohammad Meimangi nach Deutschland geschickt um
die Lithographie zu erlernen. Er lernte aber stattdessen Malerei und kehrte 1923 nach Kabul zurück.
1924 gründete die Regierung die "Akademie der Bildenden Künste" (School of Fine Arts) in Kabul.
Ghulam Mohammad arbeitete neben einigen ausländischen Lehrern als Leiter dieser Akademie und
bildete eine Generation von afghanischen Malern und Künstlern aus, was einen bedeutsamen Schritt
in der Kunstgeschichte Afghanistans darstellt. Der realistische Stil von Meimangi hat immer noch viele
Anhänger. 1972 wurde in Kabul das Zentrum "Kunstschule Ghulam Mohammad Meimangi" gegründet,
das den jungen Menschen die realistische Malerei nahebringt.
Die zweite Phase der Geschichte der afghanischen Gegenwartskunst beginnt mit Abdul Qafour
Bereshna (1907-1974). Bereshna wurde 1921 im Alter von 14 Jahren zusammen mit seinem Meister
Ghulam Mohammad Meimangi von der Regierung nach Europa geschickt. Er ging erst nach Wuppertal,
um dort Medizin zu studieren. Wie Ghulam Mohammad Meimangi wechselte auch er auf Kunst. Später
sagte er dem damaligen Ministerpräsidenten Hashim Khan: "Afghanistan braucht anstatt eines
schlechten Arztes einen guten Künstler." In Deutschland ließ er sich von modernen Kunstrichtungen
inspirieren und neigte zum impressionistischen Stil, in dem er die meisten Bilder malte. Bereshna
kehrte 1927 nach Kabul zurück und erhielt einen Lehrauftrag an der "Akademie der Bildenden Künste",
deren Leiter er nach dem Tode von Ghulam Mohammad Meimangi wurde. Er bewirkte große
Veränderungen am Lehrplan und in pädagogischer Hinsicht in dieser Akademie.
Wie Meimangi zuvor mangelte es Bereshna an Kreativität. Seine Bilder sind realistische Landschaften
mit einem impressionistischen Stil. Die einzige Neuheit in seinen Bildern war, dass er anstelle von
Wäldern, Pferden, Seen und Sonnenuntergängen, die bei Meimangi immer vorkamen, die Gassen
und Berge von Kabul zu seinen Motiven machte. Auch der Stil von Bereshna fand viele Anhänger.
1935 führte er als Leiter der Akademie auch andere Künste (Architektur, Bildhauerei und Keramik) in
den Lehrplan ein. Vor Bereshna saßen die Schüler in der Klasse und malten nach Modellen. Er nahm
die Kinder mit in die Gassen und Felder, um dort ihre Motive zu finden. Die von Bereshna und seinen
Schülern gebliebenen Bilder können sehr gut als Bilddokumente der Kabuler Architektur angesehen
werden. Unter den wichtigsten Schülern von Bereshna aus dieser Akademie können Ghulam Ali Omid
und Ghausuddin genannt werden, die den Stil des Meisters fortsetzten.[4]
Der erfolgreichste Schüler ist aber ohne Zweifel Akbar Khurassani, der sich wie Bereshna von der
Stadt Kabul inspirieren ließ. Er ist ein ehemaliger Soldat der kommunistischen Armee Afghanistans
und lebt heute in der Ukraine. Khurassani ist dem impressionistischen Stil ganz treu geblieben und
hat beachtliche Arbeiten hervorgebracht. Er ist in der Ukraine ein bekannter Künstler und seine Werke
werden als "orientalischer Impressionismus" bezeichnet.[5]
Die dritte Phase der Zeitgenössischen Malerei beginnt in Afghanistan mit dem Sturz der Taliban 2001.
In dieser Phase kam ein ganzes Heer von westlichen Künstlern zu kurzfristigen Trainings nach Kabul
und zog das Interesse vieler afghanischer Jugendlicher auf sich. Diese ausländischen Künstler wurden
meistens von ihren Landesvertretungen für kurze Zeit zum Unterricht an bestimmte Institutionen wie
die Universität Kabul entsandt.
Einer der ersten Künstler, der an der Universität Kabul einen Workshop organisierte, war die Deutsche
Dagmar Demming, die 2003 an diese Universität kam. Ein anderer Künstler kam von der BauhausUniversität und veranstaltete einen Workshop für moderne Bildhauerei. 2004 kamen andere Künstler,
die Gegenwartskunst lehrten. Zu ihnen gehören der Kanadier Philip Pocock und der Deutsche Michael
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
21
Saup. Die Durchführung von Workshops hat sich bis in den heutigen Tag fortgesetzt.
Unter dessen kehrten nach dem Sturz der Taliban auch mehrere im Westen aufgewachsene
afghanische Flüchtlinge zurück, die hier Kunst studiert hatten und wurden künstlerisch aktiv. Maryam
Ghani (die Tochter des Sonderberaters von Karzai, Ashraf Ghani) war wohl die erste, die aus New
York nach Afghanistan kam und Filmaufnahmen von den Ruinen der Altstadt machte. Ihr Film wurde
später unter dem Titel "Kabul, 2, 3,4" (2002-2007) gezeigt. Lida Abdullah war eine weitere afghanische
Künstlerin in den USA. Sie drehte einige VideoArts in Kabul und Bamian, für die sie 2006 den "Prince
Claus Award" von Holland erhielt.
Wie haben die Afghanen auf diese modernen Künste und seltsamen Namen reagiert? Innerhalb der
Fakultät für Bildende Künste der Universität Kabul wurden Dozenten und Studenten in zwei Lager
geteilt. Im ersten Lager finden sich ältere und traditionalistische Dozenten, die nicht bereit sind, sich
mit neuen Richtungen und Begriffen wie Installation, Video Art, Performance Art, Conceptual Art und
ähnlichen Kunstrichtungen zu beschäftigen. Für sie war und ist dies alles Unkunst. Eine zweite Gruppe
zeigte schnell Interesse an der Gegenwartskunst. Einige von ihnen gründeten im August 2004 unter
der Leitung des Malereidozenten der Universität Kabul Abdul Wase Rahrou Omarzad das "Centre for
Contemporary Arts Afghanistan", in dem Kunst gelehrt und produziert wird.
Eine Gruppe von Kunststudenten, die neu in die westlichen Workshops gekommen waren, veranstaltete
2005 die "trash art" Ausstellung an der Universität Kabul. Die Ausstellung wurde von vielen Besuchern
mit Spott und Hohn aufgenommen und musste nach einigen Tagen schließen. Dies zeigt, dass
ungewöhnliche und unbekannte Genres und Medien der Gegenwartskunst noch einen langen Weg
vor sich haben, um von der afghanischen Gesellschaft voll akzeptiert und verstanden zu werden.
Dennoch haben in vergangenen 10 Jahren innerhalb und außerhalb Afghanistans viele Künstler die
Szene der zeitgenössischen Kunst betreten. Manche von ihnen waren auf der Documenta 13 in Kassel
und Kabul anwesend. Wir können hoffen, dass diese jungen Künstler die Einstellung der afghanischen
Bevölkerung gegenüber der Kunst beeinflussen.
Einer der schöpferischsten zeitgenössischen Künstler ist Khadim Ali. Er ist ein Hazara, kommt aus
Zentral-Afghanistan und studierte in Pakistan. 2001 war er Zeuge der Sprengung der Buddha-Statuen
von Bamian durch die Taliban. Diese Statuen waren über Jahrhunderte der Stolz Afghanistans,
insbesondere von den in Bamian lebenden Hazaras. Die Zerstörung erschütterte Khadim Ali zutiefst
und brachte ihn zur Schöpfung einer Reihe von Miniaturen, die Buddha im Hintergrund und dessen
leeren Platz in Bamian zeigten. Seine Bilder sind eine Mischung aus Miniatur, Kalligraphie,
geometrischen Formen und mythischen Figuren aus der persischen Literatur, womit er in komplexer
Weise die historische Erfahrung der Hazaras und seine persönlichen Eindrücke wiedergibt. Der
Hauptbestandteil seiner Bilder sind Miniaturen, die zwar an den Stil von Behzad (siehe Resümee)
orientiert sind, aber durch modernistische Stilisierung zu mehrdimensionalen Objekten werden.
Die historisch-mythischen Hinwendung des heute in Australien lebenden Khadim Ali hat eine Reihe
von Hazara-Künstlern in Kabul angespornt, in ihren Werken von schmerzvollen geschichtlichen
Erfahrungen der Minderheit der Hazaras in Afghanistan zu erzählen und einen neuen Stil
hervorzubringen, die von einem Autor mit "Hazarism School" bezeichnet wurde.[6] Die Aufnahme von
sozialen, historischen und politischen Themen in die zeitgenössische Kunst kann die afghanischen
Ansprechpartner davon überzeugen, dass diese Kunst nicht nur zur Unterhaltung von westlichen
Beobachtern, sondern genuin der Bewusstseinserweiterung und Ausdehnung der Kulturbotschaft der
traditionellen afghanischen Kunst dient.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
22
Resümee
Im 15. und 16. Jahrhundert lebte und arbeitete unter den Timuriden in Herat Kamaluddin Behzad, der
einer der berühmtesten Miniaturisten der islamischen Welt wurde. Er war ein Zeitgenosse von Leonardo
da Vinci und Michelangelo und machte aus Herat ein Kunstzentrum des Timoresischen Imperiums.
Nach dem Sturz der Timuriden wanderte er nach Tabriz aus. Nach seinem Weggang aus Herat trat
nie wieder ein Künstler seines Kalibers in Herat hervor. Künstler seines Stils setzten aber seine Arbeit
in Afghanistan fort. Die beiden aus Herat stammenden Maler Abdul Rauf Fekri Saljoughi (1909-1968)
und Mohammad Saeed Mashal (1913-1997) waren wohl die letzten Maler dieser Generation.
Dagegen war die moderne Kunst in Afghanistan immer ein westliches Projekt. In den 1920er Jahren
verbreiteten die ersten afghanischen Künstler mit westlichem Wissen den europäischen Stil der Malerei
in Afghanistan ein. 1983 wurde die erste afghanische Nationalgalerie mit 200 von den in Kabul
residierenden westlichen Botschaften zur Verfügung gestellten Werken eröffnet. Nach den Taliban und
ab 2001 ist es wieder der Westen, der die moderne Kunst unter die Afghanen bringt.
Das Interesse des Westens an afghanischer Kunst muss in einem größeren Rahmen betrachtet
werden. Dieser Rahmen ist in vergangenen Jahren neu geschaffen worden, so dass westliche Galerien
und Ausstellungen sich auch mit nicht-westlichen Kunstwerken beschäftigen. Orientalisch-islamische
Künstler, die mit westlicher Technik und Form ihre eigene Welt auf Bilder übertragen, haben eine
beachtliche Entwicklung der Kunst in diesen Regionen hervorgebracht. Dieser Wandel ist in der
künstlerischen Landschaft unserer Welt ein Novum, und er öffnet neue Tore des künstlerischen Dialogs
unter verschiedenen Kulturen. Es ist sehr wichtig, dass sich Afghanistan nach einer langen Abwesenheit
wieder an diesem Dialog beteiligt, ein Land, das zwar viele Märchen besitzt, aber keinen guten
Märchenerzähler hervorgebracht hat.
Fußnoten
1.
2.
3.
4.
5.
6.
A. Shahrani, Sharh-e Ahwal wa Assar-e Professor Ghulam Mohammad Meimangi [Leben und
Werke von Professor Ghulam Mohammad Meimangi], Peshawar, Al Azhar-Verlag 2005
Zum interessanten Leben dieses Italieners s. folgenden Beitrag im BBC (http://www.bbc.co.uk/
blogs/adamcurtis/2009/09/). Dort wird über die Verwandtschaft des Künslers mit einem
antikolonialistischen Mullah des 18. Jahrhunderts namens Sheikh Mansour berichtet.
Zahir Shah hat über sein privates und politisches Leben der BBC ein Interview (http://www.bbc.
co.uk/persian/afghanistan/story/2005/09/050902_s-zahershah-pages.shtml) gegeben.
Über Abdul Ghafour Bereshna gibt es nur sehr wenige Quellen, darunter ist der Beitrag: "Setarehyi dar haft Asseman-e Honar" [ein Stern in 7 Himmeln der Kunst] (http://da.azadiradio.org/content/
transcript/1932442.html), Radiosendung (16:57 Uhr); Adle, C. (2005). "Iran and Afghanistan". In
Palat, M., K. and Tabyshalieva, A. (eds), History of Civilizations of Central Asia (vol. 6). Paris:
UNESCO, pp. 757-785
http://akbar-art.com/ru/about/ (http://akbar-art.com/ru/about/)
http://www.teheran.ir/spip.php?article716 (http://www.teheran.ir/spip.php?article716)
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
23
Die Rolle der Stämme
Von Sayed Asef Hossaini
5.12.2012
ist Doktorand an der "Willy Brandt School of Public Policy" in Erfurt. Er studierte an der Kabuler Universität Philosophie und Soziologie
und an der "Willy Brandt School of Public Policy" Public Policy. Während seines Studiums in Kabul war er politisch aktiv als Vorsitzender
einer Studentenbewegung.
Die Rolle der Ethnien und Stämme in der afghanischen Staatsbildung und Politik geht auf das
18. Jahrhundert zurück, als das Land im Anschluss an eine neuntägige "Dschirga" (traditionelle
Versammlung der Stämme) gegründet wurde. Heute stellt die Loja Dschirga ein Parallelorgan
zu anderen Institutionen wie Parlament und Senat dar – und verringert deren Einfluss.
Männerrunde: Mehr als 2000 Stammes- und Regionalführer, Politiker, Militärs u.a. kamen am 17.11.2011 in Kabul zur
Loja Dschirga zusammen. (© picture-alliance/dpa)
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
24
Einführung
Bis Ende 2014 sollen etwa 140.000 ausländische Truppen Afghanistan verlassen. Nach 13 Jahren
wird damit die politische Verantwortung der afghanischen Regierung übergeben, die seit dem Sturz
der Taliban 2001 an der Macht ist. Dieser Text widmet sich der Frage nach einer gelungenen
Staatenbildung in Afghanistan, der Rolle der verschiedenen ethnischen Gruppen im Prozess des
Nationsbildung und ihrer Wechselbeziehung mit der afghanischen Regierung. Zudem diskutiert er die
Rolle der Stämme im Prozess der Staatsbildung.
In der Anthropologie wird ein Stamm definiert als "eine symbolische soziale Gruppe, die auf
Untergruppen basieren und zeitwilligen oder dauerhaften politischen Schutz innehaben. Die Gruppen
haben eine Tradition die auf gemeinsame Vorfahren, deren Sprache, Kultur und Ideologie beruht."
(Britannica 2012). Stamm bezeichnet eine wenig komplexe gesellschaftliche Organisationsform, deren
Mitglieder durch das Verständnis von einer gemeinsamen Abstammung und durch gegenseitige
Verwandtschaftsbeziehungen zusammengehalten werden. Dieser Vorstellung eines Stammes stellten
die Politikwissenschaft und die Ethnologie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die als höherwertig
postulierte Ordnungsstruktur des Staates gegenüber. Dagegen besitzt in der Ethnologie eine Definition
von Stamm, die sich an der Selbstidentifikation sowie der kulturellen, religiösen und ethnischen Identität
der jeweiligen sozialen Gruppe orientiert, weiterhin Bedeutung.
Die Untergruppen der Stämme werden auch als Clan bezeichnet. In diesem Beitrag soll die Rolle der
"Clans" im Prozess der Staatsbildung und Nationsbildung in knapper Form untersucht werden.
In der Ethnologie und Anthropologie bezeichnet man als Clan eine Verwandschaftsgruppe , die sich
auf einen gemeinsamen Ahn bezieht, ohne dabei jedoch die Abstammung lückenlos herleiten zu
können. Eine genauere Definition von Clan, die sich in der englisch- und deutschsprachigen
Forschungsliteratur durchgesetzt hat, geht auf den US-amerikanischen Anthropologen George P.
Murdock (1897–1985) zurück. Murdock bezeichnet eine Verwandtschaftsgruppe, die gemeinsam auf
einem Territorium zusammen lebt, als Clan. Eingeschlossen werden hier die angeheirateten
Ehepartner, ausgeschlossen die wegheiratenden. Die Zugehörigkeit wird durch die Patrilinearität
bestimmt. Diese Definition trifft auch auf Afghanistan zu.
Eine Ethnie ist eine Gruppe von Menschen, denen eine kollektive Identität zugesprochen wird.
