Mathias Hildebrandt Menschenrechte und ihre Entwicklung in der Ideengeschichte 1. Einleitung Die Entwicklung der Menschenrechte in der Ideengeschichte ist Gegenstand umfangreicher Forschungen, die bereits eine Anzahl einschlägiger inhaltlicher (Oestreich 19782, Pietzcker 1981, Birtsch 1981, Birtsch 1987a, Kühnhardt 1987, Hufton 1998, Haratsch 2001) und umfangreiche bibliographische Arbeiten (Birtsch 1991-1992) hervorgebracht haben. Natürlich kann im Folgenden nicht die historische Entwicklung der Menschenrechte in ihrem gesamten Umfang und allen Detailfragen rekonstruiert werden. Die Darstellung muss notwendigerweise auf die wesentlichen ideengeschichtlichen Elemente beschränkt werden, deren Synthese im Laufe der Jahrhunderte zur Herausbildung der Idee der Menschenrechte beigetragen haben, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Dabei werde ich mich auf diejenigen Elemente konzentrieren, die einen positiven Beitrag zur Entstehung der Idee der Menschenrechte geleistet haben und aus Platzgründen all jene gegenläufigen und retardierenden Momente und Ent- 24 Mathias Hildebrandt wicklungen außer Acht lassen, die sich der Entstehung der Idee der Menschenrechte in den Weg stellten. Das Ziel der Argumentation besteht also in erster Linie darin, die vielfältigen und unterschiedlichen Traditionselemente zu identifizieren, aus denen sich in einem langwierigen und Jahrhunderte andauernden Prozess die Idee der Menschenrechte herausgebildet hat, um die gegenwärtige Debatte um die scheinbar zeitlose Universalität der Menschenrechte an ihre eigenen historischen Voraussetzungen zu erinnern. Dabei muss man sich aber gerade bei dieser selektiven Darstellung bewusst sein, dass es sich nicht um einen linearen, bruchlosen teleologischen Entwicklungsprozess handelt, sondern um eine durch vielfältige Brüche, retardierende Momente und gegenläufige Entwicklungen gekennzeichnete kontingente Genese der Menschenrechte, die in dieser Art historisch wohl einmalig zu nennen ist. In den historischen Entwicklungsprozess flossen sowohl Elemente der antiken griechischen und römischen, aber auch wesentliche Beiträge der christlichen und mittelalterlichen Geistesgeschichte ein, bevor sich diese Komponenten in den atlantischen Revolutionen zur Idee der unveräußerlichen Menschenrechte verdichten konnten. Obwohl die Formulierung dieser Menschenrechte in die Aufklärung fiel, konnten sie erst nach der Erfahrung des Totalitarismus im 20. Jahrhundert ihren globalen Siegeszug antreten. Im Einzelnen können folgende wesentliche Elemente unterschieden werden. Menschenrechte und ihre Entwicklung in der Ideengeschichte 2. 25 Die Grundlegung des Naturrechts in der Antike Obwohl der Antike der Begriff der Menschenrechte unbekannt war, wurden dessen Grundlagen dennoch in der politischen und philosophischen Entwicklung Griechenlands, insbesondere Athens gelegt. Der durch die Begriffe isegoria und isonomia umschriebene Demokratisierungsprozess Athens brachte das Ideal der bürgerlichen Gleichheit mit entsprechenden positiven Partizipationsrechten hervor, von denen jedoch substantielle Teile der Bevölkerung ausgeschlossen waren und denen keine negativen Schutzrechte entsprachen. In der philosophischen Entwicklung stellten die Vorsokratiker durch die Depersonalisierung und Physikalisierung des Olymps das kosmopolitische Ordnungsdenken auf die Grundlage abstrakter und begrifflicher Prinzipien (Schadewaldt 1978). Die damit einhergehende Erschütterung des Glaubens an die Götterwelt unter den Sophisten führte zu einer anthropozentrischen Wende des kosmologischen Ordnungsdenkens und zugleich zur Entdeckung der Natur als Maßstab der Gerechtigkeit (Heinimann 1978). Die ursprünglich naturalistische Deutung des physei dikaion wurde durch Sokrates, Platon (Maguire 1947) und Aristoteles (Yack 1990) in eine an der göttlich-menschlichen Vernunft orientierte Ordnung der menschlichen Natur und Polisgemeinschaft transformiert und von den Stoikern universalisiert, indem sie die Grenzen der Polis durch die