Kanzelrede-Gottesdienst in St. Johannis, 21.02.2016 Sie wussten, jetzt hängt alles von ihnen ab, er setzt all seine Hoffnung auf sie. Aufgeben, weil es plötzlich schwierig geworden ist, weil man nun zu radikalen Mitteln greifen muss? Ausgeschlossen! Sie wuchsen über sich hinaus, entschlossen, kreativ, wagemutig: Sie trugen ihn hoch, “deckten dort, wo Jesus war, das Dach ab, schlugen die Decke durch und ließen den Gelähmten auf seiner Bahre durch die Öffnung hinab.” (Mk 2,4) Nein, sie spielten vorher nicht alle Szenarien durch und wägten das persönliche Risiko ab. Mal ehrlich, was täten Sie an ihrer Stelle, hier und heute? Hier und heute, wo es uns so gut geht wie nie zuvor - uns, die weder Hunger noch Gefahr für Leib und Leben kennen? Wir haben das beste Gesundheitsystem, kostenlose Schulbildung für alle, wir leben immer länger, wir sind Weltmeister im Reisen – doch 'Bedenken' und 'Angst' vor diesem oder jenem, vor allem davor, es könnte uns etwas weggenommen werden, sind unser ständiger Begleiter. Wir fürchten uns vor unplanbaren Veränderungen, vor Herausforderungen ohne Netz und doppelten Boden. So wäre man hier vermutlich erst mit anderen Fragen beschäftigt, bevor man dem Gelähmten beigestanden hätte: Haben wir auch den Beitrag für die Haftpflicht- und Unfallversicherung überwiesen? Ist unsere Zivilcourage am Ende Hausfriedensbruch? Um Gottes willen, kommt das am Ende in die Zeitung – und was denken dann die Nachbarn? Und dabei stand der, auf den wir uns berufen, für das Gegenteil eines kommoden, abgesicherten Lebens. Einer, der radikaler nicht vorleben konnte, worum es geht als “des Menschen Mensch”. Einer, der sich an- und berühren ließ, der bewusst ohne Netz und doppelten Boden lebte, voller Leidenschaft für und Mitleiden mit Menschen. Einer, der kein Blatt vor den Mund nahm, um Heuchler, Moralisten, Menschenfeinde zu entlarven, ungeachtet ihrer Stellung. Einer, der sich beugte zu denen in Schmutz und Ausgrenzung, der sie wieder aufrichtete, ihnen ihre eigenen Ressourcen zurück gab und es dann ihrer Verantwortung überließ, eigene Wege zu finden. Selbstermächtigung nennt man es heute, für ein selbstbestimmtes Leben in Würde. Wir bekennen uns doch zu ihm, von dem überliefert ist, dass er unbequem und unbeugsam war, unangepasst, radikal parteiisch für die am Rande der Gesellschaft; ein Revoluzzer der Menschlichkeit, ein Meister des zivilen Ungehorsams und klarer Ansagen. Und dem wollen wir - als Christen - nachfolgen? Wirklich? Gelegenheit dazu hatten wir schon immer und jetzt erst recht, wo es gilt, sich daran zu erinnern, wie Jesus sich verhalten hätte angesichts der Herbergssuche so vieler Vertriebener: Jetzt gilt es, das Terrain wohlformulierter Ermahnungen und Appelle an das Gewissen von uns domestizierten Christen zu verlassen. Jesus hält dagegen: Mensch, steh auf! Fürchte dich nicht, steh auf, wenn es auf dich ankommt, beweg' dich! Erkenne, wozu du da bist, erkenne deinen Platz und fülle ihn aus. Habe dabei Vertrauen und lass dich überraschen, was dir alles an Inspiration und Kraft zuwächst und an Gefährten zuteil wird, wenn du es wagst. Geh hinaus zu den Menschen, ohne Sicherheiten, ohne Ballast - aber mit einem offenen Herzen und mit einer Haltung, hey, mir liegt etwas an dir. Und immer wieder heißt seine vorgelebte Botschaft: Verlasst eure Komfortzone, das Vertraute, an dem ihr festhaltet und das euch festhält. Geht ein Stück mit denen mit, die gelähmt oder kraftlos, blind oder taub geworden sind für das Gelingende und für das Schöne, für ihre eigene Kraft, für ihre eigenen Möglichkeiten und Begabungen. Steht auf, habt