Zuschreibungskriterien können Herkunftssagen, Abstammung, Geschichte, Kultur, Sprache, Religion,
die Verbindung zu einem spezifischen Territorium sowie ein Gefühl der Solidarität sein.[1]
Die Rolle der Ethnien und Stämme in der afghanischen Staatsbildung und Politik geht auf eine Zeit
zurück, als Afghanistan im 18. Jahrhundert im Anschluss an eine neuntägige "Jirga" (traditioneller
Stammtisch) gegründet und die Regierung von Ahmad Shah Abdali konstituiert wurde. Der Chronist
der afghanischen Geschichte Mir Mohammad Ghobar schreibt, dass diese "Jirga" sich aus Khans
(Stammesfürsten) der Gheljaeis, Usbeken, Hazaras, Belutschen und Tajiken zusammensetzte.[2]
Nach der Machtübernahme durch die Paschtunen wurde die Rolle andere "Ethnien" in der Geschichte
Afghanistans unbedeutender. Die Paschtunen versuchten, den neuen Staat alleine zu prägen. Der
deutsche Afghanistan-Experte Conrad Schetter schreibt: "Die herrschende paschtunische Familie,
welche durch 'Britisch Indien' an die Macht gekommen war, favorisierte paschtunische Elemente bei
ihrem Konzept von 'Staat und Nation' […] Die Politik der herrschenden Familie setzte die eigenen
ethnischen Muster ein, um öffentliche Güter und die Verwaltung unter ihre Kontrolle zu bringen."[3]
Die nicht-paschtunischen Ethnien, d.h. Tajiken, Hazaras und Uzbeken, verloren allmählich unter dem
Druck der herrschenden Ethnie an Einfluss. Der Prozess der "Staats- und Nationsbildung" beschränkte
sich damit auf Aktionen und Reaktionen zwischen der Zentralregierung in Kabul und paschtunischen
Stämmen. Aber auch zwischen den paschtunischen Stämmen gab es ständig Kämpfe und politische
Rivalitäten.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
25
Der iranische Soziologe Hossein Boshiria meint: "Die wichtigsten politischen Spannungen ereigneten
sich unter paschtunischen Stämmen selbst; insbesondere zwischen Durranis und Barekzais gab es
immer politische Rivalitäten."[4] Man kann also sagen, dass der Prozess der "Staats- und
Nationsbildung" mit oder ohne Erfolg untrennbar mit der Rolle der Paschtunen in Bezug auf die
Zentralregierung im Zusammenhang stand.
Ein
afghanischer
dem Feld
bei Shahran-e-Khash.
Das
KonzeptBauer
derauf
Staatsund
Nationsbildung
Obwohl die Begriffe "Staatsbildung" (state-building) und "Nationsbildung" (nation-building) oft synonym
verwendet werden, gibt es inhaltliche Unterschiede: "Staatsbildung" steht der "Staatsführung" oder
der Kunst der "staatlichen Administration" nahe, während die Nationsbildung ein weitergehender Begriff
ist, in dem Elemente wie Identität eine größere Rolle spielen. Mit anderen Worten:
"'Staatsbildung' steht mit Strategien in Beziehung, mit denen Institutionen und Staatsapparat wie
Bürokratie in einem Land gebildet werden. Dagegen geht die 'Nationsbildung' weiter und bezieht sich
ausdrücklich auf Bildung einer `kulturellen Identität' in einem geografischen Raum."[5]
Nach Scott sind viele Wissenschaftler der Auffassung, dass eine "erfolgreiche Staatsbildung" die Basis
einer "Nationsbildung" ist, und dass ein "effektiver Staat" die unabdingbare Voraussetzung zur Bildung
einer Nation darstellt. Ein weiterer Unterschied zwischen Staats- und Nationsbildung ist, dass die
"Staatsbildung" zwar auch durch ausländische Intervention erreicht werden kann, aber die
Nationsbildung nur durch die betreffende Gesellschaft selbst vollzogen werden kann.[6]
Eine Reihe von Analytikern vertreten die Meinung, dass die Staatsbildung in Afghanistan in der
gegenwärtigen Phase sogar trotz der Intervention der Weltgesellschaft und internationalen Kräfte nicht
erfolgreich gewesen ist, dass der Staat in Afghanistan gescheitert oder fehlgeschlagen (failed state)
sei und nach Abzug der ausländischen Truppen im Jahre 2014 das Land nicht funktionsfähig sei. Ist
also der Prozess der "Staatsbildung" in Afghanistan gescheitert? Ein gescheiterter Staat wird u.a. so
definiert:
"Ein gescheiterer Staat ist dann vorhanden, wenn öffentliche Institutionen nicht in der Lage sind, den
Bürgern positive politische Güter zu liefern, bis zu dem Punkt, dass die Legitimation und die Existenz
der Regierung unterminiert wird."[7] Nach dieser Definition ist festzustellen, dass der afghanische
Staat bei der Etablierung der politischen Stabilität in den vergangenen Jahren nicht erfolgreich war,
da sie nicht in der Lage war politische Güter zu liefern.
Die wichtigsten Punkte, die zu den politischen Gütern zählen, sind "die Bereitstellung von Sicherheit,
eine Rechtssystem, dass in Streitfällen ein Urteil fällt, die Bereitstellung der Infrastruktur für Ökonomie
und Kommunikation, Sozialhilfeleistungen und die Möglichkeit einer zunehmenden Teilnahme (der
Bürger) in den politischen Prozess."[8]
Hinzu kommt, dass eine weitverbreitete korrupte Verwaltung dafür gesorgt hat, dass die alte Bürokratie
nicht effektiv funktioniert. Nach dieser Definition müssen wir den afghanischen Staat als eine
"uneffektive" Institution, einen "failed state" bezeichnen.
Da die Staatsbildung eine Bedingung der Nationsbildung ist, kann in Afghanistan auch die
Nationsbildung als erfolglos bezeichnet werden. Ein Zeichen der Erfolglosigkeit der Nationsbildung ist
das Fehlen einer einheitlichen Identität unter den Bürgern eines geografischen Raumes. Mit anderen
Worten wird "der Zustand einer uneffektiven und gescheiterten Nationsbildung in einer multiethnischen
Gesellschaft weiter verschärft. In solchen Gesellschaften definiert sich jede Einheit aufgrund ihrer
Religion, Schicht, Sprache oder Ethnie getrennt von anderen."[9]
Individuen und Gruppen definieren ihre Identität aufgrund von regionalen, ethnischen, sprachlichen
und örtlichen Zugehörigkeiten. Schetter schreibt: "Die afghanische Geschichte wurde immer mit einer
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
26
paschtunischen Lesart geschrieben."[10] Dies bedeutet, dass auch im Prozess der Nationsbildung
versucht wurde, die ethnischen Muster der Paschtunen heranzuziehen, um die Nationsbildung zu
bestimmen. Dazu gehören z. B. "nationaler Tanz" (Atan) und "nationale Tracht"(Pirahan Tunban).
Vor diesem Hintergrund kann vielleicht festgestellt werden, dass der Bürgerkrieg der 1990er Jahre ein
weiterer Versuch der afghanischen Völker war, ihre eigene Identität wiederzufinden. Es waren Ethnien,
die im Laufe der Geschichte an den Rand gedrückt worden waren und nach dem Sturz vom Präsidenten
Najibullah die Gelegenheit für eine neue unabhängige Identitätsbildung nutzten.
Stämme als Hindernis der Staatsbildung
Der italienische Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi meint, dass Spannungen zwischen regionalen
Fürsten und der Zentralregierung geschichtliche Wurzeln haben.[11] Diese Spannungen lassen sich
in verschiedenen Phasen der afghanischen Geschichte beobachten:
Amir Abdul Rahman Khan (Regierungszeit 1880 bis 1901) ist der erste afghanische Herrscher, der
große Anstrengungen zur Stärkung der Nation und Errichtung einer Zentralregierung unternahm. Er
ging dabei so grausam vor, dass man ihm den Titel "eiserner Emir" gab.[12]Abdul Rahman Khan
siedelte Bevölkerungsteile um und setzte Paschtunen an ihre Stelle. Trotzdem konnte er die Prozesse
der Staats- und Nationsbildung nicht vorantreiben, denn einerseits unterdrückte er wichtige
afghanische Ethnien, und andererseits gelang es ihm nicht mit den Stammesfürsten der ländlichen
Regionen eine produktive Beziehung herzustellen. Barfield schildert diese Situation so:
"Mit der Unterdrückung von Rivalen innerhalb seines Clans, der religiösen Bewegungen und ländlichen
Unruhen durch Abdul Rahman Khan, entstand in Afghanistan eine Schicht der 'politischen Elite', die
sich zunächst aus wenigen Personen zusammensetzte, aber großen Einfluss durch die Regierung
von Abdul Rahman Khan hatte. Da diese Elite ihre ethnischen und ländlichen Bindungen abgelegt
hatten, spielten die autonomen regionalen Stammesfürsten eine Vermittlungsrolle zwischen der
Kabuler Zentralregierung und dem Volk. Die Loyalität dieser Stammesfürsten basierte auf deren
ethnischen, regionalen, religiösen Netzwerken und Stammesrivalitäten. Die Loyalität ihrer Anhänger
galt an erster Stelle diesen Stammesführern und erst an zweiter Stelle der Zentralregierung."[13]
Nach Abdul Rahman Khan versuchte Amanullah Khan mit einer unterschiedlichen Art und sanfter
Annäherung den Prozess der Staats- und Nationsbildung voranzutreiben. Er unterdrückte andere
Ethnien nicht und schaffte die bis dahin geltende Versklavung der Hazaras ab.
Auch die Anstrengungen Amanullahs blieben ohne Ergebnis. Erschöpft vom Krieg gegen England
widmete er sich der Modernisierung Afghanistans. Scheinbar hatte er es aber versäumt, tiefgehende
Beziehungen zu Paschtunen herzustellen. Er hat versucht sensible Punkte der paschtunischen
Tradition, wie das Verbot der Heirat von Minderjährigen, das Verbot der Polygamie und Bildung für
Frauen uvm. zu etablieren. Das war für die Paschtunen ein rotes Tuch. Gerade diese Unzulänglichkeit
war ein Grund für das Scheitern der Modernisierung und den Prozess der Staats-und Nationsbildung.
Jules Stewart[14] erklärt beispielsweise, wie die paschtunischen Stämme Amanullah provozierten. Im
Dezember 1927 unternahm der König auf Einladung der italienischen Regierung eine Europareise. Er
kam im Juni 1928 wieder zurück und begann, inspiriert von seiner Eindrücken, mit neuen Reformen.
Die Engländer verteilten indessen ein Bild von Königin Soraya unter den paschtunischen Stämmen;
in diesem Bild war sie ohne Kopftuch zu sehen während eines gemeinsamen Essens mit ausländischen
Männern, wobei der französische Präsident ihr die Hand küsst. Dies war der Grund, warum Amanullah
gleich bei seiner Rückkehr nach Afghanistan mit einer schweren Welle der Unruhe unter den Stämmen
und Geistlichen konfrontiert wurde, die ihn am Ende, ein Jahr später, seine Herrschaft kostete.[15]
Die Stammesfürsten kontrollierten unter Amanullah nicht nur ihre eigenen Stämme, sondern übten
über einen "Stämmebund" Einfluss auf das Land aus und widersetzten sich der Modernisierung des
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
27
Landes. Die "Loya Jirga" widersetzte sich dem Wunsch Amanullahs das Mindestalter für die Heirat
bei Mädchen auf 18 und bei Männern auf 21 festzulegen und die Polygamie abzuschaffen. Die
Regierung Amanullahs stand kurz vor dem Sturz.[16] Den beschriebenen Stämmebund bezeichnet
Ibn-e Khaldoun als "asabieyeh". Es ist jene strategische Koalition unter Mitgliedern eines Stammes
oder mehrerer Stämme, die sie in einer Krisensituation zusammenbindet. Diese Form des
Widerstandes (asabieyeh) ist alteingesessen und wird immer wieder dann ins Leben gerufen, wenn
die Traditionen und Religion gefährdet wird. Im Fall Amanullahs haben sich Stammesführer, Geistliche
und Feudalherren bereits 1924 erstmalig in Paghman getroffen, um gegen die Reformen des Königs
vorzugehen (Ghobar).[17]
Nach dieser Erfahrung Amanullahs verfolgte die afghanische Zentralregierung eine vorsichtige und
konservative Politik gegenüber den Stämmen, die bis heute anhält. Die Kabuler Zentralregierung
konnte zu keiner Zeit das staatliche Verwaltungswesen (Bürokratie) als Machtinstrument und das
staatliche Gewaltmonopol in die afghanischen Stämme hineintragen. Ganz im Gegenteil: Auch die
Regierung nahm allmählich "stammesmäßige" und "ländliche" Züge an.
Stamm als "politische Einheit" in Afghanistan?
Wie bereits erwähnt basierte der Prozess der Staats- und Nationsbildung in Afghanistan auf
vorgegebenen Mustern der paschtunischen Stämme. Mit anderen Worten setzte die herrschende
Ethnie die Strukturen und Elemente ihres Stammes ein, um die Herrschaft zu etablieren und
fortzusetzen (s.o. "asabieyeh"). Deshalb bezeichnen die meisten Politiker und manche Anthropologen
Afghanistan als ein stammesorientiertes Land. Anscheinend war die jeweils herrschende Ethnie bei
der Vertreibung anderer Ethnien aus der politischen Bühne und deren Vereinheitlichung in den letzten
zwei Jahrhunderten erfolgreich.
Gusfield zufolge waren traditionelle Werte bei diesem Prozess mächtig: "Die Rolle von traditionellen
Werten bei der Formierung von [unterschiedlichen] Elementen der Loyalität und der Grundzüge der
Machtlegitimation spielen für das Verständnis der Möglichkeit der Etablierung einer einheitlichen und
stabilen Politik auf nationaler Ebene eine sehr wichtige Rolle."[18]
Die Präsenz von großen afghanischen Ethnien wie Tajiken, Hazaras und Uzbeken ist ein neues
Phänomen in der Politik. Diese Völker sind erst in den 1980er Jahren auf die politische Bühne getreten,
als sie zum Kampf gegen die ehemalige Sowjetunion mobilisiert wurden. Jede Gruppierung mobilisierte
sich von innen heraus. In dieser Phase wurden Tajiken, Hazaras und Uzbeken wieder zu politischen
Akteuren. Dennoch führte diese Partizipation für Politik und Staatsbildung – dieser politische Prozess
hatte historisch ohne Beteiligung dieser Völker stattgefunden – zu keinem positiven Ergebnis. Nach
dem Sturz der Sowjets 1992 eilten afghanische Mudjahedin in die Hauptstadt Kabul. Die verschiedenen
ethnischen Gruppierungen versuchten die Macht in dem neuen islamischen Regime an sich zu reißen.
Dies führte dann zu einem blutigen Bürgerkrieg in den 1990er Jahren.
Nach dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 konzentrierte sich die westliche Politik auf die Bildung einer
"multiethnischen Regierung auf breiter Basis". Hamid Karzai, der zum Durrani-Stamm der Paschtunen
gehört, übernahm die Führung der Übergangsregierung. In seinem 30-köpfigen Kabinett waren 11
paschtunische, 8 tajikische, 5 hazarische, 3 usbekische und 3 Minister aus anderen Ethnien vertreten.
Mit dem Einzug anderer Ethnien in die politischen Entscheidungsprozesse verlor der Stamm als
"politische Einheit" in Afghanistan an Bedeutung. Die Behauptung, Afghanistan sei ein
stammesorientierter Staat, in dem die kleinste gesellschaftliche Einheit bzw. der Stamm die Politik
bestimmt, ist also so nicht aufrecht zu erhalten. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und
geografischen Bedingungen der Stämme prägen ihre Formierung als "politische Einheit" mit. Zum
Beispiel ist die soziale Struktur von Hazaras nicht stammesorientiert und nicht homogen und
pyramidenförmig. In der Gesellschaft von Hazaras hat nicht ein einziger die politische Macht in der
Hand. Vielmehr bildet eine Gruppe von Menschen, die unter sich Rivalen sind, ein Machtnetz. Die
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
28
Macht legitimiert sich unter dieser Volksgruppe nicht aufgrund von "Blutsverwandtschaft" und
"Abstammung", sondern aufgrund des religiösen Ansehens.
Auch unter den Tajiken ist die politische Einheit nicht der Stamm. Die Tajiken treffen politische
Entscheidungen aufgrund ihrer Lebenssituation. Zum Beispiel nennen sich die Tajiken zu ihrer
Differenzierung "Tajik von Panjsher" oder " Tajik von Badakhshan", was relativ unterschiedliche
politische Neigungen beinhaltet. So konnten die Tajiks von Panjsher 2004 bewirken, dass ihr Gebiet
von einem Bezirk in eine Provinz umgewandelt wurde (ca. 100 km nördlich von Kabul gelegen). Die
Tajiks von Panjshir machen ihre Entscheidungen immer von der strategischen Relevanz für die
Zentralregierung abhängig.
Loya Jirga als stammesorientierte politische Institution und die
bilaterale Legitimation
Der afghanische Staat war nie in der Lage, den zentralen Verwaltungsapparat als Instrument und
Hebel der staatlichen Gewalt in die Stämme und Dörfer hineinzutragen. Dennoch ist die Loya Jirga
ein sehr wichtiges Organ der politischen Aktion und Reaktion zwischen der Zentralregierung und den
Stämmen. "In Afghanistan hatte generell jeder Stamm eine Jirga als administrativ-politische
Ratsversammlung. Der Nationalstaat hatte mit den Stammes-Jirgas eine organische Verbindung und
konnte somit als Verlängerung der Jirga gesehen werden."[19]
Die afghanischen Regierungen nach Amanullah versuchten, die Loya Jirga als ein nationales
politisches Organ zu definieren, um eine eine besondere Funktionen zu erfüllen: Es sollte eine Art
"Vertrauensbildung" zwischen Stammesführern und traditionellen Dorfvorstehern einerseits und der
Zentralregierung andererseits erreicht werden. Und die Regierung sollte durch sie ihre Legitimität
festigen, was erheblich wichtiger war.