Kosmopolis sprengten, die auf dem Naturrecht ruhte (Watson 1971). Über die Stoiker fand das griechische Konzept des natürlich Gerechten Eingang in das Römische Reich und wurde durch Cicero in das lex 26 Mathias Hildebrandt aeterna bzw. lex naturalis transformiert, und zur legitimatorischen Quelle der Römischen Republik erklärt (Knoche 1968). Die Verbindung zwischen Naturrecht und Römischem Recht konnte sich über den Niedergang der Republik in die Kaiserzeit retten und es war Kaiser Justinian, der versuchte, eine Synthese zwischen dem antiken Naturrecht und dem Römischen Recht im Corpus Iuris Civilis herzustellen, ohne jedoch dessen einzelnen Rechtssätze anhand der naturrechtlichen Grundsätze der Freiheit und Gleichheit durchzudeklinieren. Die Institution der Sklaverei und das römische Patriarchat wurden durch die Unterscheidung zwischen Freien, Sklaven und Freigelassenen im Personenrecht bewahrt, wenngleich Cicero und das Corpus Iuris Civilis eine gerechte und menschliche Behandlung der Sklaven forderten (Voggensperger 1952). Eine Idee der Menschenrechte findet sich also auch im Römischen Recht nicht. Dennoch legte die Kodifizierung des Corpus eine Grundlage für die mittelalterliche Rezeption des antiken Naturrechts und des Römischen Rechts und bereitete damit der Entwicklung des Kanonischen Rechts und der modernen Rechtswissenschaft den Weg. Zu diesen antiken Elementen gesellten sich noch christliche und germanische Rechtsvorstellungen. 3. Christliche und germanische Rechtsvorstellungen des Mittelalters Die Verschmelzung von Christentum und antikem Naturrecht wurde durch folgende Faktoren erleichtert. Zunächst kennt das jüdische Ordnungsdenken durch die antimonarchistische Idee des Volkes unter Gott eine ähnliche Freiheits- und Gleichheitsidee wie das antike Na- Menschenrechte und ihre Entwicklung in der Ideengeschichte 27 turrecht, die auch im Christentum durch die Idee der Gleichheit der Menschen vor Gott, der gemeinsamen Gotteskindschaft (Gal 3, 26-28) erhalten und durch die Betonung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen übersteigert wurde. Zweitens ist insbesondere das paulinische Christentum ein Produkt der Hellenisierung des Judentums. Dies trifft insoweit zu, als zum einen der Gottesgehorsam weniger wie im Judentum durch die Einhaltung der Riten, als vielmehr wie in der Lehre der Stoa durch eine ethische Lebenshaltung Ausdruck findet und zum anderen die Idee des menschlich geborenen Gottessohnes sich in der Synthese biblischer Verheißung (Jesaia 9, 5-6) mit der griechischen Mythologie verdankt. Entsprechend früh findet auch die Rezeption der stoischen Naturrechtslehre durch christliche Denker statt, die Gott bzw. Christus mit dem logos spermatikos bzw. der lex aeterna identifizierten. So setzte z. B. Philo v. Alexandrien den griechischen Begriff der physis mit dem göttlichen Gesetz gleich und Theophilus v. Antiochien identifizierte den logos mit dem Schöpfungswort Gottes, das er zugleich mit Christus identifizierte und nach Irenäus v. Lyon setzte sich lex naturalis aus dem Dekalog und dem Liebesgebot zusammen (Flückiger 1954). Dadurch war die christliche Theologie von Anfang an mit philosophischen Begriffen durchdrungen, was im Hochmittelalter eine folgenreiche Synthese der aristotelischen Philosophie mit der christlichen Theologie erlaubte. Neben der Rezeption und Vermittlung des antiken Naturrechts trugen auch die partizipatorischen Elemente der Rechtsordnungen der christlichen Mönchsorden zur Herausbildung der modernen Menschenrechtsidee bei. So spricht z. B. die 1115 beschlossene Carta Caritatis 28 Mathias Hildebrandt von Cîteaux dem Capitulum Grande, der Congregatio generalis die Summa Potestas und damit die alleinige gesetzgebende Gewalt (zusammen mit Rom) des Ordens zu. Diese Generalversammlung bestand aus den durch die lokalen Ordensmitglieder gewählten Oberen und Delegierten und waren in ihren Beratungen und Entscheidungen an die Statuten der Ordensregel und die Vernunft gebunden, ebenso wie das Oberhaupt