Myoarthropathien des Kausystems: III - Schmerz

Praxis
Myoarthropathien des Kausystems:
III - Schmerz und eingeschränkte
Kieferbeweglichkeit
Jens C. Türp, Hans J. Schindler
A
ufgrund welcher Beschwerden suchen Patienten mit Myoarthropathien
(MAP) einen Zahnarzt auf?
MAP-Symptom Schmerz
Schmerzen im Bereich der Kiefermuskeln bzw. in einem oder beiden Kiefergelenken sind bei über 90% aller in einer
Zahnarztpraxis oder Zahnklinik erscheinenden MAP-Patienten das ausschlaggebende
Symptom [3] – und nicht etwa eine eingeschränkte Unterkieferbeweglichkeit oder
Kiefergelenkgeräusche.
Correggio (1510-1529):
Kopf einer schmerzerfüllten Frau
Indizes: Kiefergelenkschmerz, Kaumuskelschmerz, Kieferöffnung, Mundöffnung,
Okklusion.
Vom Patienten berichtete Schmerzen in Kiefermuskeln und/oder Kiefergelenken sowie vom
Patienten oder Zahnarzt bemerkte deutliche Einschränkungen der Unterkieferbeweglichkeit sind
klinische Befunde, die in jedem Fall einer weiteren
Diagnostik bedürfen. Als Warnsymptom kommt
einer eingeschränkten Kieferbeweglichkeit besondere klinische Aufmerksamkeit zu.
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Drei Viertel aller Personen mit myoarthropathischen Schmerzen suchen allerdings
keinen Behandler auf [15]. Offenbar ist eine
gewisse Beunruhigung über die vorhandenen Beschwerden eine wichtige Voraussetzung für die Entscheidung, eine Abklärung
der Beschwerden und gegebenenfalls therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen
[11]. Unter denjenigen, die schließlich in der
Sprechstunde erscheinen, stellen Frauen bekanntermaßen die übergroße Mehrheit [2,
13]. Je spezieller die Einrichtung, desto
höher der Frauenanteil. In Universitätskliniken beträgt das Verhältnis bis zu 9:1.
Schmerzen in Kiefermuskeln und/oder Kiefergelenken können, müssen aber nicht
mit Einschränkungen der Unterkieferbeweglichkeit einhergehen.
„Nicht selten setzt [das Krankheitsbild] ein,
wenn bei zahnärztlichen Eingriffen im
Munde der Kiefer sehr lange und weit geöffnet werden mußte. [...] Es beginnt mit Behinderung der Mundöffnung und Schmerzen
bei Öffnen des Kiefers; es treten aber auch
spontan, namentlich nachts Schmerzen auf.
Besonders empfindlich ist das Gelenk beim
Aufbeißen auf harte Speisen. Objektiv läßt
sich Druckschmerz am Kondylus und
Schmerz bei seitlicher Verschiebung des
Kiefers feststellen.“ [9].
ZAHN PRAX 8, 4, 142-144 (2005)
Praxis
MAP-Symptom eingeschränkte
Unterkieferbeweglichkeit
Das wichtige Symptom „eingeschränkte
Kieferbeweglichkeit“, bei dem eine Einschränkung der Bewegungen eines oder
beider Unterkieferkondylen vorliegt, wird
häufig nicht genügend gewürdigt. Bei
MAP-Patienten gibt es prinzipiell zwei
Gründe für eine limitierte Kieferbeweglichkeit:
Eingeschränkter
Kieferbeweg1. Mechanisches Hindernis in einem oder
lichkeit wird
beiden Kiefergelenken:
oft zu wenig
Nach anterior, medial oder lateral verlaBeachtung
gerter Discus articularis.
geschenkt
Adhäsionen im Gelenk.
Ankylose.