Die Loya Jirga bewahrte sogar unter modernen politischen Systemen wie unter dem kommunistischen
Regime in den 1980er Jahren ihre Funktion. Präsident Najibullah wurde beispielsweise nach Babrak
Karmal 1987 von diesem Organ zum Staatspräsident gewählt.[20]
Auch unter dem gegenwärtigen politischen System wurden seit 2001 mehrfach Loya Jirgas konstituiert:
Im Juni 2002 gab es eine außerordentliche Loya Jirga, im September 2003 kam eine Loya Jirga wegen
der Verfassung zusammen; im November 2011 schien die Berufung einer "traditionelle" Loya Jirga
(an-anawi) trotz vorhandener Gesetzesorgane wie Senat und Parlament unangebracht, dennoch
ordnete der Präsident die Versammlung an.
Gerade die Existenz solcher gesetzgebender Parallelorgane, deren Legitimationsbasis nur durch die
örtliche Bevölkerung gegeben ist, führt zu einem Widerspruch in den Machtstrukturen. Loya Jirga hat
die Verbreitung der zentralen Bürokratie unter den Stämmen und ländlichen Regionen verhindert, aber
auf der anderen Seite dient sie der Fortsetzung der pyramidenförmigen Machtstruktur in abgelegen
Gebieten.
Mit anderen Worten: Wenn regionale Anführer und Stammesoberhäupter zur Teilnahme an der Loya
Jirga nach Kabul eingeladen werden, sind sie die legitimen Vertreter ihrer Stämme und werden auch
als solche wahrgenommen. Ihre Präsenz geht auch gleichzeitig mit der Anerkennung der
Zentralregierung einher. Die Zentralregierung nimmt dies im Gegenzug wahr und sieht ihre Legitimität
gefestigt. Somit ist die Loya Jirga ein politisches Instrument, um sich gegenseitig zu legitimieren
(Stammesführer und Regierung). Diese Anführer und Oberhäupter werden dann in ihren Regionen
nicht nur als traditionelle Anführer, sondern auch als Vertreter der Zentralregierung angesehen. Das
führt zu einer ständigen Stärkung der regionalen Machtstrukturen und dem Machtverlust der zentralen
Regierung. Die "bilaterale Legitimation" ist eine unbeschriebene Konvention zwischen der
Zentralregierung und den Anführern von ländlichen Regionen und Stämmen.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
29
Schlussfolgerung
Afghanistan ist entgegen der herrschenden Auffassung kein stammesorientierter Staat. Vielmehr ist
der "Stamm" nur die "politische Einheit" eines Teils von Afghanistan und bezieht sich auf die Paschtunen.
Nations- und Staatsbildung sind in den vergangenen 100 Jahren in einer Wechselbeziehung zwischen
der Zentralregierung und Stämmen aus zwei wesentlichen Gründen misslungen:
a) Der Widerstand der Stämme gegenüber dem "modernen Staat".
b) Die "ineffiziente" Politik der Zentralregierungen gegenüber den Stämmen und die mangelnde
Verbreitung des Verwaltungsapparates in den Stämmen und ländlichen Regionen.
Um die Nations- und Staatsbildung in Afghanistan zu verwirklichen, müssen alle "politischen Einheiten"
berücksichtigt und in einem weiteren Schritt die Art ihrer Beziehung zut Zentralregierung definiert
werden. In der gegenwärtigen Phase, nach 2001, sind im Prozess der Nations- und Staatsbildung
zwar auch andere politische Gruppierungen auf die Bühne getreten, die zu verschiedenen Ethnien
gehören, d.h aber nicht das sie auch die Interessen ihrer Ethnie vertreten, da sie nicht demokratisch
gewählt worden sind. Beispielsweise bedeutet die Präsenz von nicht-paschtunischen Stammesfürsten
nicht zwangsläufig, dass sie ihren eigenen Stamm vertreten. Es muss deshalb in Kabul eine politische
Struktur entstehen, an der sich in natürlicher Form verschiedene politische Einheiten beteiligen können.
In der jetzigen Situation ist die Macht in Form von "Kontingentierung" unter bestimmte Personen verteilt
worden, und zwar unter der Annahme, dass die jeweiligen Personen einen Stamm repräsentieren.
Das führt zur Unterdrückung der politischen Dynamik in den Ethnien und dazu, dass politische Akteure
einer Ethnie gezwungen sind, zur Teilnahme an politischen Entscheidungen den Führer des jeweiligen
Stammes als Brücke zu nutzen. So muss z. B. eine neu unter den Uzbeken entstandene politische
Einheit zu ihrer Bestand- und Beteiligungssicherung auf der politischen Landschaft von General
Dostum genehmigt werden. Dostum ist seit den Neunziger Jahren der Anführer der usbekischen Miliz.
Nach dem Sturz der Taliban 2001 hat er an Macht gewonnen und ist der Anführer aller Usbeken. Daher
muss jeder Usbeke, der sich politisch engagieren will, die Linie Dostums einhalten.
Weiter lässt sich feststellen, dass ein moderner Staat auch moderne Strukturen verlangt. Die Loya
Jirga stellt ein Parallelorgan zu anderen Institutionen wie Parlament und Senat dar und verringert deren
Einfluss. Darüber hinaus verstärkt sie die Legitimation von Anführern in Stämmen und ländlichen
Regionen. Dies wiederum bewirkt eine Stärkung der traditionellen Institutionen und Schwächung des
staatlichen Verwaltungsapparates in diesen Regionen. Moderne Institutionen müssen in den zentralen
Blickwinkel der Regierung rücken, damit durch ihre Stärkung die politische Struktur rational und effizient
gestaltet werden kann.
Bibliographie
A. von Bogdandy; R. Wolfrum, (eds). (2005). State-Building, Nation-Building, and Constitutional Politics
in Post-Conflict Situations: Concepts Clarifications and an Appraisal of Different Approaches. In Max
Plank Yearbook of United Nations Law (pp. 579-613). Netherlands: Koninklijke Brill .
Afghanpaper. (n.d.). Dr. Najibullah. Retrieved June 28, 2012, from Afghanistan's Information Network
(http://www.afghanpaper.com/info/saran%20siasi/najibolah.htm)
Barfield, T. (2010). Afghanistan; A Cultural and Political History. Princeton and Oxford: Princeton
University Press.
Boshiria, H. (2011). Political Sociology; the role of social forces in political life (Vol. 19). Tehran: Nashre
Nei.
Britannica Encyclopedia. Retrieved November 8, 2012, from Britannica Encyclopedia. (http://www.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
30
britannica.com/search?query=tribe)
Ghobar, M. G. (2011). Afghanistn in the path of history (New Edition ed., Vol. 2). Tehran: Erfan.
Ghosh, H. A. (2003). Yesterday and Tomorrow: Women in Afghanistan. Journal of International Women's
Studies , 1-14.
Giustozzi, Antonio (2008) Afghanistan: Transition without End. An Analytical Narrative on Statemaking.
Crisis States Research Centre Working Paper 40. November 2008.
Gusfield, J. R. (1967). Tradition and Modernity: Misplace Politics in the Study of Social Change.
American Journal of Sociology , 72 (4), 351-362.
Kottak, Conrad P. (2008). Cultural Anthropology, Retrieved November 8, 2012, from McGraw-Hill Higher
Education (http://highered.mcgraw-hill.com/sites/0072500506/student_view0/glossary.html)
Schetter, C. Ethnicity and the Politics Reconstruction in Afghanistan. Bonn: Center for Development
Studies (ZEF), University of Bonn.
Scott, Z. (2007). Literature Review on State-Building. Brimingham: University of Brimingham,
International Development Department.
Siddique, A. (2012). Afghanistan's Ethnic Divides. CIDOB POLICY RESEARCH PROJECT.
Zitationen
"The ruling family of the Pashtuns, enthroned by British India, favored Pashtun elements in their concept
of the nation-state […] the politics of the ruling family employed the ethnic patterns which came into
existence in order to regulate access to public goods and offices" (Schetter, 2002, p.3)
A swift American- led military victory routed the Taliban and a much slower-and flawed- political
intervention focused on delivering a "broad-based and multi-ethnic" government. Hamid Karzai, a
Durrani Pashtun leader from Kandahar, was picked to lead the first transitional administration. The 30member cabinet he led included 11 Pashtuns, 8 Tajiks, 5 Hazaras, 3 Uzbeks and 3 members of other
ethnic minorities (Siddique, 2012, p.5).
Amir Abdur Rahman (ruled from 1880 -1901), was the first ruler to attempt consolidation of the nation
into a centralized state. He ruled with a ruthless hand that led to him being termed 'Iron Amir' (Ghosh,
2003, p.3)
Presumebly, the British distributed picturs of Sorya without a veil, dining with foreign men, and having
her hand kissed by the leader of France among tribal regions of Afghanistan (Stewart, 1973).
Conservative Mullahs and regional leaders took the images and details from the royal family's trip to
be flagrant betrayal of Afghan culture, religion and 'honor' of wormn (Ghosh, 2003, p.5)
Tribal leaders controlled not only their regions, but through inter-tribal unity, held sway over most of
nation in resisting attempt at modernization. The Loya Jirga, finally put their foot down when marriage
age of girls was raised to 18 years and for men to 21 years, and polygamy was abolished (Ghosh,
2003, p.5).
The new national political elite had a much narrower social, political and regional base than those of
nineteenth-century Afghanistan. Leaders then were politically autonomous and served as
intermediaries in their people's dealings with the central government in Kabul. Such loyalties might be
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
31
based on tribal ties, regional affiliations, religious networks, or decent from rival dynastic lines. Their
followers were loyal to them first and Kabul second (if at all) (Barfield, 2010, p.166)
Giustozzi, the leading expert on the development of the state in Afghanistan, reminds us that the
tensions between local leaders and the central government in Afghanistan have a historical basis
(2008, and Tapper 1983).
The role of traditional values in the form of segmental loyalties and principles of legitimate authority
are of great importance in understanding the possibilities for the occurrence of unified and stable
politics at a national level (Gusfield, 1967, p. 357).
There is much confusion over the terms ‘state-building’ and ‘nation-building’ (Hippler 2004, Goldsmith
2007).
Some authors use the terms inter-changeably, some with completely different meanings. In general,
most people use ‘state-building’ to refer to interventionist strategies to restore and rebuild the institutions
and apparatus of the state, for example the bureaucracy. In contrast, ‘nation-building’ also refers to
the creation of a cultural identity that relates to the particular territory of the state. Most theorists agree
that a well-functioning state is a requirement of the development of a nation, and therefore most would
also agree that state-building is a necessary component of nation-building. Several authors argue that
whilst state-building is something that external actors can engage in, the development of a cultural
nation is inherently something only the emerging society can itself shape. Using this line of thinking,
it seems most appropriate for development actors to limit themselves to using the terminology of statebuilding (Scott, 2007, p.3)
Nation failure is an aggravated form of state failure particularly relevant to multi-community state. The
individual communities may define themselves by shared religion, class, language, or ethnicity, different
to that of the other communities (A. von Bogdandy; R. Wolfrum, (eds), 2005, p.285).
"State failure can be defined as the failure of public institutions to deliver positive political goods to
citizens on a scale likely to undermine the legitimacy and the existence of the state itself". (R.I.Rotberg,
2003 and A. von Bogdandy; R. Wolfrum, (eds), 2005, p.580)
"…the provision of security, a legal system to adjudicate disputes, provision of economic and
communication infrastructures, the supply of some form of welfare policies, and ncreasingly also
opportunities for participation in the political process". (R.I.Rotberg, 2003 and A. von Bogdandy; R.
Wolfrum, (eds), 2005, p.580)
Fußnoten
1.
Georg Elwert: Ethnie, in: Christian F. Feest, Hans Fischer und Thomas Schweizer (Hrsg.), Lexikon
der Völkerkunde, Dietrich Reimer Verlag, Stuttgart 1999, S. 99 f.
2. Ghobar, 2011, Seite 14
3. Schetter, 2002, Seite 3
4. Boshiria, 2011, Seite 287
5. Scott, 2007, Seite 3
6. Ebda, Seite 3
7. R. I. Rotberg, 2003 und A. von Bogdandy; R. Wolfrum, ebda, 2005, Seite 580
8. Ebda.
9. A. von Bogdandy; R. Wolfrum, ebda, 2005, Seite 285
10. Schettler, 2002, Seite 3
11. 2008 und Tapper 1983
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
32
12. Ghosh, 2003, Seite 3
13. Barfield, 2010, Seite 166
14. Jules Stewart ist ein erfahrener Journalist auf dem Gebiet der anglo-afghanischen Kriege. Er hat
vier Bücher veröffentlicht zum Thema, u.a. "On Afghanistan´s Plains" und "The story of Britain's
Afghan Wars"
15. Ghosh, 2003, S. 5
16. Ebda, 2003, S. 5
17. Ghobar. S. 701-702
18. Fusfield, 1967
19. Boshiria, 2011, Seite 288 und Clifford, 1989
20. Afghanpaper, 2012
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
33
Das traditionelle Handwerk
Afghanistans
Von Mohammad Ali Karimi
5.12.2012
war Dozent für Film und Theater an der Kabuler Universität. Er studierte Film und Theater an der Kabuler Universität (BA) und
Kommunikationswissenschaften an der Universität von Ottawa (MA). Gleichzeitig war er Produzent und Journalist. Derzeit promoviert
er in Kommunikationswissenschaften an der McGill Universität in Montreal.
Reichtum und Vielfalt der afghanischen Kultur zeigen sich am deutlichsten im traditionellen
Handwerk des Landes. Teppiche, Filzerzeugnisse, Stickerei und Nadelmalerei machten einst
mit ihrer bunten Pracht die afghanischen Basare zu den lebhaftesten Orten auf der Route der
Seidenstraße. Heute ist nichts mehr von jener goldenen Zeit geblieben. Dabei könnte gerade
das traditionelle Handwerk helfen, die wirtschaftliche Situation vieler Haushalte zu verbessern
und damit insgesamt zur Stabilisierung des Landes beitragen.
Keramikgefäße im National Museum in Kabul. (© picture-alliance/AP)
Die Afghanen umschreiben scherzhaft die Technikgeschichte ihres Landes mit dem Satz: "Die
Afghanen produzierten Nadeln, konnten sie aber nicht löchern!" Das interessante an diesem Scherz
ist sein Wahrheitsgehalt, denn Afghanistan konnte trotz aller Versuche den Anschluss an die industrielle
Welt nicht finden. Wohl gemerkt: Auch wenn dieses Land Nadeln nicht löchern konnte, kann es auf
eine sehr lange und prächtige Tradition des Handwerks zurückblicken.
Afghanistan war eine der wichtigsten Zwischenstationen auf der alten Handelsroute "Seidenstraße".
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
34
Städte wie Balkh, Bamian und Herat spielten eine wichtige Rolle beim Transitverkehr der Handelsgüter
zwischen Osten und Westen. Die Seidenstraße intensivierte nicht nur die Kontakte zwischen der
afghanischen Bevölkerung und fernen Ländern, sondern schaffte auch Bekanntschaft mit
Handelswaren und kulturellen Erzeugnissen dieser Länder. Die Kontakte mit nahen und fernen Ländern
durch Handelsbeziehungen, aber auch durch Kriege, sind mit ein Grund für die noch heute bestehende
vielfältige und bunte einheimische Kultur Afghanistans.
Reichtum und Vielfalt der afghanischen Kultur zeigen sich am deutlichsten im traditionellen Handwerk
dieses Landes. Diese Erzeugnisse machten einst mit ihrer bunten Pracht die afghanischen Basare zu
den lebhaftesten Orten auf der Route der Seidenstraße. Als im 16. Jahrhundert der mongolische Prinz
Babur nach Kabul kam, fand er eine Stadt vor sich, deren Basare voller Waren aus Khorasan, Irak,
Anatolien und China waren. Die Geschäftsleute waren nur dann zufrieden, wenn sie einen Gewinn
von mindestens 300% bis 400% machten.[1]
Heute ist nichts mehr von jener goldenen Zeit geblieben. Afghanistan ist gekennzeichnet von politisch
motivierter Gewalt, einer unfähigen Regierung, einer landwirtschaftlich orientierten, nichtindustrialisierten Wirtschaft und einer stammesorientierten Gesellschaft, die immer noch darauf wartet,
dass andere jene Nadeln löchern, die es proudziert hat, um sich an die industrialisierte Welt anzunähern.
Lapis Lazuli aus der Provinz Badachschan (Afghanistan) Lizenz: cc by-sa/3.0/ (Wikimedia, Lysippos)
Heute sind die weltbekanntesten afghanischen Produkte Opium und Terrorismus. Das Land hat aber
auch andere bekannte Produkte wie handgeknüpfte Teppiche und Halsketten aus Lasurstein
(Lapislazuli).
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
35
Kleopatra und Badakhshan
Die ägyptische Königin Kleopatra benutzte für ihre blau farbigen Augenschatten ein Pulver, das aus
dem Lasurstein von Badakhshan gewonnen wurde. Lange Zeit vor ihr, etwa 4.000 Jahre vor Christus,
bauten die Sklaven der ägyptischen Pharaonen mit diesem Produkt aus Badakhshan Stempel und
dekorierten damit ihre Masken. Historische Zeugnisse belegen, dass der Lasurstein, der seit 7000
Jahren im grünen Tal von Badakhshan gewonnen wird, Könige, Königinnen und Künstler weltweit
fasziniert hat.[2] Die dunkelblaue Farbe dieses Steines verwendete Michelangelo beispielsweise bei
den Malereien in der Sixtinischen Kapelle.
In der Nähe dieser weltgrößten Lasursteinmine, im Zentrum von Badakhshan, gibt es einen Markt, in
dem Handwerker mit Lasursteinen und Achat aus ihrer Gegend Juwelen und sehr feine Dekorationen
herstellen, welche in ganz Afghanistan Absatz finden. In Afghanistan wird der Lasurstein vielfältig
verarbeitet, als Damenschmuck, für dekorative Figuren und andere Zwecke.