des Ordens durch die Versammlung gewählt und entlassen wurde und an deren Entscheidungen gebunden war (Moulin 1964: 186 - 189). Mit der Rückkehr insbesondere der Bettelorden in die Städte zu Beginn der 14. Jh.s und deren Aufstieg zu religiösen und politischen Mittelpunkten des städtischen Lebens beeinflussten diese partizipatorischen Elemente der Ordensregeln einerseits den sich in vielen europäischen Städten entwickelnden Stadtrepublikanismus, der sowohl individuelle negative Schutzrechte hervorbrachte – worunter z. B. die Freiheit der Person, der Schutz gegen willkürliche Verhaftungen, die Immunität des häuslichen Bereiches und das Recht auf freie und ungeschmälerte Verfügung über den Besitz gehörten – als auch kollektive positive Partizipationsrechte produzierte, zu denen insbesondere die Mitwirkung der Bürger durch Versammlung oder Ausschuss an den Finanzentscheidungen und Steuerbewilligungen, die Kontrolle des Finanzgebarens des städtischen Rates und freie Meinungsäußerung und Stimmabgabe zählten. Diese kollektiven Partizipationsrechte wurden regelmäßig durch die Nutzung des Widerstandsrechtes durch Aufstände eingeklagt. Sie wurden ergänzt durch die Teilhabe aller Bürger an den städtischen Lasten und Pflichten (Dilcher 1993). Teilweise wur- Menschenrechte und ihre Entwicklung in der Ideengeschichte 29 den beide Typen von Rechten bereits naturrechtlich begründet, wie z.B. im Florentiner Grundgesetz der Freiheit von 1289 (Meier/Schreiner 1994) und im De Regimine Principum des Dominikaners Bartholomäus v. Lucca um 1300. Andererseits verschmolzen die partizipatorischen Elemente der Ordensregeln mit den Vorstellungen des germanischen Gefolgschaftsrechts, demzufolge Herrschaft durch Schutz begründet wurde und an Rechtsgarantien für die Herrschaftsunterworfenen gebunden war und beeinflussten solchermaßen die 1215 in der Zisterzienserabtei von Pontigny verfasste Magna Charta (Moulin 1987). Die darin gewährten Privilegien gelten neben den 1188 den Cortes von León gewährten Freiheitsrechten, der Brabanter Joyeuse Entrée von 1356 und dem Tübinger Vertrag von 1514 als Ursprungsdokumente der Idee der Menschenrechte. Diese Verträge beinhalteten sowohl die Garantie bestehender Privilegien, negative Schutzrechte in Form von juristischen Verfahrensrechten, positive Partizipationsrechte der Stände bei Entscheidungen über Krieg und Frieden, Verträgen und Bündnissen und die Auflösung des Vasallenverhältnisses bei Verletzung des wechselseitigen Treue- und Schutzversprechens, die einem Widerstandsrecht gleichkam (Blickle 1981, Schulze 1981, Sutter 1987). Im Laufe des 14. und 15. Jh.s verdichteten sich einige Elemente dieser ständischen Privilegienrechte zu naturrechtlichen Ordnungsprinzipien und festigten die Trennung von imperium und sacerdotium und bereiteten damit die Trennung von Staat und Kirche vor. 30 Mathias Hildebrandt So liegt bei Marsilius von Padua (1275/80 - 1342) eine rein weltliche Ordnungskonzeption vor, die weder an göttliches Recht, noch an das Naturrecht, sondern lediglich an die Vernunft (recta ratio) gebunden ist, um den Zweck zu erfüllen, den Frieden zu errichten und zu bewahren. Der weltliche Gesetzgeber dieser Ordnung ist die Gesamtheit der Bürger (civium universitas), die den Herrscher, den Monarchen wählt. Der Regent ist an die vom Gesetzgeber gegebenen Gesetze, an die Vernunft, die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl gebunden. Der civium universitas steht die Überwachung, Zurechtweisung, Änderung und auch Absetzung der Regierung zu, falls dies dem Gemeinwohl geboten erscheint (Rausch 1968, Lüdecke 2001). Anders als Marsilius geht Wilhelm von Ockham (ca. 1286 - 1347/49) davon aus, dass die Menschen von Gott das natürliche Recht erhalten haben, ihre Vergemeinschaftungsform frei zu wählen (a Deo sed per hominem). Der eingesetzte Monarch ist bei der Ausübung seiner Herrschaft an die vor aller weltlichen Gewalt den Menschen von Gott verliehenen Naturrechte gebunden, die insbesondere das Recht auf Eigentum und Freiheit