Vertrauen, fürchtet euch nicht! Schaut euch um, wo ihr gebraucht werdet mit euren Talenten und mit euren Händen. Macht euch nicht klein, stützt euch gegenseitig und vertraut darauf, dass dann in eurem Tun ein Segen liegt. So würde uns Jesus wohl bestärken, jetzt, wo wir das Glück haben, wachgerüttelt zu werden von schutzsuchenden Menschen vor unserer Tür, die in einer radikalen Zeit radikale Anfragen an uns stellen. Wachgerüttelt, wiederzuentdecken und zu bekennen, wer wir wirklich sind - oder auch nicht. Jetzt trennt uns die Fernbedienung nicht mehr von der Welt, so wie sie geworden ist und so wie sie auch unsere Handschrift trägt. Wir bedienen uns der Weltregionen, ohne auf die Menschen zu schauen, und nun, da sie dort aus verschiedenen Gründen nicht mehr leben können, kommen die Menschen eben zu uns. Jeder von ihnen hat einen hohen Preis bezahlt, und wir unverdient Privilegierten können uns glücklich schätzen, ihn nur zu erahnen. Jeder von ihnen ist ein MENSCH, kein “-ling”, “Flücht-ling”, keine gesichtslose Manövriermasse. Denn wenn wir so denken, wenn wir es zulassen, dass “MENSCH” anonymisiert, ent-menschlicht als Problem, als Krise, als Lawine oder Kostenfaktor gesehen und stigmatisiert wird, dann kann der Wecker für uns nicht laut und schrill genug klingeln. Die geflüchteten Menschen halten uns im Spiegel unseres Handelns unsere Werte schonungslos vors Gesicht; ein jeder von ihnen, der sich - mit erfrorenen Füßen, zerschlitzt von Stacheldraht, am Ende seiner Kräfte - hunderte von Kilometern zu uns durchgekämpft hat, könnte Ihr und mein Sohn sein, Tochter, Schwester, Enkelin oder bester Freund. Jeder von ihnen hat genauso wie Sie und ich ein Gesicht, einen Namen, eine Mutter und einen Vater, die ihn lieben, eine Lebensgeschichte; jeder hat wie Sie und ich seine eigenen Gefühle und Gedanken, seine Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen, Pläne und Träume, Ängste und Fragen. Jeder von ihnen ist genauso “menschlich” wie jeder von uns, in jeder Hinsicht. Viele von den aus ihrer Heimat Vertriebenen sind tief verwundet und klammern sich an ihr Smartphone, ihre Lebensader und Verbindung zu den Lieben, zu ihrem früheren Leben, das nicht mehr ist. Sie hoffen zurecht auf Empathie und Solidarität und erwarten damit nichts anderes, als wir in ihrer Lage ebenfalls erhofften. Und sie haben uns etwas anzubieten, mitzuteilen: Sie öffnen für uns die Tür des engen Korridors unserer eurozentrischen und oft genug irrigen Vorstellung von der Welt, sie schenken uns neue Weltsichten und den Reichtum ihrer Kulturen, die wir mehr erahnen als kennen. Nein, ich habe keine Angst. Und ich kann mich auch nicht erinnern, dass Jesus erst einmal das Abhaken einer Checkliste von Pro und Kontra empfahl, bevor man tut, was menschlich - und christlich - geboten ist. Ich glaube nicht, dass Angst und Verhärtung Kreativität und Zuversicht freisetzen, dass sie Hirn und Herz frei machen, um Problemlösungen zu suchen und zu finden. Ich erkenne hingegen in der Geschichte, dass Angst, listig und vorsätzlich geschürte Angst, wie auch Beschwörungen einer Bedrohung und eines Scheiterns, immer wieder das Instrument von Menschenfeinden waren, um Menschen für ihre Zwecke formbar zu machen und sie ihrer wichtigsten Ressourcen zu berauben: ihres Zusammenhalts, ihrer Zuversicht und ihrer Freiheit. Nein, ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst davor, dass Menschen zu uns kommen, die unsere Gesellschaft mitgestalten, prägen und verändern werden. Wenn das bedeutet, unseren Wohlstand zu teilen, dann ist es an der Zeit! Diejenigen, die viel mehr besitzen, als sie zum