Trotz reicher Bodenschätze und langer Tradition des Handwerks konnten diese Produkte nicht der
Konkurrenz der maschinellen ausländischen Erzeugnisse standhalten. Die traditionellen afghanischen
Künstler und Handwerker haben generell versäumt, ihr Handwerk an die Erfordernisse der modernen
Welt anzupassen. Eine erfolgreiche Ausnahme bildet die traditionelle afghanische Kleidung, die sich
dem Geschmack und Interessen der modernen Mode angepasst hat und ihren Platz auf dem
Modemarkt behaupten konnte. Dieser Erfolg geht auf das Jahr 1959 zurück. Damals war die
amerikanische Fluggesellschaft PAN AM an der afghanischen Fluggesellschaft ARIANA beteiligt. Die
Frauen der amerikanischen Piloten gründeten in Kabul eine Schneiderei, an der Frauen aus Kabul die
Herstellung von westlichen Kleidern erlernten. Eine dieser amerikanischen Frauen, Jeanne Beeher,
setzte sich dafür ein, dass die Modezeitschrift Voque kostenlos hunderte von Schnittmustern an
afghanische Frauen lieferte. Diese Schule war so erfolgreich, dass zum ersten Mal eine
Modeausstellung in Kabul stattfand, und so konnten die Kabuler Frauen aus nächster Nähe die
moderne westliche Kleidungskultur kennenlernen.[3] Ende der 60er Jahre reiste ein Team von Vogue
nach Kabul und erstellte eine Bildreportage über die Mode in Kabul, die im Dezember 1969 veröffentlicht
wurde. Zu dieser Zeit arbeitet nur eine afghanische Modedesignerin, Safieh Tarzai, die inspiriert von
Hand genähter afghanischer Tracht westliche Kleidungen herstellte.Die Mischung zwischen
traditioneller Kultur mit dem modernen westlichen Design verlieh ihrem Werk einen einzigartigen und
besonderen Stil.
Die Kabuler Modeszene entwickelte sich bis in die 80er Jahre, also bis zum Bürgerkrieg weiter. Millionen
von Afghanen gingen wegen dieser Konflikte für mehrere Jahrzehnte in die Flucht. Als sie aber nach
2001 zurückkehrten, begann der Prozess der Vermischung zwischen einheimischer und westlicher
Kultur weiter. In diesen Jahren wurden viele Versuche unternommen, traditionelle afghanische Kleidung
mit westlicher Mode angereichert auf den internationalen Markt zu bringen. In Kabul wurden dafür
einige Modezentren gegründet. Eines davon ist Zarif Design, das von der in den USA lebenden
afghanischen Designerin Zuleikha Sherzad ins Leben gerufen wurde. Daneben sind auch Asem
(Awesome) und einige anderen Firmen auf diesem Gebiet aktiv. Die Modebranche ist in Afghanistan
ein Beispiel für erfolgreichen Einsatz der traditionellen Kunst und des Handwerks, um wirtschaftliche
Ziele zu erreichen und die Kultur zu verbreiten.
Präsident Hamed Karzai, der mit seiner Karakul-Pelzmütze und seinem usbekischem Gewand die
Welt bereist, zeigt damit permanent traditionelle afghanische Kleidung auf internationaler Bühne.
Karakulpelz gehört zu ältesten und stark gewinnbringenden Exportartikeln Afghanistans.1946 konnte
die Regierung unter Zahir Shah aus dem Export von Karakul – größtenteils nach New York – 100
Millionen Dollar erzielen. Durch diese Einnahmen konnte die Regierung einen Vertrag mit dem
amerikanischen Bauunternehmen Marrison Knudsen schließen für den Bau des großen Staudamms
"Kajaki" in der Provinz Helmand. Dies war eines der größten staatlichen Projekte zur Modernisierung
des Landes.[4] Die Kriegsjahre (1978-2001) vernichteten vieles, staatliche Unterstützung des
traditionellen Handwerks gibt es nicht mehr. In diesem Zusammenhang ist auch die Produktion von
Karakul in Afghanistan inzwischen stark zurückgegangen. Vor 1978 hat die Regierung sich
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
36
dahingehend engagiert neue Märkte für afghanische Produkte zu finden.
Handwerk
Der Begriff "traditionelles Handwerk" ist ein Produkt der Moderne. Im Gegensatz zu industriellen
Erzeugnissen der Moderne gehen traditionelle Handwerksprodukte nicht auf Erfindungen einer Person
zurück, sondern gehören zu einem ganzen Volk oder einer ganzen Region. Niemand hat hier ein
bestimmtes Erzeugnis erfunden. Die Produkte des traditionellen Handwerks sind wie Sprichworte,
Mythen und Volksmärchen während der Jahrhunderte und Generationen entstanden. Diese kollektive
Eigenart des traditionellen Handwerks verleiht ihm eine besondere ethnologische und kulturelle
Bedeutung. Das Handwerk erlaubt einen Einblick in die Kultur und Geschichte eine Landes.
Afghanistan kann auf ein reichhaltiges und historisch vielfältiges kulturelles Erbe zurückblicken. Von
buddhistischen Tempeln über islamische Moscheen bis hin zu großen Basaren und militärischen
Festungen: Sie alle geben Zeugnis darüber ab, dass in diesem Land Kultur, Kunst, Politik und Wirtschaft
in einander übergegangen sind und sich gegenseitig befruchtet haben. Insbesondere Architektur und
traditionelles Handwerk sind zwei Bereiche, die in bester Weise den Reichtum des materiellen
kulturellen Erbes zum Ausdruck bringen.
Das traditionelle Handwerk Afghanistans gehört aber auch zum "immateriellen kulturellen Erbe" dieses
Landes. Es sind nicht nur die regionalen Erzeugnisse, sondern auch die traditionellen Kunstfertigkeiten
und das Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Diese immaterielle Seite des
Handwerks hat in den langen Jahren des Krieges den schwersten Schaden genommen und ist am
geringsten beachtet worden. Das Wissen um diese Fähigkeiten und ihre Erhaltung sind von großer
Bedeutung. Im Jahre 2003 verabschiedete UNESCO eine Konvention zum Schutz des Kulturerbes,
wonach das traditionelle Handwerk als eine der fünf Bereiche des kulturellen Erbes anerkannt wurde.
Die Mitgliedsstaaten wurden aufgefordert diesen Bereich zu fördern und zu schützen.[5]
2007 gründete der spätere britische Parlamentsabgeordnete Rory Stuwart zusammen mit einigen
internationalen Organisationen die Stiftung "Türkis-Berg" (Turkuoise Mountain Foundation), die den
Schutz und Wiederbelebung des traditionellen afghanischen Handwerks zum Ziel hat. Diese Stiftung
verfügt heute auch über eine Lehranstalt, an der hunderte von jungen Menschen im Bereich von
"Juwelenbearbeitung", "Steinmetzen", "Holzbearbeitung", "Kalligraphie", "Keramik-Kunst" und
"Kunstmalerei" ausgebildet werden. Die in diesen Werkstätten produzierten Erzeugnisse werden auf
dem internationalen Markt angeboten, was bis heute 5 Millionen US Dollar erbracht hat. Diese Stiftung
will die Kunstfertigkeiten der traditionellen afghanischen Handwerker in Erinnerung behalten und diese
Kunst an die nächste Generation weitergeben.
Schüler und Meister
Die "Türkis-Berg Stiftung" suchte vor einigen Monaten nach einem Meister für Holzschnitzerei nach
altem islamischen Stil. Nach längeren Bemühungen fand man einen alten Mann in Kabul, der
wahrscheinlich der letzte noch lebender Meister dieses Handwerks ist. Der heute 80-jährige Abdul
Hadi ist heute stark schwerhörig und lehrt Gravierung, Holz-Perforation, Inkrustation (Marketerie,
Einlegearbeiten aus Holz oder anderen Materialien; Anm. d. Red.) und andere feinen historisch
überlieferten Kunstfertigkeiten auf Holz.
Wir haben heute den Fortbestand des traditionellen Handwerks jenen Künstlern und Handwerkern zu
verdanken, die ihre Fähigkeiten von einer zur anderen Generation weitergegeben haben. Das
traditionelle afghanische Handwerk gründet sich auf dieses Meister-Gesellen-Verhältnis. Diese
traditionelle Methode der Weitergabe wird bis heute in Afghanistan praktiziert.
Traditionell hat ein Meister 1 bis 3 Gesellen, die er aus dem Kreis seiner Kinder, der Verwandten und
auch in seltenen Fällen fremden Personen zusammensetzt. Diese Schüler arbeiten bis zu 10 Jahren
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
37
beim Meister und übernehmen damit seine Kunstfertigkeit. In der Regel lehrt der Meister seine Schüler
nicht, insbesondere wenn es nicht seine eigenen Kinder sind. Der Schüler muss sich das Wissen und
die Erfahrungen von seinem Meister "abschauen". Dem Meister fällt es schwer, dem Schüler sein
Können zu vermitteln, aber gelegentlich will er im Sinne seiner eigenen Bekanntheit bestimmte Schüler
so erziehen, dass sie seinen Stil auch nach seinem Tode weiterführen. In der Musik ist es heute ein
Brauch, dass der Meister seinen Familiennamen auch seinen Schülern gibt.
Der Neid des Meisters gegenüber den Schülern hat in Afghanistan eine lange Geschichte und wird
inzwischen als Gegebenheit akzeptiert. Dieser Neid geht manchmal so weit, dass der Meister keinen
Schüler aufnimmt. Ein gutes Beispiel ist der Kalligraph Abdul Aziz Vakili Foufalzai (1919-2008), der
nach Mohammad Ali Attar Herawi (1919-1992) der berühmteste Kalligraph Afghanistans im 20.
Jahrhundert war. Er weigerte sich lebenslang, seine Kunst an andere weiterzugeben. Die von ihm
stammenden Kalligraphien der Koran-Verse glänzen auf den Kacheln auf den Wänden der "Pole
Kheshti" Moschee von Kabul und waren mehrere Jahrzehnte der offizielle Kalligraph des afghanischen
Staates. Von ihm stammen die Schriften von amtlichen Urkunde, Dekreten, Zeugnissen, Buchtiteln
und anderen Veröffentlichungen. Er hinterließ keinen einzigen Schüler, so dass man kaum einen
anderen Künstler in Afghanistan finden kann, der in der Lage wäre, die islamische Kalligraphie seines
Könnens auf Kacheln zu verewigen.[6]
Vor diesem Hintergrund ist der Meister für Holzschnitzerei Abdul Hadi mit großen Herausforderungen
konfrontiert. Einerseits muss er sich mit einer großen Gruppe von Jugendlichen auseinandersetzen,
die ihn wie einen Schullehrer behandeln, und andererseits muss er sein Können innerhalb von 3 Jahren
an sie vermitteln. Obwohl die Schüler sich über seinen "Neid" beim Übertragen seines Könnens
beklagen, hat er trotzdem fähige Schüler für klassische Arbeiten auf Holz in der "Türkis-Berg Stiftung"
ausgebildet. Der klassische Holzbearbeitungsstil ist eine islamische Kunstrichtung, die seit den
Timuriden (Herrschergeschlecht im 15. Jahrhundert) in verschiedenen Teilen Afghanistans verbreitet
war. In diesem Stil werden in der Regel Motive aus Blumen, Blättern, Schriften und auch Bildern auf
das Holz übertragen. Die Erzeugnisse werden in Architektur und Dekorationsarbeiten verwendet.
In der "Türkis-Berg Stiftung" wird auch eine andere Richtung gelehrt, der als "Nurestani" bekannt ist.
Hier haben 90% der Motive geometrische Dimensionen, was in der einheimischen Kultur von Nurestan
eine gesellschaftliche Bedeutung hat. Da Nurestan in einem abgelegenen Tal in einem Waldgebiet
liegt, bildet das Holz den Hauptbaustoff für Architektur, Innendekoration, Gebetsräumen und sogar
Götzen. Von daher existiert in Nurestan eine uralte Tradition der Holzverabeitung. Saidjan Nurestani
ist ein 63-jähriger Meister, der in dieser Stiftung den Stil von Nurestan lehrt. Er übermittelt seinen
Schülern sein Können mit mehr Großzügigkeit als viele andere Meister.
Die Zukunft des Handwerks
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
38
Afghanische Mädchen beim Sticken in einem Waisenhaus in Kabul am 9. November 2009. (© picture-alliance/dpa)
Auf den afghanischen Basaren produzieren die traditionellen Handwerker Erzeugnisse, die man im
städtischen Leben benötigt. Gold-, Kupfer-, und Eisenschmiede, Seidensticker und Leute, die Glas
verarbeiten, arbeiten immer noch im "Tcharsough Bazar" von Herat nach altem Stil. Auch
landwirtschaftliche Werkzeuge werden dort hergestellt. Da die Wirtschaft agrarisch geprägt ist,
kommen die Bauern aus umliegenden Dörfern in den Basar, um dort ihre landwirtschaftlichen Produkte
anzubieten und gleichzeitig benötigte Waren zu erwerben.
Afghanistan braucht zur Erhaltung des Handwerks einen Plan, denn sogar in kleinen Städten kann
das Handwerk sich nicht gegen den Ansturm der Importe schützen, insbesondere deshalb, weil
Afghanistan wegen der unsicheren Lage und dem Mangel an nötiger Infrastruktur nicht im stande ist,
große Auslandsinvestitionen zur Entwicklung seiner Industrie zu gewinnen. Von daher ist das
traditionelle Handwerk der einzige Zweig, mit dessen Förderung der Staat den Haushalten helfen und
den Kleinhandel in Städten und Dörfern fördern kann. Die Agha Khan Stiftung hat seit einigen Jahren
neben ihrem Ökotourismus-Projekt ein kleines Projekt auf diesem Gebiet in Angriff genommen, das
auch positive Ergebnisse gebracht hat.
Eine gewinnbringende Branche des traditionellen Handwerks kann die Teppich-Produktion sein. Der
afghanische Teppich ist einer der besten dieser Region, aber aus Mangel an Möglichkeiten werden
Teppiche zur Verarbeitung nach Pakistan geschickt, und von dort werden sie als pakistanische Teppiche
nach Westen exportiert.[7] Dies geschieht, obwohl der afghanische Teppich in seiner Kunst und Qualität
eine besondere Stellung hat und 2011 und 2012 auf der Teppich-Ausstellung in Dubai den ersten
Preis gewinnen konnte.[8]
Die meisten traditionellen Handwerksprodukte wie Teppiche, Kelim-, und Filzerzeugnisse, Stickerei,
Nadelmalerei u.a. werden von Frauen in mühevoller Arbeit erzeugt. Die Förderung und Vermarktung
dieser kleinen traditionellen Produkte könnte den Frauen helfen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Dadurch würde die wirtschaftliche Situation der Haushalte verbessern und die Unabhängigkeit und
Selbstversorgung der afghanischen Frauen vorangebracht. Deshalb ist das traditionelle Handwerk für
afghanische Frauen nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch eine zukunftsorientierte politische
Angelegenheit.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
39
Man sollte aber auch von der Regierung nicht allzu viel erwarten. Die städtische Elite, die im
vergangenen Jahrhundert die Regierungen stellte, schaut auf alles Traditionelle diskriminierend herab.
Diese Elite wollte das Land rasch in die Moderne führen. Die Afghanen haben König Amanullah nicht
vergessen. Er zwang die afghanischen Männer in den 1920er Jahren, ihre weite traditionelle Hose
und den Turban abzulegen und mit westlichem Anzug und Filzhut in der Öffentlichkeit aufzutreten.
Dieses Experiment war zum Scheitern verurteilt.
Die afghanischen Politiker müssen sich vom Komplex der nicht gelöcherten Nadel befreien und einen
anderen Weg suchen, um Afghanistan in die Moderne zu führen. Die Vernichtung der Tradition ist der
falsche Weg.
Fußnoten
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Babur (2002). The Baburnama: Memoires of Babur, Prince and Emperor (Thackston, W. M., trans.
& ed.). New York: Random House
Bowersox, G. W. (2004). The Gem Hunter: True Adventures of an American in Afghanistan.
Honolulu: Geovision Inc. pp. 46-47
Vleck, J. V. (2009). An airline at the crossroads of the world: Ariana Afghan Airlines, modernization,
and the global Cold War. History and Technology. Vol. 25, No. 1, pp. 3–24
Cullathe, N. (2002). Damming Afghanistan: Modernization in a Buffer State. The Journal of
American History. Vol. 89, No. 2, pp. 512-537
Kennedy, T. (2010). Safeguarding traditional craftsmanship : a project demonstrating the
revitalisation of intangible heritage in Murad Khane, Kabul. International Journal of Intangible
Heritage. Vol. 5-6, pp. 73-85
H. Sadegh, "Khattat-e Haft Ghalam" [Kalligraph mit 7 Federn], in "Gahnameh-ye Honar" [Kunst
Periodica], Jahrgang 6, Nr. 6, Seite 12-15
F. Ajand, 8. Aghrab 1390: 90% der afghanischen Teppiche werden in die Nachbarstaaten exporiert,
8 Uhr (http://www.8am.af/index.php?option=com_content&view=article&id=22300:90---------&catid=110:1389-11-18-04-55-07&Itemid=562)
ToloNews (Feb 6, 2012). Afghan Carpet Holds First at Dubai Annual Exhibition. (http://www.
tolonews.com/en/business/5262-afghan-carpet-holds-first-at-dubai-annual-exhibition)
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
40
Afghanische Diaspora und Brain Drain
Von Sayed Asef Hossaini
21.1.2013
ist Doktorand an der "Willy Brandt School of Public Policy" in Erfurt. Er studierte an der Kabuler Universität Philosophie und Soziologie
und an der "Willy Brandt School of Public Policy" Public Policy. Während seines Studiums in Kabul war er politisch aktiv als Vorsitzender
einer Studentenbewegung.