beinhalten. Bei Verletzung des Naturrechtes obliegt den Menschen nicht nur ein Widerstandsrecht, sondern eine Widerstandspflicht (Epp 1999, Kölmel 1990). Nikolaus Kusanus (1401 1464) geht von den naturrechtlichen Prinzipien der Gleichheit und Freiheit aller Menschen aus. Herrschaft ist deshalb immer an Wahl und Zustimmung gebunden, die durch Wahl- und Redefreiheit und ein hierarchisches Repräsentationssystem garantiert werden. Verletzt der Herrscher das Naturrecht bzw. das göttliche Recht, so besteht für die Menschenrechte und ihre Entwicklung in der Ideengeschichte 31 Untertanen wie bei Ockham nicht nur ein Widerstandsrecht, sondern eine Widerstandspflicht (Lücking-Michel 1995, Sigmund 1998). 4. Die Entstehung der modernen Menschenrechte in der Frühen Neuzeit Einen wesentlichen Schritt zur Systematisierung und Radikalisierung dieser naturrechtlichen Grundsätze erbrachte die Auseinandersetzung Bartolomé de Las Casas’ mit der Behandlung der Indios durch die Konquistadoren. Der Dominikanermönch verteidigte gegen die Herrschaftsansprüche der spanischen Krone die natürlichen Rechte (ius naturale, derecho natural, derecho ingerido, derecho primordial (de gentes)) der Indios auf Freiheit, Gleichheit, Eigentum und politische und religiöse Selbstbestimmung und forderte die Rückgabe ihres Eigentums, ihre Freilassung aus der Sklaverei und die Achtung ihres Rechts, sich selber regieren zu können ebenso wie die Missionierung nur durch friedliche persuasive Mittel zu betreiben. Las Casas war damit einer der Hauptinitiatoren der wenig wirksamen Indiogesetze (1512 Leyes de Burgos, 1517 Informacion de los Geronimos, 1542 1545 Leyes Nuevas sobre las Indias, 1573 Ordenanzas generales sobre las Indias). Las Casas wirkt über die Spätscholastik der Schule von Salamanca, in der bereits Fragen der humanitären Intervention diskutiert wurden, auf die Begründung des modernen Völkerrechtes durch Hugo Grotius ein. Die Auseinandersetzung um die Rechtsstellung der Indios hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Reformation und ihre politischen Fol- 32 Mathias Hildebrandt gen. Durch das Prinzip der sola fides, sola scriptura und die daraus folgende Lehre vom Priestertum aller Gläubigen löste Luther den Gläubigen aus dem hierarchischen Kirchenverband und sprach ihm eine religiöse Selbständigkeit zu, die zwangsläufig in den Konflikt mit der katholischen Obrigkeit führte. Während Luther sich gegen das mittelalterlich-scholastische Naturrecht wandte und von den Gläubigen Gehorsam gegenüber der Obrigkeit forderte, anerkannte Calvin die durch das Widerstandsrecht geschützten naturrechtlichen Freiheitsrechte auf Leben und Eigentum (Scherzer 2001). Die legenda negra um die Behandlung der Indios motivierte Wilhelm von Oranien, seine Wahl zum Statthalter der Niederlande von einer Verbriefung der Versammlungs- und Religionsfreiheit abhängig zu machen, welche 1572 auf der Dordrechter Ständeversammlung gewährt und 1576 in der Genter Pazifikation und 1579 bei der Gründung der Utrechter Union bestätigt wurde. Die Prinzipien des niederländischen Freiheitskampfes wirkten über die monarchomachische Pamphletliteratur (z. B. Duplessis-Mornay und Languet) nach der Bartholomäusnacht 1572 auf Johannes Althusius und die englische Rechts- und Staatstheorie. Richard Hooker unterschied in seiner Schrift Of the Laws of Ecclesiastical Polity die alltäglichen politischen Angelegenheiten von der nicht zur Disposition stehenden „foundation of faith” oder „general ground whereupon we rest”. Edward Coke definierte in seinem Kommentar zur Magna Charta Freiheit, Leben und Eigentum als die durch das Common Law geschützten Geburtsrechte eines jeden Engländers. John Milton übernahm diese Trias und ergänzte sie um die Religions-, Gewissens-, Rede- und Pressefreiheit, was von den radikalen puritanischen Levellern (z. B. John Lilburne und Richard Overton) zu einer Menschenrechte und ihre Entwicklung in der Ideengeschichte 33 egalitär-demokratischen Ordnungskonzeption weiterentwickelt wurde, in denen