Leben brauchen, bekommen so vielleicht die Chance, herauszufinden, ob weniger Besitz tatsächlich weniger Zufriedenheit, Freiheit und Lebensglück bedeutet - oder ob es nicht genau umgekehrt ist. Es wird spannend, und der Weg wird im Gehen entstehen; wir können ihn nur bis zur nächsten Biegung sehen und vorausplanen. Es wird nicht ohne Reibungen abgehen, es kann auch holprig und anstrengend werden. Na und? Ist es das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, Europas, Deutschlands? Und wir sind dabei mitnichten ohnmächtige Zaungäste, wir sind mittendrin, ganz gleich, ob wir aktiv beitragen oder uns verweigern. Es liegt an uns, dabei das zu benennen und zu erhalten, was wir an Überzeugungen und Werten für bewahrenswert halten! Und niemand kann uns jemals wegnehmen, was für uns so wertvoll ist, dass wir es uns nicht nehmen lassen! Wenn von jemandem die zivilisatorische, menschliche, christliche Basis eines friedlichen Zusammenlebens bedroht wird, dann von den – deutschen - rassistischen und menschenfeindlichen Brandstiftern und völkischen Demokratiefeinden . Nein, ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst davor, manches zu hinterfragen, loszulassen und gemeinsam Neues zu suchen und zu entwickeln. Es geschieht ohnehin, heute und morgen. Und dabei ist etwas unglaublich Mutmachendes gewachsen in den letzten Monaten , seit – ganz und gar nicht unerwartet – die Völkerwanderung der von Krieg und Elend Vertriebenen vor keiner Grenze mehr halt macht. Viele von uns fühlen sich nicht nur verantwortlich, sondern vielmehr denen verbunden, die mit Verwundungen an Leib und Seele und viel Hoffnung im Gepäck zu uns kamen und kommen. Von Nord bis Süd, in jedem Dorf, in jeder Stadt sind zahllose Mitbürger der gastfreundliche, konstruktive Gegenentwurf zu dem verrohten deutschen Mob, dessen Wüten gegen wehrlose Asylsuchende wie im sächsischen Clausnitz ein zweiter, dringlicher Weckruf sein muss. Die vielen Engagierten, die sich mit Zuneigung und Verstand landauf, landab ohne viel Aufhebens für geflüchtete Mitmenschen einsetzen, die Woche für Woche nach dem Motto: “Machen wir es zu unserem Projekt” schlicht die Ärmel hochkrempeln, geben unserem Land einen frischen, bunten Anstrich. Dieses Engagement ist mitnichten am Limit, mitnichten am Ende; es gärt vielmehr ein schmackhafter, kräftiger Sauerteig im Bottich unserer gespaltenen Gesellschaft, der Lust und Appetit auf mehr macht. Denn diese neue Erfahrung, was wir alles gemeinsam schaffen können, was für eine gemeinschaftsstiftende Kraft daraus erwächst und die unterschiedlichsten Menschen verbindet, die sich sonst vielleicht nie begegnet wären, das ist doch das Gegenteil von Angst! Das stärkt und festigt doch eine plurale Gesellschaft, die wir längst sind, und gibt ihr Zuversicht, auch künftige Herausforderungen zu meistern, damit “unser ALLER Projekt” in Fahrt kommt und gelingt. So gesehen entsteht - vielleicht auch aus Demut angesichts all dessen, was uns im Leben unverdient zugefallen ist - also doch kollektiver, vom Vertrauen getragener Wagemut, ohne Netz und doppelten Boden! Daher an jeden Mitbürger guten Willens, der sich Sorgen macht: Auch ich mache mir Sorgen angesichts desintegrierter deutscher Parallelgesellschaften der Verrohung, des Rassismus und zunehmender enthemmter Aggressivität gegen Mitmenschen. Doch Ihnen und dir mit Sorgen und Ängsten vor 'dem fremden Unbekannten' rufe ich zu: Fürchte dich nicht! Brich aus deinen Bedenken und Vorbehalten aus und mache dir selbst ein Bild. Geh hin zu den Geflüchteten und zu denen, die bereits bei ihnen sind, setz dich hin, höre zu, stelle