Nach wie vor kommen die meisten Flüchtlinge aus Afghanisten: Rund 2,7 Millionen Afghanen
leben außerhalb ihres Herkunftslandes. In den vergangenen 30 Jahren kam es in Afghanistan
immer wieder zu einer Abwanderung von Menschen mit relativ höherer Bildung, die
hauptsächlich durch Kriege und Wechsel von politischen Systemen verursacht wurde.
Afghanische Ärztin bei der Arbeit. Lizenz: cc by/2.0/ (CC, U.S. Army)
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
41
Einleitung
Das Hohe Kommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) gab am 18. Juni 2012 bekannt, dass nach
wie vor die meisten Flüchtlinge aus Afghanistan kommen – weltweit 2,7 Millionen. Der überwiegende
Teil der Flüchtlinge lebt in Pakistan und Iran.[1] Diese "Diasporagemeinde" entstand insbesondere in
den afghanischen Nachbarstaaten allerdings nicht erst im Rahmen des jüngsten Afghanistankonflikts,
sondern in verschiedenen Perioden mit unterschiedlichen Ursachen.
"Diaspora" wird unterschiedlich definiert. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet
"Zerstreuung". Damit bezeichnete man ursprünglich die auf der Welt zerstreuten jüdischen Gemeinden
und deren Kultur. Gegenwärtig leben wegen des Arbeitsmarktes und ökonomischer Veränderungen
große Massen von Menschen außerhalb ihrer Heimat. So lebt beispielsweise die Hälfte der 12 Millionen
zählenden Sikhs außerhalb von Indien.[2] "Diaspora" kann wie folgt definiert werden: Erstens handelt
es sich um Menschen, die von ihrer geographischen Heimat getrennt sind. Zweitens haben die
Mitglieder dieser Gemeinde noch "emotionale Bindungen" zu ihrer Heimat, die sie als Quelle ihrer
Werte und Identität sehen und denen sie treu bleiben wollen. Drittens gibt es noch eine Grenze zwischen
diesen Gemeinden und dem Gastgeberland.[3]
Auch für Brain Drain gibt es verschiedene Definitionen, aber generell versteht man darunter die
"Abwanderung der Intelligenz und des Humankapitals" aus einem Land.: "'Brain Drain' zeigt den
internationalen Transfer von Ressourcen in Form von Humankapital. Damit meint man generell die
Abwanderung von Menschen mit relativ höherer Bildung von einem Entwicklungsland in entwickelte
Länder."[4]
Verschiedene Phasen der Auswanderung aus Afghanistan
In den vergangenen 30 Jahren verließen Flüchtlinge Afghanistan in verschiedenen Phasen. Die erste
große Auswanderungswelle erfolgte Ende der 1970er Jahre nach der Machtübernahme der
Kommunisten (DVPA) im Jahre 1978 und der darauffolgenden Besetzung Afghanistans durch die
Sowjetunion 1979. Allerdings lebten schon vor dieser Zeit Gruppen von Afghanen zu Studien- und
Geschäftszwecken im Ausland, darunter auch in Deutschland.
In dieser ersten Phase war der Westen den Migranten bekannt, sie gehörten zur studierten Elite, hatten
in Afghanistan hohe Ämter inne oder waren renommierte Kaufleute. Dieser Kreis emigrierte häufig in
den Westen.[5] Allmählich wanderten aber auch einfache Menschen aus, häufiger aus ländlichen
Gebieten, in die Nachbarstaaten Iran und Pakistan. Mitte der 1980er Jahre lebten 6,5 Millionen
afghanische Flüchtlinge in den Nachbarstaaten. Dies war die höchste Flüchtlingsrate weltweit.[6]
Mit dem Sturz des kommunistischen Regimes 1992 kehrten viele Flüchtlinge aus dem Iran und Pakistan
in ihre Heimat zurück. Kurz danach flammte aber ein Bürgerkrieg unter den Mujahedin auf, sodass
wieder eine große Zahl von Flüchtlingen Afghanistan verließ. In dieser zweiten Phase kamen die
Flüchtlinge aus zwei Kategorien: Städtischer Mittelschicht, bestehend vor allem aus Beamten des
alten Regimes und Flüchtlinge, die nach dem Sturz des kommunistischen Regimes aus Iran und
Pakistan zurückkehrten.[7]
Die dritte Flüchtlingswelle begann 1996 nach der Machtergreifung der Taliban. Zu ihnen gehörten vor
allem Minderheiten (Hazaras, Schiiten, Ismailiten, Hindus und Sikhs), die von den Taliban bedroht
wurden.[8]
Nach der Etablierung des gegenwärtigen politischen Systems und dem Sturz der Taliban im Jahre
2001 begann eine neue Auswanderungsphase. Generell lassen sich die afghanischen Flüchtlinge in
zwei Kategorien teilen: In Flüchtlinge in den Nachbarstaaten und im Westen. Dieser Beitrag behandelt
nicht das Thema der Binnenflüchtlinge.
Flüchtlinge in den Nachbarstaaten
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
42
In allen drei genannten Phasen ließen sich die meisten afghanischen Flüchtlinge in Pakistan und Iran
nieder. Sie wählten je nach ihrer kulturellen, religiösen und sprachlichen Zugehörigkeit eines dieser
beiden Länder. Die Flüchtlinge im Iran waren meistens farsi-sprachig, schiitisch und häufig Hazaras.
Von den Flüchtlingen in Pakistan waren die meisten paschtu-sprachig, sunnitisch und aus ethnischer
Sicht paschtunisch bzw. tadschikisch geprägt. Etwa 70% der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan
waren Paschtunen.[9] Auch stammten die meisten der Flüchtlinge in beiden Ländern aus ländlichen
Gebieten.
Die meisten Flüchtlinge in Pakistan wurden im Norden des Landes in Camps untergebracht, dagegen
lebten im Iran nur wenige Afghanen in Flüchtlingscamps. Die meisten von ihnen lebten hier am Rande
von Städten und in Dörfern und wurden auf das ganze Land verteilt. Die afghanischen Flüchtlinge
kamen in einer Zeit in den Iran, als das Land sich im Krieg mit dem Irak befand und zudem noch unter
den Folgen der Revolution von 1979 litt. Iran betrachtete die afghanischen Einwanderer als aktive und
billige Arbeitskräfte. Afghanische Flüchtlinge, die meistens aus Dörfern stammten und eher ungebildet
waren, fanden auf dem iranischen Arbeitsmarkt oft nur Beschäftigung auf unterem Niveau.
Deshalb hatte die afghanische "Diasporagemeinde" im Iran kaum eine Möglichkeit, soziale Institutionen
zu bilden. Vielmehr gründeten sich mit iranischer Unterstützung diverse politische Parteien. Diese
Flüchtlinge hielten in den 1980er Jahren auf zwei Ebenen mit ihrer Heimat Kontakt: Finanzielle Hilfe
und politisch-militärische Aktivitäten gegen die ehemalige Sowjetunion.
Gebildete Flüchtlinge blieben oft nicht im Iran, da sie dort als Ärzte, Ingenieure und Kaufleute keine
Arbeitserlaubnis bekamen. Sie verließen das Land und gingen in den Westen. In Pakistan waren die
Flüchtlinge mit einer ähnlichen Situation konfrontiert. Auch dort etablierten sich verschiedene politische
Parteien gegen das kommunistische Regime in Kabul. Trotzdem gestattete Pakistan internationalen
Hilfsorganisationen, die afghanischen Flüchtlinge zu versorgen. Hunderte westliche Organisationen
konzentrierten ihre Aktivitäten auf afghanische Flüchtlinge; solche Vorhaben wurden aber von der
iranischen Regierung nicht zugelassen.
Flüchtlinge im Westen
In allen genannten drei Phasen flüchteten Hunderttausende von Menschen in den Westen. Diese
kamen meistens aus gebildeten und städtischen Schichten. Der größte Teil hatte unter einem der
Regime gedient und musste nach dem jeweiligen Regimewechsel das Land verlassen. Die meisten
dieser Einwanderer ließen sich in Deutschland, den USA, Kanada und Russland nieder. Nach
Statistiken des deutschen Ministeriums für Entwicklung und Zusammenarbeit leben ca. 100.000
afghanische Migranten in Deutschland.[10] 2009 wurde die Zahl der afghanischen Migranten in
Deutschland auf 126.334 beziffert, wovon 49.081 die deutsche und 77.253 die afghanische
Staatsangehörigkeit haben.[11] Unter dessen formierte sich eine der größten afghanischen Gemeinden
in Russland. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes ließen sich etwa 150.000 Afghanen in
Russland nieder. Aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit entschieden sich auch viele afghanische Sikhs
und Hindus nach Indien zu gehen.[12]
Die meisten afghanischen Flüchtlinge, die in den Westen kamen, gehörten zur afghanischen Mitteloder Oberschicht, waren mit westlichen Verhältnissen vertraut und hatten vorher aus Studien- und
geschäftlichen Gründen mit diesen Ländern Kontakt. Viele mussten aber nach ihrem Asyl in
Deutschland allmählich einen sozioökonomischen Abstieg in Kauf nehmen.[13]
Die im Westen ansässigen afghanischen Migranten versuchten (insbesondere in Deutschland) aktive
Organisationen zu bilden und ihren Kontakt mit Afghanistan aufrechtzuerhalten. Ende der 1970er Jahre
gründeten sie zum ersten Mal eine Hilfsorganisation für die Opfer der Flutkatastrophe in ihrer Heimat.
Danach wurden mehrere Studenten- und Frauenorganisationen gegründet. Anfang der 1990er Jahre
wurden mit Hilfe der Bundesregierung nicht-staatliche afghanische Organisationen (NGOs) gebildet.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
43
So wurden von der "Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit" (GTZ) Projekte zur
Qualifikationsförderung der in Deutschland lebenden Afghanen initiiert, damit diese nach dem Sturz
des kommunistischen Regimes die Entwicklung in Afghanistan voranbringen .[14]
Auch unter dem gegenwärtigen politischen System nach 2001 gründeten im Westen ansässige
afghanische Migranten diverse NGOs und fokussierten ihre Aktivitäten auf Afghanistan. Da diese
Menschen mit dem Leben im Westen vertraut sind und eine Fremdsprache sprechen, konnten sie
leicht mit Entwicklungsprojekten der Weltgemeinschaft beauftragt werden und übernahmen in
Abwesenheit einer starken staatlichen Bürokratie ersatzweise die Durchführungsfunktion dieser
Projekte. Diese Vorhaben waren allerdings von Unzulänglichkeiten begleitet: Gebildete Afghanen, die
mit ihren Projekten nach Afghanistan kommen, haben eher Schwierigkeiten, mit Menschen an der
Basis in Beziehung treten. Die lange Abwesenheit vom politischen und gesellschaftlichen Leben
Afghanistans hat eine große "Verständigungs-Kluft" zwischen den Projektherren und den
"Hilfsberechtigten" geschaffen. Diese Kluft hat oft dazu geführt, dass die internationale Hilfe nicht
effizient eingesetzt werden konnte.
Die neue Migrationswelle
Trotz gewaltiger internationaler finanzieller Zuwendungen und Etablierung eines neuen politischen
Systems nach dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 verlassen immer noch eine Reihe von afghanischen
Bürgern ihr Land. Obwohl diese neue Auswanderungswelle nicht den Umfang der genannten drei
Phasen hat, ist sie dennoch sehr bedenklich, insbesondere deshalb, weil der neue Migrationsschub
das typische Bild von "Brain Drain" liefert.
Die neue Migrationsgeneration besitzt zwei Haupteigenschaften: Sie gehört zur Elite des Landes und
ihr Auswanderungsziel sind entwickelte Industrienationen. Wie die UNO bekannt gab, stellten weltweit
in den ersten 11 Monaten von 2011 mehr als 30.000 afghanische Bürger Asylanträge. Diese Zahl liegt
25% höher gegenüber 2010.[15] Diese Menschen sind hauptsächlich gebildete Menschen, unter ihnen
Diplomaten, Journalisten, Kaufleute, Studenten und Künstler. Der neue Auswanderungsschub steht
im umgekehrten Verhältnis zur Zahl der Rückkehrer. Nach 2011 kehrte zwar eine beträchtliche Zahl
von Migranten aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück, aber dieser Prozess verlangsamte sich
im Laufe der Zeit: So kehrten 2010 etwa 110.000 Afghanen aus Pakistan zurück, aber die Zahl
verringerte sich 2011 auf 50.000.[16] Schuld an der neuen Auswanderungswelle sind vor allem der
Mangel an Sicherheit und die Arbeitslosigkeit.
Das Fehlen von Sicherheit war in allen Phasen ein wichtiger Grund für die Auswanderung. Man kann
zwar die Auswanderer laut "Internationaler Organisation für Migration" in Kabul (IOM) heute nicht als
"Flüchtlinge" und "Verfolgte" bezeichnen[17], aber fest steht, dass die Zahl der Asylsuchenden und
Flüchtlinge mit der zunehmenden Unsicherheit, insbesondere seit 2005, sprunghaft gestiegen ist, was
die direkte Korrelation zwischen Unsicherheit und Auswanderung in Afghanistan zum Ausdruck bringt.
Arbeitslosigkeit ist ein weiterer Auswanderungsgrund der gegenwärtigen Phase. Die afghanische
Wirtschaft lebt von den Hilfsmitteln der internationalen Gemeinschaft. Milliardenbeträge werden von
nicht-staatlichen Organisationen in Afghanistan verwendet. Die afghanische Regierung schätzt, dass
im Jahr 2009 ca. 77 % der Hilfsgelder an der afghanischen Regierung vorbei direkt an NGOs gingen.[18]
Staatliche und nicht-staatliche Institutionen als Leiter von Aufbauprojekten haben in vergangenen 10
Jahren direkt oder indirekt Tausende von Arbeitsplätzen für die Afghanen bereitgestellt. Nach Angaben
der UNO sind ca. "483.000 Menschen in Afghanistan in 22 Programmen der Nationalen Priorität
(National Priority Programms) beschäftigt.[19] "Die Menschen in Afghanistan befürchten, dass nach
Abzug von internationalen Kräften aus Afghanistan die internationale Hilfe nachlässt und damit die
Zahl der Organisationen und Arbeitsplätze zurückgeht. Warum aber haben Tausende von
Entwicklungsprogrammen nicht dauerhafte Arbeitsplätze und eine dynamische Wirtschaft gebracht?
Eine mögliche Antwort ist die, dass es staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen in den
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
44
vergangenen 10 Jahren nicht gelang, geeignete Fachkräfte auszubilden, obwohl manche Programme
wie das "Nationalisierungsprojekt" (National Institution Building Project) zur Erweiterung der Fachkräfte
innerhalb und außerhalb der Regierung vorhanden waren.[20] Kurzfristige Projekte konnten aber nur
kurzfristige Arbeitsplätze entstehen lassen. Nach Aussage von Sher Verick, Experte der Internationalen
Arbeitsorganisation, "besteht das Hauptproblem des afghanischen Arbeitsmarktes darin, dass viele
Arbeitsplätze in Afghanistan in den vergangenen 10 Jahren durch internationale Geberländer
geschaffen wurden. Diese Beschäftigungsgelegenheiten waren meistens vorübergehender Natur. Wir
müssen uns auf nachhaltige Beschäftigungschancen konzentrieren."[21]
Kapazitätsbildung erfolgt auf zwei Ebenen: Institutionelle und individuelle Kapazitäten. Es scheint,
dass individuelle Kapazitäten bis zu einem akzeptablen Umfang weiterentwickelt sind, insbesondere
deshalb, weil das "Humankapital", also die junge, ausgebildete und qualifizierte Generation aus dem
Iran, Pakistan und sogar aus dem Westen in ihre Heimat zurückgekehrt ist. Aber die Unfähigkeit der
institutionellen Kapazitäten verhindert die Integration dieser Kräfte in den administrativen und
ökonomischen Apparat.
Hinzu kommt, dass die Schwäche der institutionellen Kapazitäten einerseits und die Besetzung dieser
durch ungeeignete Personen einen weiteren Druck auf die afghanische Fachelite darstellt.
Unqualifizierte Kräfte gelangen aufgrund von ethnischen, sprachlichen, politischen und sogar
regionalen Präferenzen ohne Berücksichtigung von Wettbewerbs- und Anstellungsregeln in staatliche
und nicht-staatliche Institutionen.Die Beschränktheit der institutionellen Kapazitäten in Afghanistan
und der langsame Rückgang von internationalen Hilfsleistungen haben die Arbeitslosigkeit in
Afghanistan verschärft. Nach einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation verfügt Afghanistan
über 11 Millionen Arbeitskräfte, von denen 7,9% arbeitslos sind. Jährlich kommen 400.000 neue
Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt.[22]
Man muss daran erinnern, dass die neuen Auswanderer zumeist Migranten der zweiten Generation
aus Pakistan und Iran sind. Auch wenn die erste Generation der Auswanderer größtenteils aus
Dorfbewohnern und weniger gebildeten Personen bestand, ist die zweite Generation eher städtisch
und gebildet.[23]Wenn diese Menschen nach Afghanistan zurückkommen, haben sie kein Interesse
in das väterliche Dorf zu gehen und bevorzugen das Leben in Großstädten wie Kabul, Mazare Sharif,
Herat, Kandahar und Jalalabad.