der Begriff der natural rights die entscheidende Rolle spielte. Diese Entwicklung schlug sich in den einschlägigen Dokumenten der englischen Revolution nieder, die zum einen aus negativen Schutzund Abwehrrechten in Form von Prozess- und Strafrechtsgarantien und Freiheitsrechten und zum anderen aus positiven Partizipationsrechten bestanden. So garantierte die Petition of Rights von 1628 keine Steuererhebung ohne Zustimmung des Parlamentes, keine Verhaftung ohne Prüfung der Rechtmäßigkeit, das Verbot der Anwendung des Kriegsrechts in Friedenszeiten und von Zwangseinquartierungen. Die Habeas Corpus Akte von 1679 verbot Willkürverhaftungen. Die Bill of Rights von 1689 untersagte die Thronfolge katholisch verheirateter Könige, garantierte das Steuer- und Gesetzgebungsrecht des Parlaments, die parlamentarische Rede-, Debattier- und Verfahrensfreiheit und das Petitionsrecht, regelte den Unterhalt eines stehenden Heeres in Friedenszeiten, beseitigte geistliche Gerichtshöfe und garantierte Geschworenengerichte. Der Act of Toleration von 1694 garantierte die Religionsfreiheit unter Ausschluss der Katholiken, der Unitarier und der Atheisten. Allerdings können diese Geburtsrechte eines jeden freien Engländers noch nicht als universelle Menschenrechte bezeichnet werden. Erst John Locke formulierte sie systematisch als naturrechtliche Grundsätze (Stourzh 1981, Dickinson 1987, Birtsch 1987b, Hellmuth 1987, Fikentscher 1987). Von dort aus entwickelte sich der universelle Geltungsanspruch im Zuge der amerikanischen Revolution weiter. Durch die Rezeption der englischen Rechtstradition über Blackstones Commentaries on the 34 Mathias Hildebrandt Laws of England und das kontinentale Naturrecht Pufendorfs über John Wise wurden die angeborenen Rechte eines Engländers in fundamentale Natur- und Menschenrechte transformiert. Bereits 1636 proklamierte Roger Williams in Providence in Rhode Island die allgemeine Religionsfreiheit und 1671 hatten die Kolonie New Plymouth und 1677 die Kolonie West New Jersey ihre politischen Ordnungen auf 9 bzw. 11 General Fundamentals bzw. Fundamental Rights aufgebaut, die der Veränderung entzogen waren und in erster Linie prozessrechtliche Garantien beinhalteten. Dieses Grundmuster von vorangestellten Rechteerklärungen und nachfolgendem Organisationsstatut wurde bei den Verfassungen der Einzelstaaten in der Revolutionsphase von 1776 bis 1780 beibehalten, in der Bundesverfassung allerdings umgekehrt (Stourzh 1981, Dippel 1987). Allerdings muss angemerkt werden, dass diese Rechteerklärungen die Sklaven, Indianer und Frauen ausschlossen und erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts diese Rechte auf diese Personengruppen ausweitete (Patterson 1998, Fox-Genovese 1998). Die französische Revolution und Erklärung der Menschenrechte nahm die amerikanischen als Vorbild und versuchte diese zu übertreffen (Dippel 1981, Godechot 1981, Gauchet 1991), indem sie die negativen Schutz- und positiven Partizipationsrechte der amerikanischen Erklärungen um soziale und kulturelle Rechte ergänzte, die in der Déclaration des Jacobins von 1795 erweitert wurden. Diese Erweiterung ist in erster Linie den Physiokraten zu verdanken, die neben der bekannten Rechtstrias von Freiheit, Leben und Eigentum auch das Recht auf Arbeit als Naturrecht definierten, das bereits im königlichen Edikt von 1776, das die Zünfte aufhob, als ‘unveräußerliches Menschenrecht’ deklariert wurde. In der Déclaration des Jacobins, die niemals in Kraft trat, Menschenrechte und ihre Entwicklung in der Ideengeschichte 35 on des Jacobins, die niemals in Kraft trat, wurden das Recht auf freie Berufs- und Arbeitswahl, die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Rechte auf Arbeit und öffentliche Unterstützung bei Arbeitsunfähigkeit und öffentliche Bildung aufgenommen (Krause 1981). 