2. Reflektorische Bewegungsanpassung des
Unterkiefers („Schienungseffekt“) aufgrund
von Schmerzen im Bereich der Kiefermuskeln und/oder Kiefergelenke: Je weiter der
Kiefer geöffnet wird, umso mehr nehmen
die Schmerzen zu. Die „freiwilligen“ Bewegungseinschränkungen des Unterkiefers
werden als ein reflektorisch gesteuerter Adaptationsmechanismus zur Verminderung
der vorhandenen Schmerzen und zum
Schutz der betroffenen anatomischen Strukturen gedeutet (Schmerz-Adaptationsmodell nach Lund et al. [7]).
Bewegungseinschränkungen machen sich
zum Teil beim Seitschub und Vorschub des
Unterkiefers bemerkbar, meist jedoch bei
der Kieferöffnung. Es gibt keinen allgemein
anerkannten Schwellenwert, ab dem man
von einer eingeschränkten Kieferöffnung (=
Summe von maximaler Schneidekantendistanz plus vertikalem Überbiß) sprechen
kann. Der häufig genannte Wert von 40 mm
ist als Grenzwert zwischen „eingeschränkt“
und „nicht eingeschränkt“ keineswegs allgemein anerkannt. Weil die maximal mögliche Kieferöffnung von der Länge des Unterkieferkörpers abhängt, sollte grundsätzlich
jeglichem Schwellenwert eine gewisse Toleranz zugestanden werden. Jedoch sollte
der Zahnarzt in folgenden Fällen alarmiert
sein und weitere diagnostische Maßnahmen
durchführen:
ZAHN PRAX 8, 4, 142-144 (2005)
Vom Patienten bemerkte und berichtete
Einschränkungen der Kieferbeweglichkeit.
Gemessene Kieferöffnung von unter 35
mm.
Über einen Zeitraum von wenigen Wochen oder Monaten erfolgte kontinuierliche Verminderung der maximal möglichen Kieferöffnung.
In diesen Fällen gilt es, durch eine sorgfältige (auch bildgebende) Diagnostik andere
Ursachen als eine MAP auszuschließen, insbesondere Tumore [5, 6, 10]. Darüber hinaus sollte man im Auge behalten, daß auch
nicht-neoplastische Veränderungen Ursache
einer eingeschränkten Kieferöffnung sein
können, wie Sklerodermie [12] und nicht erkannte Unterkieferfrakturen.
Terminologischer Exkurs:
Mundöffnung oder
Kieferöffnung?
Die Bedeutung der Begriffe „Mundöffnung“ und „Kieferöffnung“ ist unterschiedlich, selbst wenn sie im klinischen Alltag oft
identisch verwendet werden [14]. Während
die Mundöffnung durch Kontraktion des
M. orbicularis oris erfolgt, kommt die Kieferöffnung durch Kontraktion des unteren
Teils des M. pterygoideus lateralis, des vorderen Bauchs des M. digastricus, des M.
mylohyoideus und des M. geniohyoideus.
Der Innsbrucker Anatom Rudolf Fick wies
bereits im Jahre 1911 auf den Unterschied
zwischen beiden Begriffen hin:
„Ich glaube noch betonen zu sollen, daß
„Kieferöffnung“ und „Kieferschluß“ keineswegs identisch sind mit „Mundöffnung“
und „Mundschließung“. Daß der Mund
auch bei geschlossenem Kiefer geöffnet
werden kann, ist selbstverständlich und
leicht am eigenen Körper festzustellen. Daß
der Mund geschlossen werden kann, ohne
die Kiefer zu schließen, ist zwar nicht direkt
zu sehen, aber leicht zu erproben; es gelingt
ohne weiteres den Mund zu schließen, selbst
wenn man einen relativ großen Gegenstand,
z. B. einen Flaschenkork, zwischen den
Schneidezähnen festhält.“ [4]
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Praxis
Okklusale Veränderungen
Georg Axhausen (Berlin) beschrieb schon
in den 1930er Jahren, daß das heute unter
dem Namen Myoarthropathien bekannte
Beschwerdebild „klinisch durch langsam
einsetzende und fortschreitende Schmerzhaftigkeit im Gelenk beim Bewegen der
Kiefer und beim Kauen, durch geringe oder
stärkere Hemmung der Öffnungsbewegung,
oft verbunden mit seitlicher Verlagerung“
charakterisiert sei [1]. Die „seitliche Verlagerung“ ist hierbei als schmerzbedingte Bewegungsanpassung des Unterkiefers zu interpretieren. Eine Neupositionierung des
Unterkiefers im Sinne einer Schonhaltung
kann Veränderungen bei der Okklusion der
Zähne (Vorkontakte) zur Folge haben [8],
die der Patient bemerkt und als störend empfindet.