Die Beziehung der Migranten zu ihrem Herkunftsland
Obwohl gegenwärtig der Reiseverkehr zwischen Afghanistan und seinen Nachbarstaaten bzw. den
westlichen Ländern intensiver als je zuvor geworden ist, lebt eine beträchtliche Zahl dieser Migranten
noch in den Gastgeberländern. Wie halten sie Kontakt mit ihrer Heimat?
Direkter Kontakt
Ein Teil der afghanischen Rückkehrer nach dem Sturz der Taliban gehörte zur wirtschaftlichen Elite,
die das Land aus dem Blickwinkel von günstigen wirtschaftlichen Gelegenheiten betrachteten. Das
Fehlen eines funktionierenden Steuersystems, billige Rohstoffe und Arbeitskräfte und eine Flut von
Auslandshilfen waren Gründe für das Interesse der wirtschaftlichen Elite an Afghanistan. Diese
Personen kamen in der Regel aus entwickelten Industriestaaten nach Afghanistan und waren
selbstständige Investoren. Weitere Fachleute aus nicht-wirtschaftlichen Sektoren (Ärzte, Ingenieure,
Krankenschwester u.a.) wurden durch NGOs, die sich um Migranten kümmerten und auch durch
Arbeitsagenturen nach Afghanistan geschickt. So war die "Internationale Organisation für Migration"
(IOM) eine der Institutionen, die für die Rückkehr von Fachkräften (brain gain) nach Afghanistan sehr
aktiv war. Die meisten im Westen ansässigen Investoren, Inhaber von nicht-staatlichen Organisationen
und qualifizierte Kräfte verlassen Afghanistan nach Abschluss der Projekte, bei Minderung der
Hilfsmittel oder Kürzung ihrer Gehälter.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
45
Abgesehen davon gibt es aber eine Reihe von Migranten, die in ihre Stadt oder in ihr Dorf zurückkehren
und in der Regel auch langfristige Investitionen tätigen. Diese Investitionen konfrontieren die
Einheimischen mit neuen Ideen und einem neuen Lebensstil. Es ist wichtig zu wissen, dass der Anbieter
hier nicht eine staatliche oder nicht-staatliche Organisation ist, sondern aus der Mitte der Gesellschaft
kommt. Der in Italien lebende Regisseur Razi Mohebbi sagt: Manche Rückkehrer gehen nicht nach
Kabul, weil ihre Präsenz dort nicht "effektiv" ist und sie sich dort "unterfordert" fühlen. Sie gingen
deshalb in ihren Geburtsort und tragen eine "andere Kultur und Wirtschaftsleben" in diese Orte hinein –
insbesondere die aus der ersten Generation. Hinzu kommt, dass manche Organisationen und
Institutionen der afghanischen Migranten im Westen noch ihre traditionellen Kontakte mit ihrer Heimat
aufrechterhalten haben. Diese Organisationen initiieren Programme und sammeln Spenden, die sie
direkt nach Afghanistan schicken. Dazu gehört zum Beispiel der "Afghanischer Frauenverein e.V." in
Osnabrück, der jährlich im Rahmen von Veranstaltungen mit Unterhaltung und Kultur Spenden für den
Aufbau von Schulen und anderen gemeinnützigen Projekten in Afghanistan sammelt.
Die virtuelle Präsenz
Mit der Ausweitung von Kommunikationsmöglichkeiten ist auch der Kontakt von afghanischen
Migranten im Ausland zu ihrer Heimat besser geworden. Telefon, Internet und soziale Netze haben
die Distanz zwischen Migranten und den Bewohnern in Afghanistan deutlich verringert. Vor dem Sturz
der Taliban war schon der telefonische Kontakt extrem schwierig. Der Kontakt zwischen Migranten
und ihren Angehörigen in Afghanistan lief über Briefwechsel oder Audio-Kassetten, die manchmal
Monate brauchten, um anzukommen. Die neuen Kommunikationsmittel haben erreicht, dass
afghanische Migranten leichter Aktivitäten entfalten können. Solche Aktivitäten sind häufig freiwillig
und ehrenamtlich und geschehen aus zwei Gründen: Sammeln von materiellen Hilfsmitteln über das
Netz und Management von Entwicklungsprojekten in Afghanistan.
Der in Italien lebende Ethnologie-Student Hamed Ahmadi schreibt beispielsweise, dass er über
Facebook dabei ist, Spenden für den Bau einer Schule in der Region "Paye Kohe Mikh" (Bezirk Waras)
im Zentrum Afghanistans zu sammeln. Hamed hat diese Region noch nie gesehen, aber es ist der
Geburtsort seines Vaters. Hamed meint, dass ein Netz von Freiwilligen, jeweils im Ausland und Inland,
den Bau dieser Schule sehr gut vorantreiben könne.
Hamed sagt, dass freiwillige und ehrenamtliche Initiativen zum Wiederaufbau Afghanistans für den
Westen fremd sind. Er meint, eine neue Schule könne mit freiwilliger Unterstützung nur mit 15.000
Euro gebaut werden. Dagegen kostet die Durchführung des gleichen Projektes durch NGOs mehrere
Hunderttausend Euro. Manche Migranten beraten die Bewohner ihrer Heimatregionen, wie sie
Spenden sammeln können, welche Projekte wichtig sind und wie man diese durchführen kann.
Resümee
In den vergangenen 30 Jahren kam es in Afghanistan immer wieder zu einem "brain drain", der
hauptsächlich durch Kriege und Wechsel von politischen Systemen verursacht wurde. Immer wenn
ein neues Regime an die Macht kam, verließen Beamte und Politiker des alten Regimes zusammen
mit einer großen Zahl von einfachen Menschen das Land.
Die Entwicklungen nach 2011 sorgten für die Rückkehr mancher Eliten der ersten Generation und
einer Reihe von jungen ausgebildeten Menschen der 2. Generation. Der Mangel an institutionellen
Kapazitäten und das Fehlen von langfristigen Programmen waren Gründe dafür, dass diese allmählich
das Land wieder verließen. Es kommt die Unsicherheit hinzu, dass die Zahl der arbeitsschaffenden
Organisationen mit dem Abzug von internationalen Kräften zurückgeht. Die Präsenz der internationalen
Streitkräfte hat eine gewisse Sicherheit geboten, die bisher ausreichend war, um die Arbeit der NGOs
zu gewährleisten. Wenn diese wegfällt, wird die Arbeit dieser Organisationen schwieriger, wenn sie
nicht ohnehin abziehen.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
46
Wie die Verantwortlichen der "Internationalen Organisation für Migration" in Kabul meinen, flüchten
die neuen Auswanderer aus Afghanistan nicht wegen der unsicheren Lage ins Ausland. Vielmehr sind
sie auf der Suche nach einer sicheren Zukunft.[24] Die Herstellung einer relativen Sicherheit, die
politische Stabilität und Entwicklung von institutionellen Kapazitäten sind wesentliche
Voraussetzungen, um den "brain drain" aus Afghanistan zu verhindern und umgekehrt erfahrene und
ausgebildete Kräfte wieder ins Land zu holen. Die modernen Kommunikationsmittel haben die
Teilnahme von afghanischen Migranten am Geschehen in Afghanistan auch in abgelegenen
Gemeindendeutlich verbessert. Diese Beziehungen führten zur Bildung von aktiven sozialen Netzen,
die sich auf freiwilliger Basis für die Entwicklung Afghanistans einsetzen.
Bibiliographie
Braakman, M. (2005). Roots and Routes; Questions of Home, Belonging and Return in an Afghan
Diaspora (M.A. Thesis). Leiden - Netherlands: Leiden University.
Brubaker, R. (2005). The 'diaspora' diaspora. Ethnic and Racial Studies , 1-19.
Bundesamt fuer Fluechtlinge und Migration, Dr. Habil. Sonja Haug Stephanie Muessig, M.A.Dr. Anja
Stichs (Hrsg): Muslimisches Leben in Deutschland, 2009: page 76, chart 5.
Deutsche Welle. (2012, June 18). Dari. Retrieved July 2012, from Deutsche Welle (http://www.dw.de/
dw/article/0,,16033145,00.html)
DW. (2012, June 06). Dari. Retrieved July 08, 2012, from Deutsche Welle (http://www.dw.de/dw/
article/0,,16001049,00.html)
Frederic Docquier; Hillel Rapoport. (2006). The Brain Drain. In New Palgrave Dictionary of Economics
(p. 2). palgrave.
Groot, Richard and Paul van Molen, Eds. (2000): Workshop on Capacity Building in Land Administration
for Developing Countries-Final Report. ITC, Enchede, The Netherlands, 12-15 November 2000
IOM. (2012, May). Afghanistan. Retrieved July 09, 2012, from International Organization for Migration
(IOM) (http://www.iom.int/jahia/Jahia/afghanistan)
Nicholas Abercrombie; Stephen Hill, Bryan Turner. (2006). Dictionary of Sociology. London: Penguin
Reference .
Poole, Lydia.(2011). Afghanistan; Tracking Major Resources Flows 2002-2010. p.9.
Refugee Cooperation. (2011, Feb 9). Middle East Institute, Afghanistan . Retrieved Dec 12, 2012, from
Refugee Cooperation (http://www.refugeecooperation.org/publications/Afghanistan/05_jalal.php)
Tatjana Bauralian; Michael Bommes; Heike Daume; Tanja El-Cherkeh; Florin Vdean. (2006). Egyptian,
Afghan, and Serbian Diaspora Communities in Germany: How do they Contribute to Their Country of
Origin? Eschborn: Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenartbeit (GTZ) GmbH.
Telegraph. (2012, January). Afghanistan. Retrieved July 2012, from The Telegraph (http://www.
telegraph.co.uk/news/worldnews/asia/afghanistan/9030969/Afghan-asylum-seekers-at-highest-numbersfor-a-decade.html#)
UN. (2012, February). UN News Centre. Retrieved July 2012, from UN (http://www.un.org/apps/news/
story.asp?NewsID=41121&Cr=afghan&Cr1=refugee)
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
47
UNDP. (2010). UNDP Afghanistan Annual Report 2010. Kabul: UNDP.
World Bank. (2011). Capacity Development Resources Center. Retrieved July 10, 2012, from The
World Bank (http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/TOPICS/EXTCDRC/0,,contentMDK:20461439~
menuPK:64169181~pagePK:64169212~piPK:64169110~theSitePK:489952,00.html)
Zitationen
The term ”brain drain” designates the international transfer of resources in the form of human capital
and mainly applies to the migration of relatively highly educated individuals from developing to
developed countries. (Frederic Docquier; Hillel Rapoport, 2006; p.2)
Twenty two National Priority Programmes have been developed and subsequently endorsed by the
Kabul process and nearly 483,000 people have benefited from employment opportunities as a result
of implementation of community development and infrastructure projects (UNDP, 2010, p.7)
While capacity development is an integral part of all the development efforts, UNDP through the National
Institution Building Project (NIBP) is working with the Government of Afghanistan to focus on the
capacity development of select government institutions through advisory support and twinning
arrangement. (UNDP, 2010, p.16)
Fußnoten
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
Deutsche Welle, 2012
Abercrombie, et al., 2006
Brubaker, 2005, S. 5-6
Docquier and Raporto, 2006, S. 2
Bauralin; Bommes, et al., 2006, S. 9
UNHCR; Braakmann, 2005, S. 7
Bauralin; Bommes, et al., 2006, S. 10
Bauralin; Bommes, et al., 2006, S. 10
Braakmann, 2005, S. 8; Immig und Van Heugten, 2000
Bauralin; Bommes, et al., 2006, S. 39
Bundesamt fuer Fluechtlinge und Migration, Dr. Habil. Sonja Haug Stephanie Muessig, M.A.Dr.
Anja Stichs (Hrsg.): Muslimisches Leben in Deutschland, 2009: page 76, chart 5.
Braakmann, 2005, S. 8-9
Ebda, S. 23
Bauralin; Bommes, et al., 2006, S. 29
Telegraph, 2012
UN, 2012
Telegraph, 2012
Poole, Lydia.(2011). Afghanistan; Tracking Major Resources Flows 2002-2010, S.9.
UNDP, 2010, S. 7
UNDP, 2010, S. 16
DW, 2012
DW, 2012
Refugee Cooperation. (2011, Feb 9). Middle East Institute, Afghanistan . Retrieved Dec 12, 2012,
from Refugee Cooperation (http://www.refugeecooperation.org/publications/Afghanistan/05_jalal.
php)
Telegraph, 2012
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
bpb.de
48
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
49
Die Stimme vom Hindukusch
Die traditionelle Musik Afghanistans
Von Mohammad Ali Karimi
21.1.2013
war Dozent für Film und Theater an der Kabuler Universität. Er studierte Film und Theater an der Kabuler Universität (BA) und
Kommunikationswissenschaften an der Universität von Ottawa (MA). Gleichzeitig war er Produzent und Journalist. Derzeit promoviert
er in Kommunikationswissenschaften an der McGill Universität in Montreal.
Die traditionelle afghanische Musik ist bislang nicht ausreichend untersucht worden. Dabei ist
sie für die Afghanen mehr als Unterhaltung. Afghanistan besitzt eine "orale Kultur", die
schriftliche Fixierung und Erfassung spielt eine untergeordnete Rolle. Die Musik ist deshalb
eine reiche Quelle der Geschichte und des kollektiven Gedächtnisses des afghanischen Volkes.
Das älteste Zeugnis über die Musik in Afghanistan ist eine Wandmalerei in einer der Höhlen in der
Nähe der ehemaligen Buddha-Statuen in Bamian. Das Bild zeigt zwei Harfe spielende Frauen.
Vor dem Islam war die Religion eine Antriebskraft für die Entwicklung und Verbreitung der Musik.
Dagegen brach nach dem Eindringen des Islam in das Gebiet des heutigen Afghanistan die Bindung
zwischen Musik und Religion ab. Es kam sogar zu einer Kriegserklärung der Religion gegen die
Musik.[1] Das am nächsten liegende Beispiel sind die Taliban: Als sie 1996 an die Macht kamen,
verbaten sie diese uralte Kunst, schikanierten die Musiker, und als sie 2001 die Buddha-Statuen
sprengten, vernichteten sie auch die 1500 Jahre alte Wandmalerei der buddhistischen Musikanten.
Trotz der langen Auseinandersetzungen und Feindschaften zwischen Musik und Religion konnte die
Musik auch unter schwierigsten Bedingungen ihre Existenz behaupten und den Menschen in den tiefen
Tälern des Hindukusch und in abgelegenen afghanischen Dörfern Wärme spenden. Die Afghanen
haben ihre Bindung zur Musik, insbesondere zur Folklore-Musik, nie verloren, obwohl die
fundamentalistischen Mullahs Jahre lang von den Kanzeln gegen Musik und Fröhlichkeit predigten.
Vielleicht kann man behaupten, dass nach dem Wettkampf und der Dichtung die Musik die dritte
Lieblingsbeschäftigung der Afghanen ist.
Währen des jahrhundertelangen andauernden Kampfes des Islam gegen die Musik waren es drei
Gruppen, die diese "verbotene Kunst" vor der Vernichtung schützten: Regionale Folklore-Musiker,
Hofmusiker und Sufis. Diese drei Gruppierungen bestehen alle aus unteren gesellschaftlichen
Schichten. Von ihnen erbrachten die Folklore-Musiker das größte Opfer, und sie waren es, die die
größte Anstrengung zur Erhaltung des traditionellen musikalischen Erbes auf sich nahmen. Sie
erduldeten Beleidigungen, Erniedrigungen und Armut, legten aber ihre Instrumente nicht zur Seite.
In allen afghanischen Regionen ist Musik ein Synonym für diskriminierende Beschimpfungen. Musiker
werden mit "Jat" (Zigeuner), "gharibzadeh" (vaterlos), "dallak" (dallak ist die abwertende Bezeichnung
für traditionelle Körperbehandlung in Badeanstalten oder auf den Straßen.) "sazandeh"
("Klangerzeuger") und ähnlichen Dingen beleidigt. Örtliche Folklore-Musiker kommen in der Regel aus
armen Familien und haben einen sehr niedrigen sozialen Rang. Diese wurden nur Musiker, um in
öffentlichen und privaten Veranstaltungen der Reichen zu singen und zu spielen. Die meisten von
ihnen laufen von Ort zu Ort. Die Musiker rasieren auch Haare ab, beschneiden die Jungs und ziehen
Zähne, um sich ein Zubrot zu verdienen. Diese Kategorie von Musikern ist in vergangenen Jahren
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
50
durch Urbanisierung und Zugang von Menschen zu Radio und Fernsehen kleiner geworden.
Volksmusik
Heute lässt sich die Musik in Afghanistan in drei Kategorien einteilen[2]:
a.
Die als "klassisch" bezeichnete Musik indischen Ursprungs, die von professionellen Künstlern in
Städten ausgeübt wird.
b.
Pop-Musik, die nach der Gründung von Radio Kabul 1920 in Afghanistan Fuß fasste und im Prinzip
eine städtische Erscheinung ist.
c.
Die traditionelle afghanische Musik, die man als "Volksmusik" bezeichnet und auf die alten
regionalen Kulturen der einzelnen afghanischen Provinzen zurückgeht und sehr vielfältig ist.