5. Zwischenbilanz Insgesamt gesehen, wurden vom 16. bis zum Ende des 18. Jh.s die Grundlagen für das moderne Menschenrechtsverständnis gelegt, denen folgende Synthetisierungs- und Transformationsprozesse zugrunde liegen. Zum einen findet eine Verschmelzung unterschiedlicher Rechtsvorstellungen und Rechtstypen statt. Das Christentum rezipierte die Gleichheits-, Freiheits- und Vernunftvorstellungen des antiken Naturrechts und reicherte diese mit der jüdischen Idee der Gottesebenbildlichkeit an, die in der Renaissance durch Giovanni Pico de la Mirandola und in der Neuzeit durch Pascale, Pufendorf und Kant zum Begriff der menschlichen Würde verdichtet wurde. Das christliche Naturrecht absorbierte im Hoch- und Spätmittelalter zunehmend die negativen Schutz- und positiven Partizipationsrechte des Städte- und Ständerechts und reicherte sie mit den Ordnungsprinzipien des Konziliarismus an, zu denen sich in der frühen Neuzeit das Prinzip der Religionsfreiheit der Toleranzedikte gesellte. Zum anderen fand durch diese Synthetisierung zugleich eine Transformation der verschiedenen Rechtstypen statt. Erstens wurden die ständischen Privilegienrechte, die Toleranzrechte und die Ordensregeln durch ihre Verschmelzung mit dem Naturrecht zu Menschenrechten universalisiert, die nun nicht mehr nur einer bestimmten sozialen Gruppe sondern potenziell allen 36 Mathias Hildebrandt Menschen zukamen. Zweitens wurden diese Rechte durch ihre Verankerung in der menschlichen Natur naturalisiert, wodurch daraus verliehene angeborene Rechte wurden. Drittens wurde von Hobbes das objektive traditionelle Naturrecht durch seine systematische Unterscheidung zwischen lex naturalis und ius naturale subjektiviert, wodurch Locke das Naturrecht als individuelle und persönliche Rechte interpretieren konnte.1 Viertens wurden diese Naturrechte fundamentalisiert, wodurch sie der Dispositionsfreiheit des Gesetzgebers entzogen wurden.2 Fünftens wurden diese Naturrechte als Menschenrechte positiviert und konstitutionalisiert und durch das Prinzip der Gewaltenteilung und Verfassungsrechtssprechung3 institutionell abgesichert. Diese Grundlagen wurden erfolgreich in der amerikanischen, weniger in der französischen Revolution gelegt (Stourzh 1987), wenngleich die französische Erklärung in Europa wirksamer als die amerikanische war. 1 Ähnlich auch Christian Wolff, der den status moralis der Menschen als Grundlage für dessen allgemeine Rechtsfähigkeit verstand, wodurch der Mensch zum Träger von Rechten und Pflichten wurde. 2 So z. B. bei Edward Coke, John Locke, der Verfassungspraxis der amerikanischen Kolonien, Emer de Vattel und Mirabeaux, die auf die loix fondamenteaux des Königreiches zurückgriffen und die Menschenrechte ihnen einordneten. 3 1786/87 kam es in North Carolina zum ersten und vollständigen Normenkontrollverfahren im Zusammenhang mit dem verfassungsmäßig gewährleisteten Recht auf Geschworenengerichtsbarkeit, das sich gegen die einfachgesetzliche Abschaffung der Geschworenengerichtsbarkeit für eine bestimmte Kategorie von Klagen erfolgreich durchsetzte. 1803 sprach sich der US-Supreme Court dieses Recht selber zu. Menschenrechte und ihre Entwicklung in der Ideengeschichte 6. 37 Die Menschenrechte in der Moderne Während im 16.- 18. Jh. die Menschenrechte formuliert und entfaltet wurden, war das 19. Jh., zumal in Deutschland, von gegenläufigen Tendenzen geprägt4. Einerseits wirkte das moderne Naturrecht der Aufklärung über den deutschen Idealismus in den liberalen Theorien des Vormärz weiter5, die in der umfangreichen Grundrechteerklärung der Paulskirchenverfassung von 1848 kulminierten.6 Deren Erfolglosigkeit zeigte aber, dass andere Traditionen stärker waren. Zwar fand die Idee der Menschenrechte in begrenzter Form Eingang in das Allgemeine Preußische Landrecht7 und das Allgemeine Bürgerliche Ge- 4 Siehe dazu ausführlich den Beitrag von Werner K. Blessing in Arbeitspapier Nr. 7. 5 Hier sind insbesondere Kant, Fichte, eingeschränkt auch Hegel, “Die Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit” (1823) von K. H. L. Pölitz, das 1824 erschienene “Staatsrecht der constitutionellen Monarchie” von J. C. von Aretin, das Staatslexikon von Rotteck und Welcker (1834 - 1848) und Paul Pfizer “Die Urrechte oder unveräußerliche Rechte; vorzüglich in Beziehung auf den Staat (1843) zu nennen. 