deine Fragen, wäge die Antworten ab – und dann schau deine Bedenken noch einmal an. Vielleicht hat sich dann etwas verändert, vielleicht wachsen deine Neugier und deine Offenheit für einen gemeinsamen Weg, der nicht von Angst bestimmt ist, sondern von dem Vertrauen, dass das, was um uns herum ohnehin im Fluss ist, mit unserem Zutun für ALLE gut werden kann. Und an alle 'besorgten' Politiker, die gerne Angst schüren und sie benutzen: Nein, ihr seid nicht dazu da, Menschen zu verunsichern und zu polarisieren, um die Gesellschaft zu spalten, um für die Einen das zu verteidigen, was den anderen vorenthalten wird! Ihr habt vielmehr Politik und Gesellschaft so zu gestalten, dass darin ALLE Menschen aufgehoben und mitgenommen werden, dass ALLE daran teilhaben – und da ist noch sehr viel zu tun! Fürchtet euch nicht, geht voran mit einem Gestaltungswillen, der sich auf ein wirklich christliches und menschliches Gewissen und dessen Auftrag beruft. Ihr werdet nicht alleine bleiben. Und ein für allemal: Menschen in Not abzuwehren, sie wissentlich und willentlich in ihrem Leiden zu lassen, egal, an welchem Stacheldraht entlang der Grenzen, ist keine Option, sondern ein Verbrechen – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen alles, was eine Zivilisation und einen Wertekanon ausmacht. Daran gibt es nichts zu relativieren und zu deuten. Der Preis der Menschlichkeit, möge er noch so empfindlich in unser Leben eingreifen, ist nicht zu hoch, erst recht nicht in unserer Überflussgesellschaft. Er heißt im schlimmsten Fall zu verzichten, bescheidener und nachhaltiger zu werden und zu teilen mit denen, die Mangel leiden, ganz gleich, woher sie kommen. Und es wird für alle reichen. Auch das steht in der Bibel (Mt 15, 36-37). “Geschenkt haben uns die Migranten den nützlichen Zwang, über den Horizont unserer WellnessOase hinauszublicken”, so Stephan Hebel in der Frankfurter Rundschau vom 23.12.2015. Und er fährt fort: “ Sie sind Botschafter der Welt, wie sie wirklich ist. Sie zeigen uns in Nahaufnahme den Skandal, dass wir viel zu lange glaubten, unseren Wohlstand zum großen Teil auf Kosten anderer erhalten zu können statt mit ihnen gemeinsam. Sie sind die Sehhilfe, mit der wir erkennen können, dass Krisen und Kriege mit unserer vergesslichen Lebensweise mehr zu tun haben, als wir wahrhaben wollten. Sie haben uns die zerrissene Welt buchstäblich nahe gebracht. Das also ist das Geschenk, das die Verfolgten uns mitgebracht haben: dass wir dieses Versagen besser denn je erkennen und korrigieren können.” Eva Peteler Setzen wir ein sichtbares, vielstimmiges Zeichen, zeigen wir Gesicht für eine menschliche Asylpolitik! Sagen wir klar und deutlich, wir sind NICHT Teil des angeblichen 'Bürgerwillens', mit dem sich unmenschliche Asylpolitik in Deutschland und Europa gerne legitimiert! Sagen wir es laut, Stacheldrahtzäune, Stopp des Familiennachzugs, Asyl-Schnellverfahren, krasse nationale Egoismen auf dem Rücken wehrloser Menschen geschehen NICHT IN UNSEREM NAMEN! Der Ökumenische Asylkreis Würzburg lädt Sie alle zu einer Foto-Mitmachaktion gegen die Verschärfung der Asylpolitik in Deutschland ein! Setzen auch Sie ein persönliches Zeichen, indem Sie sich dieser Kampagne mit Ihrem Portraitfoto und mit der Aussage "… - nicht in meinem Namen!" anschließen, für eine menschliche Asylpolitik und als sichtbares Gegenargument gegen den verbreiteten Populismus in der gegenwärtigen politischen Asyldiskussion. Sie können Ihr Bild selbst hochladen auf <nichtinmeinemnamen.com> Kontakt zu der Kampagne: [email protected]
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