Obwohl die afghanische Musik von zentralasiatischer, iranischer und indischer Kultur beeinflusst ist,
besitzt sie eine unverkennbare Eigenart, so dass der Hörer leicht ihre Besonderheit spürt. Einer der
ersten Europäer, der auf die Eigenart und Besonderheit der afghanischen Musik aufmerksam wurde,
war der Franzose J. Delor, der seine Gefühle darüber 1946 in einem Artikel niederschrieb. Er sagt:
"Die afghanische Musik ist von zwei Welten und verbindet den Osten und Westen miteinander. Diese
fremde Musik glänzt mit ihrer Eigenart. Man spürt nichts von einer Monotonie der arabischen Musik
oder Lahmheit der iranischen Musik."[3] In vielen afghanischen Provinzen gehört die Musik zur
täglichen Kultur. So findet man in Badakhshan und Herat in jedem Teehaus ein Musikinstrument (z.B.
"Dotar", "Robab", "Danbourah"(Saiteninstrumente) und "Reitchak" (Blechschwinginstrument),.
Jeder Besucher, der hineingeht, kann damit spielen, wenn er das Instrument beherrscht. Manchmal
singen Volksmusiker regelmäßig auf öffentlichen Plätzen. Trotzdem ist die Volksmusik dabei, ihre
Originalität zu verlieren. So hat sie in Herat nur noch in Dörfern ihre Echtheit bewahrt und besitzt noch
Spuren der khorasanischen Mugham-Musik. Aber die "regionale Volksmusik", die von städtischen
Künstlern gespielt wird, ist mehr von der indischen Musik und Pop-Musik beeinflusst und hat weniger
Ähnlichkeiten mit der traditionellen Musik von Herat.[4] Es wird in Afghanistan als selbstverständlich
angesehen, dass die traditionelle oder regionale Volksmusik nur in abgelegen Orten gespielt werden
kann. Was aber in den Städten als echte afghanische Musik präsentiert wird, ist stark von indischer
Musik und iranischer Pop-Musik beeinflusst.
Die traditionelle afghanische Musik ist bislang nicht ausreichend untersucht worden. Einige westliche
Ethnomusikologen haben über bestimmte Regionen gearbeitet: So hat J. Baily[5] wertvolle
Untersuchungen über die traditionelle Musik von Herat herausgegeben. Auch H. L. Sakata[6] hat die
Musiktradition in Badakhshan, Daikendi und Herat untersucht. Mark Slobin[7] hat die traditionelle Musik
des Nordens unter die Lupe genommen. Auch die Afghanen selbst haben einige unvollständige Arbeiten
über die traditionelle Musik in Afghanistan geleistet. Man kann von Abdul Wahab Madadi[8], Enayatullah
Shahrestani[9] und Asadullah Shoour sprechen. Eine systematische Arbeit über die Ursprünge der
traditionellen afghanischen Musik und deren Gattungen ist aber bis heute noch nicht geleistet worden.
Was die Erhaltung und Archivierung der traditionellen Musik angeht, haben sowohl die Afghanen, als
auch ausländische Forscher beachtliche Anstrengungen unternommen. In den 1960er Jahren war Jalil
Zaland Musikdirektor des afghanischen Rundfunks. Er bat jeden, der ein Lied kannte, in die Funkanstalt
zu kommen und es gegen ein Honorar vorzusingen. Es meldeten sich hunderte von Menschen aus
verschiedenen Regionen und sangen Lieder aus ihrer Gegend vor, die archiviert wurden. Später
wurden diese Lieder von professionellen afghanischen Künstlern im Orchester reproduziert. Mit diesem
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
51
Schritt wurde die städtische Pop-Musik mit Folklore-Musik angereichert, was bis heute in der
afghanischen Musik spürbar ist. Auch heute sind die populärsten Stücke der Pop-Musik diejenigen,
die nach regionalen Liedern produziert sind.
Dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass die gesamte afghanische Musik gesammelt worden
ist. Viele Stile und Genres der afghanischen Musik sind immer noch unbekannt. Dazu gehört vor allem
die Musik von Gegenden, die von Städten und touristischen Zentren entfernt sind. Die dänischen
Forscher Klaus Ferdinand und Lennart Edelberg waren wohl die ersten Wissenschaftler, die 1953 im
Rahmen ihrer ethnologischen Forschungen in Nourestan und Hazarajat die regionale Musik dieser
Gebiete erfassten. Diese beiden Forscher reisten auch 1964 und 1970 nach Afghanistan und setzten
die Erfassung der afghanischen Musik fort.[10] In den 1960er und 1970er Jahren beschäftigten sich
mehrere ausländische Ethnologen mit Forschung und Erfassung der traditionellen afghanischen Musik.
Als 1970 der afghanische Sänger Abdul Wahab Madadi als Praktikant zum WDR kam, machte er die
Deutschen auf seine Heimatsmusik aufmerksam. Darauf hin schickte der WDR mit Hilfe von Madadi
ein Team nach Afghanistan, das in verschiedenen Teilen des Landes mit der Sammlung und Erfassung
der Musik begann. Das Ergebnis wurde 1995 auf einer CD (Afghanistan- A Journey to an Unknown
Musical World) veröffentlicht. Es sind bis jetzt mehrere andere Musiksammlungen für den Weltmarkt
der Musik im Westen herausgegeben worden, die sich an Liebhaber der Folklore-Musik ferner Kulturen
wenden.
Das Kollektivgedächtnis
Die Traditionsmusik ist für die Afghanen mehr als eine Unterhaltung. Afghanistan besitzt eine "orale
Kultur", die schriftliche Fixierung und Erfassung spielt eine untergeordnete Rolle. So werden Musik
und Geschichten, die sie wiedergibt, von einer Generation an die andere weitergegeben. Diese sind
reiche Quellen der Geschichte und des kollektiven Gedächtnisses des afghanischen Volkes.
Insbesondere die langen Kämpfe haben die afghanische Musik stark geprägt.
Epische, romantische und religiöse Geschichten in der traditionellen afghanischen Musik sind Ausdruck
von Glaubensinhalten, Ideen und Wertorientierungen der Menschen dieses Landes. Die Beschäftigung
mit der regionalen Musik offenbart die historischen Erfahrungen der jeweiligen Bevölkerung. Die
Hazaras in Zentral-Afghanistan waren stets eine unterdrückte Minderheit und wurden in vergangenen
150 Jahren mehrfach Opfer von Massakern. Diese bitteren Erfahrungen gießen sie in ihre Gesänge,
die von Damburah begleitet werden. Sie singen von den Massakern und von dem heldenhaftem
Widerstand ihres Volkes. Obwohl Damburah auch in Nord-Afghanistan verbreitet ist, ist es meistens
mit den Hazaras verbunden. In Nord-Afghanistan wird das Damburah in der Regel von einem anderen
Instrument wie dem Reitchak begleitet, aber bei Hazaras dient es als Soloinstrument, neben dem man
nur den Gesang hört. Obwohl das Damburah der Hazaras wie der Dotar der Heratis nur zwei Saiten
hat, hat es bei den Hazaras einen anderen Klang und wird auch anders gespielt. Das Damburah der
Hazaras hat einen trockenen und melancholischen Klang und gibt die Eigenart der Geschichte, der
Natur und die vergessene Bevölkerung dieser Gegend wieder.
Die Taliban waren die hartnäckigsten Feinde der Musik in der afghanischen Geschichte. Als sie 1996
Kabul eroberten, nannten sie Radio Kabul in "Sharia Radio" um und verbaten die Ausstrahlung jeglicher
Musik. Musik war nicht nur im Radio verboten, sondern auch in der Öffentlichkeit, im Basar, Zuhause
oder in Autos. Aber sogar die Taliban konnten nicht ohne Musik auskommen. Sie strahlten aus dem
Radio "Taranehs" (Gesang) aus, die ohne Musikinstrumente von einem Mann oder einem Männerchor
gesungen wurden. Thomas Johnson und Ahmad Waheed haben einen Teil der "Taranehs" der Taliban
untersucht. Sie kommen zum Ergebnis, dass die Taliban ihre grausame Ideologie mit Texten ihrer
Lieder verbreiten wollten.[11]
Ob die "Mukhtes" (Klagelieder) der Hazaras, die "Falak" Lieder aus Badakhshan oder die "Taranehs"
der Taliban, alle diese Gattungen sind verschiedene Formen der regionalen afghanischen Musik. Alle
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
52
sind eine geeignete Quelle für das Erkennen der Folklorekultur und beinhalten das kollektive
Gedächtnis dieser Volksgruppen. Es sind Inhalte, die man in regulären Textsammlungen nicht finden
kann.
Auswanderung
Als Amanullah Khan 1927 seine historische Europa-Reise unternahm, waren in seinem Gepäck auch
einige Schallplatten mit Liedern von Ustad Ghasem Afghan. Die afghanische Musik war für den König
auf der Reise das einzige Bindeglied zwischen ihm und dem Hindukusch-Gebirge. Er schreibt selbst,
dass er in der Zugfahrt von Berlin nach Russland die Musik von Ustad Ghasem Afghan hörte und beim
Gedanken an die Heimat weinte.[12]
Die zehn Millionen Afghanen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten in Folge von Kriegen ihre
Heimat verlassen haben, machen eine ähnlich Erfahrung wie Amanullah. Wo sie hingegangen sind,
haben sie ihre Musik und ihre Reisespeisen (wie Qabolipalau, gebräunter Reis mit Lammfleisch,
Möhren und Rosinen) mitgenommen. Das erste als geistige und das zweite als körperliche Nahrung.
Musik ist die Stimme und Qabolipalau der Geschmack der fernen Heimat.
Für Millionen von Afghanen ist es der Klang von Damburah, Dotar und Robab, der sie mit ihrer Heimat
und den Tälern im Hindukusch verbindet. Man könnte sagen, dass dies für Flüchtlinge aller Nationen
gilt, dennoch ist die Bindung der Afghanen an ihre traditionelle Musik viel enger. Sie möchten in der
Musik Zuflucht suchen, um in Vorstellungen ihr verloren gegangenes Haus wieder lebendig machen.
Mit Musik verbinden sie Nostalgie und Kontemplation.
Die Musik hat die afghanische Kultur stark geprägt. Viele geflüchtete afghanische Künstler sind dazu
übergegangen, sich von der afghanischen Musik ganz zu verabschieden und sich der westlichen
Popmusik zu widmen. Dagegen hat eine andere Gruppe auch im Ausland weiter afghanische
Folkloremusik produziert, CDs herausgegeben und sich durch Konzerte um Zugang zum
internationalen Markt bemüht. J. Baily hat wertvolle Forschungen über die afghanische traditionelle
Musik in Diaspora unternommen.[13]
Nach den Taliban
Nach 2001 war auf einmal das Klima in Afghanistan von populärer Musik beherrscht.Die Stimme der
traditionellen afghanischen Musik war kaum hörbar. Als Reaktion auf diese Welle der populistischen
Strömung wurden von afghanischen und internationalen Institutionen Anstrengungen zum Erhalt und
Entwicklung der Traditionsmusik unternommen. So wurde im Sommer 2010 mit ausländischer
Unterstützung und unter der Leitung von Nasser Sarmast das "Nationale Afghanische Musikinstitut"
ins Leben gerufen. In diesem Institut soll mit Hilfe von europäischen und afghanischen Dozenten eine
neue Generation von afghanischen Musikern ausgebildet werden. 50% der Schüler dieses Instituts
sind Straßenkinder, und die Schüler lernen auch traditionelle afghanische Instrumente. In der Zeit
davor hatte 2003 die Agha Khan Stiftung Musikkurse für die traditionelle afghanische Musik in Kabul
und Herat gegründet, die auch heute im Betrieb sind.
Ein weiteres Ausbildungszentrum ist die Musik-Fakultät der Universität Kabul, an der vorrangig
westliche und indische Musik unterrichtet wird. Inoffiziell sind die Viertel "Gozare Kharabat" und
"Shorbazar" der Altstadt von Kabul immer noch Zentren, in denen alte Musikmeister arbeiten und
leben. Dort befinden sich immer noch einige Werkstätten für den Bau von Musikinstrumenten und
einige Kurse für traditionelle Musik, die von noch in Kabul lebenden Musikmeistern betreut werden.
Die afghanische Traditionsmusik hat nicht mehr die alten Musiker und Zuhörer. Die legendären
afghanischen Musiker sind entweder gestorben oder geflüchtet. Die neue Generation neigt eher zur
Popmusik und elektrischen Musikinstrumenten. Auch das einfache Volk hat sich von der
Traditionsmusik entfernt. Die neue Generation wuchs mit Musik aus UKW-Sendern und bunten
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
53
Videoclips der TV-Sender auf und hat weder ein Interesse für die Traditionsmusik, noch hört oder kennt
sie diese Musikrichtung. Die traditionelle Musik wird in den Städten eher von einer kleinen Elite
bevorzugt oder lebt auf an abgelegenen Orten und unterhält eine von der Moderne getrennte
Bevölkerung. Die afghanische Traditionsmusik gewann nach mehreren Jahrhunderten den Kampf
gegen die Scharia und ließ sich nicht in die Knie zwingen. Kann sie nun auch den Lärm der Popmusik
überleben?
Fußnoten
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
A.A. Kahzad, Afghanistan dar Parto-e Tarikh [Afghanistan im Licht der Geschichte], Teheran,
Donya-ye Ketab, 2010
Diese Einteilung gilt natürlich dann, wenn wir die Musik nach Einschätzung der Afghanen nur als
das Spielen eines Instrumentes definieren. Wie Sakata (s. Fußnote Nr. 6) vermerkt, gilt für die
Afghanen die Vokalmusik nicht als Musik, und deshalb wurden dagegen keine religiösen Einwände
erhoben. In Klostern, Moscheen und bei religiösen Zeremonien wird oft die Vokalmusik eingesetzt.
Diese warden als “naat” (Lobgesang für einen Heiligen), “hamd”(Lobpreisung Gottes) “manghabat”
(Lobeshymnen für Imame) und “nowheh” (Klagelieder) bezeichnet.
Delor, J. (1946). Musique afghane. Afghanistan. 3, Seite 24-29
Ghasemi u.a. Zir wa Bam [“Hoch und Tief”], eine Untersuchung über die Traditionelle Musik in
Bdakhshan, Herat, Badgheis, Kabul, Bonyad-e Armanshahr Verlag 2011
Baily, J. (1989). Music of Afghanistan: Professional Musicians in the City of Herat. Cambridge:
Cambridge University Press
Sakata, H., L. (1983). Music in the Mind: The Concept of Music and Musician in Afghanistan. Kent:
Kent State University Press
Slobin, M. (1976). Music in the Culture of Northern Afghanistan. Tucson: University of Arizona Press
Madadi, Sargozashte Mousighi Moaser-e Afghanistan [Geschichte der Gegenwartsmusik in
Afghanistan], 2. Auflage, Teheran-Kabul, Erfan-Verlag 2011
A. Shahrani, Instrumentalmusik und Gesang in Afghanistan (2 Bände), Kabul, Beihaghi-Verlag,
2010
Irgens-Moller, C. (2005). Remnants of the Kafir music of Nuristan - a historical documentation.
Danish Society of Central Asia's Electronic Quarterly. No 2. pp. 57-68
Johnson, T., H. & Waheed, A. (2011). Analyzing Taliban taranas (chants): an effective Afghan
propaganda artifact. Small Wars & Insurgencies. Vol. 22, No. 1, pp. 3–31
A. Popalzai u.a., Safarhaye Ghazi amanullah Shah da dawazdah Keshware Asia wa Oroupa
1306-1307 [Die Reisen von König Amanullah in zwölf asiatische und europäische Länder, 1927/28],
Kabul, Staatsdruckerei, 1985
Baily, J. (2010).Two Different Worlds: Afghan Music for Afghanistanis and Kharejis.
Ethnomusicology Forum. Vol. 19, No. 1, pp. 69-88
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
54
Landschaftsarchitektur und
Siedlungsbau
Die Geschichte des Siedlungswesens in Afghanistan
Von Hamid Faruqui
21.1.2013
ist Diplom-Ingenieur, Gründer des Förderverein Darul-Aman e.V. und der Darul-Aman Stiftung Kabul. Hamid Faruqui gründete 1985
das Architekturbüros Hamid Faruqui & Partner in Bad Homburg. Nach dem Sturz der Taliban machte er eine Bestandsaufnahme
und erarbeitete einen Masterplan für den Stadtteil Darul-Aman. Derzeit arbeitet Faruqui an einer Publikation zu dem Thema "Einfluss
der europäischen Architektur auf die Stadtentwicklung in Afghanistan".
Die massive Zerstörung der großen Zentren einerseits und die hohe Arbeitslosigkeit und
Bevölkerungsexplosion im ländlichen Raum anderseits haben in Afghanistan zu einer
gewaltigen Verstädterung geführt: Lebten beispielsweise vor dem Krieg schätzungsweise
500.000 Menschen in Kabul, sind es heute wohl 4,5 Millionen.
Afghanistan verfügt über eine lange Geschichte städtischer Siedlungen. Unter bestimmten Dynastien
erblühten kleinere Städte und wurden zu mächtigen Reichs- und Kulturzentren. Ehemals bedeutende
Städte sanken zu Provinzstädten herab oder verschwanden fast völlig von der Landkarte. Ein Beispiel
für Ersteres ist etwa die Geschichte Ghaznis – 120 km westlich von Kabul – unter den Ghaznaviden
im 11. und 12. Jahrhundert. Ein Beispiel für die zweite Entwicklung bietet Balkh, das bis zu seiner
Zerstörung durch Dschingis Khan im 13. Jahrhundert zu den blühenden Städten gehörte, sich aber
nach seiner Zerstörung bis heute jedoch nicht wieder erholt hat.