6 Die Grundrechtscharta wurde am 27. Dezember 1848 durch Gesetz für das ganze Deutsche Reich in Kraft gesetzt und als Abschnitt VI in die Paulskirchenverfassung vom 28 März 1849 aufgenommen. Am 23. August 1851 wurde das Gesetz über die Grundrechte durch den Beschluss des Bundesrates wieder aufgehoben. Es enthielt im einzelnen folgende Regelungen: Aufhebung der Ständeunterschiede; Gleichheit vor dem Gesetz; gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern; gleiche Wehrpflicht; Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit; Aufhebung der Todesstrafe und entehrender Bestrafungen; Unverletzlichkeit der Wohnung; Briefgeheimnis; Meinungs- und Pressefreiheit; Freiheit von Lehre und Forschung; Glaubens- und Gewissensfreiheit; Abschaffung der Staatskirche; Autonomie der Religionsgemeinschaften; Freiheit der Berufswahl und Ausbildung; Versammlungs- und Vereinsfreiheit; Petitionsrecht. 7 Im Preußischen Landrecht (1794) waren folgende Rechte verankert: Glaubensund Gewissensfreiheit; Sicherheit des Eigentums; Freiheit der Person; freie Berufswahl; Freizügigkeit innerhalb des Landes; freier Erwerb von Eigentum. Jedoch fehlten die Meinungs-, Presse- und Vereins- und Versammlungsfreiheit. 38 Mathias Hildebrandt setzbuch Österreichs8 und über die Charte constitutionelle française von 1814 in die Verfassungen von Bayern9, Baden10 und Württemberg11. Allerdings wurden diese Rechte nicht mehr naturrechtlich begründet, sondern durch das Fortbestehen des monarchischen Prinzips und ihre enge Verknüpfung mit der Lehre von der Staatsangehörigkeit lediglich „als freie Konzession der monarchischen” (Oestreich 19782: 90) bzw. der staatlichen Gewalt verstanden. Diese Unterminierung des Naturrechts wurde vom Aufstieg der Historischen Rechtsschule und des Rechtspositivismus gefördert und schlug sich in der Regelung der Grundrechte durch einfaches Gesetz im Deutschen Reich von 1870/71 nieder (Bödeker 1981, Burg 1981, Scheuner 1981, Wunder 1981, Brandt 1981, Dann 1981).12 Andererseits beobachtete das 19. Jh. auch den Aufstieg der positiven Partizipations- und der sozialen Menschenrechte durch die Arbeiterbewegung. Im Anschluss an die Déclaration des Jacobines wurden die Ausweitung des Wahlrechts, das Recht auf 8 Im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch Österreichs (1811) waren folgende Rechte verankert: Verbot von Sklaverei und Leibeigenschaft; Freiheit der Berufswahl; Freizügigkeit innerhalb des Landes; Glaubensfreiheit. Jedoch fehlten die bürgerliche Gleichheit und die Gleichheit vor dem Gesetz. 9 In der Verfassung Bayern (1818) waren folgende Rechte verankert: Gleichheit vor dem Gesetz; Verbot der Leibeigenschaft; Sicherheit der Person, des Eigentums und der Rechte; Freiheit des Gewissens und der Meinungen; Freiheit der Presse und des Buchhandels; gleiches Recht zu allen Graden des Staatsdienstes; Unparteilichkeit der Rechtsprechung; Selbstverwaltung der Gemeinden und ständische Vertretung aller Klassen; Gleichheit der Pflichten. 10 In der Verfassung Badens waren folgende Rechte verankert: Wegzugsfreiheit, Sicherheit des Eigentums und der persönlichen Freiheit; Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit der Presse und des Gewissens. 11 In der Verfassung Württembergs (1819) waren folgende Rechte verankert: persönliche Freiheit der Individuen; Freiheit des Glaubens; Meinungs- und Pressefreiheit; Berufs- und Erwerbsfreiheit; Freizügigkeit. 