Meine lieben Schwestern und Brüder im He

Predigt beim Elisabethtag in Heiligenstadt am 2.5.2015
Lesung: 1 Joh 3,14-18; Evangelium: Lk 6,27-38; 15. So Lesejahr C
Es gilt das gesprochene Wort!
Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
das Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe ist den meisten von uns sehr
vertraut. Ja, es ist uns fast schon zur selbstverständlichen Anforderung geworden.
Wir haben längst reflektiert, dass der Zusatz, wir sollen unseren Nächsten lieben wie
uns selbst, keine maßlose Überforderung darstellt, sondern im Gegenteil ein Maß
festlegt. Auch in der Selbstliebe haben wir gelernt, uns nicht jeden Wunsch zu
erfüllen und mit unseren Grenzen zu leben, so dass die Selbstliebe als Vorbild der
Nächstenliebe durchaus auch Grenzen dessen setzt, was in der Nächstenliebe von
uns gefordert ist. Die meisten von uns kennen auch die Überlieferung des Doppelgebotes im Munde Jesu nach dem Lukas-Evangelium. Dort wollte der Gesetzeslehrer seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Wer ist mein Nächster? Darauf
erzählte Jesus das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Darin wird
deutlich, dass der Nächste der physisch Nächste ist, also der Mensch, der mir im
Augenblick räumlich am nächsten ist. Für den barmherzigen Samariter war es ein
halbtot Geschlagener, der mitten auf dem Weg lag, so dass er über in hätte hinübersteigen müssen, wenn er ihm nicht geholfen hätte. Der barmherzige Samariter hat
den Schwerverletzten auch nicht selbst gesund gepflegt, sondern ihn lediglich in die
nächste Herberge gebracht und es dem Wirt überlassen, den Schwerverletzten
wieder gesund zu pflegen. Auch durch diese Gleichniserzählung wird deutlich, dass
die Nächstenliebe kein Gebot ist, das uns überfordert. Es beschränkt sich zunächst
auf die Menschen in unserem Lebensfeld. Und es fordert von uns Hilfe die nötig,
aber auch möglich ist.
Bei all diesen Überlegungen gerät aber schnell in den Hintergrund, dass die Bibel
nicht vom Gebot der Nächstenhilfe spricht, sondern vom Gebot der Nächstenliebe.
Eine heftige Attacke auf das Gebot der Nächstenliebe macht deutlich, welche
Herausforderung darin steckt. Die Attacke stammt von dem Psychologen Sigmund
Freud und wurde von ihm schon im Jahre 1930 in seiner berühmten Darstellung:
„Das Unbehagen in der Kultur“ geritten. Ich möchte Sigmund Freud hier einmal
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ausführlicher zu Wort kommen lassen, weil er die Augen öffnet für die Hintergründe
des biblischen Gebotes der Nächstenliebe. Sigmund Freud schreibt: „ Eine der so
genannten Idealforderungen der Kulturgesellschaft lautet: Du sollst deinen Nächsten
lieben wie dich selbst. Sie ist weltberühmt, gewiss älter als das Christentum, das sie
als seinen stolzesten Anspruch vorweist, aber sicherlich nicht sehr alt. In historischen
Zeiten war sie den Menschen noch fremd. Wir wollen uns naiv zu ihr einstellen, als
hörten wir von ihr zum ersten Male. Dann können wir ein Gefühl von Überraschung
und Befremden nicht unterdrücken. Warum sollen wir das? Was soll uns das helfen?
Vor allem aber, wie bringen wir das zustande? Wie wird es uns möglich? Meine
Liebe ist etwas mir wertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf. Sie
legt mir Pflichten auf, die ich mit Opfern zu erfüllen, bereit sein muss. Wenn ich einen
anderen liebe, muss er es auf irgendeine Art verdienen. Er verdient es, wenn er mir
in wichtigen Stücken so ähnlich ist, dass ich in ihm mich selbst lieben kann. Er verdient es, wenn er so viel vollkommener ist als ich, dass ich mein Ideal von meiner
eigenen Person in ihm lieben kann. Ich muss ihn lieben, wenn er der Sohn meines
Freundes ist, denn der Schmerz des Freundes, wenn ihm ein Leid zustößt, wäre
auch mein Schmerz. Ich müsste ihn teilen. Aber wenn er mir fremd ist und mich
durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlseben anziehen kann, wird es mir schwer ihn zu lieben. Ich tue sogar unrecht damit,
denn meine Liebe wird von all den Meinen als Bevorzugung geschätzt. Es ist ein
Unrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleich stelle. Wenn ich ihn aber
lieben soll mit jener Weltliebe bloß weil er auch ein Wesen dieser Erde ist, wie das
Insekt, der Regenwurm, die Ringelnatter, dann wird, fürchte ich, ein geringer Betrag
Liebe auf ihn fallen, unmöglich so viel, als ich nach dem Urteil der Vernunft berechtigt
bin, für mich selbst zurückzuhalten. Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift,
wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann?“
Sigmund Freud hat nicht Unrecht, wenn er das Gebot der Nächstenliebe ohne
Kontext mit dem Gebot der Gottesliebe liest und versteht. Die Bedeutung des
Nächsten rührt daher, dass er ein Geschöpf Gottes ist, ein Mitgeschöpf, das Gott
genauso liebt wie mich. Gott ist der Freund, dessen Sohn oder Tochter ich lieben
muss, weil der Schmerz des Freundes, wenn ihm oder ihr ein Leid zustößt, auch
mein Schmerz ist. Dies hat Jesus beim Gebot der Feindesliebe, das uns in der
Bergpredigt überliefert ist, auch ausgeführt. Das Gebot der Feindesliebe erschien
Sigmund Freud „noch unfassbarer“ und entfesselte in ihm „ein noch heftigeres
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Sträuben“. Beim Gebot der Feindesliebe hat Jesus eine Begründung für dieses
Gebot angefügt: „Ich aber sage euch, liebt eure Feinde und betet für die, die euch
verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet, denn er lässt seine
Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und
Ungerechte“ (Mt 5,44-45) Das einzig Liebenswürdige am Feind ist die Tatsache,
dass er Geschöpf Gottes ist und dass sich nicht der Erdboden auftut, um ihn zu
verschlingen, sondern dass über ihm ebenfalls die Sonne scheint und Regen fällt.
Nicht nur das Gebot der Feindesliebe, sondern auch das Gebot der Nächstenliebe
gründet im letzten im Gebot der Gottesliebe. Weil alle Menschen Geschöpfe Gottes
sind, fordert die Bibel von uns, nicht nur dass wir ihnen helfen, sondern dass wir sie
als unseren Nächsten lieben.
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