Die Entwicklung des afghanischen Städtewesens lässt sich nicht als lineares Wachstum begreifen.
Sie basiert vielmehr den kulturgeografischen Bedingungen des Landes und der Abhängigkeit von
klimatischen und natürlichen Gegebenheiten. Als weitgehend gebirgiges Wüsten- und Halbwüstenland
boten lediglich jene Gebiete oder Oasen günstige Voraussetzungen für das Wachsen von Städten,
die die städtische Bevölkerung aus dem Umland mit Nahrung versorgen konnten. Das heißt sie mussten
über genügend ausgedehntes Ackerland mit entsprechender Bewässerung verfügen. Derartige
Gebiete gibt es im Westen um die Stadt Herat herum, im Süden zwischen Lashkargah, Kandahar und
Kalat-e Ghilzai. Im Osten umfassen sie das Kabul-Tal und Jalalabad sowie im Norden die turkmenische
Tiefebene.
Die erst im 20. Jahrhundert zu Städten gewordene Ansiedlungen wie etwa Baghlan oder Kunduz im
Norden des Landes sind über Jahrtausende Zentren dieser Gebiete gewesen.Die Reichsgründung
der Paschtunen im 18. Jahrhundert vereinigte sämtliche dieser Gebiete erstmals seit dem 12.
Jahrhundert wieder unter einer einheimischen Reichsherrschaft mit Kandahar und ab 1772 Kabul als
Hauptstadt.
Die koloniale Politik der Großmächte Russland und England im 19. Jahrhundert reduzierte – neben
internen Fehden – das ehemalige Großreich auf die heutigen Grenzen und klammerte das Land
zugleich aus Fortschritt und Entwicklung aus. Ende des 19. Jahrhunderts lebten in Kabul ca. 60.000
bis 80.000 Menschen, in Kandahar und Herat jeweils ca. 10.000 bis 15.000. Städtische Siedlungen
wie Jalalabad, Mazar-e Sharif oder Ghazni zählten etwa 1.000 bis 5.000 Einwohner. Mit dem Erhalt
der vollen staatlichen Souveränität 1919 und dem Beginn einer allgemeinen Modernisierungspolitik
seit den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die dann nach dem Zweiten Weltkrieg durch
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
55
internationale Entwicklungshilfe entscheidend angekurbelt wurde, erfuhr das Städtewesen einen
langsamen Aufschwung. Durch stetiges Bevölkerungswachstum, den Ausbau staatlicher
Dienstleistungssektoren sowie die allmähliche Sesshaftigkeit der Nomaden erhielten die traditionell
bedeutenden Städte teilweise neue Funktionen und wurden zum Ausgangspunkt der
Modernisierungsmaßnahmen.
Diese Maßnahmen trafen die einzelnen Städte allerdings sehr unterschiedlich: Kabul als Hauptstadt
und Sitz der Regierung bekam den Löwenanteil aller Investitionen im Infrastrukturbereich. Herat und
Kandahar, die beiden nächst wichtigen Provinzzentren, erlebten vor allem auch aufgrund der
Bemühungen einer einheimischen Beamten- und Händleroberschicht einen kontinuierlichen
Aufschwung. Jalalabad profitierte vor allem von seiner Lage an der Hauptstraße zum indischen
Südkontinent. Mazar-e Sharif wurde durch das Interesse der Kabuler Zentralregierung an einer engeren
Anbindung der nördlichen Provinzen an Kabul aufgewertet und gewann seit den sechziger Jahren vor
allem als Zentrum abbauwürdiger Gasvorkommen an Bedeutung. An der unterschiedlichen Geschichte
dieser fünf Städte lässt sich paradigmatisch die Kontinuität des afghanischen Städtewesens ablesen
und anhand ihres Ausbaus der Wandel bis heute erfassen.
Nach 25 Jahren Bürgerkrieg sind diese großen Zentren jedoch zerstört und die Kontinuität kaum mehr
zu erkennen. Erst durch die Vertreibung des Taliban-Regimes wurde die Chance für eine Neugründung
einer städtebaulichen Neuorientierung als Vision geboren. Allen Fehlentwicklungen, die vor der
Zerstörung auch in der Stadtentwicklung vorhanden waren, wird durch ein Gesamtkonzept
(Masterplan) und gezielter fachlicher Planung entgegengewirkt.Im Gegensatz zu den Zwanziger
Jahren des 20. Jahrhunderts aber konnte die wirtschaftliche Hilfe der Geberländer, die 2002 in Tokio
beschlossen wurde, das Stadtwesen in Afghanistan nicht verbessern.
Die massive Zerstörung der großen Zentren einerseits und die hohe Arbeitslosigkeit und
Bevölkerungsexplosion im ländlichen Raum anderseits haben dazu geführt, dass viele Menschen ihr
gewohntes Umfeld verlassen mussten, um in den großen Städten Wohnraum und Arbeit zu finden.
Die Zentralregierung in Kabul hat die Risiken einer Verstädterung nicht rechtzeitig erkannt und somit
dazu beigetragen, dass die großen Städte, insbesondere die Hauptstadt Kabul, eine
Bevölkerungsexplosion erfahren haben, die in der Geschichte Afghanistans einmalig ist.[1]
Aufgrund knapper Baugrundstücke und mangelhafter Planung haben sich viele Zuwanderer illegale
Notunterkünfte an den Berghängen gebaut. Diese Entwicklung hat in den vergangenen zehn Jahren
rapide zugenommen und die Stadt Kabul, die in ihrer Expansion ohnehin aus topografischen Gründen
eingeschränkt ist, zu einem Kessel werden lassen, der sich unkontrolliert weiter füllt, bis er überläuft.
Kabul in den Jahren 1965-72
Es gibt zwar Lösungsansätze, um das Problem des unkontrollierten Wachstums langfristig in den Griff
zu bekommen. Die Verantwortlichen sind oaber ft Laien und haben keine Vorstellung davon, wie man
solche Probleme mit gezielten städtebaulichen Plänen beheben kann. Alles, was in Kabul oder anderen
Städten in den vergangenen zehn Jahren gebaut wurde, entbehrt jeglichen Grundlagen städtebaulicher
Entwicklung. Das Ministerium für Städtebau und Siedlungswesen verwendet beispielsweise immer
noch den alten Masterplan von 1965, der von den Russen für die Stadt Kabul entwickelt wurde, als
Grundlage für die Stadtentwicklung. Anstatt für die aktuellen Probleme der Stadt Kabul Lösungen
anzubieten, werden oft die gleichen Fehler wiederholt, obwohl es auch Alternativvorschläge gibt.
Das Hauptproblem der Stadt Kabul ist die Kanalisation. Obwohl verschiedene technische Möglichkeiten
bestehen, einen unterirdischen Kanal für das Abwasser zu bauen, setzt man immer noch auf die
obsoleten offenen Entwässerungsgräben, die nie richtig funktionieren. Die Kosten von zwei
Wassergräben entlang der Straße sind genauso hoch wie der Bau von einem geschlossenen
unterirdischen Abwasserkanal.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
56
Nach aktuellen Informationen leben in der Stadt Kabul ca. fünf Millionen Menschen, für die zu wenig
Wohnraum und eine ungenügende Infrastruktur vorhanden ist. Es mangelt an primären Grundlagen
wie einem Bebauungsplan, einer Kataster-Registrierung für Grundstücke und funktionierenden
Vermessungseinrichtungen. Es fehlen ferner Baunormen und eine Standardisierung der Baustoffe.
Aus westlicher Sicht kann man ohne diese Angaben überhaupt nicht arbeiten. In Afghanistan ist das
Alltag. Es wird sehr viel gebaut, und zwar ohne die oben erwähnten Grundlagen. Viele Exil-Afghanen
aus den USA und Europa versuchten Vorschläge zur Verbesserung der städtebaulichen Entwicklung
für die Stadt Kabul zu unterbreiten, bislang allerdings ohne Erfolg. Beispielsweise fand 2003 im Lycée
Esteqlal Kabul (französische Schule) eine Veranstaltung statt, zu der ca. 300 Experten weltweit
eingeladen wurden. Sie haben Vorschläge zur Urbanisierung von Kabul, Herat, Mazar-e – Sharif und
Kandahar unterbreitet. Sie landeten jedoch in der Schublade und wurden nie realisiert.[2]
Die Geberländer, die in den vergangenen zehn Jahren Milliarden in den Wiederaufbau Afghanistans
investiert haben, machten dies zum großen Teil ohne ein klares Konzept oder eine klare Analyse. Die
Mittel, die für die Projekte bereit gestellt wurden, haben nicht den afghanischen Bedürfnisse
entsprochen. Sie haben sogar zu massiven neuen Problemen geführt, die Afghanistan in Zukunft zu
bewerkstelligen hat, wie z.B. Bodenspekulationen und Preissteigerungsraten.
Trotz der fehlenden Infrastruktur sind die Baulandpreise in Kabul mit denen in westlichen
Industrienationen vergleichbar. Durch die Präsenz der Nichtregierungsorganisationen, die ein höheres
Budget haben, sind die Preise in die Höhe geschnellt, vor allem da, wo sie sich niedergelassen haben.
Im Stadtzentrum sind die Preise deshalb am höchsten. Der Grundstückspreis für eine Bebauung (ohne
Erschließung) kostete in Kabul im 2010 ca. 600-800 USD/qm. In Frankfurt am Main kostete zu dem
Zeitpunkt der Quadratmeter 300-500 € (voll erschlossen).
Die Bauprojekte sind ohne Ausschreibungen an einflussreiche Afghanen vergeben worden, obwohl
sie keinerlei Kompetenzen vorweisen konnten.[3] Diese haben die Projekte wiederum an andere
verkauft und sich bereichert. Die Korruption im Bauwesen hat schwerwiegende Konsequenzen und
ist kaum zu bekämpfen. Die Situation in Afghanistan ähnelt einem Kranken, der ohne Untersuchung
Medikamente verabreicht bekommt, unabhängig davon, ob diese Medikamente für das Problem
geeignet sind oder nicht. Da die Afghanen die Chance nicht genutzt haben, Projektvorschläge an die
Geberländer zu stellen, wurde diese Lücke durch geschäftstüchtige Nichtregierungsorganisationen
(NRO) in Afghanistan in den ersten sieben Jahren nach 2003 gefüllt.
Die Projekte, die durch die NRO in Afghanistan realisiert wurden, sind zum großen Teil Schulprojekte,
die von der Kostenaufteilung ca. 20% der Gesamtmittel beansprucht haben. 80% der Mittel wurden
für die eigenen Ausgaben der jeweiligen NRO ausgegeben. An diesem Beispiel wird eindrucksvoll
sichtbar, warum Afghanistans Probleme bis heute nicht gelöst wurden. Vielmehr wachsen die Probleme
täglich an. Von einer Kontinuität im afghanischen Städtewesen kann nicht gesprochen werden.
Die Hauptstadt Kabul und andere Zentren leiden massiv unter der Luftverschmutzung und dem Mangel
an Fachkräften. Die Probleme der Stadtentwicklung können ohne Impulse aus dem Ausland alleine
nicht bewerkstelligt werden. Auch die kollektive Verantwortungslosigkeit der Entscheidungsträger
Afghanistans ist ein Hindernis, das ein gesundes Wachstum der Städte behindert. Es bleibt zu hoffen,
dass die im Juli 2012 auf der Tokio-Konferenz versprochenen 14 Milliarden US-Dollar sinnvoller als
bisher ausgegeben werden.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
57
Geschichte der Gärten und ihrer Entwicklung in Afghanistan am
Beispiel Kabul
Baghe Babur Garten in Kabul Lizenz: cc by-nc-sa/2.0/ (bicylemark)
Die Geschichte des Gartenbaus hat unmittelbar mit der Einführung des Islams in Afghanistan zusätzlich
an Bedeutung gewonnen. Im Koran wird sehr oft von "Baghe Behescht" (Garten des Paradieses)
gesprochen. Aufgrund seiner geographischen Lage und der sauberen Luft wurde Kabul von einigen
Herrschern aus Indien genutzt, um dort Sommerresidenzen zu errichten. Baghe Babor beispielsweise
ist der bekannteste Garten in Kabul und spielt bis heute eine wichtige Rolle wenn es darum geht, das
Land nach außen zu präsentieren. In diesem Jahr fand dort ein Kunstausstellung statt, die in
Kooperation mit der Documenta entstand.
Baghe Babor ist einer der wichtigsten
Wiederaufbauprojekte. Dieser Garten ist sowohl für die Bevölkerung als auch für Stadtverwaltung
Kabuls ein vielgenutzter Ort, sowohl an Wochenenden und Feiertagen oder für o.g. Veranstaltungen.
Es gibt in Kabul nichts vergleichbares.
Anhand des Gartenbaus lässt sich die hohe handwerkliche Entwicklung der Bevölkerung Afghanistans
erkennen. Es wurden weit mehr als 200 Gärten von den Königen und Geschäftsleuten in Afghanistan
gebaut. Die bekanntesten Gärten sind in der Zeit der mongolischen Könige angelegt worden. In der
Zeit von Algh Bek (Herrschaft der Mongolen im 13. Jahrhundert) waren dies: Baghe Sharara (FrauenGarten), Baghe Nurzeiy (Name der Königin), Baghe Behesht (Garten des Paradieses), Baghe Khlwat
(Garten der Ruhe), Baghe Nur (Garten des Lichtes), Baghe Maktab (Garten der Schule), Baghe
Khiaban (Garten am Straßenkreuz), Baghe Babor (Garten des Königs), Baghe Nawab (Garten von
Nawab (Ortsname). Die Gartenbaukunst in Afghanistan, insbesondere in den Großstädten wie Kabul,
hat traditionell eine wichtige Bedeutung für die Gestaltung der Städte und trägt somit erheblich zur
Interaktion in der afghanische Gesellschaft bei.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
58
Bedeutung der öffentliche Gartenanlage für die Bevölkerung
In den Großstädten wie Kabul, Nangahar und Mazar-e- Scharif spielen die öffentlichen Gärten für die
Bevölkerung als Kommunikationsplattform und Erholungszone an den Feiertagen eine sehr wichtige
Rolle. Afghanistan ist aufgrund der klimatischen Bedingungen für die Bevölkerung in den
Sommermonaten unerträglich heiß. Temperaturen bis zu 40 Grad Celsius sind während dieser Zeit
alltäglich. Die Menschen suchen tagsüber unter den schattigen Bäumen Schutz. Die Gärten werden
damit zu Begegnungsstätten für die Bevölkerung. Sie bieten allen Bevölkerungsgruppen einen Raum
für Begegnung und Kommunikation. Als traditionelles Handwerk mit wichtiger Funktion darf der
Gartenbau deshalb bei der zukünftigen Städtebauentwicklung Afghanistans auf keinen Fall
vernachlässigt werden.
Die meisten Gärten wurden durch den 25-jährigen Krieg völlig zerstört. Bisher wurde noch nicht einmal
ein Bruchteil davon wieder aufgebaut. Anstatt der Gärten haben nun die Straßen an Bedeutung
gewonnen. Eine Stadt wie Kabul, die aufgrund ihrer Kapazität vielleicht für 80.000 Fahrzeuge Platz
bietet, muss nun den Anforderungen von Millionen von Fahrzeugen, die zum Teil nicht
straßenverkehrstauglich sind, gerecht werden. Das Problem wird zwar von den Verantwortlichen
registriert, aber bis heute nicht gelöst.
Es gibt für die Großstädte Kabul, Herat, Mazare Scharif immer noch keine städtebaulichen
Konzeptionen, in denen sich das Verhältnis von bebauten Flächen und Grünflächen ausgleicht. Es
existieren keine aktuellen Bebauungspläne, die das Verhältnis von Nutzungsflächen von Wohnen,
Gewerbe und Industrie zu definieren. Die Stadtverwaltung nutzt immer noch die Pläne der Russen
aus der Sechziger Jahren. Der Wiederaufbau der öffentlichen Grünanlagen ist aber eine wichtige
städtebauliche Aufgabe, die die Verantwortlichen möglichst schnell realisieren sollte, bevor die Städte
wegen der zunehmenden weiter kollabieren und Kabul vollends im Chaos versinkt.
Fußnoten
1.
2.
3.
Vor dem Krieg hatte Kabul max. 500.000 Einwohner. Die Schätzung geht jetzt auf 4,5 Mio.
Einwohner. http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Laender/
Afghanistan.html
Der Autor ist seit 2003 regelmäßig in Afghanistan und hat zahlreiche Konzepte eingereicht.
Näheres: "Über die Autoren"
Der Autor ist seit 2003 regelmäßig vor Ort und bezieht sich auf eigene Erfahrungen.
bpb.de
Dossier: Afghanistan - das zweite Gesicht (Erstellt am 31.08.2015)
59
Redaktion
19.3.2013
Herausgeber
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn © 2013
Verantwortlich gemäß § 55 RStV: Thorsten Schilling
Redaktion
Matthias Jung
Externe Redaktion
Homeira Heidary
Online-Dossier
http://www.bpb.de/internationales/asien/afghanistan-das-zweite-gesicht/
Impressum
Diensteanbieter
gemäß § 5 Telemediengesetz (TMG)
Bundeszentrale für politische Bildung
Adenauerallee 86
53113 Bonn
[email protected]
bpb.de