Fazit für die Praxis
1. Vom Patienten angegebene Schmerzen
müssen immer ernst genommen werden.
Merke: Unter MAP-Patienten gibt es
keine Simulanten!
2. Bei einer eingeschränkten Kieferbeweglichkeit, vor allem bei eingeschränkter
Kieferöffnung, muß in jedem Fall eine
weitergehende Diagnostik betrieben
werden. Es gilt solange ein Tumorverdacht, bis dieser zweifelsfrei entkräftet
worden ist.
Priv.-Doz. Dr. med. dent.
Jens C. Türp
Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin und Myoarthropathien, Universitätskliniken für Zahnmedizin,
Universität Basel
Hebelstr. 3, CH-4056 Basel
Dr. med. dent. Hans J. Schindler
Hirschstr. 105
D-76137 Karlsruhe
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Literatur
1. Axhausen G.: Pathologie und Therapie des Kiefergelenkes. Fortschr Zahnheilk 9, 171-186 (1933).
2. Diedrichs G., Bockholt R.: Funktionsstörungen
des Kauorgans. Eine retrospektive Studie an 1778 Patienten der Westdeutschen Kieferklinik. Zahnärztl
Welt Zahnärztl Rundsch 99, 96-101 (1990).
3. Dworkin S. F., Huggins K. H., LeResche L., Von
Korff M., Howard J., Truelove E., Sommers E.:
Epidemiology of signs and symptoms in temporomandibular disorders: clinical signs in cases and controls. J Am Dent Assoc 120, 273-281 (1990).
4. Fick R.: Handbuch der Anatomie und Mechanik
der Gelenke unter Berücksichtigung der bewegenden
Muskeln. Dritter Teil: Spezielle Gelenk- und Muskelmechanik. Gustav Fischer, Jena 1911, 17.
5. Gobetti J. P., Türp J. C.: Fibrosarcoma misdiagnosed as a temporomandibular disorder: a cautionary
tale. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol
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6. Hardt N., Paulus G. W.: Gelenknahe Angiopathien und Tumoren als Ursache chronischer Schmerzen
im Kiefergelenkbereich. Schweiz Monatsschr Zahnmed 94, 409-418 (1984).
7. Lund J. P., Donga R., Widmer C. G., Stohler C.
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motor activity. Can J Physiol Pharmacol 69, 683-694
(1991).
8. Obrez A., Stohler C. S.: Jaw muscle pain and its
effect on gothic arch tracings. J Prosthet Dent 75, 393398 (1996).
9. Partsch C.: Kieferkrankheiten. Thieme, Leipzig
1925, 43.
10. Reichert T., Wagner W., Störkel S., Ekert O.:
Tumoren im Bereich des Kiefergelenkes. Dtsch
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11. Rugh J. D., Dahlström L.: Behavioral and psychological mechanisms. In Zarb G. A., Carlsson G. E.,
Sessle B. E., Mohl N. D. (Hrsg): Temporomandibular
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12. Sapp J. P., Eversole L. R., Wysocki G. P.: Contemporary Oral and Maxillofacial Pathology. Mosby,
St. Louis 1997, 266-267.
13. Türp J. C.: Temporomandibular Pain. Clinical
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14. Türp J. C., Randelzhofer P.: „Mundöffnung“
oder „Kieferöffnung“? Über Ungenauigkeiten in der
zahnmedizinischen Fachsprache. Schweiz Monatsschr Zahnmed 110, 1273-1278 (2000).
15. Von Korff M., Dworkin S. F., LeResche L.,
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complaints. Pain 32, 173-183 (1988).
ZAHN PRAX 8, 4, 142-144 (2005)