12 So z. b. C. F. von Gerber: Die Öffentlichen Rechte (1852), Paul Laband, Philipp Zorn, Georg Jellinek, Friedrich Giese: Die Grundrechte (1905), Hans Kelsen (1928). Menschenrechte und ihre Entwicklung in der Ideengeschichte 39 Arbeit, die Garantie des Existenzminimums und das Recht auf Erziehung und Unterricht gefordert, was auch von der katholischen Soziallehre aufgegriffen wurde. Zugleich eröffnete die sozialistische Bewegung allerdings eine neue Front gegen die bürgerlich-liberalen und individualistischen Menschenrechte. Dieser doppelten Frontbildung erlagen die Menschenrechte 1933 (Kershaw 1998). So war es denn die Erfahrung des Totalitarismus, die der Idee der Menschenrechte nach dem II. Weltkrieg zum Durchbruch verhalf. In den USA fand seit den 30er Jahren sowohl außen- als auch innenpolitisch eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Menschenrechten statt, die über Roosevelts Doktrin der vier Grundfreiheiten – Freiheit von Not und Furcht, Freiheit der Meinungsäußerung und der Religionsausübung (Roosevelt 1984) – und der Atlantik Charta – Leben in Sicherheit und Freiheit von Furcht und Not –, in der Gründung der UNO und der Verabschiedung der Universal Declaration of Human Rights kulminierte13, der neben den nunmehr rechtsverbindlichen Pakten über bürgerliche und politische Rechte (1. Generation) und soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte (2. Generation) von 1966 eine ganze Reihe weiterer Abkommen und Konventionen folgte (Morsink 1993). In Deutschland kam es zu einer Renaissance des Naturrechts und der Verabschiedung des GG (Maihofer 1962, Pietzcker 1981: 6681). Die meisten Staaten der Erde nahmen die Grund- und Menschenrechte in ihre Verfassungen auf. Unter dem Eindruck des Kalten Krieges gaben sowohl die katholische Kirche als auch die protestantischen 13 Die Sowjetunion und die kommunistischen Staaten, Saudi-Arabien und Südafrika enthielten sich der Stimme. 40 Mathias Hildebrandt Kirchen ihren im 19. Jahrhundert formierten Widerstand (Isensee 1987)14 auf und bekannten sich seit dem II. Vatikanischen Konzil zu den Menschenrechten (Vögele 1999).15 Neben den globalen Menschenrechtserklärungen durch die UNO wurden auch kontinentale bzw. religiöse Menschenrechtserklärungen verabschiedet: 1950 zunächst für Europa, 1969 folgte der amerikanische Kontinent, 1981 für Afrika und 1990 für die islamische Welt. Darüber hinaus kam es zur inhaltlichen Weiterentwicklung des Konzepts der Menschenrechte durch die so genannte 3. Generation, zu der die Rechte auf Entwicklung, Frieden, gesunde Umwelt, gerechten Anteil am gemeinsamen Erbe und Kommunikation zählen (Barthel 1991). 7. Zusammenfassung Wie deutlich geworden sein sollte, ist die Genese der Menschenrechte tief in der euro-amerikanischen Geschichte verankert. Aber die Menschenrechte waren weder von Anfang an vorhanden, noch in dem Sinne von Beginn an angelegt, dass ein zwangsläufiger historischer Prozess sie zur Entfaltung bringen musste. Es ist vielmehr zahlreichen historischen Kontingenzen zu verdanken, dass sich die verschiedenen Traditionselemente westlichen Ordnungsdenkens gegen vielfältige 14 1791 Quod aliquantum (Pius VI.); 1814 Apostolischer Brief (Pius XII.); 1832 Enzyklika Mirari vos (Gregor XVI.); 1864 Enzyklika Quanta cura; 1888 Enzyklika Libertas praestantissimum. 15 1949 Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates; 1963 Pacem in terris; 1965 Dignitas humanae; 1970 Lutherischer Weltbund; 1970 Reformierter Weltbund; 1974 Weltkirchenrat. Eine bedeutende Rolle im Katholizismus spielte der katholische Theologe und Philosoph Jacques Maritain (1882-1973), der Menschenrechte und Naturrecht verband und einer der wichtigsten Berater des II. Vatikanischen Konzils war. Menschenrechte und ihre Entwicklung in der Ideengeschichte 41 Widerstände aus Kreisen des Adels, der Kirchen, des Bürgertums, aber auch der Arbeiterschaft nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, England und den USA allmählich durchsetzen konnten. Sie sind eine Antwort auf die Unrechtserfahrungen der Religionskriege, des Absolutismus’ und der Entstehung des Macht- und Herrschaftsapparates des modernen Staates (Bielefeldt 1999: 55) und dessen Perversion im Totalitarismus, die jedoch diesen Entstehungszusammenhang transzendieren und mit ihrem universellen Geltungsanspruch nunmehr eine globale Weltordnung zu formen beanspruchen, die aber ihrerseits nunmehr auf vielfältige Widerstände stößt. 8. 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